Hans Christian Andersen – Die Windmühle

Hans Christian Andersen

Die Windmühle

Da stand eine Windmühle auf dem Hügel, stolz anzusehen, und stolz fühlte sie ich:
„Ich bin durchaus nicht stolz“, sagte sie, „aber ich bin sehr aufgeklärt, außen und innen. Sonne und Mond habe ich zu auswärtigem Gebrauch und zum inwendigen auch, und dann habe ich außerdem Stearinlicht,Öllampen und Talgkerzen, ich darf sagen, daß ich aufgeklärt bin; ich bin ein denkendes Wesen und so wohlgebaut, daß es ein Vergnügen ist. Ich habe ein gutes Mahlwerk in der Brust, ich habe vier Flügel, und die sitzen mir oben am Kopf, gerade unter dem Hut; die Vögel haben nur zwei Flügel, und müssen sie auf dem Rücken tragen. Ich bin ein Holländer von Geburt, das sieht man gleich an meiner Gestalt; ein fliegender Holländer!Die rechnet man zu dem Übernatürlichen, das weiß ich, und doch bin ich sehr natürlich. Ich habe eine Galerie um den Leib und Wohnungsgelegenheit im Unterteil, da hausen meine Gedanken. Mein stärkster Gedanke, der alles leitet und beherrscht, der heißt bei den andern Gedanken: der Mann in der Mühle. Er weiß was er will, er steht hoch über Mehl und Kleie, hat aber doch seine Gefährtin, und sie heißt Mutter; sie ist das Gefühl, sie läuft nicht falsch herum, auch sie weiß, was sie will, sie weiß, was sie kann, sie ist mild wie ein Lufthauch, sie ist stark wie der Sturm, sie versteht herumzubekommen und ihren Willen durchzusetzen. Sie ist mein sanfter Sinn, der Vater ist mein harter; sie sind zwei und doch eins, sie nennen auch einander „meine Hälfte“. Sie haben einen Kinderschwarm, die beiden: kleine Gedanken, die wachsen können. Die Kleinen machen eine Wirtschaft! Neulich, als ich in meinem Tiefsinn den „Vater“ und seine Burschen das Mahlwerk und Rad in meiner Brust nachsehen ließ, ich wollte wissen, was da los war, denn etwas war in mir los, und man soll sich selber prüfen, da machten die Kleinen einen fürchterlichen Lärm, und das macht sich nicht gut, wenn man, wie ich, oben auf der Höhe steht; man muß daran denken, daß man in gutem Lichte steht: die Beurteilung ist auch ein Licht. Aber was ich sagen wollte, es war ein schrecklicher Lärm von den Kleinen! Der Kleinste fuhr mir bis unter den Hut und jauchzte, daß es mich kitzelte. Die kleinen Gedanken können wachsen, das habe ich erfahren,und von draußen kommen auch Gedanken, und nicht nur von meinem Geschlechte, denn ich sehe keinen von ihnen, so weit ich auch sehe, keinen außer mir selber; aber die flügellosen Häuser, wo man das Mahlwerk nicht hört, haben auch Gedanken, die kommen zu meinen Gedanken und verloben sich mit ihnen, wie man das nennt. Wunderlich genug! Ja, es gibt viel Wunderbares. Es ist über mich gekommen, oder in mich? Etwas hat sich im Mühlenwerk verändert; es ist, als ob der Vater die Hälfte gewechselt, einen noch sanfteren Sinn erhalten hätte, eine noch liebevollere Gefährtin, so jung und fromm und jedoch dieselbe, aber sanfter, frommer durch die Zeit. Was bitter war, ist verdunstet; das ist sehr vergnüglich, das Ganze. Tage gehen, und Tage kommen, immer weiter zur Klarheit und Freude, und dann, ja, das ist gesagt und geschrieben, dann kommt ein Tag, wo es vorbei mit mir ist, doch nicht ganz vorbei: ich soll niedergerissen werden, um mich neu und besser zu erheben. ich soll aufhören und doch fortfahren, zu sein! Eine ganz andere werden und doch dieselbe bleiben! Das ist für mich schwer zu begreifen, wie aufgeklärt ich auch bin beiSonne, Mond, Stearin, Öl und Talg! Mein altes Zimmer im Mauerwerk soll sich wieder aus dem Schutt erheben. Ich will hoffen, daß ich die alten Gedanken behalte; den Vater in der Mühle, die Mutter, Große und Kleine, die Familie, die ich das Ganze nenne, eins und doch so viele, die ganze Gedankengesellschaft, denn die kann ich nicht entbehren! Und ich selber muß auch bleiben mit dem Mahlwerk in der Brust, den Flügeln auf dem Kopfe, der Galerie um den Leib, sonst könnte ich mich selber nicht kennen und die andern könnten mich auch nicht kennen und sagen, da haben wir ja die Mühle auf dem Hügel, stolz anzusehen, und doch gar nicht stolz.
Das sagte die Mühle, sie sagte viel mehr, aber das war das Wichtigste.
Tage kamen, Tage gingen, und der jüngste Tag war der letzte.
Da ging die Mühle in Feuer auf; die Flammen erhoben sich, schlugen heraus, schlugen hinein, leckten an Balken und Brettern und fraßen sie auf. Die Mühle fiel, es war nur ein Aschenhaufen übrig, der Rauch fuhr über die Brandstätte hin, der Wind trug ihn fort.
Was lebendig in der Mühle gewesen, blieb, und das, was dabei gewonnen, gehört nicht hierher zu diese Begebenheit. Die Müllerfamilie, eine Seele, viele Gedanken und doch nur einer, baute sich eine neue, eine prächtige Mühle, mit der konnte ihr gedient sein, sie glich ganz der alten, man sagte: da steht ja die Mühle auf dem Hügel, stolz anzusehen! Aber diese war besser eingerichtet, mehr zeitgemäß, damit es vorwärtsgehen. Das alte Zimmerwerk, das wurmstichig und schwammig war, lag in Staub und Asche; der Mühlenkörper erhob sich nicht, wie sie es geglaubt hatte; sie nahm es nur wörtlich, und man soll nicht alle Dinge wörtlich nehmen.

Hans Christian Andersen – Die Wochentage

Hans Christian Andersen

Die Wochentage

Die Wochentage wollten auch einmal sich freimachen, zusammenkommen und ein Festmahl abhalten. Jeder Tag war übrigens so in Anspruch genommen, daß sie, während des ganzen Jahres, nicht freie Zeit hatten, um darüber zu verfügen; sie mußten einen besonderen ganzen Tag haben, aber den hatten sie doch auch jedes vierte Jahr: den Schalttag, der wurde in den Februar belegt, um Ordnung in die Zeitrechnung zu bringen.
Auf den Schalttag wollten sie also zusammenkommen zum Festmahl, und da der Februar der Fastnachtsmonat ist, wollten sie karnevalsmäßig angekleidet kommen nach eines jeden Empfindung und Bestimmung; gut essen, gut trinken, Reden halten und einander Annehmlichkeiten sagen und Unannehmlichkeiten in ungenierter Kameradschaft. Die Helden der alten Zeit warfen einander bei den Mahlzeiten die abgenagten Fleischknochen an den Kopf, die Wochentage wollten einander überhäufen mit Leckereien von albernen Späßen und schelmischen Witzen, wie sie zu den unschuldigen Fastnachtsscherzen gehören mögen.
Dann war es Schalttag, und dann kamen sie zusammen.
Der Sonntag, der Vormann der Wochentage, trat auf in schwarzem Seidenmantel, fromme Menschen würden glauben, daß er einen Talar trug, um in die Kirche zu gehen; die Weltkinder sahen, daß er im Domino war, um auf ein Vergnügen zu gehen und daß die flammende Nelke, die er im Knopfloch trug, des Theaters kleine rote Laterne war, die sagte: „Alles ist ausverkauft, seht nun zu, daß ihr euch amüsiert!“
Der Montag, ein junger Mensch, dem Sonntag nah verwandt und besonders dem Vergnügen hingegeben, folgte nach. Er verlasse die Werkstatt, sagte er, wenn die Wachtparade aufzieht. „Ich muß hinaus, um Offenbachs Musik zu hören; sie geht mir nicht zu Kopf und nicht zu Herzen, sie kitzelt mich in den Beinmuskeln, ich muß tanzen, ein Gelage haben, ein blaues Auge kriegen, um darauf zu schlafen, und dann packe ich am nächsten Tag die Arbeit an. Ich bin das Neue in der Woche!“
Dienstag, das ist Tyrs Tag, der Tag der Kraft. -„Ja, das bin ich!“ sagte der Dienstag. Ich packe die Arbeit an, spanne Merkurs Flügel an des Kaufmanns Schuhe, sehe in die Fabriken, ob die Räder geschmiert sind und sich drehen, sorge dafür, daß der Schneider auf der Bank und der Pflasterer auf den Pflastersteinen hockt; jeder achte auf sein Gewerbe: Ich halte mein Auge auf das Ganze, deshalb trage ich Polizeiuniform und nenne mich Poli-zienstag. Ist das ein schlechter Kalauer, so versucht ihr anderen, einen besseren zu machen!“
„Da komme ich!“ sagte der Mittwoch. „Ich stehe mitten in der Woche, darum nennen mich die Deutschen so. Ich stehe wie der Kommis hinter dem Ladentisch, als Blume zwischen den andern geehrten Wochentagen! Marschieren wir alle auf, dann habe ich drei Tage vor, drei Tage hinter mir, das ist wie eine Ehrenwache, ich darf glauben, daß ich der ansehnlichste Tag bin!“
Der Donnerstag stellte sich ein, gekleidet als Kupferschmid mit Hammer und Kupferkessel, das war sein Adelsattribut. „Ich bin von höchster Geburt“, sagte er, „heidnisch, göttlich! In Nordens Landen werde ich nach Thor genannt, in denen des Südens nach Jupiter, die beide verstanden zu donnern und zu blitzen, das ist in der Familie geblieben.“
Und dann schlug er auf den Kupferkessen und bewies seine hohe Geburt.
Freitag war gekleidet wie ein junges Mädchen und nannte sich Freya, auch zur Abwechslung Venus, das kam auf den Sprachgebrauch im Lande an, wo sie auftrat. Sie sei übrigens von stillem, ernsten Charakter, sagte sie, aber heute flott und frei; es war ja Schalttag, und der gibt der Frau Freiheit, da darf sie nach altem Brauch selber freien und muß sich nicht freien lassen.
Sonnabend trat auf als alte Haushälterin mit Besen und Sauberkeitsattributen. Ihr Leibgericht war Bierbrotsuppe, doch verlangte sie nicht, daß diese bei dieser festlichen Gelegenheit für alle mit aufgetischt werden sollte, sondern nur, daß sie sie bekommen könne ­und sie bekam sie.

Hans Christian Andersen – Ein Bild vom Kastellwall

Hans Christian Andersen

Ein Bild vom Kastellwall

Es ist Herbst, wir stehen auf dem Wall, der das Kastell umschließt und sehen über das Meer, auf die vielen Schiffe und zu der schwedischen Küste hinüber die sich klar im Abendsonnenschein erhebt. Hinter uns fällt der Wall steil zur Tiefe ab. Dort stehen prächtige Bäume, das Laub fällt gelb von den Zweige“; unten liegen düstere Häuser mit Holzpalisaden, und innen, wo die Schildwache geht, ist es enge und finster. Aber noch dunkler ist es dort hinter dem vergitterten Loche; da sitzen gefangene Sklaven, die ärgsten Verbrecher.
Ein Strahl der niedergehenden Sonne fällt in die kahle Zelle. Die Sonne scheint auf Böse und Gute! Der finstere, mürrische Gefangene folgt mit einem bösen Blick dem kalten Sonnenstrahl. Ein kleiner Vogel fliegt gegen das Gitter. Der Vogel singt für Böse und Gute!
Er zwitschert ein kurzes „Quivit“, bleibt aber setzen; er schlägt mit den Flügeln, zupft ein Federchen heraus, plustert die Halsfedern auf und der böse Mann sieht ihm zu. Ein milderer Ausdruck geht über das häßliche Gesicht; ein Gedanke, ihm selbst nicht ganz bewußt, leuchtet in seiner Brust auf, dem Sonnenstrahl verwandt, der durch das Gitter fällt, dem Dufte der Veilchen verwandt, die im Frühling so reich draußen blühen. Nun klingt das Waldhorn lieblich und kräftig herein. Der Vogel fliegt vom Gitter des Gefangenen fort, der Sonnenstrahl verschwindet, und es wird dunkel in der Zelle, dunkel in des bösen Mannes Herzen, aber die Sonne hat doch hineingeschienen und der Vogel hineingesungen. Tönt fort, ihr schönen Klänge des Waldhorns! Der Abend ist mild, das Meer spiegelglatt und stille.

Hans Christian Andersen – Ein Blatt vom Himmel

Hans Christian Andersen

Ein Blatt vom Himmel

Hoch oben in der dünnen, klaren Luft flog ein Engel mit einer Blume aus dem Himmelsgarten, und während er einen Kuß auf die Blume drückte, löste sich ein winzig kleines Blättchen ab und fiel auf die nasse Erde mitten im Walde; da faßte es sogleich Wurzeln und begann mitten zwischen den anderen Kräutern zu sprossen.
„Das ist ja ein merkwürdiger Steckling“ sagten sie, und keiner wollte sich zu ihm bekennen, weder die Distel noch die Brennessel.
„Es wird wohl eine Art Gartengewächs sein“ sagten sie und lachten spöttisch. Und sie machten sich über das vermeintliche Gartengewächs lustig; aber es wuchs und wuchs wie keines von den anderen und trieb Zweige weit umher in langen Ranken.
„Wo willst Du hin?“ sagten die hohen Disteln, die Stacheln an jedem Blatte hatten. „Du gehst zu weit. Deine Zweige haben keine Stütze und keinen Halt mehr. Wir können doch nicht stehen und Dich tragen!“
Der Winter kam und Schnee legte sich über die Pflanze; aber durch sie bekam die Schneedecke einen Glanz, als würde er von unten her mit Sonnenlicht durchströmt. Im Frühjahr stand dort ein blühendes Gewächs, herrlich wie kein anderes im Walde.
Da kam ein Professor der Botanik daher, der ein Zeugnis bei sich hatte, daß er war, was er war. Er besah sich die Pflanze, biß sogar in ihre Blätter, aber sie stand nicht in seiner Pflanzenkunde; es war ihm nicht möglich zu entdecken, zu welcher Gattung sie gehörte.
„Das ist eine Spielart!“ sagte er. -„Ich kenne sie nicht, sie ist nicht in das System aufgenommen!“
„Nicht in das System aufgenommen“ sagten die Disteln und Nesseln.
Die großen Bäume ringsum hörten, was gesagt wurde, und auch sie sahen, daß es kein Baum von ihrer Art war; aber sie sagten nichts, weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes, das ist immer das Sicherste, wenn man dumm ist.
Da kam ein armes, unschuldiges Mädchen durch den Wald; ihr Herz war rein und ihr Verstand groß durch ihren Glauben; ihr ganzes Erbteil in dieser Welt bestand in einer alten Bibel, aber aus deren Blättern sprach Gottes Stimme zu ihr: Wollen die Menschen Dir übel, so denke an die Geschichte von Joseph: „Sie dachten übles in ihren Herzen, aber Gott wendete es zum Besten“ Leidest Du Unrecht, wirst Du verkannt und verhöhnt, so denke an den Reinsten und Besten, den sie verspotteten und an das Kreuz nagelten, wo er noch betete: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Sie blieb vor der wunderbaren Pflanze stehen, deren grüne Blätter so süß und erquickend dufteten und deren Blüten im hellen Sonnenschein wie ein wahres Farbenfeuerwerk leuchteten. Und aus jeder sang und klang es, als verberge sie aller Melodien tiefen Born, der in Jahrtausenden nicht erschöpft wird. Mit frommer Andacht schaute sie auf all die Gottesherrlichkeit; sie bog einen der Zweige nieder, um die Blüte recht anschauen zu können und ihren Duft einzuatmen. Und ihr wurde licht und wohl ums Herz. Gern hätte sie eine Blüte mitgenommen, aber sie hatte nicht das Herz, sie zu brechen, sie würde nur zu schnell bei ihr welken, und so nahm sie nur ein einziges von den grünen Blättern, trug es heim, legte es in ihre Bibel und dort lag es frisch, immer frisch und unverwelklich.
Zwischen den Blättern der Bibel lag es verborgen, und mit der Bibel wurde es unter des jungen Mädchens Haupt gebettet, als sie einige Wochen später im Sarge lag, des Todes heiligen Ernst auf dem frommen Antlitz, als ob es sich in ihrer irdischen Hülle noch abpräge, daß sie nun vor ihrem Gotte stand.
Aber draußen im Walde blühte die wunderbare Pflanze, die bald wie ein Baum anzusehen war. Und alle Zugvögel kamen und neigten sich vor ihr, besonders die Schwalben und Störche.
„Das ist ein ausländisches Gehabe!“ sagten die Distel und die Klette, „so würden wir uns doch hier niemals aufführen!“
Und die schwarzen Waldschnecken spuckten auf den Baum.
Da kam der Schweinehirt, er raufte Disteln und Ranken aus, um sie zu Asche zu verbrennen; den ganzen wunderbaren Baum, mit allen Wurzeln riß er aus und stopfte ihn mit in das Bund. „Er muß auch Nutzen bringen!“ sagte er, und dann war es getan.
Aber nach Jahr und Tag litt des Landes König an der tiefsten Schwermut; er war fleißig und arbeitssam, aber es half nichts. Es wurden ihm tiefsinnige Schriften vorgelesen und auch die allerleichtesten, aber auch das half nichts. Da kam Botschaft von einem der weisesten Männer der Welt. Man hatte sich an ihn gewendet und er ließ sie wissen, daß sich ein sicheres Mittel finde, den Leidenden zu kräftigen und zu heilen. „In des Königs eigenem Reiche wächst im Walde eine Pflanze himmlischen Ursprungs, so und so sieht sie aus, man kann sich gar nicht irren!“ -und dann folgte eine Zeichnung der Pflanze, sie war leicht zu erkennen. -„Sie grünt Sommer und Winter; man nehme jeden Abend ein frisches Blatt davon und lege es auf des Königs Stirn, da wird es seine Gedanken licht machen, und ein schöner Traum wird ihn für den kommenden Tag stärken!“
Das war nun deutlich genug, und alle Doktoren und der Professor der Botanik gingen in den Wald hinaus. -Ja, aber wo war die Pflanze?
„Ich habe sie wohl mit in mein Bund gepackt!“ sagte der Schweinehirt. „Sie ist schon längst zu Asche geworden, aber ich verstand es nicht besser!“
„Er verstand es nicht besser!“ sagten alle. „Unwissenheit! Unwissenheit wie groß bist Du.“ Und diese Worte konnte sich der Schweinehirt zu Herzen nehmen, denn ihm und keinem anderen galten sie.
Nicht ein Blatt war zu finden, das einzige lag in dem Sarge der Toten, und das wußte niemand.
Der König selbst kam in seiner Schwermut in den Wald zu dem Orte hinaus. „Hier hat der Baum gestanden“ sagte er, „das ist ein heiliger Ort“
Und die Erde wurde mit einem goldenen Gitter eingefaßt und eine Schildwache stand Tag und Nacht davor.
Der Professor der Botanik schrieb eine Abhandlung über die himmlische Pflanze, und dafür wurde er vergoldet. Das war ihm ein großes Vergnügen. Und die Vergoldung kleidete ihn und seine Familie, und das ist das Erfreulichste an der ganzen Geschichte, denn die Pflanze war fort und der König war schwermütig und betrübt -„aber das war er auch schon vorher!“ sagte die Schildwache.

Hans Christian Andersen – Eine Geschichte

Hans Christian Andersen

Eine Geschichte

Im Garten standen alle Apfelbäume in Blüte; sie hatten sich beeilt, um Blüten zu bekommen, ehe die grünen Blätter kamen. Im Hofe waren alle Enten draußen und die Katze auch. Sie schleckte wohl wirklich den Sonnenschein! Sie schleckte ihn von ihrer eigenen Pfote. Und sah man übers Feld hin, da stand das Korn so herrlich und grün, und es war ein Zwitschern und Quinquilieren bei all den kleinen Vögeln, als ob ein großes Fest sei; und das konnte man wohl auch sagen, denn es war Sonntag. Die Glocken läuteten, und die Leute gingen in ihren schönsten Kleidern zur Kirche und alle sahen fröhlich aus. Ja, an jedem Ding war auch etwas Erfreuliches und es war ein Tag, so warm und hell, daß man wohl sagen konnte: „Der liebe Gott ist wahrhaftig grenzenlos gut gegen uns Menschen.“
Aber in der Kirche drinnen stand der Pfarrer auf der Kanzel und sprach so laut und böse. Er sagte, daß die Menschen so gottlos seien und daß Gott sie dafür strafen würde, und wenn sie gestorben seien, kämen die Bösen hinab in die Hölle, wo sie ewig brennen müßten. Und er sagte, daß der nagende Wurm in ihnen nie sterben würde, nie würden die Feuer dort unten gelöscht werden und niemals fänden sie Rast oder Ruh. Das war gar gräßlich anzuhören und er war seiner Sache so gewiß. Er beschrieb ihnen die Hölle wie eine stinkende Höhle, in der der Schmutz der ganzen Welt zusammenflöße, da wehte kein Lüftlein, nur die heiße Schwefelflamme, da wäre kein Boden, sie sänken und sänken, tief in ein ewiges Schweigen. Allein schon das Hören war schauerlich, aber dem Pfarrer kam alles dies überzeugend aus tiefstem Herzensgrund, und alle Leute in der Kirche entsetzten sich. Aber draußen sangen all die kleinen Vögel so fröhlich, und die Sonne schien so warm, es war, als ob jede kleine Blume sagen wollte: Gott ist so unendlich gut gegen uns aller -ja, draußen war es gar nicht so, wie es der Pfarrer gepredigt hatte.
Am Abend zur Schlafenszeit sah der Pfarrer seine Frau still und gedankenvoll dasitzen.
„Was fehlt Dir?“ fragte er sie.
„Ja, was fehlt mir eigentlich,“ sagte sie, „mir fehlt, daß ich nicht recht meine Gedanken sammeln kann, daß es mir nicht recht stimmen will, was Du sagst, daß es soviele Gottlose gäbe, die ewig brennen müßten, ewig ­ach, wie lange. Ich bin nur ein sündiger Mensch, aber ich könnte es nicht über mein Herz bringen, selbst den schlimmsten Sünder ewig brennen zu lassen; wie wollte es da der liebe Gott können, er, der so unendlich gut ist, er, der weiß, wie das Böse von außen und innen an uns herantritt. Nein, ich kann es mir nicht denken, obwohl Du es sagst.“
Es war Herbst. Das Laub fiel von den Bäumen; der ernste, strenge Pfarrer saß am Bette einer Sterbenden. Eine fromme Gläubige schloß ihre Augen; es war die Pfarrerin.
„Findet jemand Frieden im Grabe und Gnade bei Gott, so bist Du es!“ sagte der Pfarrer, und er faltete ihre Hände und sprach ein Gebet über die Tote.
Sie wurde zu Grabe getragen; zwei schwere Tränen rollten über die Wangen des ernsten Mannes nieder. Im Pfarrhofe war es stille und leer; der Sonnenschein darin war erloschen, sie war ja fortgegangen.
Es war Nacht. Ein kalter Wind blies über das Haupt des Pfarrers; er schlug die Augen auf und es war, als ob der Mond in seine Stube hereinscheine, aber der Mond schien nicht. Eine Gestalt war es, die vor seinem Bette stand; er sah den Geist seiner gestorbenen Frau. Sie blickte ihn so tief betrübt an, es war, als wolle sie etwas sagen.
Und der Mann richtete sich halb empor und streckte die Arme nach ihr aus. „Auch Dir ist nicht die ewige Ruhe vergönnt? Du leidest? Du, die Beste, die Frömmeste?“
Und die Tote neigte ihr Haupt zu einem ja und legte die Hand auf die Brust.
„Kann ich Dir die Ruhe im Grabe geben?“
„Ja“ tönte es.
„Und wie?“
„Gib mir ein Haar, nur ein einziges Haar vom Haupte eines Sünders, für den das Feuer nie erlöschen soll, des Sünders, den Gott in die Hölle zu ewiger Pein hinabstoßen will.“
„Ja, so leicht konntest nur Du erlöst werden, Du Reine, Du Fromme“ sagte er.
„So folge mir!“ sagte die Tote. „So ist es uns vergönnt. An meiner Seite schwebst Du, wohin Deine Gedanken es wollen. Unsichibar für die Menschen stehen wir vor den heimlichsten Kammern ihres Herzens, aber mit sicherer Hand mußt Du auf den zu ewiger Qual Verdammten zeigen, und vor dem Hahnenschrei muß er gefunden sein.“ Und hurtig, mit Gedankenschnelle, waren sie in der grollen Stadt. Von den Wänden der Häuser leuchteten mit feurigen Buchstaben die Namen der Todsünden: Hochmut, Geiz, Trunksucht, Wollust, kurz, der ganze siebenfarbige Bogen der Sünde.
„Ja, dort drinnen, wie ich es glaube, wie ich es wußte,“ sagte der Pfarrer, „hausen die dem ewigen Feuer Geweihten.“ Und sie standen vor einem prächtig erleuchteten Portal, wo breite Treppen mit Teppichen und Blumen geschmückt waren und durch die festlichen Säle Ballmusik erklang. Der Schweizer stand davor in Sammet und Seide mit einem großen silberbeschlagenen Stock.
„Unser Ball kann sich mit dem des Königs wohl messen!“ sagte er und wandte sich dem Straßendpöbel zu; von Kopf zu Fuß leuchtete ein Gedanke aus ihm: „Elendes Pack, das hier zur Pforte hereingafft! Gegen mich seid Ihr alle Kanaillen.“
„Hochmut“ sagte die Tote, „siehst Du ihn?“
„Ihn,“ wiederholte der Pfarrer, „ja aber er ist ein Tropf, ein Narr nur, er wird nicht zu ewigem Feuer und ewiger Pein verdammt werden.“
„Ein Narr nur“ erklang es durch das ganze Haus des Hochmuts, das waren sie alle darin.
Und sie flogen in die nackten vier Wände des Geizigen hinein, wo dürr und klappernd vor Kälte, hungrig und durstig, sich ein Greis mit allen seinen Gedanken an sein Gold klammerte. Sie sahen, wie er im Fieber von dem elenden Lager sprang und einen losen Stein aus der Mauer nahm. Da lagen Goldstücke in einem Strumpfe. Er tastete sein lumpiges Hemd ab, in das Goldstücke genäht waren, und die feuchten Finger zitterten.
„Er ist krank. Das ist Wahnwitz, ein freudloser Wahnwitz, umringt von Angst und bösen Träumen.“
Und sie entfernten sich hastig und standen vor der Pritsche der Verbrecher, auf der sie in langer Reihe, Seite an Seite, schliefen. Wie ein wildes Tier fuhr einer aus dem Schlafe empor, einen häßlichen Schrei ausstoßend; er schlug mit seinen spitzen Ellenbogen nach seinem Kameraden; der wandte sich schläfrig um:
„Halts Maul, Du Vieh, und schlaf -das ist jede Nacht -!“
„Jede Nacht“ wiederholte der andere, „`ja jede Nacht kommt er und heult und würgt mich. In der Hitze habe ich manches getan, der zähe Zorn ist mir angeboren, der hat mich nun das zweite Mal hier herein gebracht. Aber habe ich schlecht getan, so habe ich nun meine Strafe. Nur eins habe ich nicht bekannt. Als ich das letzte Mal hier heraus kam und am Hofe meines letzten Herrn vorbeikam, kochte es in mir empor -ich strich ein Schwefelholz an der Mauer an, dort wo das Strohdach anstößt. Alles brannte; die Hitze fiel darüber her, wie sie über mich herfällt. Ich half das Vieh und die Bewohner retten. Nichts Lebendes verbrannte außer einer Schar Tauben, die ins Feuer hineinflogen, und dann der Kettenhund. An den hatte ich nicht gedacht. Man konnte ihn heulen hören -und dies Heulen höre ich noch immer wenn ich schlafen will. Und kommt endlich der Schlaf, dann kommt auch der Hund, groß und zottig. Er legt sich über mich, heult, und drückt und erwürgt mich. So hör doch, was ich erzähle! Schnarchen kannst Du, schnarchen die ganze Nacht, und ich nicht eine kurze Viertelstunde.“ Und das Blut stieg dem Hitzigen zu Kopfe, er warf sich über den Kameraden und schlug ihn mit der geballten Faust ins Gesicht.
„Der wütende Mads ist wieder verrückt geworden.“ rief es ringsumher, und die anderen Verbrecher faßten ihn, rangen mit ihm und bogen ihn krumm, daß der Kopf zwischen den Beinen saß. Dort banden sie ihn fest. Das Blut sprang ihm fast aus den Augen und allen Poren.
„Ihr tötet ihn“ rief der Pfarrer, „den Unglücklichen.“ Und indem er abwehrend die Hand über den Sünder hinstreckte, der schon hier zu hart leiden mußte, es wechselte die Szene. Sie flogen durch reiche Säle und durch ärmliche Stuben; Wollust, Mißgunst, alle Todsünden schritten an ihnen vorbei. Ein Engel des Gerichts verlas ihre Sünden und ihre Verantwortung. Die war zwar gering vor Gott, aber Gott liest in den Herzen, er kennt alles, das Böse das von außen und das, was von innen kommt, er, der Gnädige und Alliebende.
Des Pfarrers Hand zitterte, er wagte sie nicht auszustrecken, nicht ein Haar von des Sünders Haupt zu reißen. Und die Tränen strömten aus seinen Augen wie Wasser der Gnade und Liebe, die der Hölle ewiges Feuer löschen.
Da krähte der Hahn.
„Erbarmender Gott. Gib ihr die Ruhe im Grabe, die ich ihr nicht einzulösen vermochte.“
„Die habe ich nun,“ sagte die Tote, „es war Dein hartes Wort, dein finsterer Menschenglaube von Gott und seinen Geschöpfen, der mich zu Dir trieb. Erkenne die Menschen, in welchen selbst bei den Bösen ein Teil von Gott ist, ein Teil, der siegen und die Feuer der Hölle löschen wird.“
Und ein Kuß wurde auf des Pfarrers Mund gedrückt, es leuchtete hell um ihn; Gottes lichte Sonne schien in die Kammer, wo seine Frau, lebendig,
sanft und liebevoll, ihn aus einem Traume weckte, der ihm von Gott gesandt war.

Hans Christian Andersen – Eine Geschichte aus den Sanddünen

Hans Christian Andersen

Eine Geschichte aus den Sanddünen

Es ist eine Geschichte aus den jütländischen Sanddünen, die aber nicht in Jütland anhebt, sondern weit weg von dieser nördlichen Halbinsel, im Süden, in Spanien beginnt; das Meer ist die Straße zwischen den Ländern; versetze dich in Gedanken dorthin, hin nach dem sonnigen Spanien! Dort ist es warm und wunderherrlich, dort wachsen die feuerroten Granatblüten zwischen dunklen Lorbeerbäumen; von den Bergen weht ein frischer, labender Wind herab über die Orangengärten, über die prächtigen maurischen Hallen mit ihren goldenen Kuppeln und farbigen Wänden; durch die Straßen ziehen Kinder in Prozessionen mit Lichtern und flatternden Fahnen, und über Ihnen, hoch und klar, erhebt sich der Himmel mit funkelnden Sternen; Gesang und Kastagnetten erklingen, Burschen und Mädchen schwingen sich im Tanz unter blühenden Akazien, während der Bettler auf dem behauenen Marmorstein sitzt, sich an der saftigen Wassermelone labt und das Leben halb träumend genießt; es ist wie ein herrlicher Traum das Ganze, und sich dem hinzugeben -ja, das taten so recht zwei junge Neuvermählte, und ihnen waren auch alle Güter der Erde gegeben: Gesundheit, froher Sinn, Reichtum und Ehre.
„Wir sind so glücklich, wie nur irgend jemand es sein kann!“ sprachen sie aus vollster Herzensüberzeugung; doch noch eine Stufe des Glücks konnten sie erklimmen, wenn nämlich Gott ihnen ein Kind, einen Sohn, ihnen ähnlich an Körper und Seele, schenken wollte.
Das glückliche Kind würde mit Jubel begrüßt werden, die größte Sorgfalt und Liebe finden, all des Wohlseins und Reichtums teilhaftig werden, den eine einflußreiche Familie zu spenden vermag. Wie ein Fest verstrichen ihnen die Tage.
„Das Leben ist ein Gnadengeschenk der Liebe, eine fast unbegreiflich große Gabe!“ sprach die junge Frau, „und die Fülle der Glückseligkeit soll im jenseitigen Leben noch wachsen, und zwar ewig und immer -ich fasse diesen Gedanken nicht!“
„Und der Gedanke ist in der Tat auch Übermut des Menschen!“ versetzte der Mann. „Es ist im Grunde ein entsetzlicher Stolz, zu glauben, daß man ewig lebt -werden soll wie Gott! Waren es doch auch die Worte der Schlange, und sie war der Lüge Urheberin.“ „Du zweifelst doch nicht an einem Leben im Jenseits?“ fragte die junge Frau, und es war, als gleite zum ersten Mal ein Schatten durch ihr sonniges Gedankenreich.
„Der Glaube verheißt es, die Priester sagen es!“ sprach der junge Mann, „aber gerade in all meinem Glück fühle und erkenne ich, daß es ein Stolz, ein übermütiger Gedanke wäre, ein anderes Leben nach diesem, eine fortgesetzte Glückseligkeit zu verlangen -ist uns nicht in dem Erdendasein so viel gegeben, daß wir wohl zufrieden sein können und sein müssen?“
„Ja, uns ward es gegeben!“ sagte die junge Frau, „allein wie vielen Tausenden ward nicht dieses Leben zu einer schweren Prüfung; wie viele sind nicht in diese Welt hineingeworfen worden, gleichsam zur Armut nur, zur Schande, zur Krankheit und zum Unglück; nein, wenn es kein Leben nach diesem gäbe, dann wäre alles auf Erden zu ungleich verteilt, dann wäre Gott nicht die Gerechtigkeit!“
„Der Bettler dort unten hat Freuden, die er ebenso sehr schätzt, die ihn ebenso groß dünken, wie der König sie in seinem reichen Schloß hat!“ versetzte der Mann, „und glaubst du nicht, daß das Arbeitstier, das geprügelt wird, hungert und sich zu Tode schleppt, seine schweren Lebenstage empfindet! Das Tier könnte auch ein jenseitiges ewiges Leben fordern, es ein Unrecht heißen, daß es nicht in ein höheres Reich der Schöpfung gestellt wurde!“
„In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, hat Christus gesagt“; antwortete die junge Frau, „das Himmelreich ist das Unendliche, wie Gottes Liebe unendlich ist -auch das Tier ist ein Geschöpf Gottes, und ich glaube fest daran, daß kein Leben verloren gehen wird, sondern all die Glückseligkeit genießen wird, die es empfangen kann und die ihm genügt.“
„Mir aber genügt nun diese Welt!“ rief der Mann und umschlang sein schönes, liebliches Weib, rauchte eine Zigarre auf dem offenen Altan, wo die kühle Luft erfüllt war mit dem Duft der Orangen und Nelken; Musik und Kastagnetten erklangen von der Straße herauf, die Sterne flimmerten von oben herab, und zwei Augen voller Liebe, die Augen seines Weibes, schauten ihn mit dem ewigen Leben der Liebe an.
„Eine solche Minute“, sprach er, „ist es wohl wert, daß man geboren wird, empfindet und -verschwindet!“ und er lächelte; die junge Frau hob die Hand mit mildem Vorwurf -und der Schatten auf ihrer Welt war wieder verschwunden, sie waren gar zu glücklich.
Und alles schien sich ihnen zu fügen, sie schritten voran in Ehre, in Wohlsein und Freude; ein Wechsel fand zwar statt, aber nur ein Ortswechsel, keiner im Genuß und in des Lebensfreude und Lust. Der
junge Mann wurde von seinem König als Gesandter an den kaiserlichen
Hof in Rußland geschickt, es war ein Ehrenamt, seine Geburt und seine
Kenntnisse gaben ihm ein Recht zu diesem Posten; ein großes Vermögen
besaß er, seine junge Frau hatte ihm ein nicht geringeres eingebracht, sie
war die Tochter eines reichen, angesehenen Kaufmannes. Eines der
größten, besten Schiffe dieses Kaufherrn sollte gerade in diesem Jahr nach
Stockholm gehen, es wurde bestimmt, daß es die lieben Kinder, Tochter
und Schwiegersohn, nach St. Petersburg führen solle, und an Bord ward
alles prächtig eingerichtet, reiche Teppiche für die Füße, Seide und Luxus
überall. Ein altes Heldenlied heißt: „Des Königs von England Sohn“; der segelte
auch an Bord eines prächtigen Schiffes, der Anker ward ausgelegt mit
rotem Gold, jedes Tau mit Seide durchflochten -an dieses Schiff mußte
man unwillkürlich denken, wenn man das aus Spanien sah, denn hier war
dieselbe Pracht, und derselbe Abschiedsgedanke drängte sich einem auf,
der Gedanke: Gott lasse uns alle in Freuden
einst wieder zusammenfinden! Und der Wind blies schön seewärts an der spanischen Küste, der Abschied
war nur ein kurzer; in wenigen Wochen würden sie das Ziel ihrer Reise
erreichen können; aber als sie auf die hohe See kamen, legte sich der
Wind, das Meer ward blank und still, die Sterne des Himmels strahlten, es
waren gleichsam Festabende, die in der reichen Kajüte verstrichen. Endlich wünschte man doch, daß es ein wenig Luft und Fahrtwind geben
möge, aber er blies nicht, und erhob sich ja einmal der Wind, da war es
immer Gegenwind; so vergingen Wochen, ja volle zwei Monde, erst dann
stellte sich der rechte Wind ein, er blies aus Südwest; das Schiff fuhr auf
der hohen See zwischen Schottland und Jütland, und der Wind nahm zu,
ganz wie in der alten Weise von „Des Königs von England Sohn.“ Da gab es ein Wetter und Wolkenguß,
kein Land, keinen Schutz sie fanden,
und sie warfen ihr Ankergold ­doch der Wind blies westeinwärts auf Dänemark. Das ist nun lange her. König Christian der Siebente saß damals auf dem
dänischen Thron und war noch ein junger Mann. Vieles ist seit der Zeit
geschehen, vieles hat gewechselt und sich verändert; See und Moorland
haben sich in grünende Wiesen verwandelt, Heide ist Ackerland geworden,
und im Schutz der Westjüten-Hütten wachsen Apfelbäume und Rosen,

Hans Christian Andersen – Eine Rose von Homers Grab

Hans Christian Andersen

Eine Rose von Homers Grab

In allen Liedern des Orients erklingt die Liebe der Nachtigall zu der Rose. In den schweigenden, sternklaren Nächten bringt der geflügelte Sänger seiner duftenden Blume eine Serenade dar.
Nicht weit von Smyrna, unter den hohen Platanen, wo der Kaufmann seine belasteten Kamele treibt, die stolz ihre langen Hälse erheben und schwerfällig über eine Erde stampfen, die heilig ist, sah ich eine blühende Rosenhecke. Wilde Tauben flogen zwischen den Zweigen der hochstämmigen Bäume, und die Flügel der Tauben glänzten, wenn ein Sonnenstrahl darüber hinglitt, als seien sie aus Perlmutter gemacht.
In der Rosenhecke war eine Blüte von allen die schönste, und für sie sang die Nachtigall von ihrem Liebesschmerz, aber die Rose war stumm, nicht ein Tautropfen lag, wie eine Träne des Mitleidens, auf ihren Blättern, sie neigte sich auf ihrem Zweige über einige große Steine.
„Hier ruht der Erde größter Sänger!“ sagte die Rose, „über seinem Grabe will ich duften, meine Blätter will ich darauf verstreuen, wenn der Sturm sie mir abstreift. Der Ilias‘ Sänger ward zu Erde in dieser Erde, aus der ich sprieße! -Ich, eine Rose von Homers Grab, bin zu heilig, um für eine armselige Nachtigall zu blühen!“
Und die Nachtigall sang sich zu Tode!
Der Kameltreiber kam mit seinen beladenen Kamelen und seinen schwarzen Sklaven. Sein kleiner Sohn fand den toten Vogel und beerdigte ihn in des großen Homers Grab; und die Rosen bebten im Winde. Der Abend kam. Die Rose faltete ihre Blätter dichter zusammen und träumte,­sie träumte, es wäre ein herrlicher Sonnentag. Eine Schar fremder fränkischer Männer kam her, sie hatten eine Pilgerreise zu Homers Grab gemacht. Unter den Fremden war ein Sänger aus dem Norden, aus der Heimat der Nebel und Nordlichter. Er brach die Rose, preßte sie in einem Buche und nahm sie so mit sich nach einem anderen Weltteil hinüber, mit nach seinem fernen Vaterland. Und die Rose welkte vor Kummer und lag in dem engen Buche, das er in seinem Heim öffnete, und er sagte: „Hier ist eine Rose von Homers Grab.“
Sieh, das träumte die Blume und sie erwachte und zitterte im Windel Ein Tautropfen fiel von ihren Blättern auf des Sängers Grab; da ging die Sonne auf, und die Rose blühte schöner als zuvor. Der Tag wurde heiß, es war ja im heißen Asien. Da schallten Fußtritte, fremde Franken kamen, wie sie die Rose im Traume gesehen hatte, und unter diesen Fremden war ein Dichter aus dem Norden; er brach die Rose, drückte einen Kuß auf ihren frischen Mund, und führte sie mit sich in die Heimat der Nebel und der Nordlichter. Wie eine Mumie ruht nun die Blumenleiche in seiner llias, und wie im Traume hört sie ihn das Buch öffnen und sagen: „Hier ist eine Rose von Homers Grab!“

Hans Christian Andersen – Ein Herzeleid

Hans Christian Andersen

Ein Herzeleid

Diese Geschichte besteht eigentlich aus zwei Teilen; der erste Teil könnte zwar wegfallen -aber er gibt uns einige Vorkenntnisse, und die sind nützlich!
Wir sind auf dem Lande, auf einem Herrenhause, wo es sich ereignet hatte, daß die Herrschaft auf einige Tage verreist war. Währenddessen kam aus dem nächsten Städtchen eine Madame an, sie führte einen Mops bei sich und kam, wie sie sagte, damit man Aktien auf ihre Gerberei nehmen möge. Sie hatte ihre Papiere mit, und wir rieten ihr, sie in einen Umschlag zu legen und darauf die Anschrift des Gutsbesitzers ‚Herrn Generalkriegskommissarius, Ritter usw.‘ zu schreiben.
Sie hörte uns aufmerksam zu, ergriff die Feder, hielt wieder inne und bat uns, wir möchten die Anschrift wiederholen, aber langsam. Wir taten es, und sie schrieb; allein inmitten des ‚Generalkriegs…‘ blieb sie stecken, seufzte tief auf und sagte: „Ich bin nur ein Frauenzimmer!“ -Ihr ‚Moppelchen‘ hatte sich, während sie schrieb, auf den Fußboden gesetzt und knurrte, war doch der Hund auch seines Vergnügens und seiner Gesundheit wegen mitgereist, und dann soll einem nicht der Fußboden angetragen werden. Stumpfnase und Speckbuckel waren seine äußere Erscheinung.
„Er beißt nicht!“ sagte die Dame, „er hat keine Zähne. Er ist gleichsam ein Mitglied der Familie, treu und knurrig, allein dazu haben ihn meine Enkel gereizt; sie spielen Hochzeit, und ihm wollen sie die Rolle der Brautjungfer geben, das strengt ihn zu sehr an, das alte Fell!“
Sie gab ihre Papiere ab und nahm das Moppelchen auf den Arm. -Dies ist der erste Teil -den man füglich hätte entbehren können!
Das Moppelchen starb! Das ist der zweite Teil.
Es war ungefähr eine Woche später; wir kamen in der Stadt an und kehrten im Gasthofe ein. Unsere Fenster führten auf den Hofraum, der durch eine Bretterwand in zwei Teile gesondert war; in der einen Hälfte hingen Felle und Häute, rohe und gegerbte. Hier befanden sich alle Materialien einer Gerberei, und die gehörte der Witwe. -Moppelchen war an diesem Morgen gestorben und in diesem Teile des Hofraumes begraben worden; die Enkel der Witwe, das heißt, die der Gerberwitwe, denn Moppelchen war nie verheiratet, deckten das Grab zu, und es war ein schönes Grab, es mußte ein wahres Vergnügen sein, darin zu liegen.
Das Grab war mit Topfscherben eingezäunt und mit Sand bestreut; ganz oben hatten sie eine halbe Bierflasche hingepflanzt, den Hals nach oben gekehrt, und das war durchaus nicht allegorisch.
Die Kinder tanzten um das Grab herum, und der älteste der Knaben unter ihnen, ein praktischer Junge von sieben Jahren, machte den Vorschlag, daß eine Ausstellung der Moppelchen-Grabstätte stattfinden solle, und zwar für alle aus dem Gäßchen; der Eintritt solle mit einem Hosenknopfe bezahlt werden. Einen solchen besäße jeder Knabe, und jeder könne gleichfalls einen für ein kleines Mädchen hergeben; dieser Vorschlag wurde einstimmig genehmigt.
Alle Kinder aus dem Gäßchen, ja selbst aus dem Hintergäßchen strömten herbei, und jedes gab einen Knopf. Viele gingen an diesem Nachmittage nur mit einem Hosenträger umher, aber dafür hatte man das Grab des Moppelchen gesehen, und der Anblick war viel mehr wert.
Doch draußen vor dem Gerberhofe, dicht neben dem Eingange, stand ein kleines, im Lumpen gekleidetes Mädchen, gar schön von Gestalt, mit gelocktem Haar und mit Augen, blau und klar, daß es eine Lust war. Es sprach kein Wort, es weinte auch nicht, aber jedesmal, wenn das Pförtchen sich öffnete, warf es einen langen, langen Blick in den Hof. Es hatte keinen Knopf, das wußte es wohl, und deshalb blieb es traurig draußen stehen, bis alle die anderen das Grab gesehen und sich wieder entfernt hatten; alsdann setzte es sich nieder, hielt die kleinen braunen Hände vor die Augen und brach in Tränen aus; das Mädchen allein hatte Moppelchens Grab nicht gesehen. Es war ein Herzeleid, so groß wie ein Erwachsener es nur empfinden kann.
Wir sahen dies von oben -und von oben gesehen, ja, dann können wir darüber lächeln -über dieses, wie über manches eigene und anderer Leute Herzeleid! -Das ist die Geschichte, und derjenige, der sie nicht versteht, mag sich eine Aktie in der Gerberei bei der Witwe kaufen.

Hans Christian Andersen – Ein Stück Perlenschnur

Hans Christian Andersen

Ein Stück Perlenschnur

I
Die Eisenbahn in Dänemark erstreckt sich bis jetzt nur von Kopenhagen bis Korsör, sie ist ein Stück Perlenschnur, Perlen, an denen Europa so reich ist; die kostbarsten Perlen heißen da: Paris, London, Wien, Neapel! Mancher nennt jedoch nicht diese großen Städte seine schönsten Perlen, aber dagegen zeigt er auf eine kleine unauffällige Stadt, die ist das Heim der Heimat, da wohnen die Lieben! Ja, oft ist es nur ein einzelner Hof, ein kleines Haus zwischen grünen Hecken verborgen, ein Punkt, der hinfliegt, während der Eisenbahnzug vorbeijagt.
Wie viele Perlen sind da auf der Schnur von Kopenhagen bis Korsör? Wir wollen sechs betrachten, denen die meisten Aufmerksamkeit schenken müssen, alte Erinnerungen und die Poesie selber geben diesen Perlen einen Glanz, daß sie in unsere Gedanken strahlen.
Nahe vom Hügel, wo Friedrichs VI. Schloß liegt, Oehlenschlägers Kindheitsheim, glänzt im Schutz von dem Waldgrund der Südmark eine der Perlen, man nannte sie „Philemons und Baucis‘ Hütte“, das heißt, das Heim zweier liebevoller alter Leute. Hier wohnte Rahbeck mit seiner Frau Camma; hier unter ihrem gastfreien Dach versammelten sich ein Menschenalter lang viele der Starken im Geiste aus dem eiligen Kopenhagen, hier war ein Heim des Geistes, … und nun! Sag nicht: „Ach wie verändert!“ nein, noch ist es das Heim des Geistes, das Treibhaus für die erkrankten Pflanzen! Die Blumenknospe, die nicht kräftig genug ist, sich zu entfalten, bewahrt doch verborgen, alle Keime zu Blatt und Frucht. Hier glänzt die Sonne des Geistes hinein in ein umschlossenes Heim des Geistes, belebt und macht lebendig; die Welt ringsum strahlt herein durch die Augen in des Geistes unerforschte Tiefe. Das Schwachsinnigenheim, umschwebt von Menschenliebe, ist eine heilige Stätte, ein Treibhaus für die kranke Pflanze, die einmal umgepflanzt werden soll und blühen in Gottes Blumengarten. Die Schwächsten im Geiste versammeln sich nun hier, wo einmal die Größten und Kräftigsten sich trafen, Gedanken tauschten und höher erhoben wurden -höher hinauf loht noch die Flamme der Seelen hier in „Philemons und Baucis‘ Hütte“.
Die Stadt der Königsgräber mit Hroars Quelle, das alte Roskilde liegt vor uns! Der Kirche schlanke Turmspitze erhebt sich über die niedrige Stadt und spiegelt sich im Iselfjord. Ein Grab nur wollen wir hier besuchen, es betrachten in der Perle Schein; es ist nicht das der mächtigen Unionskönigin Margrethe -nein, drinnen im Kirchhof an dessen weißen Mauern wir dicht vorbeifliegen, ist das Grab, ein geringer Stein ist darübergelegt, der Orgelkönig, der Erwecker dänischer Lieder, ruht hier. Melodien in unserer Seele wurden die alten Sagen; wir empfanden, wie „die klaren Wogen rollten“, „es lag ein König im Felde!“ -Roskilde, Stadt der Königsgräber, in deiner Perle wollen wir auf das geringe Grab blicken, wo in den Stein die Leier und der Name: Weyse gehauen ist.
Nun kommen wir nach Sigersted, bei der Stadt Ringsted; das Bachbett ist niedrig; das gelbe Korn wächst, wo Hagbarths Boot anlegte, nicht weit von Signes Frauengemach. Wer kennt nicht die Sage von Hagbarth, der in der Eiche hing, und von Signelils Gemach, das in Flammen stand, die Sage von der starken Liebe.
„Schönes Sorö, umkränzt von Wäldern!“ Deine stille Klosterstadt hat einen Ausguck zwischen den moosbewachsenen Bäumen erhalten; mit Jugendblick sieht es von der Akademie über die See nach der Weltlandstraße hinaus, hört der Lokomotive Drachen keuchen, während er durch den Wald fliegt. Sorö, du Perle der Dichtung, die Holbergs Staub bewahrt! Wie ein mächtiger, weißer Schwan liegt dein Wissensschloß an dem tiefen Waldsee, und auf zu ihm, wie die weiße Sternblume im Waldgrund, schimmert ein kleines Haus, und das suchen unsere Augen, fromme Psalmen klingen von dort aus durch das ganze Land, das Wort wird dort gesprochen, der Bauer selber horcht darauf und kennt Dänemarks entschwundene Zeiten. der grüne Wald und der Vogelgesang gehören zusammen, so auch die Namen Sorö und Ingemann.
Zu Stadt Slagelse -! Was spiegelt sich hier in der Perle Schein? Verschwunden sind das Antvorwald-Kloster, verschwunden des Schlosses reiche Säle, selbst sein einsam stehender verlassener Flügel; doch ein altes Zeichen steht noch, erneut und wieder erneut, ein Holzkreuz auf der Höhe dort, wo zur Zeit der Legend der heilige Anders, der Priester von Slagelse, erwachte, der in einer Nacht von Jerusalem hierhin getragen wurde.
Korsör -hier wurdest du geboren, der uns gab:
„-Scherz mit Ernst gemischt in Weisen von Knud Seeländer.“
Du Meister in Wort und Witz! Die sinkenden, alten Wälle der verlassenen Festung sind nun hier die letzten sichtbaren Zeuges des Heims deiner Kindheit; wenn die Sonne untergeht, zeigen ihre Schatten hin auf den Fleck, wo dein Geburtshaus stand; von diesen Wällen nach Sprogös Höhe blickend sahst du, als du „klein warst“, „den Mond hinter die Insel gleiten“ und besangst ihn unsterblich, wie du später die Berge der Schweiz besangst, du, der herumzog in dem Labyrinth der Welt und fand:
„… nirgends blühen die Rosen so reich, und nirgends sind die Dornen so klein, und nirgends sind die Kissen so weich, als wo unsere Unschuld schlummerte ein.“
Der Fröhlichkeit bezaubernder Sänger! Wir flechten dir einen Kranz von Waldmeister und werden ihn in die See, und die Woge wird ihn zu der Kieler Bucht tragen, in deren Küste dein Staub gelegt ist; er bringt einen Gruß von dem jungen Geschlecht, einen Gruß von der Geburtsstand Korsör -wo die Perlenschnur aufhört.
II
„Das ist freilich ein Stück Perlenschnur von Kopenhagen bis Korsör“, sagte die Großmutter, die vorlesen gehört hatte, was wir nun eben lasen. „Das ist eine Perlenschnur für mich, und das wurde sie mir schon von nun mehr als vierzig Jahren“, sagte sie. „Da hatten wir keine Dampfmaschinen, wir brauchten Tage zu dem Weg, wo ihr jetzt nur Stunden braucht. Das war 1815; da war ich einundzwanzig Jahre alt; das ist ein schönes Alter; Aber schon in den Sechzigern, das ist auch ein schönes Alter, ein gesegnetes! In meiner Jugend, ja, da war es eine andere Seltenheit als jetzt, nach Kopenhagen zu kommen, der Stadt aller Städte, wie es uns schien. Meine Eltern wollten nach zwanzig Jahren wieder einmal einen Besuch dort machen, ich sollte mit; von der Reise hatten wir seit Jahren gesprochen, und nun sollte sie wirklich vor sich gehen! Mir schien, daß ein ganz neues Leben beginnen würde, und in einer Weise begann da auch für mich ein neues Leben.
Es wurde genäht, und es wurde gepackt, und als wir nun fort sollten, ja, wie viele gute Freunde kamen nicht, um uns Lebewohl zu sagen! Es war eine große Reise, die wir vorhatten! Spät am Vormittag fuhren wir aus Odense in meiner Eltern holsteinischem Wagen, Bekannte nickten von den Fenstern die ganze Straße entlang, fast bis wir ganz beim St. Jörgstor heraußen waren. Das Wetter war schön, die Vögel sangen, man vergaß, daß es ein langer, schwerer Weg bis Nyborg war; gegen Abend kamen wir dahin; die Post traf erst zur Nacht ein, und früher ging die Fähre nicht ab; wir gingen da an Bord. Da lag nun vor uns das große Wasser, so weit unsere Augen reichten, ganz windstill!
Wir legten uns in unseren Kleidern nieder uns schliefen. Als ich in der Morgenstunde erwachte und aufs Deck kam, war nicht das mindeste auf irgendeiner Seite zu sehen, solch einen Nebel hatten wir. Ich hörte die Hähne krähen, nahm war, daß die Sonne aufging, die Glocken klangen; wo waren wir? Der Nebel hob sich, und wir lagen wirklich noch gerade vor Nyborg. Später am Tage wehte endlich ein schwacher Wind, aber er stand entgegen; wir kreuzten und kreuzten, und endlich waren wir so glücklich, daß wir etwas nach elf Uhr nachts Korsör erreichten, da hatten wir zweiundzwanzig Stunden zu den vier Meilen gebraucht.
Es tat gut, ans Land zu kommen; aber dunkel war es, die Laternen brannten schlecht, und alles war so wildfremd für mich, die nie in einer anderen Stadt als in Odense gewesen war.
„Sieh, hier wurde Baggesen geboren“, sagte mein Vater, „und hier lebte Birckner!“
Da schien es mir, daß die alte Stadt mit den kleinen Häusern auf einmal größer und lichter wurde; wir fühlten uns auch so froh, wieder festen Boden unter uns zuhaben; schlafen konnte ich diese Nacht nicht über all dem vielen, das ich schon gesehen und erlebt hatte, seit ich am Tag zuvor von zu Hause aufbrach.
Am nächsten Morgen mußten wir früh auf, wir hatten einen schlimmen Weg vor uns mit schrecklichen Hügeln und vielen Löchern, bis wir Slagelse erreichten, und von dort weiter auf der anderen Seite war es wohl nicht viel besser, und wir wollten so gerne beizeiten nach dem Krebshaus kommen, damit wir von dort noch am Tage nach Sorö hineingehen und Möllers Emil besuchen könnten, wie wir ihn nannten, ja, das war euer Großvater, mein seliger Mann, der Propst, er war Student in Sorö und damals gerade mit seinem zweiten Examen fertig.
Wir kamen am Nachmittag zum Krebshaus; das war damals ein eleganter Ort, das beste Wirtshaus auf dem ganzen Wege und die reizendste Gegend, ja, das müßt ihr doch alle einräumen, daß es das noch ist. Es hatte eine tüchtige Wirtin, Madame Planbek, alles im Hause war wie ein glattgescheuertes Hackbrett. An der Wand hing in Glas und Rahmen Baggesens Brief an sie, das war wohl wert anzusehen! Mir war es eine große Merkwürdigkeit. -Dann gingen wir hinauf nach Sorö und trafen da Emil. Ihr könnt glauben, er war froh, uns zu sehen, und wir, ihn zu sehen, er war so gut und aufmerksam. Mit ihm sahen wir dann die Kirche mit Absaloms Graf und Holbergs Sarg; wir sahen die alten Mönchsinschriften, und wir fuhren über den See zum „Parnaß“, es war der schönste Abend, dessen ich mich entsinne! Mir schien freilich, wenn man irgendwo in der Welt sollte dichten können, daß das in Sorö sein müßte, in diesem Frieden und dieser Schönheit der Natur. Dann gingen wir im Mondschein den Philosophengang, wie sie es nannten, den schönen einsamen Weg den See und Sumpf entlang hinaus auf die Landstraße zur Krebshaus; Emil blieb und aß mit uns, Vater und Mutter fanden, daß er so klug geworden war und so gut aussah. Er versprach uns, daß er in fünf Tagen in Kopenhagen bei seiner Familie und mit uns zusammen sein würde; es war ja Pfingsten. Die Stunden in Sorö und beim Krebshaus,ja, die gehörten zu den schönsten Perlen meines Lebens.
Am nächsten Morgen brachen wir sehr früh auf, denn wir hatten einen langen Weg, ehe wir Roskilde erreichten, und da mußten wir sehr beizeiten sein, damit wir die Kirche sehen und Vater gegen Abend einen alten Schulkameraden besuchen könnte; das geschah auch, und so blieben wir über Nacht in Roskilde und den Tag darauf, aber erst zur Mittagszeit, denn das war der schlechteste, der ausgefahrenste Weg, den wir zurückzulegen hatten, kamen wir nach Kopenhagen. Es waren ungefähr drei Tage, die wir von Korsör bis Kopenhagen gebraucht haben, nun macht ihr denselben Weg in drei Stunden. Die Perlen sind nicht köstlicher geworden, das können sie nicht; aber die Schnur ist neu und wunderbar geworden. Ich blieb mit meinen Eltern drei Wochen in Kopenhagen, mit Emil waren wir da ganze acht Tage zusammen, und als wir dann nach Fünen zurückreisten, begleitete er uns von Kopenhagen bis Korsör; dort verlobten wir uns, bevor wir uns trennten! So könnt ihr doch wohl verstehen, daß auch ich den Weg von Kopenhagen bis Korsör ein Stück Perlenschnur nenne.
Später, als Emil die Pfründe erhielt, heirateten wir; wir sprachen oft von der Kopenhagener Reise und davon, sie wieder einmal zu machen, aber da kam erst eure Mutter, und dann bekam sie Geschwister; und da war viel zu tun und zu behüten, und als nun Vater befördert und Propst wurde, ja, da war es schon eine Freude und ein Segen, aber nach Kopenhagen kamen wir nicht. Ich kam nie wieder hin, wie oft wir auch daran dachten und davon sprachen, und nun bin ich zu alt geworden, habe nicht mehr den rechten Körper, um auf der Eisenbahn zu fahren; aber über die Eisenbahnen bin ich froh, es ist ein Segen, daß man sie hat! Da kommt ihr schneller zu mir! Nun ist Odense ja nicht viel weiter von Kopenhagen, als in meiner Jugend Odense von Nyborg war! Ihr könnt nun ebenso schnell nach Italien fliegen, als wir nach Kopenhagen reisten! Ja, das ist etwas“ ­Trotzdem bleibe ich sitzen, ich lasse die andern reisen, lasse sie zu mir kommen! Aber ihr sollt doch nicht lächeln, weil ich so still sitze! Ich habe eine ganz anders große Reise vor als eure, eine weit schnellere, als mit den Eisenbahnen: wenn Gott will, reise ich hinauf zum Großvater, und wenn ihr dann euer Werk ausgerichtet und euch hier an dieser gesegneten Welt gefreut habt, dann weiß ich, daß ihr zu uns hinaufkommt und wir dann dort von den Tagen unseres Erdenlebens sprechen, glaubt mir, Kinder, ich sage auch dort wie jetzt: von Kopenhagen bis Korsör, ja, das ist freilich ein Stück Perlenschnur.“

Hans Christian Andersen – Ein Unterschied ist da

Hans Christian Andersen

Ein Unterschied ist da

Es war im Maimonat, der Wind blies noch kalt; aber „Der Frühling ist da“, sagten Büsche und Bäume, Feld und Flur; es wimmelte von Blumen bis in die lebendigen Hecken hinauf. Dort führte der Frühling selbst seine Sache, er predigte von einem kleinen Apfelbaume herab, dort hing ein einziger Zweig, frisch und blühend, mit feinen, rosenroten Knospen überstreut, die im Begriff waren, sich zu öffnen. Er wußte recht wohl, wie schön er sei, denn es liegt im Blatte sowohl wie im Blute; deshalb überraschte es ihn auch nicht, als ein herrschaftlicher Wagen vor ihm anhielt und die junge Gräfin sagte, daß ein Apfelzweig das Lieblichste sei, das man sehen könne; er sei der Frühling selbst in seiner herrlichsten Offenbarung. Der Zweig wurde abgebrochen, sie nahm ihn in ihre feine Hand und beschattete ihn mit ihrem seidenen Sonnenschirme -dann fuhren sie nach dem Schlosse mit seinen hohen Sälen und prächtigen Zimmern. Klare, weiße Gardinen flatterten vor den offenen Fenstern, herrliche Blumen standen in glänzenden, durchsichtigen Vasen, und in eine, die wie aus frischgefallenem Schnee geschnitten war, wurde der Apfelzweig zwischen frische, lichte Buchenzweige gesteckt; es war eine Lust, ihn zu sehen.
Da wurde der Zweig stolz.
Es kamen verschiedenartige Leute durch die Zimmer, und je nachdem sie etwas galten, durften sie ihre Bewunderung aussprechen. Einige sagten nichts, andere wiederum zu viel, und der Apfelzweig verstand es, daß ein Unterschied zwischen den Gewächsen sei.
„Einige sind zum Staate und einige zum Ernähren da; es gibt auch solche, die man ganz entbehren könnte“, meinte der Apfelzweig, und da er gerade vor dem offenen Fenster stand, von wo aus er in den Garten und auf das Feld sehen konnte, so hatte er Blumen und Gewächse genug, um sie zu betrachten und darüber nachzudenken; dort standen reiche und arme, einige gar zu ärmliche.
„Arme verstoßene Kräuter!“ sagte der Apfelzweig, „ein Unterschied ist freilich da! Wie unglücklich müssen sie sich fühlen, wenn die Art so fühlen kann wie ich und meinesgleichen; freilich ist ein Unterschied da, aber der muß auch gemacht werden, sonst wären sie ja alle gleich!“
Und der Apfelzweig sah mit gewissem Mitleid besonders auf eine Art von Blumen, die sich in Menge auf Feldern und in Gräben vorfanden. Keiner band sie zum Strauße; sie waren gar zu gewöhnlich, ja, man konnte sie selbst zwischen dem Steinpflaster finden. Sie schossen wie das ärgste Unkraut hervor und hatten den häßlichsten Namen, den man sich denken kann: Hundsblumen.
„Armes, verachtetes Gewächs!‘ sagte der Apfelzweig, „du kannst nichts dafür, daß du den häßlichen Namen erhieltest. Aber mit den Gewächsen ist es wie mit den Menschen, ein Unterschied muß sein!“
„Unterschied!“ sagte der Sonnenstrahl und küßte den blühenden Apfelzweig, küßte aber auch die gelben Hundsblumen draußen auf dem Felde, alle Brüder des Sonnenstrahls küßten sie, die armen Blumen wie die reichen.
Der Apfelzweig hatte niemals über Gottes unendliche Liebe gegen alles, was da lebt und sich bewegt, nachgedacht, nie auch darüber, wie viel Schönes und Gutes verborgen, aber nicht vergessen daliegen kann.
Der Sonnenstrahl, der Strahl des Lichtes, wußte es besser: „Du siehst nicht weit, du siehst nicht klar! -Welches ist das Verachtete Kraut, das du namentlich beklagst?‘
„Die Hundsblume!“ sagte der Apfelzweig. „Niemals wird sie zum Strauß gebunden, sie wird mit Füßen getreten; es sind ihrer zu viele, und wenn sie in Samen schießen, so fliegen sie wie kleingeschnittene Wolle über den Weg und hängen sich an die Kleider der Leute. Unkraut ist’s; aber auch das soll ja sein! -Ich bin wirklich dankbar, daß ich keine jener Blumen geworden bin!“
Und über das Feld kam eine Schar Kinder. Das jüngste war noch so klein, daß es von den andern getragen wurde. Als es zwischen die gelben Blumen in das Gras gesetzt wurde, lachte es laut vor Freude, zappelte mit den Beinchen, wälzte sich umher, pflückte nur die gelben Blumen und küßte sie in süßer Unschuld. Die etwas größeren Kinder brachen die Blumen von den hohen Stielen, bogen diese rund in sich selbst zusammen, Glied an Glied, so daß eine Kette daraus entstand; erst eine für den Hals, dann eine, um sie über die Schultern und um den Leib zu hängen, und dann noch eine, um sie auf der Brust und auf dem Kopf zu befestigen; das war eine Pracht von grünen Gliedern und Ketten! Aber die größeren Kinder faßten vorsichtig die abgeblühte Blume beim Stengel, der die gefiederte, zusammengesetzte Samenkrone trug; diese lose, lustige Wollblume, die ein rechtes Kunstwerk ist, wie aus den feinsten Federn, Flocken oder Daunen, hielten sie an den Mund, um sie mit einem Male rein abzublasen, und wer das konnte, bekam, wie die Großmutter sagte, neue Kleider, bevor das Jahr zu Ende ging. Die verachtete Blume war bei dieser Gelegenheit ein Prophet.
„Siehst du!“ sagte der Sonnenstrahl. „Siehst du ihre Schönheit, siehst du ihre Macht?“ „Ja, für Kinder!“ antwortete der Apfelzweig.
Und eine alte Frau kam auf das Feld und grub mit ihrem stumpfen, schaftlosen Messer um die Wurzel des Krautes und zog diese heraus; von einigen der Wurzeln wollte sie sich Kaffee kochen, für andere wollte sie Geld lösen in der Apotheke.
„Schönheit ist doch etwas Höheres!“ sagte der Apfelzweig. „Nur die Auserwählten kommen in das Reich des Schönen! Es gibt einen Unterschied zwischen den Gewächsen, wie es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt!“ Der Sonnenstrahl sprach von der unendlichen Liebe Gottes, die sich im Erschaffenen offenbart, und von allem, was Leben hat, und von der gleichen Verteilung aller Dinge in Zeit und Ewigkeit!
„Ja, das ist nun Ihre Meinung!“ sagte der Apfelzweig.
Es kamen Leute in das Zimmer, und die schöne, junge Gräfin erschien, sie, die den Apfelzweig in die durchsichtige Vase gestellt hatte, wo das Sonnenlicht strahlte; sie brachte eine Blume oder was es sonst sein mochte. Der Gegenstand wurde von drei bis vier großen Blättern verborgen gehalten, die wie eine Tüte um ihn gehalten wurden, damit weder Zug noch Windstoß ihm Schaden tun solle, und er wurde so vorsichtig getragen, wie es mit einem Apfelzweige niemals geschehen war. Vorsichtig wurden nun die großen Blätter entfernt, und man sah die feine, gefiederte Samenkrone der gelben, verachteten Hundsblume. Die hatte sie so vorsichtig gepflückt, so sorgfältig, damit nicht einer der feinen Federpfeile, die ihre Nebelgestalten bilden und lose sitzen, fortwehen solle. Unversehrt trug die Gräfin dieses kleine Naturwunder, diese sonst so verachtete Hundsblume durch das Zimmer und bewunderte ihre schöne Form, ihre luftige Klarheit, ihre ganz eigentümliche Zusammensetzung, ihre Schönheit, die so im Winde verwehen sollte.
„Sieh doch, wie wunderbar lieblich Gott sie gemacht hat“, sagte sie. „Ich will sie mit dem Apfelzweig zusammen malen, den finden alle so unendlich schön, aber auch diese alte Blume hat auf eine andere Weise ebensoviel vom lieben Gott erhalten; so verschieden sie auch sind, sind sie doch beide Kinder im Reiche der Schönheit.“ -Der Sonnenstrahl küßte die ärmliche Blume und den blühenden Apfelzweig, dessen Blätter dabei zu erröten schienen.