Hans Christian Andersen – Die Kröte

Hans Christian Andersen

Die Kröte

Der Brunnen war tief, darum war die Schnur lang. Die Winde ging sehr schwer, wenn man den Eimer mit Wasser über den Brunnenrand heben wollte. Die Sonne konnte niemals hinabgelangen und sich in dem Wasser spiegeln, wie klar es auch war, aber soweit sie in den Brunnen hineinscheinen konnte, wuchs Grün zwischen den Steinen.
Dort unten wohnte die Familie aus dem Geschlecht der Kröten, sie war eingewandert, sie war eigentlich kopfüber hinuntergekommen mittels der alten Krötenmutter, die noch lebte; die grünen Frösche, die hier seit viel längerer Zeit zu Hause waren und im Wasser herumschwammen, erkannten die Vetterschaft an und nannten sie »Brunnengäste«. Sie hatten die Absicht, hier unten zu bleiben, sie lebten hier sehr angenehm auf dem Trocknen; so nannten sie die nassen Steine.
Die Froschmutter war einmal auf Reisen gegangen, war im Wassereimer gewesen, als der in die Höhe ging, aber es wurde ihr zu hell, sie bekam Augenschmerzen, glücklicherweise gelang es ihr, aus dem Eimer zu entweihen; sie fiel mit einem schrecklichen Plumps ins Wasser und litt drei ganze Tage danach an Rückenschmerzen. Viel konnte sie nicht von der Welt da oben erzählen, aber das wußte sie, und das wußten sie alle, daß der Brunnen nicht die ganze Welt war. Die Krötenmutter, die hätte erzählen können, aber sie antwortete niemals, wenn man fragte, und da fragte man lieber gar nicht.
»Dick und häßlich, fett und gräßlich ist sie!« sagten die jungen, grünen Frösche. »Ihre Jungen werden auch ebenso häßlich.«
»Das mag wohl sein!« sagte die Krötenmutter. »Aber eins von ihnen hat einen Edelstein im Kopf, sonst habe ich ihn.«
Und die grünen Frösche hörten es und sie glotzten, und da ihnen das gar nicht gefiel, so schnitten sie eine Fratze und gingen auf den Grund. Aber die jungen Kröten streckten die Hinterbeine vor lauter Stolz, eine jede glaubt, den Edelstein zu haben, und daher saßen sie ganz still mit dem Kopfe da, aber endlich fragten sie, worauf sie eigentlich stolz seien und was so ein Edelstein eigentlich sei.
»Das ist etwas so Herrliches und Köstliches«, sagte die Krötenmutter, »daß ich es nicht beschreiben kann. Das ist etwas, was man zu seinem eigenen Vergnügen trägt und worüber die andern sich ärgern. Aber fragt mich nicht, ich antworte doch nicht!«
»Ja, ich habe den Edelstein nicht«, sagte die kleinste Kröte; sie war so häßlich, wie sie nur sein konnte. »Warum sollte ich auch eine solche Herrlichkeit haben? Und wenn sich andre darüber ärgern, kann ich mich ja nicht darüber freuen! Nein, ich wünsche mir, daß ich einmal an die Brunnenkante hinaufkommen und hinaussehen könnte; das muß herrlich sein!«
»Bleib du nur, wo du bist«, sagte die Alte, »da weißt du, was du hast und das kennst du! Nimm dich vor dem Eimer in acht, der zerquetscht dich! Und wenn du glücklich in ihn hineinkommst, so kannst du herausfallen; nicht alle fallen so glücklich wie ich und behalten ihre heilen Glieder und ihre Eier!«
»Quack!« sage die Kleine, und das war so, als wenn wir Menschen »Ach« sagen.
Sie hatte so eine Lust, auf den Brunnenrand hinaufzukommen und sich umzusehen; sie empfang eine solche Sehnsucht nach all dem Grünen da oben, und als am nächsten Morgen zufällig der Eimer mit Wasser gefüllt und in die Höhe gezogen wurde und gerade vor dem Stein anhielt, auf dem die Kröte saß, durchzuckte es das Tier, es sprang in den vollen Eimer hinein, fiel bis auf den Grund des Wassers, das dann aufgezogen und ausgegossen wurde.
»Pfui Teufel!« sagte der Knecht, der sie sah. »Das ist wahrhaftig das Greulichste, was ich je gesehen habe!« Und dann stieß er mit seinem Holzschuh nach der Kröte, die beinahe zerquetscht wäre, aber doch in die hohen Brennesseln entkam. Da sah sie einen Stengel neben dem andern, sie sah auch aufwärts; die Sonne schien auf die Blätter nieder, sie waren ganz durchsichtig; das war für die Kröte so, als wenn wir Menschen auf einmal in einen großen Wald kommen, wo die Sonne zwischen den Zweigen und Blättern hindurchscheint.
»Hier ist es viel schöner als unten im Brunnen! Hier möchte man sein ganzes Leben bleiben!« sagte die kleine Kröte. Sie lag dort eine Stunde, sie lag dort zwei Stunden. »Was wohl da draußen ist? Wenn ich so weit gekommen bin, muß ich sehen, daß ich weiter komme!« Und sie kroch, so schnell sie kriechen konnte, und kam auf den Weg hinaus, wo die Sonne sie beschien und der Staub sie bepuderte, während sie über die Landstraße hinübermarschierte.
»Hier ist man so recht auf dem Trocknen«, sagte die Kröte, »ich bekomme fast zuviel von dem Guten; es kribbelt in mir!« Jetzt kam sie an den Graben. Da wuchsen Vergißmeinnicht und Spiera, da waren lebende Hecken aus Holunder und Weißdorn, dort wuchsen Winden, »Marias weiße Hemdärmel«. Hier konnte man Farben sehen; auch ein Schmetterling flog da; die Kröte glaubte, es sei eine Blume, die sich losgerissen habe, um sich besser in der Welt umzusehen, das war ja so natürlich.
»Wenn man auch so schnell vorwärtskommen könnte wie die!« sagte die Kröte. »Quack, ach, wieviel Schönes ist hier zu sehen!«
Acht Tage und Nächte blieb sie hier am Graben, und es fehlte ihr nicht an Nahrung. Am neunten Tage dachte sie: »Weiter« -Aber ob sie etwas Schöneres finden würde? Vielleicht eine kleine Kröte oder ein paar grüne Frösche. Es hatte in der letzten Nacht so geklungen, als wenn Vettern in der Nähe wären.
»Es ist schön zu leben; aus dem Brunnen herauszukommen, in den Brennesseln zu liegen, auf dem staubigen Weg dahinzukriechen und in dem nassen Graben zu liegen! Aber vorwärts! Man muß doch versuchen, Frösche oder eine kleine Kröte zu finden, die kann man nicht entbehren, die Natur allein genügt einem nicht!« Und dann machte sie sich wieder auf die Wanderung.
Sie kam aufs Feld an einen großen Teich, der ringsumher mit Schilf bewachsen war; da hinein schlüpfte sie.
»Hier ist es wohl reichlich feucht für Sie«, sagten die Frösche, »aber Sie sind uns willkommen! -Sind Sie weiblichen oder männlichen Geschlechts? Aber das ist einerlei, Sie sind uns gleich willkommen!«
Und dann wurde sie zum Konzert am Abend eingeladen; Familienkonzert; große Begeisterung und dünne Stimmen, das kennen wir. Es gab keine Bewirtung, nur freie Getränke, der ganze Teich, wenn’s nötig war.
»Jetzt reise ich weiter!« sagte die kleine Kröte; sie hatte immer das Bedürfnis nach etwas Besserem.
Sie sah die Sterne schimmern, so groß und so klar; sie sah den Vollmond leuchten, sie sah die Sonne aufgehen, höher und höher.
Ich bin wohl noch immer im Brunnen, in einem großen Brunnen, ich muß höher hinauf! Ich habe eine Unruhe und eine Sehnsucht!« Und als der Mond ganz und rund wurde, dachte das arme Tier: »Ob das wohl der Eimer ist, der herabgelassen wird, und ob ich wohl hineinspringen muß, um höher hinaufzukommen? Oder ist die Sonne der große Eimer? Wie groß sie ist, wie strahlend, sie kann uns alle zusammen aufnehmen, ich muß die Gelegenheit benutzen! Ach, wie es in meinem Kopf leuchtet! Ich glaube nicht, daß der Edelstein besser leuchten kann! Aber den habe ich nicht, und ich weine deswegen nicht, nein, höher hinauf in Glanz und Freude! Ich habe eine ´Zuversicht, und doch empfinde ich eine Angst -es ist ein schwerer Schritt, den ich tun will! Aber man muß ihn tun! Vorwärts! Immer der Landstraße entlang!«
Und sie machte so große Schritte, wie sie so ein Krabbeltier nur machen kann, und dann war sie auf der großen Landstraße, wo die Menschen wohnten; da waren Blumengärten und Kohlgärten. Bei einem Kohlgarten machte sie Rast.
»Wie viele verschiedene Geschöpfe es doch gibt, die ich nie gekannt habe! Und wie groß und herrlich die Welt doch ist! Aber man soll sich auch darin umsehen und nicht immer auf einem Fleck sitzen bleiben.« Und dann hüpfte sie in den Kohlgarten hinein. »Wie grün es hier ist und wie schön!«
»Ja, das weiß ich recht gut!« sagte der Kohlwurm auf seinem Blatt. »Mein Blatt ist das größte hier drinnen! Es verbirgt die halbe Welt, aber die kann ich gut entbehren!«
»Gluck, gluck!« sagte es, da kamen Hühner, sie trippelten im Kohlgarten. Das erste Huhn war weitsichtig; es sah den Wurm auf dem krausen Blatt und pickte danach, so daß er auf die Erde fiel, wo er sich wand und drehte. Das Huhn sah erst mit dem einen Auge und dann mit dem andern, denn es wußte nicht, was aus dem Drehen und Winden werden würde.
»Gutwillig tut er es nicht!« dachte das Huhn und erhob den Kopf, um nach dem Wurm zu picken. Die Kröte erschrak so, daß sie ganz dicht an das Huhn herankroch.
»So, er hat Hilfstruppen!« sagte das Huhn. »So ein Wurmgezücht!« Und damit wandte es sich um. « Ich mache mir nichts aus dem kleinen grünen Mundvoll, der kitzelt ja nur im Hause!« Die andern Hühner waren derselben Ansicht, und dann gingen sie.
»Ich wand und krümmte mich, bis sie gingen!« sagte der Kohlwurm. »Es ist gut, Geistesgegenwart zu besitzen; aber das Schwerste steht mir noch bevor, auf mein Kohlblatt hinaufzukommen. Wo ist das nur?«
Und die kleine Kröte kam und äußerte ihre Teilnahme. Sie freute sich, daß sie die Hühnern mit ihrer Häßlichkeit verscheucht hatte.
»Was meinen Sie damit?« fragte der Kohlwurm. »Ich habe mich ja selber durch mein Krümmen und Winden befreit. Sie sind unangenehm anzusehen! Ich möchte gern in meinem eigenen Hause allein sein! Jetzt reise ich im Kohl! Jetzt bin ich bei meinem Blatt angelangt! Es gibt doch nicht Schöneres als das eigene Heim! Aber höher hinaus muß ich noch!« »Ja, höher hinauf«, sagte die kleine Kröte, »höher hinauf! Er hat dieselben Empfindungen wie ich! Aber er ist heute schlechter Laune, das kommt von dem Schrecken! Wir wollen alle höher hinaus!« Und sie sah so hoch empor, wie sie nur konnte.
Der Storch saß im Nest auf des Bauern Dach; er klapperte, und die Storchenmutter klapperte auch. In dem Bauernhause wohnten zwei junge Studenten, der eine war Poet, der andere Naturforscher; der eine sang und schrieb voller Freude von allem, was Gott geschaffen hatte und wie es sich in seinem Herzen spiegelte; er sang es in die Welt hinaus, kurz, klar und reich in klangvollen Versen; der andere griff die Dinge selber an, ja schnitt sie auf, wenn es not tat. Er faßte des lieben Gottes Schöpfung als großen Rechenexempel auf, subtrahierte, multiplizierte, wolle es in-und auswendig kennen und sprach mit Verstand davon, und es war wirklicher Verstand, und er sprach voller Freude und Klugheit davon. Es waren gute, fröhliche Menschen, alle beide.
»Da sitzt ja ein famoses Exemplar von einer Kröte!« sagte der Naturforscher. »Die muß ich in Spiritus setzen!«
»Du hast ja schon zwei solche!« meinte der Poet. »Laß die doch in Frieden sitzen und sich ihres Lebens freuen!«
»Aber sie ist so herrlich häßlich!« sagte der andere.
»Ja, wenn wir den Edelstein in ihrem Kopf finden könnten«, sagte der Poet, »dann wäre ich gleich mit dabei sie aufzuschneiden.«
»Den Edelstein!« sagte der andere. »Du scheinst mir viel Naturgeschichte zu wissen!«
»Aber liegt nicht gerade viel Schönes in dem Volksglauben, daß die Kröte, das allerhäßlichste Tier, in ihrem Kopf den köstlichsten Edelstein birgt? Geht es nicht mit den Menschen ebenso? Welchen Edelstein hatte nicht Äsop, und nun gar Sokrates!«
Mehr hörte die Kröte nicht, und sie verstand auch nicht die Hälfte von dem, was sie hörte. Die beiden Freunde gingen, und sie wurde davor bewahrt, in Spiritus gesetzt zu werden.
»Sie sprachen auch von dem Edelstein!« sagte die Kröte. »Ein Glück, daß ich ihn nicht hatte, sonst wäre ich in Ungemach gekommen!«
Da klapperte es auf dem Dach des Bauern; der Storchenvater hielt seiner Familie einen Vortrag, und die sah schief hernieder auf die beiden jungen Leute im Kohlgarten. »Der Mensch ist die eingebildetste Kreatur!« sagte der Storch. »Hört nur, wie ihm den Schnabel geht! Und dabei können sie doch nicht ordentlich klappern. Sie brüsten sich mit ihrer Redegabe, mit ihrer Sprache! Eine nette Sprache das! sobald sie nur eine Tagesreise machen, können sie sich nicht mehr verständlich machen; einer versteht den andern nicht mehr! Unsere Sprache können wir über die ganze Welt reden, inDänemark so gut wie in Ägypten. Fliegen können die Menschen auch nicht; sie behelfen sich mit einer Erfindung, die sie »Eisenbahn« nennen, aber auch dabei brechen sie sich noch oft genug den Hals. Es läuft mir kalt über den Schnabel, wenn ich nur daran denke. Die Welt kann sehr gut ohne Menschen bestehen. Wir könnten sie entbehren! Wenn wir nur die Frösche und Regenwürmer behalten!«
»Das war je eine gewaltige Rede!« dachte die kleine Kröte. »Was für ein großer Mann das ist! Und wie hoch er sitzt, und wie er schwimmen kann!« rief sie aus, als der Storch seine Flügel ausbreitete und durch die Lüfte dahinflog.
Und die Storchenmutter redete im Nest, sie erzählte von dem Land Ägypten, von dem Wasser des Nils und von all dem köstlichen Schlamm, der in dem fremden Lange war; das klang der kleinen Kröte ganz neu und lieblich.
»Ich muß nach Ägypten!« sagte sie. »Wenn mich nur der Storch mitnehmen wollte oder eins von seinen Jungen. Ich will ihm an seinemHochzeitstage wieder dienen. Ja, ich komme nach Ägypten, denn das Glück ist mir hold! All die Sehnsucht und die Lust, die ich in mir trage, ist wahrhaftig besser, als einen Edelstein im Kopf zu haben!«
Und dabei hatte sie gerade den Edelstein: die ewige Sehnsucht und Lust, aufwärts, immer aufwärts! Die leuchtete da drinnen, die leuchtete in Freude, die strahlte in Lust.
Da kam im selben Augenblick der Storch; er hatte die Kröte im Gras erspäht, flog herab und packte das kleine Tier gerade nicht allzu sanft. Der Schnabel klemmte, der Wind sauste, es war nicht angenehm, aber esging aufwärt, aufwärts, aufwärts nach Ägypten, das wußte die kleine Kröte, und darum strahlten ihre Augen, es war, als fliege ein Funke aus ihnen heraus: »Quack! Ach!«
Der Körper war tot, die Kröte war verendet. Aber der Funke aus ihrem Auge, wo blieb der?
Der Sonnenstrahl nahm ihn auf, der Sonnenstrahl trug den Edelstein aus dem Kopf der Kröte. Wohin? Danach mußt du den Naturforscher nicht fragen, frage lieber den Poeten; er erzählt es dir in Form eines Märchens. Und der Kohlwurm kommt auch darin vor und die Storchenfamilie. Denk nur! Der Kohlwurm verwandelt sich und wird ein herrlicher Schmetterling! Die Storchenfamilie fliegt über Berge und Meere fort nach dem fernen Afrika und findet doch wieder den kürzesten Weg in die Heimat zurück. nach demselben Ort, demselben Dach! Ja, das ist wirklich alles fast zu märchenhaft, und doch ist es wahr! Da kannst gern den Naturforscher fragen, er muß es zugeben; und du selber weißt es auch, denn du hast es gesehen.
Aber der Edelstein in dem Kopf der Kröte?
Suche ihn in der Sonne! Suche ihn, wenn du kannst!
Der Glanz dort ist zu stark. Wir haben noch keine Augen, die in all die Herrlichkeit hineinsehen können, die Gott geschaffen hat, aber wir werden sie einstmals bekommen, und das wird das schönste Märchen! Denn darin kommen wir selber auch vor.

Hans Christian Andersen – Die letzte Perle

Hans Christian Andersen

Die letzte Perle

Das war ein reiches Haus, ein glückliches Haus. Alles darin, Herrschaften wie Dienende und gleichzeitig auch ihre Freunde waren glückselig und fröhlich; heute war ein Erbe geboren, ein Sohn, und Mutter und Kind befanden sich wohl.
Die Lampe in dem behaglichen Schlafzimmer war halb überdeckt; schwere seidene Gardinen von kostbaren Stoffen hingen fest zugezogen vor den Fenstern. Der Teppich war dick und weich wie Moos; alles war wie geschaffen zum Schlummer, zum Schlafe, zum köstlichen Ruhen, und dem gab sich auch die Pflegerin hin, sie schlief, und das konnte sie mit ruhigem Gewissen; denn alles war gut und in seiner Ordnung. Des Hauses Schutzgeist stand am Kopfende des Bettes; über das Kind an der Mutter Brust hin breitete es sich reich, gleichsam wie ein Netz funkelnder Sterne aus, jeder Stern war eine Perle des Glückes. Des Lebens gute Feen, alle hatten sie dem Neugeborenen ihre Gaben gebracht. Hier funkelten Gesundheit, Reichtum, Glück und Liebe, kurz alles, was Menschen sich auf dieser Erde nur wünschen können.
„Alles ist nun gebracht und geschenkt!“ sagte der Schutzgeist.
„Nein“ ertönte eine Stimme dicht daneben; das war des Kindes guter Engel. „Eine Fee hat ihre Gabe noch nicht gebracht, aber sie bringt sie, bringt sie einmal, ob auch Jahre darüber vergehen werden. Die letzte Perle fehlt.“
„Fehlt? Hier darf nichts fehlen, und ist es wirklich so, so laß uns gehen und sie suchen, die mächtige Fee, laß uns zu ihr gehen.“
„Sie kommt, sie kommt einmal. Ihre Perle muß dabei sein, um den Kranz zusammenzubinden.“
„Wo wohnt sie? Wo ist ihre Heimat? Sage es mir ich gehe und hole die Perle.“
„Du willst es“ sagte des Kindes guter Engel. „Ich führe Dich zu ihr, wo sie auch zu treffen sein mag. Sie hat keine bleibende Stätte, sie kommt zu des Kaisers Schloß und zu dem ärmsten Bauer, an keinem Menschen geht sie spurlos vorüber, allen bringt sie ihre Gabe, sei sie eine Welt oder ein Spielzeug. Auch diesem Kinde wird sie begegnen. Du denkst, die Zeit ist gleich lang, aber nicht gleich nützlich. Nun wohl, laß uns gehen, die Perle zu holen, die letzte Perle zu diesem Reichtum.“ Und Hand in Hand schwebten sie zu der Stätte, die zu dieser Stunde die Heimat der Fee war.
Es war ein großes Haus mit düsteren Gängen, leeren Zimmern und seltsam stille; eine Reihe von Fenstern stand offen, damit die rauhe Luft recht herein dringen könne; die langen weißen, niederhängenden Gardinen bewegten sich im Luftzuge.
Mitten auf dem Fußboden stand ein offener Sarg und in diesem ruhte die Leiche einer Frau in den besten Jahren. Die herrlichsten frischen Rosen lagen über sie hingebreitet, so daß nur die gefalteten feinen Hände sichtbar waren und das im Tode verklärte, edle Antlitz mit der Weihe hohen, edlen Ernstes vor Gott.
Am Sarge standen Mann und Kinder, eine ganze Schar war es; das kleinste saß auf dem Arme des Vaters, sie brachten ihr das letzte Lebewohl dar. Der Mann küßte ihre Hand, die Hand, die nun wie welkes Laub war, und die sie alle vorher mit Kraft und Liebe gehegt und gepflegt hatte. Schwere, bittere Tränen fielen in großen Tropfen zu Boden; aber nicht ein Wort wurde gesprochen. Das Schweigen hier barg eine Welt von Schmerz in sich. Und stille schluchzend gingen sie fort.
Ein Licht stand da, die Flamme bewegte sich im Windzuge, der ausgebrannte Docht ragte lang und rotglühend empor. Fremde Leute traten ein; sie legten den Deckel über die Tote, sie schlugen die Nägel fest und dumpf dröhnten die Hammerschläge durch des Hauses Stuben und Gänge, dröhnten durch die blutenden Herzen.
„Wohin führst Du mich?“ fragte der Schutzgeist. „Hier wohnt keine Fee, deren Perle zu den besten Gaben des Lebens gehört!“
„An dieser Stätte wohnt sie, hier in dieser heiligen Stunde,“ sagte der Schutzengel und zeigte in eine Ecke, und dort, wo in den Tagen ihres Lebens die Mutter zwischen Blumen und Bildern gesessen hatte, wo sie alte des Hauses gütige Fee liebevoll dem Manne, den Kindern und den Freunden zugenickt hatte, wo sie als des Hauses Sonnenstrahl Freude verbreitete und des Ganzen Herz und Stütze war, da saß nun eine fremde Frau in langen seidenen Kleidern. Die Trauer war es, Herrscherin nun und Mutter an der Toten statt. Eine brennende Träne rollte in ihren Schoß nieder und verwandelte sich in eine Perle; sie funkelte in allen Farben des Regenbogens, und der Engel nahm sie, und die Perle leuchtete wie ein Stern in siebenfarbigem Glanze.
„Die Perle der Trauer, die letzte, die nicht fehlen darf. Durch sie erhöht sich der anderen Glanz und Macht. Siehst Du den Schein des Regenbogens hier, des Bogens Schein, der Himmel und Erde miteinander verbindet? Für jedes unserer Lieben, das uns stirbt, haben wir im Himmel einen Freund mehr, nach dem wir uns sehnen. In der Erdennacht blicken wir zu den Sternen empor, der Vollendung entgegen! Betrachte die Perle der Trauer, in ihr liegen die Schwingen der Seele. die uns von hinnen tragen.

Hans Christian Andersen – Die Lichter

Hans Christian Andersen

Die Lichter

Es war einmal ein großes Wachslicht, das wußte wohl, was es war. „Ich bin in Wachs geboren und in einer Form gegossen“, sagte dasselbe. „Ich leuchte heller und brenne länger als andere Lichter; mein Platz ist auf dem Kronleuchter oder auf seinem silbernen Leuchter.“
„Das muß eine schöne Stellung sein“, sagte das Talglicht. „Ich bin nur von Talg, nur ein gezogenes Licht, aber ich tröste mich damit, daß das doch immerhin ein wenig mehr ist, als ein Küchenlicht zu sein. Das wird nur zweimal eingetunkt, ich bin achtmal eingetunkt, um meine anständige Dicke zu bekommen. Ich bin zufrieden! Gewiß ist es feiner und glücklicher, so gestellt zu sein, daß man in Wachs und nicht in Talg geboren ist, aber man bestimmt ja nicht selber seine Stellung in der Welt. Sie kommen in der Staatsstube auf den Kronleuchter, ich bleibe in der Küche; aber das ist auch ein guter Ort, von welchem das ganze Haus seine Speise bekommt.“
„Aber es gibt etwas, welches wichtiger ist als die Speise“, sagte das Wachslicht, „ich meine die Geselligkeit! Sie strahlen sehen und selber strahlen! Hier im Hause ist diesen Abend ein Ball, ich werde nun ehestens mit meiner ganzen Familie abgeholt werden!“
Kaum war das gesagt, als alle Wachslichter abgeholt wurden, aber auch das Talglicht kam mit. Die Frau nahm es selber in ihre feine Hand und trug es hinaus in die Küche. Da stand ein kleiner Knabe mit einem Korbe, welcher mit Kartoffeln gefüllt wurde, und auch ein paar Äpfel kamen hinein. Das alles gab die gute Frau dem armen Knaben.
„Da hast du auch noch ein Licht, mein kleiner Freund“, sagte sie. „Deine Mutter sitzt die ganze Nacht bei der Arbeit, sie kann es brauchen.“
Die kleine Tochter des Hauses stand daneben, und als sie die Worte hörte „die ganze Nacht“, sagte sie mit innerlicher Freude: „Ich soll auch diese Nacht auf sein, wir sollen einen Ball haben, und ich bekomme die großen roten Schleifen an.“ Wie strahlte ihr Gesicht! Das war Freude! Kein Wachslicht kann glänzen wie zwei Kinderaugen!
„Das ist hübsch zu sehen“, dachte das Talglicht, „das vergesse ich nimmer, und das sehe ich wohl niemals wieder!“
Und nun war es in den Korb gelegt, unter den Deckel, und der Knabe ging damit fort. „Wo soll ich nun hin?“ dachte das Licht. „Ich soll zu armen Leuten, bekomme vielleicht nicht einmal einen Messingleuchter, während das Wachslicht in Silber sitzt und die feinste Gesellschaft sieht! Es war nun einmal mein Schicksal, Talg und nicht Wachs zu sein!“
Und das Licht kam zu den armen Leuten, einer Witwe mit drei Kindern, in einer niedrigen Stube, dem reichen Hause gegenüber.
„Gott segne die gute Frau für ihre Gabe“, sagte die Mutter, „das ist ja ein schönes Licht! Das kann die ganze Nacht hindurch brennen!“
Und das Licht wurde angezündet.
„Pfui! Pfui!“ sagte es. „Das war ein garstig riechendes Schwefelholz, mit dem sie mich anzündete. So etwas bietet man dem Wachslichte drüben in dem reichen Hause gewiß nicht!“
Auch drüben zündete man die Lichter an, sie strahlten auf die Straße hinaus, Wagen mit geputzten Ballgästen rollten heran, Musik erklang.
„Nun fangen sie da drüben an“, merkte das Talglicht und dachte an das freudestrahlende Gesicht des kleinen reichen Mädchens, welches heller strahlte als alle Wachslichter. „Der Anblick wird mir nimmer wieder!“
Da kam das kleinste von den Kindern in dem Hause der armen Witwe, ein kleines Mädchen war es, die fiel Bruder und Schwester um den Hals, sie hatte etwas sehr Wichtiges zu erzählen, das mußte sie ganz leise sagen: „Wir sollen heute abend -denkt nur! -wir sollen heute abend warme Kartoffeln haben!“ Und ihr Gesicht strahlte vor Glückseligkeit, das Licht fiel gerade auf dasselbe, es sah eine Freude, ein Glück, welches ebenso groß war wie in dem reichen Hause, wo das kleine Mädchen sagte: „Wir sollen heute abend einen Ball haben, und ich bekomme die großen roten Schleifen an!“ „Ist es denn ebenso viel, warme Kartoffeln zu bekommen?“ dachte das Licht. „Hier ist ja ebenso große Freude bei der Kleinen“ Darauf nieste es, das heißt, es sprützte. Mehr kann ein Talglicht nicht tun.
Das Tisch wurde gedeckt, die Kartoffeln verspeist, Oh, wie das schmeckt! Es war ein rechter Festschmaus, und nun bekam jedes Kind noch einen Apfel und das jüngste Kind sagte den kleinen Vers her:
„Du guter Gott, ich danke dir, heut gabst du wieder Speise mir! Amen.“
„Habe ich das nicht hübsch gesagt?“ rief dann die Kleine. „Danach mußt du nicht fragen, und das muß du nicht sagen“, erwiderte ihr die Mutter. „Du darfst nur allein an den lieben Gott denken, der dich gespeist hat.“
Die Kleinen gingen zu Bette, bekamen einen Kuß und schliefen gleich ein; und die Mutter saß und nähte bis spät in die Nacht, um ihr Auskommen für sie und für sich zu verdienen. Und drüben von dem reichen Hause her strahlten die Lichter und erklang die Musik. Die Sterne blinkten über allen Häusern der Reichen und der Armen gleich klar und gleich segenvoll.
„Das war eigentlich ein schöner Abend“, meinte das Talglicht. „Ob wohl die Wachslichter auf ihren silbernen Leuchtern es besser gehabt haben mögen? Das möchte ich gerne wissen, ehe ich ausgebrannt bin.“
Und es dachte an die beiden gleich Glücklichen, die eine von Wachslichtern, die andere von einem Talglichte bestrahlt.
Ja, das ist die ganze Geschichte.

Hans Christian Andersen – Die Lumpen

Hans Christian Andersen

Die Lumpen

Draußen vor der Fabrik standen in Haufen hoch aufgestapelte große Lumpenbündel, die von weit und breit gesammelt waren; jeder Lump hatte seine Geschichte, jeder führte seine Rede, aber man kann sie nicht alle zugleich hören. Einige Lumpen waren inländisch, andere waren aus fremden Landen. Hier lag nun ein dänischer Lump gleich neben einem norwegischen Lumpen; urdänisch war der eine, und stocknorwegisch war der andere, und das war das Komische an den beiden, wird jeder vernünftige Norweger und jeder vernünftige Däne sagen.
Sie erkannten nun einander an der Sprache, obgleich jede von ihnen, sagte der Norweger, so verschieden war wie Französisch und Hebräisch. „Wir gehen zur Quelle, um es ungefälscht und ursprünglich zu haben, und der Däne macht sich seine suzelsüße Quatschsprache.“
Die Lumpen redeten, und Lump ist Lump in jedem Lande, sie haben nur Geltung im Lumpenbündel.
„Ich bin norwegisch!“ sagte der Norweger. „Und wenn ich sage, daß ich norwegisch bin, so glaube ich, genug gesagt zu haben! Ich bin fest von Gewebe wie die Urberge im alten Norwegen, dem Land, das eine Verfassung hat wie das freie Amerika! Es kitzelt mich in allen Fasern, zu denken, was ich bin, und den Gedanken mit Erzdröhnen in Granitworten erklingen zu lassen!“
„Aber wir haben eine Literatur!“ sagte der dänische Lump. „Verstehen Sie, was das ist?“
„Verstehen!“ wiederholte der Norweger. „Flachlandsbewohner, soll ich ihn zum Berg erheben und ihm mit Nordlichtern heimleuchten, Lapp, der er ist! Wenn das Eis vor der norwegischen Sonne taut, dann kommen dänische Lastbote zu uns hinauf mit Butter und Käse, recht eßbaren Waren! Und da kommt als Ballast dänische Literatur mit. Wir brauchen sie nicht! Man entbehrt gerne abgestandenes Bier da, wo die frische Quelle sprudelt, und hier ist es ein Brunnen, der nicht gebohrt ist, nicht zu europäischer Kenntnis geschwatzt durch Zeitungen, Cliquenwesen und Verfasserreisen in das Ausland. Frei rede ich von der Leber weg, und der Däne muß sich an die freien Tage gewöhnen, und das will er in seinem skandinavischen Anklammern an unser stolzes Felsenland, den Urstamm der Welt!“ „So konnte nun niemals ein dänischer Lump reden! sagte der Däne. „Das ist nicht unsere Natur. Ich kenne mich selbst, und wie ich sind alle unsere Lumpen; wir sind so gutmütig, so bescheiden, wir glauben so wenig an uns selbst, und damit gewinnt man freilich nichts, aber ich kann das sogut leiden, ich finde es so reizend. Übrigens, das kann ich Ihnen versichern, kenne ich vollständig meine eigenen Qualitäten, aber ich spreche nicht davon, eines solchen Fehlers soll mich keiner beschuldigen können. Ich bin weich und biegsam, ertrage alles, beneide keinen, spreche gut von allen, ungeachtet nicht viel Gutes von den meisten anderen zu sagen ist, aber laß sie dabei! Ich habe nur immer ein Lächeln dafür, denn ich bin so begabt!“
„Sprechen Sie nicht diese weiche Flachlands-Kleister-Sprache zu mir, mich ekelt davor!“ sagte der Norweger und löste sich im Winde aus dem Bündel und kam in ein anderes hinüber.
Papier wurden sie alle beide, und der Zufall wollte, daß der norwegische Lump ein Papier wurde, auf dem ein Nordländer einen treusinnigen Liebesbrief an ein dänisches Mädchen schrieb, und der dänische Lump wurde das Manuskript einer dänischen Ode zum Preis von Norwegens Herrlichkeit.
Es kann auch etwas Gutes aus den Lumpen werden, wenn sie erst aus dem Lumpenbündel heraus sind und die Verwandlung geschehen ist zu Wahrheit und Schönheit, die in gutem Verstehen leuchten, und in diesem liegt der Segen.
Das ist die Geschichte, sie ist ganz vergnüglich und verletzt niemand außer -den Lumpen.

Hans Christian Andersen – Die Muse des neuen Jahrhunderts

Hans Christian Andersen

Die Muse des neuen Jahrhunderts

Die Muse des neuen Jahrhunderts, die die Kindeskinder unserer Kinder, vielleicht ein noch späteres Geschlecht, nicht aber wir kennenlernen werden, wann wird sie erscheinen? Wie wird sie aussehen? Was wird sie singen? Welche Saiten der Seele wird sie anschlagen? Auf welchen Höhepunkt wird sie ihr Zeitalter erheben?
So viele Fragen in unserer emsigen Zeit, wo die Poesie einem fast im Wege ist und man genau weiß, daß das viele „Unsterbliche“, welches die Poeten der Gegenwart schreiben, in Zukunft vielleicht nur ein Dasein führen wird wie Kohleinschriften auf Gefängniswänden, gesehen und gelesen nur von einzelnen Neugierigen.
Die Poesie muß Hand anlegen, muß wenigsten die Vorladung hergeben in den Parteikämpfen, in denen hier Blut, dort Tinte fließt.
Das sei ein einseitiges Gerede, sagen viele. Die Poesie sei nicht vergessen.
Nein, es gibt noch Menschen, die an ihrem „blauen Montag“ ein Bedürfnis nach Poesie haben und die alsdann gewiß, wenn sie dieses geistige Knurren in ihren betreffenden edleren Teilen wahrnehmen, in den Buchladen schicken und für einen ganzen Groschen Poesie von der bestempfohlenen kaufen lassen; einige begnügen sich mit derjenigen, die sie als Zugabe erhalten, oder sind mit den Stücken zufriedengestellt, das sie auf der Tüte aus dem Kaufladen bekommen; die ist billiger, und in unserer emsigen Zeit muß Rücksicht genommen werden auf Billigkeit. Ein Bedürfnis nach dem, was wir haben, ist vorhanden, und das genügt! Zukunftspoesie gehört wie Zukunftsmusik zu den Donquichotterien; von ihr zu reden, wäre wie von Reiseentdeckungen auf dem Uranus zu sprechen.
Die Zeit ist zu kurz bemessen und zu kostbar für Spiele der Phantasie, und was ist -damit wir einmal recht vernünftig reden -was ist Poesie? Diese klingenden Ergüsse der Gefühle und der Gedanken sind nur Schwingungen und Regungen der Nerven. Alle Begeisterung, alle Freude, jeder Schmerz, selbst das materielle Streben und Ringen sind, so sagen uns die Gelehrten, Nervenschwingungen. Wir sind, ein jeder von uns -ein Saitenspiel!
Allein wer greift in diese Saiten? Wer macht sie schwingen und zittern? Der Geist, der unsichtbare Geist der Gottheit, der läßt durch sie eine Regung, seine Stimmung erklingen, und er wird verstanden von den andern Saitenspielern, so daß sie dabei anklingen in zusammenschmelzenden Tönen und in des Gegensatzes kräftigen Dissonanzen. So war es, so bleibt es in dem freiheitsbewußten Vorwärtsschreiten der großen Menschheit!
Jedes Jahrhundert, jedes Jahrtausend, kann man auch sagen, hat den hohen Ausdruck seiner Größe in der Poesie; geboren in dem abgeschlossenen Zeitraum, tritt sie erst hervor und waltet in dem neuen, kommenden Zeitraum.
Geboren ist sie somit schon inmitten unserer emsigen, maschinenbrausenden Zeit, sie, die Muse des neuen Jahrhunderts. Unsern Gruß senden wir ihr! Sie hört ihn oder liest ihn einst, vielleicht zwischen jenen Kohleinschriften, die wir soeben erwähnten.
Ihre Wiege reichte von dem äußersten Punkt, den der Menschen Fuß bei den Nordpolforschungen betrat, bis dahin, wo das lebendige Auge die „schwarzen Kohlensäcke“ des Polarhimmels hineinschaut. Vor lauter klappernden Maschinen, Pfeifen der Lokomotive, Zersprengung wirklicher Felsen und alter Bande des Geistes hörten wir aber ihren Gang nicht. Geboren ist sie in der großen Fabrik der Jetztzeit, in welcher der Dampf seine Gewalt ausübt, wo Meister Blutlos und seine Gesellen Tag und Nacht arbeiten.
Sie besitzt das große, liebeerfüllte Herz des Weibes, mit der Flamme der Vestalin und dem Feuer der Leidenschaft. Der Blitz des Verstandes ward ihr gegeben in allen durch die Jahrtausende wechselnden Farben der Prismen, die nach der Modefarbe geschätzt wurden. Das mächtige Schwanengefieder der Phantasie ist ihre Pracht und ihre Stärke, die Wissenschaft hat es gewebt, die Urkräfte verliehen ihr die Schwungkraft.
Väterlicherseits ist sie das Kind des Volkes, mit gesunden Sinnen und Gedanken, mit Ernst im Blick, Humor auf der Lippe. Die Mutter ist die hochwohlgeborene, akademieerzogene Tochter des Emigranten mit den goldenen Rokokoerinnerungen. Die Muse des neuen Jahrhunderts hat Blut und Seele von diesen beiden.
Herrliche Patengeschenke wurden ihr in die Wiege gelegt. Die verborgenen Rätsel der Natur und deren Lösung wurden ihr als Bonbons in Mengen hingestreut; aus der Taucherglocke sind wunderbare „Nippes“ da, aus der Meerestiefe heraufgehört; die Himmelskarte, dieser aufgehängte stille Ozean mit Myriaden von Inseln, jede eine Welt, war abgedruckt auf ihrer Wiegendecke. Die Sonne malte ihr Bilder; die Photographie mußte ihr Spielzeug geben. Ihre Amme hat ihr vorgesungen aus Eyvind des Skalden nordischen Liedern, aus den Minnegesängen und was Heine in knabenhaftemÜbermut aus seiner wirklichen Díchterseele sang. Viel, gar zu viel hat ihre Amme ihr erzählt, sie kennt die Edda, die grausenerweckenden Sagas der alten Urgroßmutter, in welchen mehr denn ein Fluch mit blutigen Flügelschlägen dahinsaust. Sie hat die ganzen Tausendundeine-Nacht-Märchen während einer einzigen Viertelstunde erzählen hören.
Die Muse des neuen Jahrhundert ist noch ein Kind; allein sie ist aus der Wiege herausgesprungen, sie ist starken Willens, ohne zu wissen, was sie will.
Noch spielt sie in ihrer großen Kinderstube bei der Amme, wo es Kunstschätze aus dem Rokoko in Hülle und Fülle gibt. Die griechische Tragödie und das römische Lustspiel stehen dort in Marmor gemeißelt, die Volkslieder der Nationen hängen als getrocknete Pflanzen an den Wänden, durch einen Kuß schwellen sie wieder in Frische und Duft. Sie ist umbraust von ewigen Akkorden von Beethoven, Gluck, Mozart und den tönenden Gedanken aller großen Meister. Auf dem Bücherregal liegen gar viele, die zu ihrer Zeit unsterblich waren, und Platz ist genug für viele andere, deren Namen wir durch den Telegraphendraht der Unsterblichkeit klingen hören, die aber mit dem Telegramm verklingen.
Erstaunlich viel hat sie gelesen, viel zu viel, ist sie doch in unserer Zeit geboren, sehr viel muß wieder vergessen werden, und die Muse wird es zu vergessen wissen.
Sie denkt nicht an ihren Sang, der sich in einem neuen Jahrtausend emporschwingen und leben wird wie die Dichtung Moses und Bidpais goldgekrönte Fabel vom Glück und der Tücke des Fuchses. Sie denkt nicht an ihre Mission, an die tönende Zukunft, sie spielt noch während die Nationen kämpfen, einen Kampf, der die Luft erzittern macht, der kreuz und quer Klangfiguren von Schreibfedern und Kameen schafft, Runen, die schwer zu entziffern sind. Sie trägt einen Garibaldihut, liest ihren Shakespeare und denkt für einen kurzen Augenblick, er kann noch gespielt werden, wenn ich heranwachse! Calderon ruht im Sarkophag seiner Werke mit der Inschrift des Ruhmes; Holberg, ja, die Muse ist Kosmopolitin, sie hat ihn eingeheftet in ein und denselben Band mit Molière, Plautus und Aristophanes, aber sie liest hauptsächlich Molière.
Sie ist der Unruhe entbunden, die die Gemse der Alpen hetzt, und doch lechzt ihre Seele nach dem Salz des Lebens wie die Gemse nach dem des Berges; in ihrem Herzen wohnt eine Ruhe wie in den alten Sagen der Hebräer, dieser Stimme des Nomaden auf den grünen Auen in stillen, sternenhellen Nächten, und doch schwillt ihr im Herzen das Lied in volleren Tönen als das des begeisterten Kriegers des thessalischen Gebirges im griechischen Altertum.
Wie steht es um ihr Christentum? Sie hat das große und kleine Einmaleins der Philosophie gelernt; an dem Urstoff hat sie einen ihrer Milchzähne ausgebissen, aber sie hat einen neuen bekommen; in den Apfel der Erkenntnis biß sie schon in der Wiege, aß davon und wurde klug, so daß „Unsterblichkeit“ ihr als der genialste Gedanke der Menschheit aufblitzte.
Wann erscheint das neue Jahrhundert der Poesie? Wann wird die Muse sich offenbaren, sich zu erkennen geben? Wann wird die Menschheit sie vernehmen?
An einem schönen Frühlingsmorgen kommt sie auf dem Drachen der Lokomotive dahergebraust durch Tunnel und über Viadukte oder über das reiche, stolze Meer auf dem schnaubenden Delphin oder durch die Luft auf dem Vogel Rock des Montgolfière und läßt sich herab in das Land, von dem aus ihre Stimme zum ersten Mal das Menschengeschlecht begrüßen wird. Wo? Wird es von dem Land des Columbus sein, dem Freiheitsland, wo der Eingeborene ein gehetztes Wild und der Afrikaner ein Lasttier wurde, dem Land, aus welchem das Lied von „Hiawatha“ zu uns herüberklang? Wird es aus dem Erdteil der Antipoden sein, dem Goldklumpen der Südsee, dem Land der Gegensätze, wo unsere Nacht als Tag strahlt und schwarze Schwäne in Mimosenwäldern singen? Oder aus dem Land, wo die Memnonsäule klang und klingt, wir aber die Sphinx der Wüste nicht verstanden? Wird es von der Steinkohleninsel sein, wo Shakespeare der Herrscher ist seit Elisabeths Zeiten? Aus der Heimat Tycho Brahes. wo sie ihn nicht duldeten. oder aus dem Märchenland Kaliforniens, wo der Wellingtonbaum seine Krone als der Weltwälder König erhebt?
Wann wird der Stern leuchten, der Stern auf der Stirne der Muse, die Blütenkrone, in deren Blättern des Jahrhunderts Ausdruck vom Schönen in Form, in Farbe und Duft eingeschrieben ist?
„Und das Programm der neuen Muse? “ fragen kundige Reichstagsabgeordnete unserer Tage. „Was will sie?“
Fragen wir lieber, was sie nicht will!
Sie wird nicht als ein Gespenst der dahingeschwundenen Zeit auftreten; sie wird keine Dramen aus den abgelegten Herrlichkeiten der Szene zusammenzimmern oder die Mängel dramatischer Architektur mit den blendenden Draperien der Lyrik decken; ihr Flug wird sein wie der vom Thespiskarren bis zu dem marmornen Amphitheater. Sie reißt nicht die gesunde Menschenrede in Stücke und nietet sie wieder zusammen zu einem künstlichen Glockenspiel mit einschmeichelndem Klang aus den Troubadour-Turnieren. Sie wird nicht das Versmaß hinstellen als den Adeligen und die Prosa als den Bürgerlichen; ebenbürtig sind sie in Klang, Fülle und Kraft. Wie wird nicht die alten Götter aus Islands Sagafelsen herausmeißeln, die sind tot; die neue Zeit hat keine Sympathie für sie, keine Verwandtschaft mit ihnen. Sie wird ihren Zeitgenossen nicht zumuten, daß sie ihre Gedanken in französischen Romankneipen einlogieren; sie wird nicht sanft betäuben mit dem Chloroform der Alltagsgeschichten; sie wird ein Lebenselixier bringen; ihr Sang in Vers und Prosa wird kurz, klar, reich sein! Der Herzschlag der Nationalitäten ­jeder ein Buchstabe in dem großen Entwicklungsalphabet, den wird sie ergreifen, jeden Buchstaben mit derselben Liebe, und zu Worten zusammenstellen und die Worte zu Rhythmen schlingen in der Hymne ihres Zeitalters.
Und wann sind die Zeiten reif, zu kommen?
Uns, die wir noch hier sind, wird die Zeit lang erscheinen, kurz wird sie denjenigen sein, die vorausflogen!
Bald fällt die chinesische Mauer; die Eisenbahnen Europas erreichen das Kulturarchiv Asiens -die zwei Kulturströmungen begegnen sich! Dann vielleicht braust die Flut mit ihrem tiefen Klang, wir Alten der Gegenwart werden zittern bei den starken Tönen, und in dem allen ein Ragnarökkr, den Fall der alten Götter erblicken, werden vergessen, daß hienieden die Zeiten und Geschlechter verschwinden und nur ein kleines Bild von jedem, umschlossen von der Kapsel des Wortes, auf dem Strom der Ewigkeit als Lotosblume schwimmt und uns sagt, daß sie alle Fleisch von unserem Fleisch in verschiedenen Gewändern sind; das Bild der Juden strahlt aus der Bibel, das der Griechen aus der Ilias und Odyssee; und unser Bild? ­fragte die Muse des neuen Jahrhunderts im Ragnarökkr, wenn das neue Gimle sich in Verklärung und Verständnis erhebt.
Alle Macht des Dampfes, aller Druck der Gegenwart waren die Hebel! Meister Blutlos und seine rüstigen Gesellen, die unserer Zeit mächtige Herrscher zu sein seinen, sind nur Diener, schwarze Sklaven, welche den Festsaal schmücken, die Schätze herbeitragen, die Tafel decken zu dem großen Fest, bei welchem die Muse mit der Unschuld des Kindes, der Begeisterung der Jungfrau und dem Frieden und Wissen der Matrone, sie, dieses reiche, volle Menschenherz und der Gottesflamme, die wunderbare Aladinslampe der Dichtung zutage fördert.
Sei gegrüßt, du Muse der Poesie des neuen Jahrhunderts! Unser Gruß erhebt sich und wird vernommen werden wie die Gedankenhymne des Wurmes, der unter dem Eisen des Pfluges zerschnitten wird, während ein neuer Frühling strahlt und der Pflug seine Furchen schneidend zieht und Würmer zerschneidet, damit der Segen wachse einem kommenden neuen Geschlecht.
Sei gegrüßt, du Muse des neuen Jahrhunderts!

Hans Christian Andersen – Die Nachbarfamilien

Hans Christian Andersen

Die Nachbarfamilien

Man konnte wirklich glauben, daß im Dorfteiche irgendetwas im Werke sei; aber es war gar nichts los. Alle Enten, ob sie geruhsam auf dem Wasser lagen oder auf dem Kopfe standen, denn das konnten sie, ruderten plötzlich ans Land; man konnte in dem feuchten Boden die Spuren ihrer Füße sehen, und ein gutes Stück weit hören, was sie schrien. Das Wasser kam ordentlich in Bewegung, und eben war es doch noch blank wie ein Spiegel gewesen, so daß man jeden Baum, jeden Busch in seiner Nähe und das alte Bauernhaus mit den Löchern im Giebel und dem Schwalbennest daran sehen konnte, besonders aber den großen Rosenbusch mit allen seinen Blüten, der über die Mauer bis fast ins Wasser hinabhing. Und darin stand das Ganze wie ein Gemälde, aber alles auf dem Kopfe. Doch als jetzt das Wasser in Unruhe geriet, lief alles ineinander, und das ganze Bild verschwand. Zwei Entenfedern, die den Enten beim Fliegen ausgefallen waren, schaukelten auf und nieder. Mit einem Male fingen sie an, fortzutreiben, als ob der Wind übers Wasser bliese, aber es war gar kein Wind. Dann lagen sie stille, das Wasser wurde wieder spiegelglatt, und man konnte deutlich darin den Giebel mit dem Schwalbennest und den Rosenstrauch wieder sehen. Jede Rose spiegelte sich, sie waren so prächtig und schön, doch sie wußten nichts davon, denn niemand hatte es ihnen gesagt. Die Sonne schien zwischen ihre feinen Blätter hinein, die ganz voller Duft waren, und das war für die Rosen gerade so schön, wie für uns, wenn wir in glückselige Gedanken versunken dasitzen.
„Wie herrlich ist das Leben!“ sagte jede Rose, „das einzige, was ich noch wünschen möchte, wäre, daß ich die Sonne küssen dürfte, weil sie so warm und klar ist. Ja, und die Rosen dort unten im Wasser möchte ich auch küssen. Sie gleichen uns so sehr. Ich möchte die süßen, kleinen Vögel dort unten im Neste küssen; über uns sind auch welche, sie stecken die Köpfe heraus und piepen ganz leise und haben noch gar keine Federn, wie ihr Vater und ihre Mutter. Es sind gute Nachbarn, die wir über uns und unter uns haben. O, wie herrlich ist doch das Leben.“
Die kleinen Vögel oben und unten -die unten waren ja nur ein Widerspiel im Wasser, -waren Spatzen, und Vater und Mutter waren Spatzen; sie hatten sich in das leere Schwalbennest vom vorigen Jahre gesetzt; dort lagen sie nun und fühlten sich zu Hause. „Sind das Entenkinder, die dort schwimmen?“ fragten die Spatzenjungen, als sie die Entenfedern auf dem Wasser dahintreiben sahen.
„Tut vernünftige Fragen, wenn Ihr fragt“ sagte die Mutter. „Seht Ihr nicht, daß es eine Feder ist, lebendiges Kleiderzeug, wie ich es habe und Ihr es auch bekommen werdet? Aber unseres ist feiner. Wenn wir sie nur oben im Neste hätten, denn das wärmt. Ich möchte wohl wissen, was die Enten so erschreckt hat. Es muß etwas aus dem Wasser gewesen sein; denn ich war es gewiß nicht, obwohl ich freilich etwas laut „Piep“ zu Euch gesagt habe. Die dickköpfigen Rosen müßten es eigentlich wissen, aber sie wissen nie etwas; sie sehen nur sich selbst an und riechen. Ich habe diese Nachbarn herzlich über.“
„Hört die süßen, kleinen Vögel da oben“ sagten die Rosen, „sie wollen jetzt auch anfangen zu singen. -Sie können noch nicht recht, aber es wird schon kommen. -Was muß das für ein Vergnügen sein! Es ist doch ganz hübsch, solche lustige Nachbarn zu haben.“
Da kamen zwei Pferde im Galopp daher, sie sollten getränkt werden; ein Bauernjunge saß auf dem einen. Er hatte alle seine Kleider ausgezogen bis auf seinen schwarzen Hut, der war so schön und groß und breit. Der Knabe pfiff, als sei er ein kleiner Vogel, und ritt in den Teich bis an die tiefste Stelle. Als er an dem Rosenstrauch vorbeikam, riß er eine der Rosen ab und steckte sie auf den Hut. So glaubte er recht geputzt zu sein und ritt wieder fort. Die anderen Rosen sahen ihrer Schwester nach und fragten einander: „Wo reiste sie hin?“ aber das wußte niemand.
„Ich möchte wohl auch in die Welt hinaus!“ sagte die eine zur andern; „aber hier zu Hause in unserem eigenen Grün ist es auch schön. Am Tage scheint die Sonne so warm, und nachts strahlt der Himmel noch schöner! Da können wir durch die vielen kleinen Löcher sehen, die darin sind!“
Es waren die Sterne, die sie für Löcher hielten, denn die Rosen wußten es nicht besser.
„Wir bringen Leben ins Haus“ sagte die Spatzenmutter, „und die Schwalben bringen Glück, sagen die Leute. Aber die Nachbarn dort, so ein großer Rosenbusch an der Mauer, setzt nur Feuchtigkeit an. Ich hoffe, er kommt bald fort, dann kann doch Korn dort wachsen. Rosen sind nur da zum ansehen und daran riechen, höchstens noch zum an den Hut stecken. Jedes Jahr, das weiß ich von meiner Mutter, fallen sie ab, die Bauernfrau salzt sie ein, sie bekommen einen französischen Namen, den ich nicht aussprechen kann, und der mich auch nicht kümmert, und dann werden sie aufs Feuer gelegt, wenn es gut riechen soll. Seht, das ist ihr Lebenslauf; sie sind nur für Augen und Nase. Nun wißt Ihr es.“ Als es Abend wurde und die Mücken in der warmen Luft tanzten und die Wolken sich rot färbten, kam die Nachtigall und sang den Rosen vor, daß das Schöne in der Welt wie der Sonnenschein sei, und daß es ewig lebe. Aber die Rosen glaubten, daß die Nachtigall von sich selbst singe, und das konnte man ja auch glauben. Es fiel ihnen gar nicht ein, daß ihnen der Gesang gelte; aber sie wurden fröhlich dabei und dachten daran, ob nicht all die kleinen Spatzenjungen auch zu Nachtigallen werden könnten.
„Ich verstand sehr gut, was der Vogel sang“ sagten die Spatzenjungen; „es war nur ein Wort dabei, das ich nicht verstand: was ist „das Schöne“?
„Das ist gar nichts!“ sagte die Spatzenmutter; „das ist nur so ein Ausdruck. Oben auf dem Herrenhofe, wo die Tauben ihr eigenes Haus haben und jeden Tag Erbsen und Korn in den Hof gestreut bekommen, ­ich habe mit ihnen gegessen, und dazu werdet Ihr auch noch kommen! Sage mir, mit wem Du umgehst, so werde ich Dir sagen, wer Du bist! -da oben auf dem Herrenhofe haben sie zwei Vögel mit grünem Halse und einer Krone auf dem Kopfe. Ihr Schwanz kann sich ausbreiten, bis er wie ein großes Rad aussieht; das hat so viele Farben, daß einem die Augen weh tun. Pfauen werden sie genannt, und das ist „das Schöne“. Sie sollten nur ein wenig gerupft werden, dann sähen sie auch nicht anders aus, wie wir anderen. Ich hätte auf sie losgehackt, wenn sie nur nicht so groß wären!“
„Ich will sie hacken!“ sagte das kleinste Spatzenjunge; es hatte noch nicht einmal Federn.
Im Bauernhofe wohnten zwei junge Leute; die hatten einander so lieb. Sie waren fleißig und flink, und es war überall hübsch bei ihnen. Am Sonntag morgen ging die junge Frau hinaus, nahm eine ganze Hand voll der schönsten Rosen, setzte sie in ein Wasserglas und stellte sie mitten auf die Kommode.
„Nun kann ich sehen, daß Sonntag ist!“ sagte der Mann, küßte seine süße, kleine Frau, und sie setzten sich nieder, lasen einen Psalm, hielten einander bei den Händen, und die Sonne schien in die Fenster hinein auf die frischen Rosen und die jungen Leute.
„Es ist wirklich langweilig, das immer wieder sehen zu müssen!“ sagte die Spatzenmutter, die aus dem Neste gerade in die Stube hineinsah; und dann flog sie davon.
Dasselbe tat sie am nächsten Sonntag; denn jeden Sonntag kamen frische Rosen ins Glas, und immer blühte die Rosenhecke gleich schön. Die Spatzenjungen, die nun Federn bekommen hatten, wollten gern mitfliegen; aber die Mutter sagte: „Ihr bleibt hier“ und so blieben sie da. ­Sie flog, und wie es kam, wußte sie selbst nicht, jedenfalls hing sie plötzlich in einer Vogelschlinge aus Pferdehaaren fest, die ein paar Knaben an einem Zweig festgebunden hatten. Die Pferdehaare zogen sich fest um ihr Bein, ach, so fest, als ob sie es zerschneiden wollten. Das war ein Schmerz und ein Schreck. Die Knaben sprangen flugs hinzu und griffen den Vogel; sie faßten ihn grausam hart an. „Es ist nur ein Spatz“ sagten sie; aber fliegen ließen sie ihn doch nicht. Sie nahmen ihn mit nach Hause und jedesmal, wenn er schrie, gaben sie ihm eins auf den Schnabel.
Im Bauernhof stand ein alter Mann, der verstand Seife zu machen für Bart und Hände, Seife in Kugeln und Seife in Stücken. Es war so ein umherwandernder, lustiger Alter, und als er den Spatz sah, mit dem die Knaben daherkamen, und aus dem sie sich gar nichts machten, wie sie sagten, fragte er sie: „Wollen wir ihn schön machen?“ Die Spatzenmutter überlief ein Grausen, als er das sagte. Und aus seinem Kasten, worin die herrlichsten Farben lagen, nahm er eine ganze Menge glitzerndes Schaumgold. Die Jungen mußten hineinlaufen und ein Ei herbeischaffen. Von diesem nahm er das Weiße und bestrich damit den ganzen Vogel; sodann klebte er das Schaumgold darauf, und nun war die Spatzenmutter vergoldet. Aber sie dachte nicht an ihren Staat, sie zitterte an allen Gliedern. Und der Seifenmann nahm ein rotes Läppchen, das er vom Futter seiner alten Jacke abriß, schnitt das Läppchen zu einem gezackten Hahnenkamm aus und klebte ihn dem Vogel auf den Kopf.
„Nun sollt Ihr sehen, wie der Goldvogel fliegt!“ sagte er und ließ den Sperling los, der in der entsetzlichsten Angst in dem hellen Sonnenschein davonflog. Nein, wie er glitzerte! Alle Spatzen, selbst eine große Krähe, und zwar eine vom vorigen Jahrgang, erschraken bei diesem Anblick; aber sie flogen doch hinterher, denn sie wollten wissen, was das für ein vornehmer Vogel sei.
„Woher? woher?“ schrie die Krähe.
„Bleib stehn. Bleib stehn“ sagten die Spatzen. Aber sie wollte nicht stehen bleiben. Erfüllt von Angst und Entsetzen flog sie heimwärts. Sie war nahe daran, umzusinken, und noch immer eilten mehr Vögel herbei, kleine und große. Einige flogen dicht heran, um auf sie loszuhacken. „So einer, So einer“ schrien sie alle zusammen.
„So einer, So einer“ schrien die Jungen, als sie endlich das Nest erreicht hatte. „Das ist bestimmt ein junger Pfau. Da sind alle die Farben, die den Augen wehe tun, wie Mutter sagte: „Piep. Das ist das Schöne“ und dann hackten sie mit ihren kleinen Schnäbeln, so daß es ihr nicht möglich war, hineinzuschlüpfen. Und sie war so matt vor Angst, daß sie nicht einmal mehr „Piep“ sagen konnte, viel weniger: „Ich bin Eure Mutter“. Die anderen Vögel hackten nun auf sie los, daß die Federn flogen, und blutig sank die Spatzenmutter in den Rosenstrauch nieder.
„Das arme Tier!“ sagten die Rosen. „Komm, wir wollen Dich verbergen! Bette Dein kleines Köpfchen auf uns!“
Die Spatzenmutter breitete noch einmal die Flügel aus, drückte sie dann wieder fest an ihren Leib, und dann war sie gestorben bei der Nachbarfamilie, den frischen, schönen Rosen.
„Piep!“ sagten die Spatzenjungen im Neste, „wo mag nur Mutter bleiben, das kann ich gar nicht begreifen! Es sollte doch nicht etwa eine List von ihr sein, daß wir nun selbst für uns sorgen müssen! Das Haus hat sie uns als Erbteil überlassen, aber wer von uns soll es allein besitzen, wenn wir Familie bekommen?“
„Ja, ich kann Euch anderen nicht hier behalten, wenn ich mir erst Frau und Kinder anschaffe!“ sagte der Kleinste.
„Ich bekomme wohl mehr Frauen und Kinder als Du!“ sagte der zweite.
„Aber ich bin der älteste!‘. sagte ein dritter. Der Streit entfachte sich immer heftiger zwischen ihnen, sie schlugen mit den Flügeln, hackten mit dem Schnabel, und bums wurde einer nach dem andern aus dem Neste gepufft. Da lagen sie nun mit Wut im Herzen. Den Kopf wendeten sie nach der anderen Seite und blinzelten dabei mit dem einen Auge; das war so ihre Art zu trotzen.
Ein wenig konnten sie schon fliegen; nun übten sie etwas mehr, und zuletzt wurden sie darüber einig, daß sie, um sich erkennen zu können, wenn sie einander in der Welt begegneten, „Piep!“ sagen und dreimal mit dem linken Fuße scharren wollten.
Das Junge, das im Neste zurückblieb, machte sich so breit wie es nur konnte; es war ja nun Hauseigentümer. Aber die Freude dauerte nicht lange. -In der Nacht leuchtete ein roter Feuerschein aus den Fenstern, die Flammen schlugen unter dem Dache heraus, und das dürre Stroh loderte empor -das ganze Haus verbrannte und der junge Spatz mit; die jungen Leute aber waren glücklich davongekommenen.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufgegangen war, und alles erfrischt wie nach einem sanften Nachtschlaf dastand, war von dem Bauernhause nichts weiter übrig geblieben, als einige schwarze, verkohlte Balken, die sich an den Schornstein lehnten, der nun sein eigener Herr war. Der Boden rauchte noch stark; aber davor stand frisch und blühend der Rosenstrauch und spiegelte jeden Zweig und jede Blüte in dem stillen Wasser. „Nein, wie hübsch sehen doch die Rosen vor dem abgebrannten Hause dort aus!“ rief ein Mann, der vorüberkam. Das ist ein gar liebliches kleines Bild. Das muß ich haben!“ Und der Mann zog ein kleines Buch mit weißen Blättern aus der Tasche und nahm seinen Bleistift zur Hand; denn er war ein Maler. Dann zeichnete er den rauchenden Schutt, die verkohlten Balken an dem einsam ragenden Schornstein, der sich mehr und mehr neigte, und ganz im Vordergrunde den großen, blühenden Rosenstrauch. Der war freilich wunderschön, und er trug ja auch allein die Schuld daran daß das Ganze gezeichnet wurde.
Später am Tage kamen zwei von den Spatzen vorbei, die hier geboren waren. „Wo ist das Haus?“ fragten sie, „wo ist das Nest? -Piep, alles ist verbrannt, und unser starker Bruder ist mitverbrannt. Das hat er davon, daß er das Nest behielt. Die Rosen sind gut davongekommen! Sie stehen noch immer mit roten Wangen da. Trauern tun sie also nicht über das Unglück der Nachbarn! Ich spreche nicht mit ihnen, und hier ist es häßlich, das ist meine Meinung!“ Dann flogen sie davon.
Spät im Herbste gab es einen herrlichen Sonnentag. Man hätte fast glauben mögen, man sei mitten im Sommer. Im Hofe vor der großen Treppe beim Gutsbesitzer war es trocken und sauber; dort spazierten die Tauben, die schwarzen, die weißen und die bunten, und glänzten im Sonnenschein. Die alte Taubenmutter plusterte sich auf und sagte zu den Jungen: „Steht in Gruppen! Steht in Gruppen!“ -denn so nahmen sie sich besser aus.
„Was ist das kleine graue, das zwischen uns herumläuft?“ fragte eine alte Taube, deren Augen rot und grün leuchteten, „das kleine Graue, das kleine Graue!“
„Das sind Spatzen, gute Tierchen! Wir haben immer den Ruf gehabt, die frömmsten unter den Vögeln zu sein, deshalb wollen wir ihnen erlauben, mitzupicken! -Sie reden nicht mit und scharren so niedlich mit dem Füßchen.“
Ja, sie scharrten, dreimal scharrten sie mit dem linken Bein, aber sie sagten auch „Piep“, und da erkannten sie sich; es waren die drei Spatzen aus dem abgebrannten Haus.
„Hier ist ein über die Maßen gutes Futter!“ sagten die Spatzen. Und die Tauben gingen umeinander herum, brüsteten sich und gaben innerlich nur etwas auf die eigene Meinung.
„Siehst Du die Kropftaube!“ sagte die eine von der anderen. „Siehst Du, wie sie die Erbsen herunterschluckt? Sie bekommt zuviel, sie bekommt die bestem Kurr, kurr. Siehst Du, was sie für einen kahlen Kopf bekommt? Sich nur das alte, boshafte Tier! Knurre, knurre!“ Und dann schillerten aller Augen ganz rot vor Bosheit. „Steht in Gruppen! Steht in Gruppen. Das kleine Graue, das kleine Graue! Knurre, knurre!“ ging es in einem fort, und so geht es wohl noch in tausend Jahren.
Die Spatzen fraßen gut, und sie hörten gut, ja, sie stellten sich sogar mit in die Gruppen; aber das kleidete sie nicht. Satt waren sie nun, deshalb gingen sie von den Tauben fort und sprachen untereinander ihre Meinung über sie aus. Dann hüpften sie unter dem Gartenzaun hindurch, und da die Tür zum Gartenzimmer offen stand, hüpfte der eine auf die Türschwelle, denn er war übersättigt und deshalb mutig: „Piep!“ sagte er, „das wage ich“ -„Piep“ sagte der andere, „das wage ich auch und noch etwas mehr!“ Und so hüpfte er in die Stube. Es waren keine Leute darin, das sah der dritte wohl, und deshalb flog er noch weiter in das Zimmer hinein und sagte: „Ganz oder gar nicht.“ Das ist übrigens ein merkwürdiges Menschennest. Und was hier aufgestellt ist. Nein, was ist das nur?“
Gerade vor den Spatzen blühten ja die Rosen. Sie spiegelt sich dort im Wasser, und die verkohlten Balken lehnten sich gegen den hinfälligen Schornstein! -Nein, was war dies nur? Wie kam dies in die Stube des Gutsherrn?
Und alle drei Spatzen wollten über die Rosen und den Schornstein hinfliegen, aber sie flogen gegen eine flache Wand; das Ganze war ein Gemälde, ein großes, prächtiges Werk, das der Maler nach seiner kleinen Zeichnung angefertigt hatte.
„Piep!“ sagten die Spatzen, „das ist nichts; es sieht nur so aus. Piep! Das ist das Schöne! Kannst Du das begreifen, ich kann es nicht!“ Und dann flogen sie fort, denn es kamen Menschen in das Zimmer.
Nun vergingen Jahr und Tag; die Tauben hatten viele Male gekurrt, um nicht zu sagen geknurrt, die boshaften Tiere! Die Spatzen hatten im Winter gefroren und im Sommer lustig darauf los gelebt. Sie waren allesamt verlobt oder verheiratet oder wie man es sonst nennen will. Junge hatten sie auch, und ein jeder hatte natürlich die schönsten und klügsten. Einer flog hierhin, einer flog dorthin, und trafen sie sich, so erkannten sie sich an ihrem „Piep“ und dem dreimaligen Scharren mit dem linken Fuße. Die älteste war nun schon eine alte Jungfer; sie hatte kein Nest und auch keine Jungen. Sie wollte gern einmal eine große Stadt sehen, und so flog sie nach Kopenhagen. ­
Dort war ein großes Haus mit vielen Farben. Es stand dicht beim Schloßan dem Kanal, wo die Schiffe mit Äpfeln und Töpfen an den Ufern lagen. Die Fenster waren unten breiter als oben, und guckten die Spatzen hinein, so war jedes Zimmer, in das sie hineinsahen, wie eine Tulpe mit allen möglichen Farben und Schnörkeln geschmückt, und mitten in diesen Tulpen standen weiße Menschen. Die waren von Marmor; einige waren auch von Gips, aber für Spatzenaugen war das gleich. Oben auf dem Hause stand ein metallener Wagen mit metallenen Pferden davor, und die Siegesgöttin, ebenfalls aus Metall, lenkte sie. Das war Thorwaldsens Museum.
„Wie das glänzt, Wie das glänzt“ sagte das Spatzenfräulein; „das wird wohl das Schöne sein, Piep. Dies hier ist doch größer als ein Pfau.“ Sie erinnerte sich noch aus ihrer Kindheit, daß dieser das größte „Schöne“ sei, was ihre Mutter gekannt hatte. Und sie flog in den Hof hinab. Dort war es auch prächtig. Palmen und Zweige waren auf die Wände gemalt, und mitten im Hofe stand ein großer blühender Rosenstrauch. Der breitete seine frischen Zweige mit den vielen Rosen über ein Grab. Sie flog dorthin, denn es gingen noch mehrere Spatzen dort auf und ab. „Piep“ und dazu ein dreimaliges Scharren mit dem linken Fuß -diesen Gruß hatte sie Jahr und Tag jedem geboten, aber niemand hatte ihn verstanden; denn die sich einmal getrennt haben, treffen sich nicht jeden Tag wieder. Der Gruß war ihr bereits zur Gewohnheit geworden. Heute jedoch waren da zwei alte Spatzen und ein Junger, die sagten auch „Piep“ und scharrten mit dem linken Fuße.
„Ei sieh, guten Tag, guten Tag.“ Es waren die drei Alten aus dem Spatzennest und ein Junger aus der Familie. „Müssen wir uns hier wiedersehen!“ sagten sie. „Es ist ein vornehmer Ort hier, aber viel zu fressen findet sich nicht. Das ist das Schöne, Piep.“
Viele Leute kamen aus den Seitengängen, wo die prächtigen Marmorfiguren standen, und gingen zu dem Grabe hin, das den großen Meister barg, der den herrlichen Marmorbildern Form gegeben hatte. Alle, die kamen, standen mit leuchtendem Antlitz um Thorwaldsens Grab. Einzelne sammelten die abgefallenen Rosenblätter vom Boden und bewahrten sie auf. Die Leute kamen von weither; sie kamen von dem großen England, von Deutschland und Frankreich. Die schönste Dame nahm eine von den Rosen und barg sie an ihrer Brust. Da glaubten die Spatzen, daß die Rosen hier das Regiment hätten und das ganze Haus um ihretwillen gebaut sei, und das schien ihnen ein bißchen übertrieben zu sein. Aber da die Menschen alle soviel Wesens von den Rosen machten, wollten sie auch nicht zurückstehen. „Piep“ sagten sie und fegten den Boden mit ihren Schwänzen. Dann schielten sie mit einem Auge zu den Rosen hinauf; aber nicht lange dauerte es, so waren sie davon überzeugt, daß es die alten Nachbarn waren. Und das waren sie auch. Der Maler, der den Rosenstrauch bei dem abgebrannten Hause gezeichnet hatte, bekam später, gegen Ende des Jahres, die Erlaubnis ihn auszugraben. Er hatte ihn dann dem Baumeister des Museums gegeben, denn nirgends konnte man herrlichere Rosen finden. Dieser hatte ihn auf Thorwaldsens Grab gesetzt, wo er als Wahrzeichen des Schönen blühte und seine duftenden roten Blätter hergab, um zur Erinnerung in ferne Länder getragen zu werden.
„Habt Ihr eine Anstellung hier in der Stadt erhalten?“ fragten die Spatzen. Und die Rosen nickten; sie erkannten die grauen Nachbarn und freuten sich sie wiederzusehen.
„Wie schön ist es zu leben und zu blühen, alte Freunde bei sich zu sehen, und jeden Tag in freundliche Gesichter zu blicken! Hier ist es, als sei jeder Tag ein großer Festtag.“
„Piep!“ sagten die Spatzen, „ja, das sind die alten Nachbarn. Ihrer Herkunft vom Dorfteiche erinnern wir uns recht wohl! Piep, wie sie zu Ehren gekommen sind! Manche kommen im Schlafe dazu. Denn was an so einem roten Klumpen Schönes sein soll, weiß ich nicht! -Und da sitzt ein vertrocknetes Blatt, das sehe ich ganz genau!“
Dann zupften sie solange daran, bis das Blatt abfiel, und frischer und grüner stand der Strauch, und die Rosen dufteten im Sonnenschein auf Thorwaldsens Grab, an dessen unsterblichen Namen sich ihre Schönheit anschloß.

Hans Christian Andersen – Die Nachtigall

Hans Christian Andersen

Die Nachtigall

In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des Kaisers Garten fein ausgedacht, und er erstreckte sich so weit, daß der Gärtner selbst das Ende nicht kannte; ging man immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mit hohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging gerade hinunter bis zum Meere, das blau und tief war. Große Schiffe konnten unter den Zweigen hinsegeln, und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang, daß selbst der arme Fischer, der soviel anderes zu tun hatte, stillhielt und horchte, wenn er nachts ausgefahren war, um das Fischnetz aufzuziehen. »Ach Gott, wie ist das schön!« sagte er, aber dann mußte er auf sein Netz achtgeben und vergaß den Vogel; doch wenn dieser in der nächsten Nacht wieder sang und der Fischer dorthin kam, sagte er wieder: »Ach Gott, wie ist das doch schön!«
Von allen Ländern kamen Reisende nach der Stadt des Kaisers und bewunderten sie, das Schloß und den Garten; doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen, sagten sie alle: »Das ist doch das Beste!«
Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hause kamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über die Stadt, das Schloß und den Garten, aber die Nachtigall vergaßen sie nicht, sie wurde am höchsten gestellt, und die, welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte über die Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.
Die Bücher durchliefen die Welt, und einige kamen dann auch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhl, las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe, denn er freute sich über die prächtigen Beschreibungen der Stadt, des Schlosses und des Gartens. »Aber die Nachtigall ist doch das Allerbeste!« stand da geschrieben.
»Was ist das?« fragte der Kaiser. »Die Nachtigall kenne ich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel hier in meinem Kaiserreiche und sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört; so etwas soll man erst aus Büchern erfahren?«
Da rief er seinen Haushofmeister. Der war so vornehm, daß, wenn jemand, der geringer war als er, mit ihm zu sprechen oder ihn um etwas zu fragen wagte, er weiter nichts erwiderte als: »P!« Und das hat nichts zu bedeuten.
»Hier soll ja ein höchst merkwürdiger Vogel sein, der Nachtigall genannt wird!« sagte der Kaiser. »Man spricht, dies sei das Allerbeste in meinem großen Reiche; weshalb hat man mir nie etwas davon gesagt?«
»Ich habe ihn früher nie nennen hören«, sagte der Haushofmeister. »Er ist nie bei Hofe vorgestellt worden!«
»Ich will, daß er heute abend herkomme und vor mir singe!« sagte der Kaiser. »Die ganze Welt weiß, was ich habe, und ich weiß es nicht!«
»Ich habe ihn früher nie nennen hören!« sagte der Haushofmeister. »Ich werde ihn suchen, ich werde ihn finden!«
Aber wo war er zu finden? Der Haushofmeister lief alle Treppen auf und nieder, durch Säle und Gänge, keiner von allen denen, auf die er traf, hatte von der Nachtigall sprechen hören. Und der Haushofmeister lief wieder zum Kaiser und sagte, daß es sicher eine Fabel von denen sei, die da Bücher schreiben. »Dero Kaiserliche Majestät können gar nicht glauben, was da alles geschrieben wird; das sind Erdichtungen und etwas, was man die schwarze Kunst nennt!«
»Aber das Buch, in dem ich dieses gelesen habe», sagte der Kaiser, »ist mir von dem großmächtigen Kaiser von Japan gesandt, also kann es keine Unwahrheit sein. Ich will die Nachtigall hören; sie muß heute abend hier sein! Sie hat meine höchste Gnade! Und kommt sie nicht, so soll dem ganzen Hof auf den Leib getrampelt werden, wenn er Abendbrot gegessen hat!«
»Tsing-pe!« sagte der Haushofmeister und lief wieder alle Treppen auf und nieder, durch alle Säle und Gänge; und der halbe Hof lief mit, denn sie wollten nicht gern auf den Leib getrampelt werden. Da gab es ein Fragen nach der merkwürdigen Nachtigall, die von aller Welt gekannt war, nur von niemand bei Hofe.
Endlich trafen sie ein kleines, armes Mädchen in der Küche. Sie sagte: »O Gott, die Nachtigall, die kenne ich gut, ja, wie kann die singen! Jeden Abend habe ich die Erlaubnis, meiner armen, kranken Mutter einigeÜberbleibsel vom Tische mit nach Hause zu bringen. Sie wohnt unten am Strande, wenn ich dann zurückgehe, müde bin und im Walde ausruhe, höre ich Nachtigall singen. Es kommt mir dabei das Wasser in die Augen, und es ist gerade, als ob meine Mutter mich küßte!«
»Kleine Köchin«, sagte der Haushofmeister, »ich werde dir eine feste Anstellung in der Küche und die Erlaubnis, den Kaiser speisen zu sehen, verschaffen, wenn du uns zur Nachtigall führen kannst; denn sie ist zu heute abend angesagt.«
So zogen sie allesamt hinaus in den Wald, wo die Nachtigall zu singen pflegte; der halbe Hof war mit. Als sie im besten Zuge waren, fing eine Kuh zu brüllen an.
»Oh!« sagten die Hofjunker, »nun haben wir sie; das ist doch eine merkwürdige Kraft in einem so kleinen Tiere! Die habe ich sicher schon früher gehört!«
»Nein, das sind Kühe, die brüllen!« sagte die kleine Köchin. »Wir sind noch weit von dem Orte entfernt!«
Nun quakten die Frösche im Sumpfe.
»Herrlich!« sagte der chinesische Schloßpropst. »Nun höre ich sie, es klingt gerade wie kleine Tempelglocken.«
»Nein, das sind Frösche!« sagte die kleine Köchin. »Aber nun, denke ich werden wir sie bald hören!«
Da begann die Nachtigall zu singen.
»Das ist sie«, sagte das kleine Mädchen. »Hört, hört! Und da sitzt sie!« Sie zeigte nach einem kleinen, grauen Vogel oben in den Zweigen.
»Ist es möglich?« sagte der Haushofmeister. »So hätte ich sie mir nimmer gedacht; wie einfach sie aussieht! Sie hat sicher ihre Farbe darüber verloren, daß sie so viele vornehme Menschen um sich erblickt!«
»Kleine Nachtigall«, rief die kleine Köchin ganz laut, »unser gnädigste Kaiser will, daß Sie vor ihm singen möchten!«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte die Nachtigall und sang dann, daß es eine Lust war.
»Es ist gerade wie Glasglocken!« sagte der Haushofmeister. »Und seht die kleine Kehle, wie sie arbeitet! Es ist merkwürdig, daß wir sie früher nie gesehen haben; sie wird großes Aufsehen bei Hofe machen!«
»Soll ich noch einmal vor dem Kaiser singen?« fragte die Nachtigall, die glaubte, der Kaiser sei auch da.
»Meine vortreffliche, kleine Nachtigall«, sagte der Haushofmeister, »ich habe die große Freude, Sie zu einem Hoffeste heute abend einzuladen, wo Sie Dero hohe Kaiserliche Gnaden mit Ihrem prächtigen Gesange bezaubern werden!«
»Der nimmt sich am besten im Grünen aus!« sagte die Nachtigall, aber sie kam doch gern mit, als sie hörte, daß der Kaiser es wünschte.
Auf dem Schlosse war alles aufgeputzt. Wände und Fußboden, die von Porzellan waren, glänzten im Strahle vieler tausend goldener Lampen, und die prächtigsten Blumen, die recht klingeln konnten, waren in den Gängen aufgestellt. Da war ein Laufen und ein Zugwind, aber alle Glocken klingelten so, daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte.
Mitten in dem großen Saal, wo der Kaiser saß, war ein goldener Stab hingestellt, auf dem sollte die Nachtigall sitzen. Der ganze Hof war da, und die kleine Köchin hatte die Erlaubnis erhalten, hinter der Tür zu stehen, da sie nun den Titel einer wirklichen Hofköchin bekommen hatte. Alle waren in ihrem größten Staate, und alle sahen nach dem kleinen, grauen Vogel, dem der Kaiser zunickte.
Die Nachtigall sang so herrlich, daß dem Kaiser die Tränen in die Augen traten, die Tränen liefen ihm über die Wangen hernieder, und da sang die Nachtigall noch schöner; das ging recht zu Herzen. Der Kaiser war sehr erfreut und sagte, daß die Nachtigall einen goldenen Pantoffel um den Hals tragen solle. Aber die Nachtigall dankte, sie habe schon Belohnung genug erhalten.
»Ich habe Tränen in des Kaisers Augen gesehen, das ist mir der reichste Schatz! Gott weiß es, ich bin genug belohnt!« Und darauf sang sie wieder mit ihrer süßen, herrlichen Stimme.
»Das ist die liebenswürdigste Stimme, die wir kennen!« sagten die Damen ringsherum, und dann nahmen sie Wasser in den Mund, um zu klucken, wenn jemand mit ihnen spräche; sie glaubten, dann auch Nachtigallen zu sein. Ja, die Diener und Kammermädchen ließen melden, daß auch sie zufrieden seien, und das will viel sagen, denn sie sind am schwierigsten zu befriedigen. Ja, die Nachtigall machte wahrlich Glück.
Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihren eigenen Käfig haben, samt der Freiheit, zweimal des Tages und einmal des Nachts herauszuspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, die ihr ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten, woran sie sie festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei solchem Ausflug.
Die ganze Stadt sprach von dem merkwürdigen Vogel, und begegneten sich zwei, dann seufzten sie und verstanden einander: Ja, elf Hökerkinder wurden nach ihr benannt, aber nicht eins von ihnen hatte einen Ton in der Kehle. Eines Tages erhielt der Kaiser eine Kiste, auf der geschrieben stand: »Die Nachtigall.«
»Da haben wir nun ein neues Buch über unseren berühmten Vogel!« sagte der Kaiser; aber es war kein Buch, es war ein Kunststück, das in einer Schachtel lag, eine künstliche Nachtigall, die der lebenden gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den künstlichen Vogel aufzog, konnte er eins der Stücke, die der wirkliche sang, singen, und dann bewegte sich der Schweif auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, und darauf stand geschrieben: »Des Kaisers von Japan Nachtigall ist arm gegen die des Kaisers von China.«
»Das ist herrlich!« sagten alle, und der Mann, der den künstlichen Vogel gebracht hatte, erhielt sogleich den Titel: Kaiserlicher Oberhofnachtigallbringer.
»Nun müssen sie zusammen singen! Was wird das für ein Genuß werden!«
Sie mußten zusammen singen, aber es wollte nicht recht gehen, denn die wirkliche Nachtigall sang auf ihre Weise, und der Kunstvogel ging auf Walzen. »Der hat keine Schuld«, sagte der Spielmeister; »der ist besonders taktfest und ganz nach meiner Schule!« Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso viel Glück wie der wirkliche, und dann war er viel niedlicher anzusehen; er glänzte wie Armbänder und Brustnadeln.
Dreiunddreißigmal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde; die Leute hätten ihn gern wieder von vorn gehört, aber der Kaiser meinte, daß nun auch die lebendige Nachtigall etwas singen solle. Aber wo war die? Niemand hatte bemerkt, daß sie aus dem offenen Fenster fort zu ihren grünen Wäldern geflogen war.
»Aber was ist denn das?« fragte der Kaiser; und alle Hofleute schalten und meinten, daß die Nachtigall ein höchst undankbares Tier sei. »Den besten Vogel haben wir doch!« sagten sie, und so mußte der Kunstvogel wieder singen, und das war das vierunddreißigste Mal, daß sie dasselbe Stück zu hören bekamen, aber sie konnten es noch nicht ganz auswendig, denn es war sehr schwer. Der Spielmeister lobte den Vogel außerordentlich, ja, er versicherte, daß er besser als die wirkliche Nachtigall sei, nicht nur was die Kleider und die vielen herrlichen Diamanten betreffe, sondern auch innerlich.
Denn sehen Sie, meine Herrschaften, der Kaiser vor allen! Bei der wirklichen Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird, aber bei dem Kunstvogel ist alles bestimmt; man kann es erklären, man kann ihn aufmachen und das menschliche Denken zeigen, wie die Walzen liegen, wie sie gehen und wie das eine aus dem andern folgt!«
»Das sind ganz unsere Gedanken!« sagten sie alle, und der Spielmeister erhielt die Erlaubnis, am nächsten Sonntag den Vogel dem Volke vorzuzeigen. Es sollte ihn auch singen hören, befahl der Kaiser, und es hörte ihn, und es wurde so vergnügt, als ob es sich im Tee berauscht hätte, denn das ist ganz chinesisch; und da sagten alle: »Oh!« und hielten den Zeigefinger in die Höhe und nickten dazu. Aber die armen Fischer, welche die wirkliche Nachtigall gehört hatten, sagten: »Es klingt hübsch, die Melodien gleichen sich auch, aber es fehlt etwas, wir wissen nicht was!«
Die wirkliche Nachtigall ward aus dem Lande und Reiche verwiesen.
Der Kunstvogel hatte seinen Platz auf einem seidenen Kissen dicht bei des Kaisers Bett; alle Geschenke, die er erhalten, Gold und Edelsteine, lagen rings um ihn her, und im Titel war er zu einem ‚Hochkaiserlichen Nachttischsänger‘ gestiegen, im Range Numero eins zur linken Seite, denn der Kaiser rechnete die Seite für die vornehmste, auf der das Herz saß, und das Herz sitzt auch bei einem Kaiser links. Und der Spielmeister schrieb ein Werk von fünfundzwanzig Bänden über den Kunstvogel; das war so gelehrt und lang, voll von den allerschwersten chinesischen Wörtern, daß alle Leute sagten, sie haben es gelesen und verstanden, denn sonst wären sie ja dumm gewesen und auf den Leib getrampelt worden.
So ging es ein ganzes Jahr; der Kaiser, der Hof und alle die übrigen Chinesen konnten jeden kleinen Kluck in des Kunstvogels Gesang auswendig, aber gerade deshalb gefiel er ihnen jetzt am allerbesten; sie konnten selbst mitsingen, und das taten sie. Die Straßenbuben sangen »Ziziiz! Kluckkluckkluck!« und der Kaiser sang es. Ja, das war gewiß prächtig!
Aber eines Abends, als der Kunstvogel am besten sang und der Kaiser im Bette lag und darauf hörte, sagte es »Schwupp« inwendig im Vogel; da sprang etwas. »Schnurrrr!« Alle Räder liefen herum, und dann stand die Musik still.
Der Kaiser sprang gleich aus dem Bette und ließ seinen Leibarzt rufen. Aber was konnte der helfen? Dann ließen sie den Uhrmacher holen, und nach vielem Sprechen und Nachsehen brachte er den Vogel etwas in Ordnung, aber er sagte, daß er sehr geschont werden müsse, denn die Zapfen seien abgenutzt, und es sei unmöglich, neue so einzusetzen, daß die Musik sicher gehe. Das war nun eine große Trauer! Nur einmal des Jahres durfte man den Kunstvogel singen lassen, und das war fast schon zuviel, aber dann hielt der Spielmeister eine kleine Rede mit schweren Worten und sagte, daß es ebensogut wie früher sei, und dann war es ebensogut wie früher.
Nun waren fünf Jahre vergangen, und das ganze Land bekam eine wirkliche, große Trauer. Die Chinesen hielten im Grunde allesamt große Stücke auf ihren Kaiser, und jetzt war er krank und konnte nicht länger leben. Schon war ein neuer Kaiser gewählt, und das Volk stand draußen auf der Straße und fragte den Haushofmeister, wie es seinem alten Kaiser gehe.
»P!« sagte er und schüttelte mit dem Kopfe.
Kalt und bleich lag der Kaiser in seinem großen, prächtigen Bett. Der ganze Hof glaubte ihn tot, und ein jeder lief, den neuen Kaiser zu begrüßen, die Kammerdiener liefen hinaus, um darüber zu sprechen, und die Kammermädchen hatten große Kaffeegesellschaft. Ringsumher in allen Sälen und Gängen war Tuch gelegt, damit man niemand gehen höre, und deshalb war es sehr still. Aber der Kaiser war noch nicht tot; steif und bleich lag er in dem prächtigen Bette mit den langen Samtvorhängen und den schweren Goldquasten, hoch oben stand ein Fenster auf, und der Mond schien herein auf den Kaiser und den Kunstvogel.
Der arme Kaiser konnte kaum atmen, es war gerade, als ob etwas auf seiner Brust säße. Er schlug die Augen auf, und da sah er, daß es der Tod war. Er hatte sich eine goldene Krone aufgesetzt und hielt in der einen Hand des Kaisers goldenen Säbel, in der andern seine prächtige Fahne. Ringsumher aus den Falten der großen Samtbettvorhänge sahen allerlei wunderliche Köpfe hervor, einige ganz häßlich, andere lieblich und mild; das waren des Kaisers gute und böse Taten, die ihn anblickten, jetzt, da der Tod ihm auf dem Herzen saß.
»Entsinnst du dich dessen?« Und dann erzählten sie ihm so viel, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann.
»Das habe ich nie gewußt!« sagte der Kaiser. »Musik, Musik, die große chinesische Trommel«, rief er, »damit ich nicht alles zu hören brauche, was sie sagen!«
Aber sie fuhren fort, und der Tod nickte wie ein Chinese zu allem, was gesagt wurde. »Musik, Musik!« schrie der Kaiser. »Du kleiner herrlicher Goldvogel, singe doch, singe! Ich habe dir Gold und Kostbarkeiten gegeben, ich habe dir selbst meinen goldenen Pantoffel um den Hals gehängt, singe doch, singe!« Aber der Vogel stand still, es war niemand da, um ihn aufzuziehen, sonst sang er nicht, und der Tod fuhr fort, den Kaiser mit seinen großen, leeren Augenhöhlen anzustarren, und es war still, erschrecklich still.
Da klang auf einmal vom Fenster her der herrlichste Gesang. Es war die kleine, lebendige Nachtigall, die auf einem Zweige draußen saß. Sie hatte von der Not ihres Kaisers gehört und war deshalb gekommen, ihm Trost und Hoffnung zu singen; und so wie sie sang, wurden die Gespenster bleicher und bleicher, das Blut kam immer rascher und rascher in des Kaisers schwachen Gliedern in Bewegung, und selbst der Tod horchte und sagte: »Fahre fort, kleine Nachtigall! Fahre fort!«
»Ja, willst du mir den prächtigen, goldenen Säbel geben? Willst du mir die reiche Fahne geben? Willst du mir des Kaisers Krone geben?«
Der Tod gab jedes Kleinod für einen Gesang, und die Nachtigall fuhr fort zu singen. Sie sang von dem stillen Gottesacker, wo die weißen Rosen wachsen, wo der Flieder duftet und wo das frische Gras von den Tränen der Überlebenden befeuchtet wird. Da bekam der Tod Sehnsucht nach seinem Garten und schwebte wie ein kalter, weißer Nebel aus dem Fenster.
»Dank, Dank!« sagte der Kaiser, »du himmlischer, kleiner Vogel, ich kenne dich wohl! Dich habe ich aus meinem Lande und Reich gejagt, und doch hast du die bösen Geister von meinem Bette weggesungen, den Tod von meinem Herzen weggeschafft! Wie kann ich dir lohnen?«
»Du hast mich belohnt!« sagte die Nachtigall. »Ich habe deinen Augen Tränen entlockt, als ich das erstemal sang, das vergesse ich nie; das sind die Juwelen, die ein Sängerherz erfreuen. Aber schlafe nun und werde stark, ich werde dir vorsingen!«
Sie sang, und der Kaiser fiel in süßen Schlummer; mild und wohltuend war der Schlaf!
Die Sonne schien durch das Fenster herein, als er gestärkt und gesund erwachte. Keiner von seinen Dienern war noch zurückgekehrt; denn sie glaubten, er sei tot; aber die Nachtigall saß noch und sang.
»Immer mußt du bei mir bleiben!« sagte der Kaiser. »Du sollst nur singen, wenn du selbst willst, und den Kunstvogel schlage ich in tausend Stücke.«
»Tue das nicht«, sagte die Nachtigall, »der hat ja das Gute getan, solange er konnte, behalte ihn wie bisher. Ich kann nicht nisten und wohnen im Schlosse, aber laß mich kommen, wenn ich selbst Lust habe, da will ich des Abends dort beim Fenster sitzen und dir vorsingen, damit du froh werden kannst und gedankenvoll zugleich. Ich werde von den Glücklichen singen und von denen, die da leiden; ich werde vom Bösen und Guten singen, was rings um dich her dir verborgen bleibt. Der kleine Singvogel fliegt weit herum zu dem armen Fischer, zu des Landmanns Dach, zu jedem, der weit von dir und deinem Hofe entfernt ist. Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone, und doch hat die Krone einen Duft von etwas Heiligem um sich. Ich komme und singe dir vor! Aber eins mußt du mir versprechen!«
»Alles!« sagte der Kaiser und stand da in seiner kaiserlichen Tracht, die er angelegt hatte, und drückte den Säbel, der schwer von Gold war, an sein Herz. »Um eins bitte ich dich; erzähle niemand, daß du einen kleinen Vogel hast, der dir alles sagt, dann wird es noch besser gehen!«
So flog die Nachtigall fort.
Die Diener kamen herein, um nach ihrem toten Kaiser zu sehen; ja, da standen sie, und der Kaiser sagte: »Guten Morgen!«

Hans Christian Andersen – Die Prinzessin auf der Erbse

Hans Christian Andersen

Die Prinzessin auf der Erbse

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten. Aber das sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall fehlte etwas. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nie herausfinden. Immer war da etwas, was nicht ganz in Ordnung war. Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf; es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herab, und es war ganz entsetzlich. Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tor stand. Aber wie sah sie vom Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herab, lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und zum Absatz wieder hinaus. Sie sagte, daß sie eine wirkliche Prinzessin wäre.
‚Ja, das werden wir schon erfahren!‘ dachte die alte Königin, aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alles Bettzeug ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Dann nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse und dann noch zwanzig Eiderdaunendecken oben auf die Matratzen.
Hier sollte nun die Prinzessin die ganze Nacht über liegen. Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie gesehlafen hätte.
»Oh, entsetzlich schlecht!« sagte die Prinzessin. »Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge geschlossen! Gott weiß, was in meinem Bett gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so daß ich am ganzen Körper ganz braun und blau bin! Es ist ganz entsetzlich!«
Daran konnte man sehen, daß sie eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunendecken die Erbse gespürt hatte. So feinfühlig konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.
Da nahm sie der Prinz zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin gefunden hatte. Und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie niemand gestohlen hat.

Seht, das war eine wirkliche Geschichte!

Hans Christian Andersen – Die Psyche

Hans Christian Andersen

Die Psyche

In der Morgendämmerung, in der roten Luft, glänzt ein großer Stern, der hellste Stern des Morgens; sein Strahl zittert auf der weißen Wand, als wollte er dort niederschreiben, was er zu erzählen weiß, was er Jahrtausende hindurch hier und dort auf unserer kreisenden Erde gesehen hat.
Hören wir eine seiner Erzählungen:
Erst kürzlich – das »kürzlich« des Stern heißt für uns Menschen »vor Jahrhunderten« – begleiteten meine Strahlen einen jungen Künstler; es war in der Stadt der Päpste, in der Weltstadt Rom. Vieles hat sich dort in der Zeiten Lauf verändert, doch nicht so schnell, wie die Menschengestalt vom Kind zum Greis übergeht. Die Kaiserburg war wie heute noch eine Ruine; Feigen-und Lorbeerbäume wuchsen zuwischen den umgestützten Marmorsäulen hin über die zerstörten Badezimmer, die noch mit Gold an den Wänden prangten; das Kolosseum war eine Ruine, die Kirchenglocken läuteten, das Räucherwerk duftete, durch die Straßen schritten Prozessionen mit Kerzen und strahlenden Baldachinen. Kirchenheilig war es hier, und hehr und heilig war die Kunst. In Rom lebte der größte Maler der Welt, Raffael; es lebte dort der erste Bildhauer des Zeitalters, Michelangelo; selbst der Papst huldigte diesen beiden, beehrte sie mit seinem Besuch; die Kunst war anerkannt, geehrt und wurde auch belohnt. Allein dessen ungeachtet wurde nicht alles Große und Tüchtige gesehen und bekannt.
In einem engen Gäßchen stand ein altes Haus, einst war es ein Tempel gewesen; ein junger Künstler wohnte darin, arm war er, unbekannt war er; er hatte freilich junge Freunde, Künstler wie er, jung von Gemüt, jung im Hoffen und Denken; sie sagten ihm, er sei reich an Talent und tüchtig, aber er sei ein Narr, daß er nicht selber daran glaube; zerbrach er doch stets, was er in Ton geformt hatte, wurde niemals zufrieden, bekam nie etwas fertig, und das muß man, damit es gesehen und anerkannt werden kann und Geld bringt:
»Du bist ein Träumer!« sagten sie ferner, »und das ist dein Unglück! Das kommt aber daher, daß du noch nicht gelebt, das Leben noch nicht gekostet hast, es nicht genossen hast in großen gesunden Zügen, wie es genossen werden muß. Gerade in der Jugend kann und muß man sein Ich mit dem Leben verschmelzen, auf daß sie eins werden! Schau den großen Meister Raffael an, den der Papst ehrt, den die Welt bewundert, er ist kein Verächter von Wein und Brot!«
»Er verspeist noch obendrein die Bäckerin, die niedliche Fornarina!« sagte Angelo, einer der lustigsten jungen Freunde.
Ja, was sagten sie nicht alles, je nach ihrer Jugend und nach ihrem Verstande. Sie wollten den jungen Künstler mit hinausziehen in das lustige, wilde Leben, das tolle Leben, wie man es auch nennen könnte; und er fühlte auch für Augenblicke Neigung dazu; er hatte heißes Blut, eine starke Phantasie, er verstand es wohl, in das lustige Gespräch mit einzustimmen, laut zu lachen mit den anderen; und doch, was sie »Raffaels fröhliches Leben« nannten, schwand ihm wie der Morgentau, wenn er den Gottesglanz sah, der aus den Bildern des großen Meisters leuchtete, und stand er im Vatikan vor den Schönheitsgestalten, welche die Meister vor Jahrhunderten aus Marmorblöcken geformt hatten, dann hob sich seine Brust, dann vernahm er in seinem Innern etwas so Hohes, Heiliges, Erhebendes, Großes und Gutes, und er wünschte aus dem Marmorblock ebensolche Gestalten zu schaffen, zu meißeln. Er wollte ein Bild schaffen von dem, was sich aus seinem Herzen hinauf zu dem Unendlichen emporschwang, aber wie und in welcher Gestalt? Der weiche Ton gestaltete sich unter seinen Fingern zu Schönheitsformen, doch tags darauf zerbrach er, wie immer, was er geschaffen hatte.
Eines Tages schritt er an einem der reichen Paläste vorüber, deren Rom so viele aufzuweisen hat; er blieb stehen vor der großen, offenen Einfahrt und sah hier mit Bildern geschmückte Bogengänge, die einen kleinen Garten umschlossen; der Garten prangte mit einer Fülle der schönsten Rosen. Große weiße Callas mit ihren grünen, saftigen Blättern schossen empor aus dem Marmorbassin, in welchem das klare Wasser plätscherte; und hier vorüber schwebte eine Gestalt, ein junges Mädchen, die Tochter dieses fürstlichen Hauses, fein, leicht, wunderbar schön! Eine solche Frauengestalt hatte er noch nie gesehen, und doch! gemalt von Raffael, gemalt als Psyche in einem der römischen Paläste. Ja, dort war sie gemalt, hier schritt sie lebendig einher.
In seinen Gedanken, in seinem Herzen lebte sie; und er ging zurück in sein ärmliches Zimmer und formte in Ton die Psyche, und es war die reiche, junge Römerin, die adlige Jungfrau; zum erstenmal betrachtete er sein Werk mit Befriedigung. Es hatte Bedeutung für ihn, es war sie. Und die Freunde, die es sahen, jubelten vor Freude; dieses Werk war eine Offenbarung seiner Künstlergröße, die sie im voraus erkannt hatten, jetzt sollte auch die Welt sie erkennen. Der Ton ist zwar fleischig und lebendig, er besitzt aber nicht die Weiße und Dauer des Marmors; zum Leben in Marmor mußte diese Psyche gelangen, und den kostbaren Marmorblock besaß er schon, der lag schon seit Jahren als Eigentum der Eltern im Hof; Glasscherben, Fenchelkraut,Überbleibsel von Artischocken häuften sich über ihn und beschmutzten ihn, aber im Innern war der Block wie der Schein des Berges; aus diesem Marmor sollte die Psyche entstehen.
Eines Tages nun geschah es – ja, der helle Stern erzählt nichts davon, er sah es nicht, wir aber wissen es -, daß eine vornehme römische Gesellschaft in die enge, unansehnliche Gasse kam. Die Equipage hielt am Anfang der Gasse, die Gesellschaft begab sich zu Fuß zu dem Haus, um die Arbeit des jungen Künstlers zu sehen, sie hatten zufällig davon gehört. Und wer waren die vornehmen Gäste? Armer junger Mann! Gar zu glücklicher junger Mann könnte er auch genannt werden. Die junge Adelige selber stand hier im Zimmer, und mit welchem Lächeln, als ihr Vater sagte: »Du bist es, wie du leibst und lebst!« Das Lächeln kann nicht geformt, der Blick nicht wiedergegeben werden, der wunderbare Blick, mit dem sie den Künstler ansah; es war ein Blick, erhebend, adelnd und – zermalmend.
»Die Psyche muß in Marmor ausgeführt werden!« sagte der reiche Herr. Und das waren Lebensworte für den toten Ton und den schweren Marmorblock, wie es Lebensworte für den tief ergriffenen jungen Mann waren. »Wenn die Arbeit vollendet ist, kaufe ich sie!« sagte der fürstliche Herr.
Es war, als rollte eine neue Zeit herauf in der ärmlichen Werkstatt; Leben und Fröhlichkeit leuchteten, emsiger Fleiß schaffte darin. Der strahlende Morgenstern sah, wie die Arbeit fortschritt. Der Ton selber war wie beseelt, seitdem sie dagewesen war, er formte sich in erhöhter Schönheit zu den bekannten Zügen.
»Jetzt weiß ich, was Leben ist!« jubelte der Künstler, »es ist Liebe! Es ist erhabene Hingebung an das herrliche, entzückende Aufgehen im Schönen! Das, was die Freunde Leben und Genuß nennen, ist vergängliches Wesen, sind Blasen der gärenden Hefe, ist nicht der reine, himmlische Altarwein, der zum Leben weiht.
Der Marmorblock wurde aufgestellt; der Meißel schlug große Stücke von ihm ab; da wurde gemessen, Punkte und Zeichen wurden gemacht, das Handwerksmäßige ausgeführt, bis nach und nach der Stein sich in Körper, in Schönheitsgestalt, in die Psyche verwandelte, schön und herrlich, wie das Gottesbild in der Jungfrau. Der schwere Stein wurde schwebend, tanzend, luftgleich, eine anmutige Psyche mit dem himmlisch unschuldigen Lächeln, die dieses sich im Herzen des jungen Bildhauers gespiegelt hatte.
Der Stern des rosenfarbenen Morgens sah und begriff wohl, was sich in dem jungen Mann regte, begriff die wechselnde Färbung seiner Wangen, den Blitz, der aus seinem Auge schoß, während er schaffte, während er das wiedergab, was Gott gegeben hatte.
»Du bist ein Meister wie die der alten Griechen!« sagten die entzückten Freunde. »Bald wird die ganze Welt deine Psyche bewundern!«
»Meine Psyche!« wiederholte er. »Meine! Ja, sie muß es werden! Auch ich bin ein Künstler, wie jene großen Verblichenen! Gott hat mir das Gnadengeschenk gewährt, mich hoch gehoben wie die Edelgeborene!«
Und er kniete nieder, weinte im Dankgebet zu Gott – und vergaß Gott wieder ihretwegen, ihres Bildes in Marmor, der Psychegestalt werden, die wie aus Schnee geformt dastand, in der Morgensonne errötend.
In Wirklichkeit sollte er sie sehen, die Lebende, Schwebende, sie, deren Worte wie Musik klangen. In dem reichen Palast konnte er nun die Nachricht bringen, daß die Marmorpsyche vollendet sei. Er trat dort ein, schritt durch den offenen Hof, wo das Wasser aus den Delphinen in die Marmornen Bassins hinabplätscherte, wo die Callas blühten und die frischen Rosen in reicher Fülle sprossen. Er trat in die große, hohe Vorhalle, deren Wände und Decken in Farben prangen, mit Wappenzeichen und Bildern, Geputzte Diener, stolz und geziert, wie Schlittenpferde mit Schellen behangen, gingen hier auf und ab, einige streckten sich auch gemächlich und übermütig, auf den geschnitzten Holzbänken aus, als seien sie die Herren des Hauses. Er sagte Ihnen, was ihn in den Palast führte, und wurde die blanken, marmornen, mit weichen Teppichen belegten Treppen hinaufgeführt. Zu beiden Seiten standen Statuen, er schritt durch reich geschmückte Zimmer mit Bildern und glänzenden Mosaikfußböden. All dieser Glanz und diese Pracht machten ihm den Atem schwer, aber bald fühlte er sich wieder leicht; der alte fürstliche Herr empfing ihn gar freundlich, fast herzlich, und als er sich von ihm verabschiedete, wurde er gebeten, bei der Signora einzutreten, auch sie wünsche, ihn zu sehen. Der Diener führte ihn durch prachtvolle Zimmer, wo sie selber die Pracht und Herrlichkeit war.
Sie sprach zu ihn; kein Miserere, kein Kirchengesang hätte das Herz so schmelzen, die Seele höher erheben können als ihre Rede. Er ergriff ihre Hand, drückte sie an seine Lippen; keine Rose war so weich, aber es ging ein Feuer von dieser Rose aus, ein Feuer! Ein erhebendes Gefühl durchströmte ihn; es flossen Worte von seiner Zunge, er wußte selber nicht, welche. Weiß der Krater, daß er glühende Lava speit? Er gestand ihr seine Liebe. Sie stand überrascht, beleidigt, stolz da, mit einem Hohn in ihren Mienen, ja, mit einem Ausdruck, als hätte sie plötzlich einen nassen, kalten Frosch berührt, ihre Wangen röteten sich, ihre Lippen wurden blaß, ihre Augen waren Feuer und dennoch schwarz, wie die Finsternis der Nacht.
»Wahnsinniger!« sprach sie. »Fort! Hinab!« Und sie kehrte ihm den Rücken zu. Das Antlitz der Schönheit hatte einen Ausdruck, der jenem versteigerten Antlitz mit den Schlangenhaaren ähnlich war.
Einem sinkenden leblosen Gegenstand gleich wankte er die Treppen hinab, auf die Straße hinaus; wie ein Schlaftrunkener erreichte er seine Wohnung und erwachte in Raserei und Schmerz, ergriff seinen Hammer, hob ihn hoch in die Luft und wollte das schöne Marmorbild zermalmen, allein in seinem Zustand hatte er nicht bemerkt, daß der Freund Angelo neben ihm stand; dieser hielt mit einem kräftigen Griff seinen Arm zurück.
»Bist du rasend? Was beginnst du?«
Sie rangen miteinander; Angelo war der stärkere, und ermattet, mit tiefem Atemzug warf der junge Künstlich sich auf einen Stuhl nieder.
»Was ist geschehen?« fragte Angelo. »So fasse dich doch! Sprich!«
Doch was konnte er sagen!« Und da Angelo den Redeknäuel nicht zu entwirren vermochte, ließ er davon ab.
»Dickes Blut bekommst du bei dieser ewigen Träumerei!« Sei doch ein Mensch, wie die andern es sind, lebe nicht immerfort in Idealen, man schnappt über dabei! Ein Weinräuschchen, und du schläfst glücklich ein! Laß ein schönes Mädchen deinen Arzt sein! Die Mädchen der Campagna sind schön wie die Prinzessin im Marmorschloß; beide sind Evastöchter und im Paradies nicht zu unterscheiden! Folge du deinem Angelo! Dein Engel bin ich, ein Engel des Lebens! Die Zeit wird kommen, wo du alt wirst und der Körper zusammensinkt, und dann an einem schönen, sonnigen Tag, wenn alles lacht und jubelt, liegst du da, ein welker Halm, der nicht mehr wächst! Ich glaube nicht, was die Priester sagen von einem Leben jenseits des Grabes, das ist eine schöne Einbildung, ein Märchen für Kinder, ganz hübsch, wenn man es sich eben einbilden kann. ich lebe aber in der Wirklichkeit! Komm mit mir! Sei ein Mensch!«
Und es zog ihn mit sich, er konnte es in diesem Augenblick; Feuer sprühte im Blut des jungen Künstlers, in seiner Seele war eine Veränderung vorgegangen, er fühlte einen Drang, sich loszureißen von dem Alten, dem Gewohnten, sich aus seinem eigenen alten bisherigen Ich herauszureißen, und heute also folgte er Angelo. In einer entlegenen Gegend vom Rom lag eine von Künstlern besuchte Osteria, in die Ruine einer alten Badekammer hineingebaut; die großen gelben Zitronen hingen zwischen dem dunkel glänzenden Laub und verdeckten einen Teil der alten rotgelben Mauern; die Osteria war ein tiefes Gewölbe, fast einer Höhle gleich in den Ruinen; drinnen brannte eine Lampe vor dem Madonnenbild, ein großen Feuer loderte auf dem Herd, hier wurde gekocht und gebraten; draußen, unter den Zitronen-und Lorbeerbäumen standen einige reich gedeckte Tische.
Beide wurden von den Freunden mit Jubel empfangen. Wenig aß man, viel trank man, das erhöhte die Fröhlichkeit; es wurde gesungen, Gitarre gespielt, der Saltarello erklang, und der lustige Tanz begann. Zwei junge Römerinnen, Modelle der jungen Künstler, nahmen teil an dem Tanz und an der Fröhlichkeit: zwei allerliebste Bacchantinnen! Freilich keine Psychegestalten, keine feinen, schönen Rosen, sondern frische, kräftige, glühende Nelken.
Wie war es an diesem Tag heiß. Feuer im Blut, Feuer in der Luft, Feuer in jedem Blick. Die Luft leuchtete in Gold und Rosen, das Leben war Gold und Rosen.
»Endlich bist du mal dabei! Laß dich nur tragen von den Fluten um dich und in dir!«
»Noch nie war ich so gesund, so fröhlich!« sagte der junge Künstler. »Du hast recht, ihr habt alle recht, ich war ein Narr, ein Träumer, der Mensch gehört in die Wirklichkeit und nicht in die Phantasie!«
Mit Gesang und klingenden Gitarren zogen die jungen Leute an dem sternhellen Abend von der Osteria durch die kleinen Gassen; die beiden glühenden Nelken, Töchter der Campagna zogen mit ihnen.
In Angelos Zimmer, zwischen umhergestreuten Farbskizzen, hingeworfenen Foglietten und glühenden, üppigen Bildern klangen die Stimmen gedämpfter, aber nicht weniger lebhaft; auf dem Fußboden lag manches Blatt, das den Töchtern der Campagna in ihrer wechselnden, kräftigen Schönheit gar ähnlich war, und doch waren sie selber weit schöner. Der sechsarmige Leuchter ließ alle seine Dochte flammen und leuchten; und vom Innern flammte und leuchtete die Menschengestalt als Gottheit heraus.
»Apollo! Jupiter! In euren Himmeln, in eure Herrlichkeit werde ich emporgehoben! Mir ist, als ginge die Blüte des Lebens in diesem Augenblick in meinem Herzen auf!« Ja, sie ging auf – nickte , fiel, und ein häßlicher Dunst wirbelte heraus, blendete das Gesicht, betäubte die Gedanken; das Feuerweg der Sinne erlosch, und es ward finster.
Er befand sich wieder in seinem eigenen Zimmer; hier setzte er sich auf sein Bett und sammelte sich. »Pfui!« klang es aus seinem eigenen Mund, aus seinem Herzensgrund. »Elender! Fort! Hinab!« und ein tiefer, schmerzlicher Seufzer entrang sich seiner Brust.
»Fort! Hinab!« Diese ihre Worte, die Worte der lebenden Psyche, klangen in seinem Innern, tönten von seinen Lippen. Er drückte seinen Kopf in die Kissen, die Gedanken wurden unklar, er schlief ein.
In der Morgendämmerung fuhr er auf, sammelte sich aufs neue. Was war geschehen? Hatte er das alles geträumt? Den Besuch bei ihr geträumt, den Besuch in der Osteria, den Abend mit den purpurnen Nelken der Campagna geträumt? – Nein, alles war Wirklichkeit, die ihm früher unbekannt gewesen war.
In der purpurnen Luft strahlte der klare Stern, sein Strahl fiel auf ihn und die Marmorpsyche; er selber zitterte, als er das Bild der Unvergänglichkeit betrachtete, unrein schien ihm sein Blick. Er warf das Tuch über die Statur, noch einmal berührte er es, um die Gestalt zu entschleiern, allein er vermochte es nicht, sein Werk zu betrachten.
Still, finster, in sich selber versunken, blieb er sitzen den lieben langen Tag; er vernahm nichts von dem, was sich draußen bewegte. Niemand wußte, was sich drinnen, in dieser Menschenbrust bewegte.
Tage, Wochen vergingen; die Nächte waren am längsten. Der blitzende Stern sah ihn eines Morgens blaß, fieberhaft sich vom Lager erheben, auf das Marmorbild hinschreiten, die Hülle zurückschlagen, einen langen, schmerzlichen Blick auf sein Werk werden und dann, fast unter der Last zusammenbrechend, die Statue in den Garten hinausschleppen. Dort befand sich ein ausgetrockneter Brunnen, jetzt eher ein Loch, in dieses senkte er die Psyche hinab, warf Erde über Sie, deckte Reisig und Nesseln über die Stätte.
»Fort! Hinab!« lautete die kurze Grabrede.
Der Stern gewahrte es aus der rosenroten Luft, und sein Strahl zitterte in zwei großen Tränen auf den todblassen Wangen des jungen Mannes, des Fiebernden – des Todkranken, sagten sie, als er auf dem Siechbette lag.
Der Klosterbruder Ignatius besuchte ihn als Freund und als Arzt, brachte ihm Trostesworte der Religion, sprach von dem Frieden und dem Glück der Kirche, von der Sünde der Menschen, von der Gnade und dem Frieden in Gott.
Und die Worte fielen gleich wärmenden Sonnenstrahlen auf den gärenden Boden; der dampfte und entsandte Nebelwolken, Gedankenbilder, Bilder die ihre Wirklichkeit hatten; und von diesen schwimmenden Inseln schaute der Kranke über das Menschenleben hin. Fehlgriffe, Täuschungen waren es, waren es auch für ihn gewesen. Die Kunst war eine Hexe, die in uns Eitelkeit, irdische Gelüste hineintrug. Falsch waren wir gegen uns selbst, gegen unsere Freunde, falsch gegen Gott. Die Schlange sprach immer in uns: »Iß, und du sollst werden wie Gott!«
Nun erst schien es ihm, als habe er sich selber verstanden, den Weg zur Wahrheit und zum Frieden gefunden. In der Kirche war das Licht und die Helle Gottes, in der Mönchszelle die Ruhe, durch die der Menschenbaum in die Ewigkeit hineinwachsen konnte.
Bruder Ignatius stärkte seinen Sinn, und der Entschluß wurde fest in ihm. Ein Weltkind wurde ein Diener der Kirche, der junge Künstler entsagte der Welt, ging ins Kloster.
Liebevoll kamen ihm die Brüder entgegen, und sonntagsfestlich war die Einweihung. Gott, so schien es ihm, war in dem Sonnenschein der Kirche, strahle von den heiligen Bildern und dem glänzenden Kreuze. Und als er nun am Abend beim Sonnenuntergang in seiner kleinen Zelle stand und das Fenster öffnete, über das alte Rom hinausblickte, über die zerstörten Tempel, das große, aber tote Kolosseum, und als er dies alles im Fühlungskleid sah, die Akazien blühten, das Immergrün war frisch, die Rosen sproßten überall hervor, Zitronen und Orangen prangten, die Palmen fächelten, da fühlte er sich ergriffen und erfüllt wie noch nie. Die offene, stille Campagna dehnte sich aus bis zu den blauen, schneebedeckten Bergen, diese schienen in die Luft gemalt zu sein: alles verschmolz ineinander, Frieden und Schönheit atmend, schwimmend, träumend – ein Traum das Ganze!
Ja, ein Traum war die Welt hier, und der Traum waltet stundenlang und kann für Stunden wiederkehren, aber das Klosterleben ist ein Leben von Jahren, langen und vielen Jahren.
Von innen kommt vieles, was den Menschen unrein macht, das fand er bestätigt! Welche Flammen durchloderten ihn manchmal! Welche Quelle des Bösen, das er nicht wollte, quoll immerfort! Er strafte seinen Leib, aber von innen kam das Böse. Ein Teilchen des Geistes in ihm wand sich geschmeidig wie die Schlange um sich selbst und kroch mit seinem Gewissen unter den Mantel der Alliebe und tröstete: die Heiligen beten für uns, die Mutter betet für uns, Jesus selber hat sein Blut für uns hingegeben. War es ein kindlich Gemüt oder der Jugend leichter Sinn, der sich der Gnade gab und sich durch sie erhoben fühlte, erhoben über viele; denn er hatte ja die Eitelkeit der Welt von sich gestoßen, er war ja ein Sohn der Kirche.
Eines Tages, nach Verlauf vieler Jahre, begegnete ihm Angelo, der ihn erkannte.
»Mensch!« rief Angelo, »ja, du bist es! Bist du jetzt glücklich? Du hast gesündigt gegen Gott und sein Gnadengeschenk von dir geworfen, deine Mission in dieser Welt verscherzt. Lies die Parabel von dem anvertrauten Pfunde! Der Meister, der sie erzählte, sprach die Wahrheit! Was hast du gewonnen, was gefunden? Legst du dir nicht ein Traumleben, legst du dir nicht eine Religion zurecht nach deinem Kopfe, wie sie es wohl alle tun? Wenn nun alles ein Traum, eine Phantasie, ein schöner Gedanke nur wäre!«
»Weiche von mir, Satan!« sprach der Mönch und verließ Angelo.
»Es gibt einen Teufel, einen Teufel in Menschengestalt! Heute sah ich ihn!« sprach der Mönch vor sich hin. »Ich reichte ihm einst einen Finger, er nahm meine ganze Hand« Nein!« seufzte er, »in mir selber ist das Böse, und in jenem Menschen ist das Böse, aber es beugt ihn nicht, er geht mit freier Stirn umher, genießt sein Wohlsein; und ich hasche nach meinem Wohlsein im Trost der Religion! Wenn sie nur Trost wäre? Wenn alles hier, wie die Welt, die ich verließ, nur schöne Gedanken wären, Täuschungen, wie die Schönheit der roten Abendwolken, wie das wallende Blau der fernen Berge! In der Nähe sind sie anders! Ewigkeit, du bist wie der große, unendliche, meeresstille Ozean, der winkt und ruft, uns mit Ahnungen erfüllt, und steigen wir hinaus auf ihn, dann sinken wir, verschwinden – sterben – hören auf zu sein! -Täuschung! Fort! Hinab!
Und ohne Tränen, in sich selber versunken, saß er auf seinem harten Lager, kniete nieder – vor wem? Vor dem steinernen Kreuz in der Mauer? Nein, die Gewohnheit ließ den Körper diese Lage einnehmen.
Je tiefer er sich bückte, desto finsterer schien es ihm dort. »Nichts innen, nichts außen! Vergeudet dieses Leben!« Und dieser Gedankenschneeball rollte, wuchs, zermalmte ihn – löschte ihn aus.
»Niemandem darf ich mich anvertrauen, zu niemandem von diesem nagenden Wurm hier innen sprechen! Mein Geheimnis ist mein Gefangener, lasse ich ihn entschlüpfen, bin ich der seine!«
Und die Gotteskraft, die ihm innewohnte, litt und stritt. »O Herr, mein Herr!« rief er in seiner Verzweiflung, »sei barmherzig, schenke mir den Glauben! Dein Gnadengeschenk war ich von mir, meine Mission ließ ich unerfüllt! Mir fehlte die Kraft, du gabst sie mir nicht. Die Unsterblichkeit, die Psyche in meiner Brust – fort, hinab! Begraben soll sie werden wie jene Psyche, mein bester Lebensstrahl! Nimmer ersteht sie aus dem Grabe!«
Der Stern in der rosenroten Luft leuchtete, der Stern, der gewiß verlöschen und vergehen wird, während die Seele lebt und leuchtet; sein zitternder Strahl fiel auf die weiße Wand, aber keine Schrift setzt er dorthin von der Herrlichkeit Gottes, von der Gnade, von der Alliebe, welche in der Brust des Gläubigen klingt.
»Die Psyche hier innen wird nimmer sterben! Leben im Bewußtsein? Kann das Unfaßliche geschehen? Ja! Ja! Unfaßlich ist mein Ich. Unfaßlich bist du, o Herr! Deine ganze Welt ist unfaßlich ein Wunderwerk an Macht, Herrlichkeit -Liebe!«
Seine Augen leuchteten, seine Augen brachen. Der Klang der Kirchenglocken war der letzte Laut über ihm, dem Toten; und man senkte ihn in Erde, die von Jerusalem geholt und mit dem Staub von frommen Toten gemischt war.
Nach Jahren hob man das Skelett heraus, wie es mit den vor im gestorbenen Mönchen geschehen war, man bekleidete es mit einer braunen Kutte, gab ihm eine Perlenschnur in die Hand und stellte es in die Reihen anderer Menschengebeine, die in den Grabgewölben des Klosters gefunden wurden. Und draußen schien die Sonne, drinnen dufteten die Räuchergefäße, wurden die Messen gelesen.
Jahre vergingen. Die Gebeine fielen auseinander; Totenköpfe wurden aufgestellt, sie bildeten eine ganze äußere Mauer der Kirche; dort stand auch sein Kopf in der sengenden Sonne, gar viele Tote waren dort, niemand kannte jetzt ihre Namen, auch den seinen nicht. Und siehe, im Sonnenschein bewegte sich etwas Lebendiges in den beiden Augenhöhen, was mochte das sein? Eine bunte Eidechse sprang in dem holen Schädel umher, huschte aus und ein durch die leeren, großen Augenhöhlen. Die Eidechse war jetzt das Leben in dem Kopf, in welchem einst große Gedanken, helle Träume, die Liebe zur Kunst und zum Herrlichen sich erhoben hatte, von wo heiße Tränen herabgerollt waren und wo die Hoffnung auf Unsterblichkeit gelegt hatte. Die Eidechse sprang, verschwand; der Schädel zerbröckelte, ward Staub im Staube.

Es war Jahrhunderte später. Der helle Stern leuchtete unverändert, klar und groß, wie seit Jahrtausenden, die Luft leuchtete rot, frisch wie Rosen, purpurn wie Blut.
Dort, wo einst eine enge Gasse mit den Überresten eines Tempels gewesen war, lag jetzt ein Nonnenkloster; in dem Garten des Klosters wurde ein Grab gegraben, eine junge Nonne war gestorben und sollte an diesem Morgen in die Erde gebettet werden. Der Spaten stieß gegen einen Stein, der Stein leuchtete blenden weiß. Marmor kam zu Vorschein, er rundete sich zu einer Schulter, die allmählich ganz hervortrat; der Spaten wurde nun vorsichtiger geführt; ein weiblicher Kopf kam zu Tage – Schmetterlingsflügel! Aus dem Grab, in welches die junge Nonne gelegt werden sollte, hob man an dem rosenroten, flammenden Morgen eine wunderherrliche Psychegestalt, gemeißelt in weißen Marmor. »Wie schön, wie vollendet ist sie, ein Kunstwerk aus der besten Zeit!« sagte man. Wer mochte der Meister sein? Niemand wußte es, niemand kannte ihn als der helle, durch Jahrtausende leuchtende Stern; der kannte den Gang seines Erdenlebens, seine Prüfung, seine Schwäche, wußte, daß er eben nur ein Mensch gewesen war! Aber der war tot, verweht, wie der Staub es sein muß und soll, doch die Ausbeute seines besten Strebens, das Herzlichste, was das Göttliche in ihm bekundete, die Psyche, die niemals stirbt, die den Nachruhm überstrahlt, der Glanz dieser Psyche hier auf Erden, der blieb hier, wurde gesehen, erkannt, bewundert und idealisiert.
Der klare Morgenstern in der rosenfarbenen Luft sandte seinen blitzenden Strahl hernieder auf die Psyche und auf die in Glückseligkeit lächelnden Lippen und Augen der Bewunderer, welche die Seele sahen, gemeißelt aus dem Marmorblock.
Was irdisch ist, verweht, wird vergessen, nur der Stern im Unendlichen weiß davon. Was himmlisch ist, strahlt selbst im Nachruhm, und wenn der Nachruhm erlischt lebt noch die Psyche.

Hans Christian Andersen – Die roten Schuhe

Hans Christian Andersen

Die roten Schuhe

Es war einmal ein kleines Mädchen, gar fein und hübsch; aber es war arm und mußte im Sommer immer barfuß gehen, und im Winter mit großen Holzschuhen, so daß der kleine Spann ganz rot wurde; es war zum Erbarmen.
Mitten im Dorfe wohnte die alte Schuhmacherin; sie setzte sich hin und nähte, so gut sie es konnte, von alten roten Tuchlappen ein paar kleine Schuhe. Recht plump wurden sie ja, aber es war doch gut gemeint, denn das kleine Mädchen sollte sie haben. Das kleine Mädchen hieß Karen.
Just an dem Tage, als ihre Mutter begraben wurde, bekam sie die roten Schuhe und zog sie zum ersten Male an; sie waren ja freilich zum Trauern nicht recht geeignet, aber sie hatte keine anderen, und so ging sie mit nackten Beinchen darin hinter dem ärmlichen Sarge her.
Da kam gerade ein großer, altmodischer Wagen dahergefahren; darin saß eine stattliche alte Dame. Sie sah das kleine Mädchen an und hatte Mitleid mit ihm, und deshalb sagte sie zu dem Pfarrer: »Hört, gebt mir das kleine Mädchen, ich werde für sie sorgen und gut zu ihr sein!«
Karen glaubte, daß sie alles dies den roten Schuhen zu danken habe. Aber die alte Frau sagte, daß sie schauderhaft seien, und dann wurden sie verbrannt. Karen selbst wurde reinlich und nett gekleidet; sie mußte Lesen und Nähen lernen, und die Leute sagten, sie sei niedlich; aber der Spiegel sagte: »Du bist weit mehr als niedlich, Du bist schön.«
Da reiste einmal die Königin durch das Land, und sie hatte ihre kleine Tochter bei sich, die eine Prinzessin war. Das Volk strömte zum Schlosse und Karen war auch dabei. Die kleine Prinzessin stand in feinen weißen Kleidern in einem Fenster und ließ sich bewundern. Sie hatte weder Schleppe noch Goldkrone, aber prächtige rote Saffianschuhe. Die waren freilich weit hübscher als die, welche die alte Schuhmacherin für die kleine Karen genäht hatte. Nichts in der Welt war doch solchen roten Schuhen vergleichbar!
Nun war Karen so alt, daß sie eingesegnet werden sollte. Sie bekam neue Kleider und sollte auch neue Schuhe haben. Der reiche Schuhmacher in der Stadt nahm Maß an ihrem kleinen Fuß. Das geschah in seinem Laden, wo große Glasschränke mit niedlichen Schuhen und blanken Stiefeln standen. Das sah gar hübsch aus, aber die alte Dame konnte nicht gut sehen und hatte daher auch keine Freude daran. Mitten zwischen den Schuhen standen ein paar rote, ganz wie die, welche die Prinzessin getragen hatte. Wie schön sie waren! Der Schuhmacher sagte auch, daß sie für ein Grafenkind genäht worden seien, aber sie hätten nicht gepaßt.
»Das ist wohl Glanzleder« sagte die alte Dame, »sie glänzen so.«
»Ja, sie glänzen!« sagte Karen, und sie paßten gerade und wurden gekauft. Aber die alte Dame wußte nichts davon, daß sie rot waren, denn sie hätte Karen niemals erlaubt, in roten Schuhen zur Einsegnung zu gehen, aber das geschah nun also.
Alle Menschen sahen auf ihre Füße, und als sie durch die Kirche und zur Chortür hinein schritt, kam es ihr vor, als ob selbst die alten Bilder auf den Grabsteinen, die Steinbilder der Pfarrer und Pfarreresfrauen mit steifen Kragen und langen schwarzen Kleidern, die Augen auf ihre roten Schuhe hefteten, und nur an diese dachte sie, als der Pfarrer seine Hand auf ihr Haupt legte und von der heiligen Taufe sprach und von dem Bunde mit Gott, und daß sie nun eine erwachsene Christin sein sollte. Und die Orgel spielte so feierlich, die hellen Kinderstimmen sangen und der alte Kantor sang, aber Karen dachte nur an die roten Schuhe.
Am Nachmittag hörte die alte Dame von allen Leuten, daß die Schuhe rot gewesen wären, und sie sagte das wäre recht häßlich und unschicklich, und Karen müsse von jetzt ab stets mit schwarzen Schuhen zur Kirche gehen, selbst wenn sie alt wären.
Am nächsten Sonntag war Abendmahl, und Karen sah die schwarzen Schuhe an, dann die roten, – und dann sah sie die roten wieder an und zog sie an.
Es war herrlicher Sonnenschein; Karen und die alte Dame gingen einen Weg durch das Kornfeld; da stäubte es ein wenig.
An der Kirchentür stand ein alter Soldat mit einem Krückstock und einem gewaltig langen Barte, der war mehr rot als weiß, er war sogar fuchsrot. Er verbeugte sich tief bis zur Erde und fragte die alte Dame, ob er ihre Schuhe abstäuben dürfe. Und Karen streckte ihren kleinen Fuß auch aus. »Sieh, was für hübsche Tanzschuhe«, sagte der Soldat, »sitzt fest, wenn Ihr tanzt.« Und dann schlug er mit der Hand auf die Sohlen.
Die alte Dame gab dem Soldaten einen Schilling, und dann ging sie mit Karen in die Kirche.
Alle Menschen drinnen blickten auf Karens rote Schuhe, und alle Bilder blickten darauf, und als Karen vor dem Altar kniete und den goldenen Kelch an ihre Lippen setzte, dachte sie nur an die roten Schuhe. Es war Nun gingen alle Leute aus der Kirche, und die alte Dame stieg in ihren Wagen. Karen hob den Fuß, um hinterher zu steigen; da sagte der alte Soldat, der dicht dabei stand: »Sieh, was für schöne Tanzschuhe.« Und Karen konnte es nicht lassen, sie mußte ein paar Tanzschritte machen! Und als sie angefangen hatte, tanzten die Beine weiter; es war gerade, als hätten die Schuhe Macht über sie bekommen; sie tanzte um die Kirchenecke herum und konnte nicht wieder aufhören damit; der Kutscher mußte hinterher laufen und sie festhalten. Er hob sie in den Wagen; aber die Füße tanzten weiter, so daß sie die gute alte Dame heftig trat.
Endlich zogen sie ihr die Schuhe ab, und die Beine kamen zur Ruhe.
Daheim wurden die Schuhe in den Schrank gesetzt, aber Karen konnte sich nicht enthalten, sie immer von neuem anzusehen.
Nun wurde die alte Frau krank, und es hieß, daß sie nicht mehr lange zu leben hätte. Sie sollte sorgsam gepflegt und gewartet werden, und niemand stand ihr ja näher als Karen. Aber in der Stadt war ein großer Ball und Karen war auch dazu eingeladen. Sie schaute die alte Frau an, die ja doch nicht wieder gesund wurde, sie schaute auf die roten Schuhe, und das schien ihr keine Sünde zu sein. – Da zog sie die roten Schuhe an – das konnte sie wohl auch ruhig tun! – aber dann ging sie auf den Ball und fing an zu tanzen.
Doch als sie nach rechts wollte, tanzten die Schuhe nach links, und als sie den Saal hinauf tanzen wollte, tanzten die Schuhe hinunter, die Treppe hinab, über den Hof durch das Tor aus der Stadt hinaus. Tanzen tat sie, und tanzen mußte sie, mitten in den finsteren Wald hinein.
Da leuchtete es zwischen den Bäumen oben, und sie glaubte, daß es der Mond wäre; denn es sah aus wie ein Gesicht. Es war jedoch der alte Soldat mit dem roten Barte. Er saß und nickte und sprach: »Sieh, was für hübsche Tanzschuhe.«
Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe fortwerfen; aber sie hingen fest. Sie riß ihre Strümpfe ab; aber die Schuhe waren an ihren Füßen festgewachsen. Und tanzen tat sie und tanzen mußte sie über Feld und Wiesen, in Regen und Sonnenschein, bei Tage und bei Nacht; aber in der Nacht war es zum Entsetzen.
Sie tanzte zum offenen Kirchhofe hinein, aber die Toten dort tanzten nicht; sie hatten weit Besseres zu tun als zu tanzen. Sie wollte auf dem Grabe eines Armen niedersitzen, wo bitteres Farnkraut grünte, aber für sie gab es weder Rast noch Ruhe. Und als sie auf die offene Kirchentür zutanzte, sah sie dort einen Engel in langen weißen Kleidern; seine Schwingen reichten von seinen Schultern bis zur Erde nieder. Sein Gesicht war strenge und ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und leuchtend:
»Tanzen sollst Du«, sagte er, »tanzen auf Deinen roten Schuhen, bist Du bleich und kalt bist, bis Deine Haut über dem Gerippe zusammengeschrumpft ist. Tanzen sollst Du von Tür zu Tür, und wo stolze, eitle Kinder wohnen, sollst Du anpochen, daß sie Dich hören und fürchten! Tanzen sollst Du, tanzen.« »Gnade!« rief Karen. Aber sie hörte nicht mehr, was der Engel antwortete, denn die Schuhe trugen sie durch die Pforte auf das Feld hinaus, über Weg und über Steg, und immer mußte sie tanzen.
Eines Morgens tanzte sie an einer Tür vorbei, die ihr wohlbekannt war. Drinnen ertönten Totenpsalmen; ein Sarg wurde herausgetragen, der mit Blumen geschmückt war. Da wußte sie, daß die alte Frau tot war, und es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie nun von allen verlassen war, und Gottes Engel hatte sie verflucht.
Tanzen tat sie und tanzen mußte sie, tanzen in der dunkeln Nacht. Die Schuhe trugen sie dahin über Dorn und Steine, und sie riß sich blutig. Sie tanzte über die Heide hin bis zu einem kleinen, einsamen Hause. Hier, wußte sie, wohnte der Scharfrichter, und sie pochte mit dem Finger an die die Scheibe und sagte:
»Komm heraus – Komm heraus – Ich kann nicht hineinkommen, denn ich tanze.«
Und der Scharfrichter sagte: »Du weißt wohl nicht, wer ich bin? Ich schlage bösen Menschen das Haupt ab, und ich fühle, daß mein Beil klirrt!«
»Schlag mir nicht das Haupt ab,« sagte Karen, »denn dann kann ich nicht meine Sünde bereuen! Aber haue meine Füße mit den roten Schuhen ab.«
Nun bekannte sie ihre ganze Sünde, und der Scharfrichter hieb ihr die Füße mit den roten Schuhen ab: aber die Schuhe tanzten mit den kleinen Füßchen über das Feld in den tiefen Wald hinein.
Und er schnitzte ihr Holzbeine und Krücken, lehrte sie die Psalmen, die die armen Sünder singen, und sie küßte die Hand, die die Axt geführt hatte, und ging von dannen über die Heide.
»Nun habe ich genug um die roten Schuhe gelitten,« sagte sie, »nun will ich in die Kirche gehen, damit es auch gesehen wird.« Und sie ging, so schnell sie es mit den Holzfüßen konnte, auf die Kirchentür zu. Als sie aber Die ganze Woche hindurch war sie betrübt und weinte viele bittere Tränen. Als es aber Sonntag wurde, sagte sie: »So, nun habe ich genug gelitten und gestritten. Ich glaube wohl, daß ich ebenso gut bin wie viele von denen, die in der Kirche sitzen und prahlen!« Und dann machte sie sich mutig auf. Doch kam sie nicht weiter als bis zur Pforte; da sah sie die roten Schuhe vor sich hertanzen, und sie entsetzte sich sehr, kehrte wieder um und bereute ihre Sünde von ganzem Herzen.
Dann ging sie zum Pfarrhause und bat, ob sie dort Dienst nehmen dürfe; sie wolle fleißig sein und alles tun, was sie könne; auf Lohn sehe sie nicht, wenn sie nur ein Dach übers Haupt bekäme und bei guten Menschen wäre. Und die Pfarrersfrau hatte Mitleid mit ihr und nahm sie in Dienst. Und sie war fleißig und nachdenklich. Stille saß sie und hörte zu, wenn am Abend der Pfarrer laut aus der Bibel vorlas. All die Kleinen liebten sie sehr; aber wenn sie von Putz und Staat sprachen und daß es herrlich sein müsse, eine Königin zu sein, schüttelte sie mit dem Kopfe.
Am nächsten Sonntag gingen alle zur Kirche, und sie fragten sie, ob sie mitwolle, aber sie sah betrübt mit Tränen in den Augen auf ihre Krücken herab, und so gingen die anderen ohne sie fort, um Gottes Wort zu hören; sie aber ging allein in ihre kleine Kammer. Die war nicht größer, als daß ein Bett und ein Stuhl darin stehen konnte, und hier setzte sie sich mit ihrem Gesangbuche hin. Und als sie mit frommem Sinn darin las, trug der Wind die Orgeltöne aus der Kirche zu ihr herüber, und sie erhob unter Tränen ihr Antlitz und sagte: »O Gott, hilf mir.«
Da schien die Sonne so hell, und gerade vor ihr stand Gottes Engel in den weißen Kleidern, er, den sie in der Nacht in der Kirchentür gesehen hatte. Aber er hielt nicht mehr das scharfe Schwert, sondern einen herrlichen grünen Zweig, der voller Rosen war. Mit diesem berührte er die Decke, und sie hob sich empor, und wo er sie berührt hatte, leuchtete ein goldener Stern. Und er berührte die Wände, und sie weiteten sich. Nun sah sie die Orgel und hörte ihren Klang, und sie sah die alten Steinbilder von den Pfarrern und Pfarrersfrauen.
Die Gemeinde saß in den geschmückten Stühlen und sang aus dem Gesangbuch. – Die Kirche war selbst zu dem armen Mädchen in die kleine, enge Kammer gekommen, oder war sie etwa in die Kirche gekommen? Sie saß im Stuhl bei den anderen aus dem Pfarrhause, und als der Psalm zuende gesungen war, blickten sie auf und nickten ihr zu und sagten: »Das war recht, daß Du kamst, Karen.« Und die Orgel klang, und die Kinderstimmen im Chor ertönten sanft und lieblich! Der klare Sonnenschein strömte warm durch die Fenster in den Kirchenstuhl, wo Karen saß; ihr Herz war so voll Sonnenschein, Frieden und Freude, daß es brach. Ihre Seele flog mit dem Sonnenschein auf zu Gott, und dort war niemand, der nach den roten Schuhen fragte.