Ödipus in Theben, heiratet seine Mutter



Ödipus in Theben, heiratet seine Mutter

Nicht lange Zeit, nachdem dieses geschehen, war vor den Toren der Stadt Theben in Böotien die Sphinx erschienen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet. Sie war eine Tochter des Typhon und der Echidna, der schlangengestalteten Nymphe, der fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schwester des Höllenhundes Kerberos, der Hyder von Lerna und der feuerspeienden Chimära. Dieses Ungeheuer hatte sich auf einen Felsen gelagert und legte dort den Bewohnern von Theben allerlei Rätsel vor, die sie von den Musen erlernt hatte. Erfolgte die Auflösung nicht, so ergriff sie denjenigen, der es übernommen hatte, das Rätsel zu lösen, zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieser Jammer kam über die Stadt, als sie eben um ihren König trauerte, der – niemand wußte, von wem – auf einer Reise erschlagen worden war und an dessen Stelle Kreon, Bruder der Königin Iokaste, die Zügel der Herrschaft ergriffen hatte. Zuletzt kam es, daß dieses Kreon eigener Sohn, dem die Sphinx auch ein Rätsel aufgegeben und der es nicht gelöst hatte, ergriffen und verschlungen worden war. Diese Not bewog den Fürsten Kreon, öffentlich bekanntzumachen, daß demjenigen, der die Stadt von der Würgerin befreien würde, das Reich und seine Schwester Iokaste als Gemahlin zuteil werden sollte. Eben als jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt wurde, betrat Ödipus an seinem Wanderstabe die Stadt Theben. Die Gefahr wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Leben wegen der drohenden Weissagung, die über ihm schwebte, nicht hoch anschlug. Er begab sich daher nach dem Felsen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen hatte, und ließ sich von ihr ein Rätsel vorlegen. Das Ungeheuer gedachte dem kühnen Fremdling ein recht unauflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautete also: »Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten.« Ödipus lächelte, als er das Rätsel vernahm, das ihm selbst gar nicht schwierig erschien. »Dein Rätsel ist der Mensch«, sagte er, »der am Morgen seines Lebens, solang er ein schwaches und kraftloses Kind ist, auf seinen zween Füßen und seinen zwo Händen geht; ist er erstarkt, so geht er am Mittage seines Lebens nur auf den zween Füßen; ist er endlich am Lebensabend als ein Greis angekommen und der Stütze bedürftig geworden, so nimmt er den Stab als dritten Fuß zu Hilfe.« Das Rätsel war glücklich gelöst, und aus Scham und Verzweiflung stürzte sich die Sphinx selbst vom Felsen und zu Tode. Ödipus trug zum Lohne das Königreich von Theben und die Hand der Witwe, welche seine eigene Mutter war, davon. Iokaste gebar ihm nach und nach vier Kinder, zuerst die männlichen Zwillinge Eteokles und Polyneikes, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die jüngere Ismene. Aber diese vier waren zugleich seine Kinder und seine Geschwister.

Ödipus und Antigone



Ödipus und Antigone

In der ersten Stunde der Entdeckung wäre der schnellste Tod dem Ödipus der liebste gewesen, ja er hätte es als eine Wohltat aufgenommen, wenn das Volk sich gegen ihn erhoben und ihn gesteinigt hätte. Und so schien ihm auch die Verbannung, um welche er flehte und welche sein Schwager Kreon ihm bewilligte, als ein Geschenk. Als er aber in seiner Finsternis zu Hause saß und der Zorn allmählich auskochte, da fing er auch an, das Gräßliche zu empfinden, was das Herumirren eines blinden Verbannten in der Fremde mit sich führen mußte. Die Liebe zur Heimat begann mit dem Gefühle wieder zu erwachen, daß er für nicht beabsichtigte und nicht mit Bewußtsein begangene Verbrechen teils durch den Tod Iokastes, teils durch die Blendung, die er an sich selbst vollzogen habe, doch eigentlich genug bestraft sei, und er scheute sich auch nicht, den Wunsch, zu Hause zu bleiben, gegen Kreon und seine eigenen Söhne Eteokles und Polyneikes laut werden zu lassen. Aber da zeigte sich, daß die Rührung des Fürsten Kreon nur eine vorübergehende gewesen und auch seine Söhne eine harte und selbstsüchtige Gemütsart hatten. Kreon nötigte seinen unglücklichen Verwandten, auf seinem ersten Beschlusse zu verharren, und die Söhne, deren erste Pflicht doch war, dem Vater zu helfen, verweigerten ihm ihren Beistand. Ja fast ohne daß ein Wort gewechselt wurde, gab man ihm den Bettelstab in die Hand und stieß ihn zum Königspalaste von Theben hinaus. Nur seine Töchter fühlten kindliches Erbarmen mit dem Verstoßenen. Die jüngere Tochter Ismene blieb im Hause ihrer Brüder zurück, um hier soviel als möglich der Sache des Vaters zu dienen und gleichsam der Anwalt des Entfernten zu sein. Die ältere, Antigone, teilte mit dem Vater die Verbannung und lenkte die Schritte des Blinden. So zog sie mit ihm auf schwerer Irrfahrt herum, schweifte unbeschuht und ohne Speise mit ihm durch die wilden Wälder; Sonnenhitze und Regenguß hielt die zarte Jungfrau mit dem Vater aus, und während sie zu Hause bei den Brüdern die beste Pflege genießen konnte, war sie im Elende zufrieden, wenn nur der Vater satt wurde. Sein Wille war anfangs gewesen, in einer Wüstenei des Berges Kithairon das elende Leben zu fristen oder zu endigen. Doch weil er ein frommer Mann war, wollte er auch diesen Schritt nicht ohne den Willen der Götter tun, und so pilgerte er vorher zum Orakel des pythischen Apollo. Hier ward ihm ein tröstlicher Spruch zuteil. Die Götter erkannten, daß Ödipus wider seinen Willen sich gegen die Natur und die heiligsten Gesetze der Menschengesellschaft versündigt hatte. Gebüßt mußte ein so schweres Vergehen freilich werden, wenn es auch unfreiwillig war; aber ewig sollte die Strafe nicht währen. Darum eröffnete ihm der Gott: »Nach langer Frist zwar, aber endlich doch harre seiner die Erlösung, wenn er zu dem ihm vom Schicksale bestimmten Lande gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die strengen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsstätte gönnten.« Nun war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der Rache, welche die Sterblichen mit einem so begütigenden Namen ehren und besänftigen wollten. Der Orakelspruch lautete rätselhaft und schauerlich. Bei den Furien sollte Ödipus für seine Sünden gegen die Natur Ruhe und Erlösung von seiner Strafe finden! Dennoch vertraute er auf die Verheißung des Gottes und zog, dem Schicksal überlassend, wann die Erfüllung eintreten sollte, in Griechenland herum, von seiner frommen Tochter geleitet und gepflegt und vom Almosen mitleidiger Menschen erhalten. Immer bat er nur um weniges und erhielt auch nur weniges. Aber er begnügte sich damit jedesmal; denn die lange Dauer seiner Verbannung, die Not und seine eigene edle Sinnesart lehrten ihn Genügsamkeit.

Ödipus und Kreon



Ödipus und Kreon

Bald darauf drang der König Kreon von Theben mit Bewaffneten in Kolonos ein und eilte auf Ödipus zu. »Ihr seid von meinem Eintritt ins attische Gebiet überrascht«, sprach er zu den noch immer versammelten Dorfbewohnern gewendet; »doch sorget und zürnet nicht! Ich bin nicht so jung, im Übermute gegen die stärkste Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich bin ein Greis, den seine Mitbürger nur abgesandt haben, diesen Mann hier durch gütliche Überredung zu bewegen, mit mir nach Theben zurückzukehren.« Dann kehrte er sich zu Ödipus und drückte in den ausgesuchtesten Worten eine erheuchelte Teilnahme an seinem und seiner Töchter Elend aus. Aber Ödipus erhob seinen Stab und streckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht näher kommen sollte. »Schamlosester Betrüger«, rief er, »das fehlte noch zu meiner Pein, daß du kämest und mich gefangen mit dir fortführtest! Hoffe nicht, durch mich deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr bevorsteht. Nicht ich werde zu euch kommen, sondern nur den Dämon der Rache werde ich euch senden, und meine beiden lieblosen Söhne sollen nur so viel von thebanischem Boden besitzen, als sie brauchen, um sterbend darauf zu liegen!« Kreon wollte nun versuchen, den blinden König mit Gewalt hinwegzuführen; aber die Bürger von Kolonos erhoben sich dagegen, stützten sich auf Theseus‘ Wort und duldeten es nicht. Inzwischen hatten in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die Thebaner Ismene und Antigone ergriffen und von der Seite ihres Vaters weggerissen. Diese schleppten sie fort und trieben den Widerstand der Koloneer ab. Kreon aber sprach höhnend: »Deine Stäbe wenigstens habe ich dir entrissen. Versuch es jetzt, Blinder, und wandre weiter!« Und durch diesen Erfolg kühner gemacht, ging er aufs neue auf Ödipus los und legte schon Hand an ihn, als Theseus, den die Nachricht vom bewaffneten Einfalle in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieser hörte und sah, was geschehen und noch im Werke sei, entsandte er Diener zu Fuß und zu Rosse auf der Straße hin, auf der die Töchter von den Thebanern als Raub fortgeführt wurden; dem Kreon aber erklärte er, ihn nicht eher freilassen zu wollen, als bis er dem Ödipus die Töchter zurückgegeben. »Sohn des Aigeus«, hub dieser beschämt an, »ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen. Wußte ich doch nicht, daß deine Mitbürger ein solcher Eifer für diesen meinen blinden Verwandten, dem ich Gutes tun wollte, befallen habe, daß sie den Vatermörder, den Gatten seiner Mutter, lieber bei sich hegen würden als ihn in sein Vaterland entlassen!« Theseus befahl ihm zu schweigen, ohne Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jungfrauen anzugeben; und in kurzem führte er die geretteten Töchter dem tiefgerührten Ödipus in die Arme. Kreon und die Diener waren abgezogen.

Ödipus und Polyneikes



Ödipus und Polyneikes

Aber noch sollte der arme Ödipus keine Ruhe haben. Theseus brachte von dem kurzen Zuge die Nachricht mit, daß ein naher Blutsverwandter desselben, jedoch nicht aus Theben kommend, Kolonos betreten und sich an dem Altar des benachbarten Poseidontempels, wo Theseus eben geopfert hatte, als Schutzflehender niedergelassen habe. »Das ist mein hassenswerter Sohn Polyneikes«, rief Ödipus zürnend aus. »Es wäre mir unerträglich, ihn anhören zu müssen!« Doch Antigone, die diesen Bruder als den sanfteren und besseren liebte, wußte die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem Unglücklichen wenigstens Gehör zu verschaffen. Nachdem sich Ödipus auch gegen diesen den Arm seines Beschützers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinwegführen wollte, ließ er den Sohn vor sich.

Polyneikes zeigte schon durch sein Auftreten eine ganz andere Gemütsart als sein Oheim Kreon, und Antigone versäumte nicht, ihren blinden Vater darauf aufmerksam zu machen. »Ich sehe jenen Fremdling«, rief sie, »ohne Begleiter herschreiten! Ihm strömen die Tränen aus den Augen.« »Ist er es?« fragte Ödipus und wendete sein Haupt ab. »Ja, Vater«, erwiderte die gute Schwester, »dein Sohn Polyneikes steht vor dir.« Polyneikes warf sich vor dem Vater nieder und umschlang seine Knie. An ihm hinaufblickend, betrachtete er jammernd seine Bettlerkleidung, seine hohlen Augen, sein ungekämmt in der Luft flatterndes Greisenhaar. »Ach, zu spät erfahre ich alles dieses«, rief er, »ja ich selbst muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergessen! Was wäre er ohne die Fürsorge meiner Schwester! Ich habe mich schwer an dir versündigt, Vater! Kannst du mir nicht vergeben? Du schweigst? Sprich doch etwas, Vater! Zürne nicht so unerbittlich hinweggewandt! O ihr lieben Schwestern, versucht ihr es, den abgekehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!« »Sage du selbst zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat«, sprach die milde Antigone; »vielleicht öffnet deine Rede auch seine Lippen!« Polyneikes erzählte nun seine Verjagung durch den Bruder, seine Aufnahme beim König Adrastos in Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie er dort sieben Fürsten mit siebenfacher Schar für seine gerechte Sache geworben habe und diese Bundesgenossen das thebanische Gebiet bereits umringt hätten. Dann bat er den Vater unter Tränen, sich mit ihm aufzumachen, und nachdem durch seine Hilfe der übermütige Bruder gestürzt sei, die Krone von Theben aus Sohnes Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten Vaters nicht zu erweichen. »Du Verruchter!« sprach er und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf, »als Thron und Zepter noch in deinem Besitze war, hast du den Vater selbst aus der Heimat verstoßen und in dieses Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm bemitleidest, wo gleiche Not über dich gekommen ist! Du und dein Bruder, ihr seid nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, so wäre ich längst tot. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer schon der Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht vertilgen; in deinem Blute wirst du liegen, und dein Bruder in dem seinen. Dies ist die Antwort, die du deinen Bundesfürsten bringen magst!« Antigone nahte sich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entsetzt vom Boden aufgesprungen und einige Schritte rückwärts gewichen war. »Höre mein inbrünstiges Flehen, Polyneikes«, sprach sie ihn umfassend, »kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterstadt nicht!« »Es ist unmöglich«, erwiderte zögernd der Bruder; »die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zugrunde gehen müssen, dennoch können wir nicht Freunde sein!« So sprach er, wand sich aus der Schwester Armen und stürzte verzweifelnd davon.

So hatte Ödipus den Versuchungen seiner Verwandten nach beiden Seiten hin widerstanden und sie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war sein eigenes Geschick vollendet. Donnerschlag auf Donnerschlag erscholl vom Himmel. Der Greis verstand diese Stimme und verlangte sehnlich nach Theseus. Die ganze Gegend hüllte sich in Gewitterfinsternis. Eine große Angst bemächtigte sich des blinden Königes; er fürchtete, von seinem Gastfreunde nicht mehr lebend oder nicht mehr unverstörten Sinnes getroffen zu werden und ihm den vollen Dank für so viele Wohltaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erschien Theseus, und nun sprach Ödipus seinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von keiner sterblichen Hand berührt und nur vom Auge des Theseus geschaut, enden sollte. Keinem Menschen dürfe er sagen, wo Ödipus die Erde verlassen. Bleibe das heilige Grab, das ihn verschlingen würde, verborgen, so werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundesgenossen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens sein. Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos erlaubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und so vertiefte sich der ganze Zug in die schauerlichen Schatten des Furienhaines. Keines durfte an Ödipus rühren; er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, schien auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar gestärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte ihnen den Weg zu dem vom Schicksal ihm bestimmten Ziele.

Mitten in dem Haine der Erinnyen sah man einen geborstenen Erdschlund, dessen Öffnung mit einer ehernen Schwelle versehen war und zu welchem mehrere Kreuzwege führten. Von dieser Höhle ging von uralter Zeit her die Sage, daß sie einer der Eingänge in die Unterwelt sei. Jener Kreuzwege einen betrat nun Ödipus, doch ließ er sich von dem Gefolge nicht bis zu der Grotte selbst begleiten, sondern unter einem hohlen Baume machte er halt, setzte sich auf einen Stein nieder und löste den Gürtel seines schmutzigen Bettlerkleides. Dann rief er nach einer Spende fließenden Wassers, wusch sich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung und zog ein schmuckes Gewand an, das ihm durch seine Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde. Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert dastand, tönte unterirdischer Donner vom Boden herauf. Bebend warfen sich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater bemüht gewesen waren, in seinen Schoß; Ödipus aber schlang seinen Arm um sie, küßte sie und sprach: »Kinder, lebet wohl, von diesem Tag an habt ihr keinen Vater mehr!« Aus dieser Umarmung weckte sie eine donnergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob sie vom Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte: »Was säumest du, Ödipus? Was zögern wir zu gehen?« Als der blinde König die Stimme vernahm und wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er sich aus den Armen seiner Kinder los, rief den König Theseus zu sich und legte seiner Töchter Hände in die Hand desselben, zum Zeichen seiner Verpflichtung, sie nimmermehr zu lassen. Dann befahl er allen andern, umgewendet sich zu entfernen. Nur Theseus an seiner Seite durfte auf die offene Schwelle mit ihm zuschreiten. Seine Töchter und das Gefolge waren dem Winke gefolgt und schauten sich erst um, als sie eine gute Strecke rückwärtsgegangen waren. Da hatte sich ein großes Wunder ereignet. Von dem Könige Ödipus war keine Spur mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu sehen, kein Donner zu hören, kein Wirbelwind zu spüren; die tiefste Stille herrschte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unterwelt schien sich sanft und lautlos für ihn aufgetan zu haben, und durch den Erdspalt war der entsündigte Greis ohne Stöhnen und Pein sachte wie auf Geisterflügeln zur Tiefe hinabgetragen worden. Den Theseus aber erblickten sie allein, mit der Hand die Augen sich überschattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes Gesicht gehabt. Dann sahen sie, wie er, die Hände hoch gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und wieder, demütig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der Unterwelt flehte. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu den Jungfrauen zurück, versicherte sie seines väterlichen Schutzes und schritt mit ihnen, in heiliges Schweigen versunken, nach Athen zurück.

Ödipus und Theseus



Ödipus und Theseus

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blinden Ödipus erfüllt, der in seiner Verbannung noch so gewaltig erschien; sie rieten ihm, durch ein Trankopfer die Entweihung des Furienhaines zu sühnen. Erst jetzt erfuhren auch die Greise den Namen und die unverschuldete Schuld des Königs Ödipus, und wer weiß, ob das Grauen vor seiner Tat sie nicht aufs neue gegen ihn verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theseus, den die Botschaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis getreten wäre. Dieser ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: »Armer Ödipus, mir ist dein Geschick nicht unbekannt, und schon deine gewaltsam geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir suchest. Die Tat, zu der du meine Beihilfe verlangst, müßte eine schreckliche sein, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab es nicht vergessen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen herangewachsen bin und viele Fährlichkeiten ausgestanden habe.« »Ich erkenne deinen Seelenadel in dieser kurzen Rede«, antwortete Ödipus, »ich komme, dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe ist. Ich schenke dir diesen meinen leidensmüden Leib, freilich ein sehr unscheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du sollst mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ernten!« »Fürwahr«, sagte Theseus erstaunt, »die Gunst, um welche du flehst, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres, und es soll dir alles von mir gewährt sein.« »Die Gunst ist nicht so leicht, als du glaubst«, fuhr Ödipus fort; »du wirst einen Streit um diesen meinen elenden Leib zu bestehen haben.« Nun erzählte er ihm seine Verjagung und das späte und eigennützige Verlangen seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen; dann bat er ihn flehentlich um seinen Heldenbeistand. Theseus hörte aufmerksam zu und sprach dann feierlich: »Schon weil jedem Gastfreunde mein Haus offensteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen; wie sollte ich es tun, da du noch dazu mir und meinem Lande soviel Heil versprichst und von der Hand der Götter an meinen Herd geleitet worden bist!« Er ließ dem Ödipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen zu gehen oder hier in Kolonos als Gast zu bleiben. Dieser wählte das zweite, weil ihm vom Schicksale bestimmt sei, an der Stelle, wo er jetzt eben sich befinde, den Sieg über seine Feinde davonzutragen und sein Leben rühmlich zu beschließen. Der Athenerkönig versprach ihm den kräftigsten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.

Orestes und die Eumeniden



Orestes und die Eumeniden

Orestes hatte, als er die Rachepflicht für den Vater an der Mutter und ihrem Buhlen übte, nach dem Willen der Götter selbst gehandelt, und ein Orakel des Apollo hatte ihm befohlen, zu tun, was er getan. Aber die Frömmigkeit gegen den Vater hatte ihn zum Mörder an der Mutter gemacht. Nach der Tat erwachte die Kindesliebe in seiner Brust, und der durch eine andere Naturpflicht gebotene Frevel gegen die Natur, den er im gräßlichen Zwiespalte der Pflichten begangen hatte, ließ ihn den Rächerinnen solcher Frevel, den Erinnyen oder Rachegöttinnen, anheimfallen, welche die Griechen aus Furcht auch die Eumeniden, das heißt ›die Gnädigen‹ oder ›die uns gnädig sein mögen‹, benannten. Töchter der Nacht und schwarz wie diese, von entsetzlicher Gestalt, übermenschlich groß mit blutigen Augen, Schlangen in den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten sie den Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt und sandten ihm ins Herz die nagenden Gewissensbisse und die quälendste Reue.

Sogleich nach der Tat jagten ihn die Eumeniden fort vom Schauplatze derselben, und als ein wahnsinniger Flüchtling verließ er die wiedergefundenen Schwestern, das Vaterhaus Mykene und sein Vaterland. In dieser Not blieb ihm sein treuer Freund Pylades, den er in einem Augenblicke der Besinnung mit seiner Schwester Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in seine Heimat Phokis und zu seinem Vater Strophios zurück, sondern teilte alle Wanderungen in der Irre mit seinem wahnsinnig gewordenen Freunde. Außer dieser treuen Seele hatte Orestes keinen menschlichen Beschützer in seinem Elend. Aber der Gott, der ihm die Rache befohlen hatte, Apollo, war bald sichtbar, bald unsichtbar an seiner Seite und wehrte die ungestüm nachdringenden Erinnyen wenigstens vom Leibe des Verfolgten ab. Auch sein Geist wurde ruhiger, wenn der Gott in der Nähe weilte.

So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irrfahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und Orestes hatte im Tempel des Apollo selbst, dessen Zutritt den Erinnyen verwehrt war, eine Freistätte für den Augenblick gefunden. Der Gott stand mitleidig zu seiner Seite, wie er, auf dem Estrich des Heiligtums ausgestreckt, von Müdigkeit und Gewissensangst abgemattet, gestützt auf seinen Freund Pylades, ausruhte, und sprach ihm Hoffnung und Mut mit den Worten ein: »Unglücklicher Sohn, sei getrost. Ich werde dich nicht verraten; mag ich nahe oder ferne sein, so bin ich dein Wächter, und nie werde ich deinen Feindinnen feige weichen! Du siehst auch, wie dort draußen die grauenvollen alten Mägde, deren Umgang Götter, Menschen und selbst Tiere scheuen, die sonst tief drunten in den Finsternissen des Tartaros wohnen, vom bleiernen Schlafe durch mich gebändigt, meinem Tempel ferne liegen. Dennoch verlaß dich nicht auf ihren Schlummer; er wird nicht lange dauern, denn mir ist immer nur kurze Macht über die greisen Göttinnen vom Schicksale verliehen. Deswegen mußt du bald wieder auf die Flucht; doch sollst du nicht länger ohne Ziel umherirren. Richte vielmehr deine Schritte nach Athen, der ehrwürdigen alten Stadt meiner Schwester Pallas Athene; dort will ich dir für ein gerechtes Gericht sorgen, vor welchem du deine Stimme erheben und deine gute Sache verteidigen kannst. Keine Furcht soll dich darum bekümmern; ich selbst scheide jetzt von dir, aber mein Bruder Hermes wird dich bewachen und sorgen, daß mein Schützling nicht verletzt werde.«

So sprach Apollo. Noch bevor er aber seinen Tempel und den Orestes verließ, war das Schattenbild Klytämnestras im Traum vor die Seelen der schlummernden Rachegöttinnen getreten und hatte ihnen die zornigen Worte zugehaucht: »Ist’s auch recht, daß ihr schlafet? Bin ich so ganz von euch verlassen, daß ich ungerächt in der Nacht der Unterwelt umherirren muß? Das Gräßlichste habe ich von meinen nächsten Blutsverwandten erduldet, und kein Gott zürnt darüber, daß ich von den Händen des eigenen Sohnes ermordet gefallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegossen, habt ihr geschlürft, wie viele nächtliche Mahle habe ich euch aufgetischt! Das alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute lasset ihr entrinnen wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davonhüpft! Höret mich, ihr Unterirdischen! Ich bin’s, Klytämnestra, die ihr zu rächen geschworen und die sich jetzt in euren Traum einmischt, an euren Schwur euch zu erinnern.«

Die schwarzen Göttinnen konnten des Zauberschlafes nicht so bald loswerden, und erst die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: »Orestes, der Muttermörder, entgeht euch!« rüttelten sie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Tiere sprangen sie vom Lager auf, und ohne Scheu stürmten sie in den Tempel Apollos selbst hinein, und hatten schon die Schwelle überschritten: »Zeussohn«, schrien sie ihm entgegen, »du bist ein Betrüger! Du junger Gott trittst die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagst es, uns diesen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du hast ihn uns gestohlen und willst doch ein Gott sein! Ist das auch vor den Göttern recht?« Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit scheltenden Worten aus seinem sonnigen Heiligtum: »Fort von dieser Schwelle«, rief er, »ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle des Löwen, wo Blut geschlürft wird, ihr Scherginnen des Schicksals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!« Vergebens beriefen sich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für seinen Schützling, weil er in seinem Auftrag als der fromme Sohn seines Vaters Agamemnon gehandelt, und vertrieb die Eumeniden von der Schwelle seines Tempels, daß sie, die Macht des Gottes fürchtend, weit rückwärts flohen.

Dann übergab er den Orestes mit seinem Freunde der Obhut des Hermes, des Gottes, in dessen Schutze die Wanderer stehen, und kehrte in den Olymp zurück. Die beiden Freunde aber schlugen, wie der Gott ihnen befohlen hatte, den Weg nach Athen ein, während die Erinnyen ihnen, aus Scheu vor der goldenen Rute des Götterboten, nur aus der Ferne zu folgen wagten. Allmählich jedoch wurden sie kühner; und als die beiden Freunde glücklich in der Stadt Pallas Athenes angekommen waren, heftete sich ihnen die Schar der Rächerinnen dicht an die Ferse, und kaum hatte Orestes mit seinem Freund den Tempel der Athene betreten, so stürmte auch schon der grauenvolle Chor durch die offenen Pforten desselben herein.

Orestes hatte sich vor der Bildsäule der Göttin niedergeworfen, streckte seine offenen Arme betend nach ihr aus und rief in der heftigsten Aufregung seines Gemütes: »Königin Athene, auf Apollos Befehl komme ich zu dir. Nimm einen Angeklagten gnädig auf, dessen Hände nicht mit unschuldigem Blute befleckt sind, und der doch müde ist von ungerechter Flucht und abgestumpft vom Flehen in fremden Häusern. Über Städte und Einöden komme ich daher, gehorsam dem Orakel deines Bruders, liege hier in deinem Tempel und vor deinem Bilde und erwarte deinen Richterspruch, o Göttin!«

Nun erhob auch der Chor der Furien, die hinter ihm herannaheten, seine Stimme und schrie: »Wir sind dir auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem verwundeten Rehbock, sind wir deinen Fußstapfen gefolgt, die von Blute triefen! Du sollst kein Asyl finden, Muttermörder! Dein rotes Blut wollen wir dir aus den Gliedern saugen und dann das blasse Schattenbild mit uns hinunter in den Tartaros führen! Nicht Apollos, nicht Athenes Gewalt soll dich von der ewigen Qual befreien! – Mein Wild bist du, mir genährt, für meinen Altar bestimmt! Auf Schwestern, laßt ihn uns mit unsrem Reigen umtanzen und seine beschwichtigte Seele durch unsere Gesänge zu neuem Wahnsinn aufregen!«

Und schon wollten sie ihr furchtbares Lied anstimmen, als plötzlich ein überirdisches Licht den Tempel durchleuchtete, die Bildsäule verschwunden war, und an ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene stand, mit ernsten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die ihre Tempelhallen füllte, und den unsterblichen Mund zu der himmlischen Rede erschließend.

»Wer hat sich in mein Heiligtum gedrängt?« sprach die Göttin. »Was für ungewohnte Gäste muß ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten Sterblichen ähnlich, haben sich in drohender Stellung hinter ihm geschart. Redet, wer seid ihr alle und was wollet ihr?«

Orestes, von Furcht und Zittern sprachlos, lag noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber standen unverzagt hinter ihm und nahmen das Wort. »Zeus‘ Tochter«, sprachen sie, »ohne Umschweif sollst du alles aus unsrem Munde hören. Wir sind die Töchter der schwarzen Nacht, und Erinnyen nennt man uns drunten zu Hause.« »Wohl kenn ich euer Geschlecht«, sprach Athene, »und euer Ruf ist oft schon zu mir gedrungen. Ihr seid die Rächerinnen des Meineids und des Verwandtenmordes: was kann euch in mein reines Tempelhaus fuhren?«

»Dieser Mensch, der hier zu deinen Füßen deinen Altar durch seine Gegenwart besudelt!« sprachen sie. »Er hat seine eigene Mutter erschlagen. Richte du selbst ihn; wir werden dein Urteil ehren, denn wir wissen, du bist eine strenge und gerechte Göttin!«

»Wenn ihr mir denn den Richterspruch übertraget«, antwortete Pallas Athene, »so sprich du zuerst, Fremdling, was kannst du gegen die Aussagen dieser Unterirdischen vorbringen? Nenne mir zunächst dein Vaterland, dein Geschlecht und dein Schicksal, und alsdann reinige dich von dem Frevel, der dir schuld gegeben wird. Solches gestatte ich dir, weil du vor meinem Altare kniend liegst und ihn als demütiger Schützling umfasset hältst! Auf alles jenes aber antworte mir ohne Gefährde!«

Jetzt erst wagte Orestes den Blick vom Boden zu erheben, richtete sich auf, doch so, daß er immer noch vor der Göttin auf den Knien lag, und sprach: »Königin Athene! Vor allen Dingen sei dir die Besorgnis um dein Heiligtum benommen! Ich habe keinen unsühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar nicht mit unsauberen Händen! Ich bin gebürtig aus Argos, und du kennst meinen Vater wohl. Es ist Agamemnon der Völkerfürst, der Führer der griechischen Flotte vor Troja, mit dem du selbst Ilios‘ herrlichste Feste zerstörst hast. Dieser, nach Hause zurückgekehrt, ist keines ehrlichen Todes gestorben, sondern meine Mutter, die mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trügerisches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der Zeuge seines Mordes. Da bin ich, der ich seitdem in der Verbannung gelebt, nach langer Zeit zurückgekommen ins Vaterland und habe den Vater gerächt, ich leugne es nicht, des geliebten Erzeugers Mord mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieser Tat hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert, und sein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn ich die Mörder meines Vaters nicht bestrafe. Nun sollst du Schiedsrichterin sein, o Göttin, ob ich mit Recht oder Unrecht gehandelt! Auch ich unterwerfe mich deinem Richterspruch!«

Die Göttin schwieg eine Weile nachdenklich; dann sprach sie: »Die Sache, die entschieden werden soll, ist freilich dunkel, daß ein menschliches Gericht nicht damit fertig würde; darum, obwohl ich sterbliche Richter für sie wählen will, ist es doch gut, daß ihr euch mit eurem Rechtsstreit an eine Unsterbliche gewendet. Denn ich selbst will das Gericht versammeln, in meinem Tempel den Vorsitz führen und bei schwankendem Urteil den Ausschlag geben. Inzwischen soll dieser Fremdling unter meinem Schirm unangetastet in unsrer Stadt leben. Ihr aber, finstere, unerbittliche Göttinnen, beflecket diesen Boden nicht ohne Not mit eurer Gegenwart. Gehet hinab in eure unterirdische Behausung und erscheinet nicht eher wieder in diesem Tempel, bis der anberaumte Tag des Gerichtes herbeigekommen sein wird. Einstweilen sammle jede Partei Zeugen und Beweise; ich selbst aber will die besten Männer dieser Stadt, die meinen Namen führt, auslesen und zur Aburteilung dieses Streites bestellen.«

Nachdem die Göttin sodann den Tag des abzuhaltenden Gerichtes festgesetzt hatte, wurden die Parteien aus dem Tempel entlassen. Die Rachegöttinnen gehorchten dem Ausspruche Athenes ohne Murren, ihre Schar verließ den Boden von Athen, und sie stiegen wieder zur Unterwelt hinab; Orestes mit seinem Freunde wurde von den Bürgern Athens gastlich aufgenommen und verpflegt.

Als der Gerichtstag erschienen war, berief ein Herold die auserwählten Bürger der Stadt auf einen Hügel vor derselben, der dem Ares heilig war und deswegen der Areopag oder Aresberg hieß, wo die Göttin in Person ihrer harrte und Klägerinnen und Angeklagter bereits sich eingefunden hatten. Aber noch ein Dritter war erschienen und stand dem Angeklagten zur Seite. Es war der Gott Apollo. Als die Erinnyen diesen erblickten, erschraken sie und riefen zornig: »König Apollo, kümmere du dich nicht um unsere Angelegenheiten! Sprich, was hast du hier zu schaffen?« »Dieser Mann«, erwiderte der Gott, »ist mein Schützling, der in meinem Tempel zu Delphi sich in meinen Schirm begeben, und ich habe ihn von dem vergossenen Blut entsündigt. Darum ist es billig, daß ich ihm beistehe; und so bin ich denn erschienen, einesteils für ihn zu zeugen, andernteils als sein Anwalt vor dem ehrwürdigen heimlichen Gerichte dieser Stadt aufzutreten, das meine himmlische Schwester Athene versammelt hat. Denn ich bin es, der ihm den Mord der Mutter als eine fromme, den Göttern wohlgefällige Tat angeraten hat.« Mit solchen Worten trat der Gott seinem Schützling noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vorzubringen. »Wir werden kurz sein«, nahm die Älteste unter ihnen als Sprecherin das Wort. »Du, den wir verklagen! beantworte uns Frage um Frage: Hast du deine Mutter umgebracht oder leugnest du’s?« »Ich leugne nicht«, sprach Orestes, doch erblaßte er bei der Frage. »So sprich, wie hast du’s vollbracht?« »Ich habe ihr«, antwortete der Angeklagte, »das Schwert in die Kehle gebohrt.« »Auf wessen Rat und Anstiften hast du es getan?« »Der hier neben mir steht«, erwiderte Orestes, »der Gott, hat mir’s durch einen Orakelspruch befohlen; und er ist da, mir dies zu bezeugen.« Darauf verteidigte sich der Orestes kürzlich gegen die Richter, daß er in Klytämnestra nicht mehr die Mutter, sondern nur die Mörderin des Vaters gesehen; und Apollo ließ eine längere und beredtere Verteidigung folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht stumm, und wenn der Gott mit schwarzen Farben den Mord des Gatten den Richtern vor Augen gestellt, so schilderten sie dagegen den Frevel des Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, sagte die Sprecherin: »Jetzt haben wir alle unsere Pfeile aus dem Köcher versendet; wir wollen ruhig erwarten, wie die Richter urteilen werden.«

Athene hieß die Stimmsteine, jedem einen schwarzen für die Schuld, einen weißen für die Unschuld des Beklagten, unter die Richter verteilen; die Urne, in welche die Steine zu legen waren, wurden in der Mitte des umzäunten Platzes aufgestellt; und ehe die Richter sich zum Abstimmen anschickten, sprach die Göttin noch von der erhöhten Stelle herab, auf welcher sie als Vorsitzerin des Gerichtes ihren Thronsessel eingenommen hatte, indem sie sich aus demselben erhob und in ihrer ganzen himmlischen Hoheit dastand: »Höret diese Bestimmung der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! Jetzt wo ihr den ersten Streit wegen vergossenen Blutes richtet! Für alle Folgezeit soll dieser Gerichtshof in euren Mauern bestehen. Hier auf diesem heiligen Areshügel, wo einst im Amazonenkriege gegen Theseus die feindlichen Heldinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr Opfer darbrachten, soll, nach dem Orte benannt, der Areopag sein Blutgericht halten und durch fromme Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückschrecken. Aus den heiligsten Männern der Stadt gebildet stifte ich ihn, unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, streng, einen wachsamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande. Ihr alle Einwohner sollet seine Würde scheuen und ihn schirmen als eine heilsame Stütze eurer Stadt, wie kein anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern sie besitzt. Dies sei für die Zukunft verordnet. Nun aber, ihr Richter erhebet euch, scheuet euren Eid und leget zur Entscheidung des Streites eure Stimmen in die Urne nieder!«

Schweigend erhuben sich die Richter von den Sitzen und traten einer um den andern an die Urne, und die Stimmsteine rollten nacheinander hinein. Als alle abgestimmt hatten, traten auserlesene, durch einen Eid verpflichtete Bürger hinzu und zählten die schwarzen und die weißen Steine ab. Da befand es sich, daß die Zahl beider gleich war und die Entscheidung der vorsitzenden Göttin zukam, wie sie sich im Beginne des Gerichtes dieselbe vorbehalten hatte. Athene stand abermals von ihrem Sitze auf und sprach: »Ich bin von keiner Mutter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Zeus und aus seiner Stirne entsprungen, eine männliche Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne Beschützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite des Weibes treten, das seinen Ehegatten freventlich erschlagen hat, dem schnöden Buhlen zu Gefallen. Nach meines Herzens Meinung hat Orestes wohlgetan: er hat nicht die Mutter umgebracht, sondern die Mörderin des Vaters. Er siege!« Damit verließ sie den Richterstuhl, ergriff einen weißen Stimmstein und fügte ihn den andern weißen Steinen hinzu. »Dieser Mann«, sprach sie sodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, »ist durch Stimmenmehrheit von dem Vorwurf ungerechten Mordes freigesprochen!«

Als das Urteil gefällt war, wandte sich Orestes zu der Göttin und sprach in tiefer Bewegung seines Herzens: »O Pallas Athene, die du mein Geschlecht und mich des Vaterlands Beraubten gerettet hast, in ganz Griechenland wird man deine Wohltat preisen und sagen: ›So wohnet denn jener Argiver wieder in der Väter Palast, erhalten durch die Gerechtigkeit Athenes und Apollos und des Göttervaters, ohne dessen Willen auch das nicht geschehen wäre.‹ Ich aber ziehe heim, diesem Land und Volke schwörend, daß für ewige Zeiten kein Argiver kommen soll, die frommen Athener zu bekriegen! Ja wenn lange nach meinem Tode einer meiner Landsleute es wagen wollte, diesen meinen Eid zu verletzen, so wird von der Väter Gruft aus noch mein Geist ihn strafen und ihm Unheil auf den Weg senden, daß er seine verfluchten Pläne gegen diese Stadt nicht ausführen kann. Lebe denn wohl, du erhabene Beschützerin des Rechtes und du frommes Volk der Athener; möge dir in jedem Kriege und in allen Dingen Sieg und Heil zuteil werden!«

Unter solchen Segenswünschen verließ Orestes den heiligen Hügel des Ares, geleitet von seinem Freunde, der während des ganzen Gerichts nicht von seiner Seite gewichen war; die Rachegöttinnen wagten es nicht, gegen den Spruch der Göttin sich an dem Freigesprochenen zu vergreifen, auch scheueten sie die Gegenwart Apollos, der bereit war, den Ausspruch des Gerichtes aufrechtzuerhalten. Aber die Sprecherin der Schar stand von dem Sitze der Klägerinnen auf, und in übermenschlicher Größe dem Gott und der Göttin als ebenbürtig entgegenstellend, ließ sie mit der rauhen Stimme der Nacht ihre trotzige Einsprache gegen das Urteil also vernehmen: »Wehe uns! Die uralten Gesetze habt ihr zu Boden getreten, ihr jüngeren Götter; habt sie uns älteren Göttern aus den Händen gerungen! Verachtet, machtlos zürnend stehen wir da. Doch soll euch euer Urteil gereuen, ihr Athener! Alles Gift unseres erzürnten Herzens werden wir über diesen Boden ausschütten, wo die Gerechtigkeit verachtet worden ist. Der Fraß soll über alle Pflanzen, das Verderben über alles Leben kommen; mit Unfruchtbarkeit und Pest wollen wir Land und Stadt heimsuchen, wir, die gekränkten, die beschimpften Göttinnen der Nacht!«

Als Apollo diesen fürchterlichen Fluch vernahm, trat er ins Mittel und sprach besänftigend zu den mächtigen Göttinnen: »Folget mir, ihr Gnädigen! Zürnet nicht allzusehr über das gefällte Urteil! Seid ihr doch nicht besiegt worden; aus der Urne ist die gleiche Zahl schwarzer und weißer Steine hervorgegangen; das Gericht ist nicht zu eurer Schmach ausgefallen, nur die Barmherzigkeit hat gesiegt, nur die Billigkeit hat den Angeklagten, der zwischen zwei heiligen Pflichten wählen und eine von beiden verletzen mußte, gerettet! Und das haben wir Götter getan, nicht die Richter dieses Landes; und Zeus hat es gutgeheißen! Darum lasset euren Grimm nicht an dem unschuldigen Volke aus. Verspreche ich euch doch in seinem Namen, daß ihr Heiligtum und einen würdigen Sitz in seinem Lande erhalten sollet, daß ihr auf glänzenden Altären der gerechten Stadt euren Sitz nehmen werdet, verehrt als die unerbittlichen Göttinnen gerechter Rache von allen Bürgern dieser Stadt!«

Diese Versicherung bekräftigte auch Athene selbst: »Glaubet mir, ehrwürdige Göttinnen«, setzte sie hinzu, »wenn ihr in einem andern Lande euren Sitz aufschlaget, daß euch das gereuen, daß ihr euch nach dem verschmähten sehnen werdet. Die Bürger dieser Stadt sind bereit, euch in hohen Ehren zu halten: Chöre von Männern und Frauen werden euren Ruhm feiern, neben dem Tempel des vergötterten Königes Erechtheus sollt ihr ein geweihetes Heiligtum erhalten! Kein Haus wird gesegnet sein, das euch nicht verehrt!«

Solche Versprechungen besänftigten allmählich den Zorn der strengen Rachegöttinnen; sie gelobten ihren gnädigen Sitz in dem Lande zu nehmen, fühlten sich hochgeehrt, daß sie gleich Athenen und Apollo Altäre und Heiligtum in der berühmtesten Stadt besitzen sollten, und endlich wurde ihr Sinn so milde, daß sie auch ihrerseits das feierliche Versprechen vor den anwesenden Göttern ablegten, die Stadt zu schirmen, böse Wetter, Sonnenbrand, giftige Seuchen von ihrem Gebiet abzuhalten, die Herden des Landes zu schützen, den Bund der Ehen zu segnen und im Einverständnisse mit ihren Halbschwestern, den Parzen oder Schicksalsgöttinnen, das Wohl des ganzen Landes auf alle Weise zu befördern. Ja sie wünschten dem ganzen Volke ewige Eintracht und holden Frieden; und ihr schwarzer Chor brach unter Danksagungen des himmlischen Geschwisterpaares auf und verließ, von der ganzen Einwohnerschaft und Lobgesängen begleitet, den Areopag und die Stadt.

Orpheus und Eurydike



Orpheus und Eurydike

Der unvergleichliche Sänger Orpheus war ein Sohn des thrakischen Königs und Flußgottes Öagros und der Muse Kalliope. Apollon selbst, der melodische Gott, schenkte ihm ein Saitenspiel, und wenn Orpheus dasselbe rührte und dazu seinen herrlichen Gesang, den seine Mutter ihn gelehrt hatte, ertönen ließ, so kamen die Vögel in der Luft, die Fische im Wasser, die Tiere des Waldes, ja die Bäume und Felsen herbei, um den wundervollen Klängen zu lauschen. Seine Gattin war die holdselige Najade Eurydike, und sie liebten sich beide auf das zärtlichste. Aber ach, nur allzu kurz war ihr Glück; denn kaum waren die fröhlichen Lieder der Hochzeit verstummt, da raffte ein früher Tod die blühende Gattin dahin. Auf grüner Aue lustwandelte die schöne Eurydike mit ihren Gespielinnen, den Nymphen; da stach sie eine giftige Natter, die im Grase versteckt lag, in die zarte Ferse, und sterbend sank die Liebliche ihren erschreckten Freundinnen in die Arme. Unaufhörlich hallten nun die Berge und Täler vom Schluchzen und Klagen der Nymphen wider, und unter ihnen jammerte und sang Orpheus, seinen Schmerz in wehmütigen Liedern austönend; da trauerten die Vöglein und die klugen Hirsche und Rehe mit dem verlassenen Gatten. Aber sein Flehen und Weinen brachte die Verlorne nicht zurück. Da faßte er einen unerhörten Entschluß: Hinunter in das grausige Reich der Schatten wollte er steigen, um das finstere Königspaar zur Rückgabe Eurydikes zu bewegen. Durch die Pforte der Unterwelt bei Tainaron ging er hinab; schaurig umschwebten die Schatten der Toten den Lebenden, er aber schritt mitten durch die Schrecknisse des Orkus, bis er vor den Thron des bleichen Hades und seiner strengen Gemahlin trat. Dort faßte er seine Leier und sang zum süßen Klange der Saiten: »O ihr Herrscher des unterirdischen Reiches, gönnet mir, Wahres zu reden, und höret gnädig meine Bitten an! Nicht kam ich herab, von Neugier getrieben, den Tartaros zu schauen, nicht um den dreiköpfigen Hund zu fesseln; ach nein, um der Gattin willen nah ich mich euch. Vom Biß der tückischen Natter vergiftet, sank die Teure in der Jugend Blüte dahin, nur wenige Tage war sie meines Hauses Stolz und Freude. Sehet, ich wollte es tragen, das unermeßliche Leid; als Mann hab ich lange gerungen. Aber die Liebe zerbricht mir das Herz, ich kann nicht ohne Eurydike sein. Darum fleh ich zu euch, furchtbare, heilige Götter des Todes! bei diesen grauenvollen Orten, bei der schweigenden Öde eurer Gefilde: Gebt sie mir wieder, die traute Gattin; laßt sie frei, und schenket ihr das allzufrüh verblühte Leben von neuem! Aber kann es nicht sein, o so nehmet auch mich unter die Toten auf, nimmer kehr ich ohne sie zurück.« Also sang er und rührte mit den Fingern die Saiten. Siehe, da horchten die blutlosen Schatten und weinten. Der unselige Tantalos haschte nicht mehr nach den entschlüpfenden Wassern, Ixions sausendes Rad stand still, die Töchter des Danaos ließen ab vom vergeblichen Mühen und lehnten horchend an der Urne, Sisyphos selbst vergaß seiner Qual und setzte sich auf den tückischen Felsblock, den sanften Klagetönen zu lauschen. Damals, so sagt man, rannen selbst von den Wangen der furchtbaren Eumeniden Tränen hernieder, und das düstere Herrscherpaar fühlte sich zum ersten Mal von Mitleid bewegt. Persephone rief den Schatten Eurydikes, der unsicheren Schrittes herankam. »Nimm sie mit dir«, sprach die Totenkönigin, »aber wisse: nur wenn du keinen Blick auf die Folgende wirfst, ehe du das Tor der Unterwelt durchschritten, nur dann gehört sie dir; doch schaust du dich zu frühe nach ihr um, so wird dir die Gnade entzogen.«

Schweigend und schnellen Schrittes klimmen nun die beiden den finstern Weg empor, vom Grauen der Nacht umgeben. Da ward Orpheus von unsäglicher Sehnsucht ergriffen, er lauschte, ob er nicht den Atemzug der Geliebten oder das Rauschen ihres Gewandes hörte – aber still, totenstill war alles um ihn her. Von Angst und Liebe überwältigt, seiner selbst kaum mächtig, wagte er es, einen schnellen Blick rückwärts nach der Ersehnten zu werfen. O Jammer! Da schwebt sie, das Auge traurig und voll Zärtlichkeit auf ihn heftend, zurück in die schaurige Tiefe. Verzweiflungsvoll streckt er die Arme nach der Entschwindenden. Ach, umsonst! Zum zweiten Male stirbt sie den Tod, doch ohne Klage – hätte sie klagen können, so innig geliebt zu sein? Schon ist sie fast seinen Blicken entschwunden: »Leb wohl, leb wohl!« so tönt es leise verhallend aus der Ferne. Starr vor Gram und Entsetzen stand Orpheus zuerst, dann stürzte er zurück in die finsteren Klüfte; aber jetzt wehrte ihm Charon und weigerte sich, ihn über den schwarzen Styx zu fahren. Sieben Tage und Nächte saß nun der Arme am Ufer, ohne Speise und Trank; zahllose Tränen vergießend, um Gnade fleht er die unterirdischen Götter; aber diese sind unerbittlich, zum zweiten Male lassen sie sich nicht erweichen. So kehrt er denn gramvoll auf die Oberwelt zurück in die einsamen Bergwälder Thrakiens. Drei Jahre lang lebte er so dahin, allein, die Gesellschaft der Menschen fliehend. Verhaßt ist ihm der Anblick der Frauen, denn ihn umschwebt das liebliche Bild seiner Eurydike: Ihr gelten alle seine Seufzer und Lieder, ihrem Andenken die süßen klagenden Töne, die er der Leier entlockt.

So saß der göttliche Sänger einst auf einem grünen, schattenlosen Hügel und begann sein Lied. Alsbald bewegte sich der Wald, näher und näher rückten die mächtigen Bäume, bis sie den Sitzenden mit ihren Zweigen überschatteten; und auch die Tiere des Waldes und die munteren Vögel kamen heran und lauschten im Kreise den wundervollen Tönen. Da durchstürmten thrakische Weiber schwärmend die Berge, das tolle Fest des Dionysos feiernd. Sie haßten den Sänger, der seit dem Tode der Gattin alle Frauen verschmähte. Jetzt erblickten sie den Verächter. »Dort seht ihn, der uns verhöhnt!« so rief die erste der rasenden Mänaden, und im Nu stürzten sie tobend auf ihn ein, indem sie Steine und Thyrsosstäbe schleuderten. Noch lange schützten die treuen Tiere den geliebten Sänger; wie aber der Klang seiner Weisen allmählich in dem Wutgeheul der wahnsinnigen Weiber verhallte, flohen sie erschreckt ins Dickicht des Waldes. Da traf ein geschleuderter Stein die Schläfe des Unglücklichen; blutend sank er in den grünen Rasen; ach, durch den liederreichen Mund, der Felsen und Bergwild gerührt, entfloh die Seele.

Kaum war die mörderische Rotte entwichen, da kamen die Vögel schluchzend herbeigeflattert, traurig nahten die Felsen und alles Getier; auch die Nymphen der Quellen und Bäume eilten zusammen, in schwarze Gewänder gehüllt. Um Orpheus klagten sie alle und begruben seine verstümmelten Glieder. Das Haupt aber und die Leier nahm die schwellende Flut des Hebros auf und trug sie mitten im Strome dahin. Noch immer klang es wie süßer Klagelaut von den Saiten und von der entseelten Zunge, leise antworteten die Ufer mit wehmütigem Widerhall. So trug der Strom das Haupt und die Leier hinaus in die Meeresfluten bis an das Gestade der Insel Lesbos, wo die frommen Einwohner beides auffingen. Das Haupt bestatteten sie, und die Leier hängten sie in einem Tempel auf. Daher kommt es, daß jene Insel so herrliche Dichter und Sänger erzeugt hat; ja selbst die Nachtigallen sangen dort lieblicher als anderswo, um das Grab des göttlichen Orpheus zu ehren. Seine Seele aber schwebte hinab ins Schattenreich. Dort fand Orpheus die Geliebte wieder, und nun weilten sie, ungetrennt und selig umschlungen, in den Gefilden Elysiums, auf ewig miteinander vereinigt.

Palamedes und sein Tod



Palamedes und sein Tod

Der einsichtsvollste Mann im griechischen Heere war Palamedes, tätig, weise, gerecht und standhaft; von zarter Gestalt, des Gesanges und Leierspiels kundig. Seine Beredsamkeit hatte den Atriden die meisten Fürsten Griechenlands für den Feldzug gegen Troja gestimmt, seine Klugheit selbst den Sohn des Laërtes überlistet. Dadurch hatte er sich aber auch einen unversöhnlichen Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag und Nacht auf Rache sann und nur um so finsterer darüber brütete, je mehr das Ansehen des verständigen Euböers unter den Fürsten zunahm. Nun wurde den Griechen durch ein Orakel Apollos bekannt, daß sie diesem Gott als Apollo Smintheus – unter solchem Namen wurde er in der Landschaft Troas verehrt – eine Hekatombe an der Stelle opfern sollten, wo seine Bildsäule und sein Tempel stand, und Palamedes war von dem Gotte auserwählt worden, die stattlichen Opfertiere nach der heiligen Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryses, der Priester des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die Verehrung Apollos in dieser Landschaft hatte einen seltsamen Ursprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieser Küste Kleinasiens gelandet waren, gab ihnen das Orakel den Befehl, da zu bleiben, wo sie ihre Feinde aus der Erde würden hervorkriechen sehen. Als sie nun in Hamaxitos, einer Stadt dieser Landschaft, angekommen waren, benagten die Mäuse, aus der Erde hervorschlüpfend, in einer Nacht alle ihre Schilde. Sie sahen auf diese Weise den Spruch des Gottes erfüllt, ließen sich in der Gegend nieder und erbauten dem Apollo eine Bildsäule, der eine Maus, was in äolischer Mundart Smintha bedeutet, zu Füßen lag.

Diesem Apollo Smintheus, der seinen Tempel nicht weit von Chryse auf einer Anhöhe stehen hatte, ward nun unter Palamedes‘ Anführung von seinem Priester Chryses eine Hekatombe oder Hundertzahl heiliger Schafe geopfert. Die Ehre, die dem Palamedes durch die Anordnung Apollos selbst widerfuhr, beschleunigte seinen Untergang. Denn in Odysseus‘ sonst nicht unedlem Gemüte gewann jetzt ganz der Neid die Oberhand, und er sann auf eine fluchwürdige List, durch welche er dem edlen Manne den Untergang bereitete. Er verbarg eigenhändig in tiefster Heimlichkeit eine Summe Geldes in dem Zelt des Palamedes. Dann schrieb er im Namen des Priamos einen Brief an den griechischen Helden, in welchem dieser von überschicktem Gelde sprach und dem Palamedes seinen Dank ausdrückte, daß derselbe ihm das Heer der Griechen verraten habe. Dieser Brief wurde einem phrygischen Gefangenen in die Hände gespielt, bei demselben sodann von Odysseus entdeckt und der unschuldige Träger auf seine Veranstaltung sofort auf der Stelle niedergemacht. Den Brief zeigte Odysseus vor der Fürstenversammlung im griechischen Lager. Palamedes wurde von den entrüsteten Häuptern der Danaer vor einen Kriegsrat gestellt, welchen Agamemnon aus den vornehmsten Fürsten zusammensetzte und in welchem Odysseus sich den Vorsitz zu verschaffen wußte; auf seine Veranlassung ward im Zelte des Beschuldigten geforscht, endlich nachgegraben und so die Summe Goldes, die der trügerische Odysseus dort versteckt hatte, unter seiner Lagerstätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom wahren Vorgang der Sache ahnend, sprachen einstimmig das Todesurteil aus. Palamedes würdigte sie keiner Selbstverteidigung: er durchschaute den Trug, aber er hatte keine Hoffnung, Beweise seiner Unschuld sowie der Schuld seines Gegners vorzubringen. Als daher das Urteil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach er nur in die Worte aus: »O ihr Griechen, ihr tötet die gelehrteste, die unschuldigste, die gesangreichste Nachtigall!« Die verblendeten Fürsten lachten über diese Verteidigung und führten den edelsten Mann im griechischen Heere zum unbarmherzigsten Tode fort, den er mit heldenmütiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn schon die ersten Steinwürfe niedergeschmettert hatten, brach er in die Worte aus: »Freue dich, Wahrheit, du bist vor mir gestorben!« Als er diese Worte gesprochen, fuhr ihm, von Odysseus‘ rachsüchtiger Hand geschleudert, ein Stein an die Schläfe, daß er umsank und starb. Aber Nemesis, die Göttin der Gerechtigkeit, schaute vom Himmel herab und beschloß, den Griechen und ihrem Verführer Odysseus noch am Ziel ihrer Taten den Frevel zu vergelten.

Pandaros



Drittes Buch

Pandaros

Auf dem Olymp war eine große Götterversammlung: Hebe wandelte an den Tischen umher und schenkte Nektar ein. Die Götter tranken einander aus goldenen Pokalen zu und schauten auf Troja nieder. Da ward von Zeus und Hera Trojas Untergang beschlossen. Der Vater der Götter wandte sich zu seiner Tochter Athene und befahl ihr, auf den Kampfplatz hinabzueilen und die Trojaner zu versuchen, daß sie die auf ihren Sieg stolzen Griechen wider den Vertrag zu beleidigen anfingen. Pallas Athene mischte sich sofort unter das Getümmel der Trojaner, nachdem sie die Gestalt des Laodokos, der ein Sohn Antenors war, angenommen. In dieser Verhüllung suchte sie den Sohn Lykaons, den trotzigen Pandaros, auf, der ihr zu dem Werke geschickt schien, das ihr der Vater aufgetragen. Dieser war ein Verbündeter der Trojaner und aus Lykien mit seiner Heerschar hergekommen. Die Göttin fand ihn bald, in der Mitte der Seinigen stehend. Sie trat nahe zu ihm, klopfte ihm auf die Schulter und sprach: »Höre, kluger Pandaros, jetzt könntest du etwas tun, wodurch du bei allen Trojanern dir Preis und Dank verdientest, vor allem von Paris, der dir gewiß mit den herrlichsten Geschenken lohnen würde. Siehst du dort Menelaos, den hochmütigen Sieger stehen? Wage es und drücke deinen Pfeil auf ihn ab.«

So sprach die verhüllte Göttin, und das Herz des Toren gehorchte ihr. Schnell entblößte er den Bogen, öffnete den Deckel des Köchers, wählte einen befiederten Pfeil, legte ihn auf die Sehne, und bald sprang das Geschoß vom schwirrenden Horn. Athene aber lenkte den Pfeil auf den Leibgurt, so daß er zwar durch diesen und den Harnisch drang, aber nur die oberste Haut ritzte, jedoch so, daß das Blut aus der Wunde rann und den Menelaos ein leichter Schauer durchflog. Wehklagend umringten ihn Agamemnon und die Genossen. »Teurer Bruder«, rief der König, »dir zum Tode hab ich das Bündnis geschlossen; die treulosen Feinde haben es mit Füßen getreten. Zwar werden sie es büßen, und ich weiß gewiß, daß der Tag kommt, wo Troja mit Priamos und dem ganzen Volke hinsinkt; mich aber erfüllt dein Tod mit dem bittersten Schmerz. Wenn ich ohne dich heimkehre und deine Gebeine auf trojanischem Boden am unvollendeten Werk dahinmodern, mit welcher Schmach würde mich das Vaterland empfangen; denn einem andern, nicht mir ohne dich, ist beschieden, Troja zu erobern und Helena fortzuführen. Und auf dein Grab springend, wird der Trojaner Hohnreden führen über dich, Hohnreden über mich. Spaltete sich doch die Erde, mich zu verschlingen!« Aber Menelaos tröstete seinen Bruder. »Sei ruhig«, sprach er, »das Geschoß hat mich nicht zum Tode verwundet; mein Leibgurt hat mich geschützt.« »O daß dem so wäre«, seufzte Agamemnon und beschickte durch seinen Herold eilig den heilkundigen Machaon. Dieser kam, zog den Pfeil aus dem Gurt, löste diesen, öffnete den Harnisch und beschaute die Wunde; dann sog er selbst das quellende Blut heraus und legte ihm eine lindernde Salbe auf.

Während der Arzt und die Helden so um den verwundeten Menelaos beschäftigt waren, rückten die Schlachtreihen der Trojaner schon heran; auch die Griechen hüllten sich wieder in ihre Wehren, und Agamemnon übergab dem Eurymedon Rosse und Wagen mit der Weisung, sie ihm zu bringen, wenn er ihn vom Durcheilen der Schlachtordnung ermattet sehe. Dann flog er zu Fuß unter die Scharen der Streiter und ermunterte sie zur Abwehr, die Mutigen belebend, die Saumseligen tadelnd. So gelangte er auf seinem Gange zu den Kretern, die gewappnet ihren Heerführer Idomeneus umringten. Dieser stand an ihrer Spitze, kampflustig wie ein Eber. Die hinteren Reihen munterte sein Freund Meriones auf. Als Agamemnon die Scharen sah, wurde sein Herz fröhlich. »Du bist mir doch der Besten einer, Idomeneus«, rief er ihnen zu, »bei jedem Geschäfte, im Kriege wie beim Mahle, wenn man den funkelnden Ehrenwein in den mächtigen Krügen mischt: Wenn da die andern ihr bescheidenes Maß trinken, so steht dein Becher immer voll wie der meinige. Jetzt aber stürme mit mir in die Schlacht, wie du dich so oft gegen mich gerühmt.« »Wohl bleibe ich dein treuer Genosse, König«, erwiderte jener, »geh nur andere anzuspornen, bei mir bedarf es dessen nicht. Möge Tod und Verderben die bundbrüchigen Trojaner treffen!«

Jetzt erreichte Agamemnon die beiden Ajax, hinter denen ein ganzes Gewühl von Fußvolk einherzog. »Wenn doch«, rief ihnen der König im Vorübereilen zu, »ein Mut wie der eurige den Busen aller Danaer beseelte, dann sollte die Burg des Priamos bald unter unsern Händen in Trümmer fallen.« Nun traf er weiterschreitend auf Nestor. Dieser ordnete gerade seinen Heerhaufen: voran die Helden mit Roß und Wagen, viele und tapfere Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt. Dazu ermahnte er sie mit weisen Worten: »Wage sich mir keiner mit seinem Streitwagen zu weit vor, weiche mir auch keiner zurück; stößt Wagen auf Wagen, so strecket die Lanze vor.« Wie ihn Agamemnon die Seinigen so ermahnen hörte, rief er ihm zu: »O Greis, möchten dir die Knie folgen und deine Leibeskraft ausreichen, wie dir der Mut noch den Busen füllt. Könnte doch ein anderer dir die Last des Alters abnehmen, daß du zum Jüngling umgeschaffen würdest!« »Wohl möchte ich jetzt der sein, der ich einst war«, antwortete ihm Nestor, »doch haben die Götter den Menschen nicht alles zugleich verliehen. Mögen die jüngeren Speere werfen; ich begleite meine Männer mit Worten und weisem Rate, den auch das Alter geben kann.« Freudig ging Agamemnon an ihm vorüber und stieß jetzt auf Menestheus, den Sohn des Peteos, um den die Athener geschart waren und neben welchem die Kephallenier in dichten Schlachtreihen unter Odysseus standen. Beider Haufen ruhten in Erwartung und wollten andere Züge voranstürmen lassen. Dies verdroß den Völkerfürsten, und er sprach mürrisch zu ihnen: »Was schmieget ihr euch so zusammen, ihr beiden, auf andere harrend? Wenn wir Braten schmausen und Wein trinken, seid ihr immer die ersten; nun aber würdet ihr es nicht ungerne sehen, wenn zehn Griechenscharen vor euch in die Schlacht eindrängen!« Odysseus aber sah ihn finster an und sprach: »Was denkst du, Atride? Uns schiltst du saumselig? Warte nur, wenn wir einmal losbrechen, ob wir die Wut der Schlacht nicht gehörig gegen die Troer aufregen und du mich nicht im vordersten Getümmel erblicken wirst. Drum schwatze mir nicht voreilig nichtige Worte!« Als er den Helden so zürnen sah, erwiderte Agamemnon lächelnd: »Ich weiß es wohl, edler Sohn des Laërtes, daß du weder Tadel noch Ermahnung bedarfst; auch bist du im Herzensgrund milde wie ich; laß uns keine harten Worte wechseln.« So verließ er ihn und eilte weiter. Da fand er den Sohn des Tydeus, den stolzen Diomedes, neben Sthenelos, des Kapaneus Sohn, seinem Freund und Wagenlenker, auf dem herrlichen Streitwagen harrend. Auch diesen versuchte er mit verdrießlichen Worten: »Weh mir«, sprach er, »Sohn des Tydeus, du scheinst dich bange nach dem Treffen umzusehen; so blickte dein Vater nicht, als er gegen Theben zog: den sah man immer mitten in der Arbeit!« Diomedes schwieg auf den Verweis des Herrschers; sein Freund Sthenelos antwortete für ihn: »Du weißt es besser, Atride«, sprach er, »wir rühmen uns größerer Tapferkeit denn unsere Väter, haben wir doch Theben erobert, vor dem sie einst erlegen sind!« Diomedes aber unterbrach seinen Genossen und sagte finster: »Schweige, Trauter, ich verarge es dem Völkerhirten nicht, daß er die Griechen zum Kampf anreizt; ihm wird der Ruhm zuteil, wenn wir siegen, ihm unendlicher Gram, wenn wir überwunden werden. Darum auf, laß uns der Abwehr gedenken!« So sprach Diomedes und sprang vom Wagen, daß ihm das Erz um die Brust klirrte.

Indessen zogen die Danaer Haufen an Haufen rastlos in die Schlacht, wie sich Meereswogen ans Gestade wälzen. Die Völkerfürsten befehligten, die andern gingen lautlos einher. Die Trojaner dagegen lärmten, wie eine Herde Lämmer blökt, und gemischte Sprache der mancherlei Völker tönte aus ihren Reihen. Auch der Schlachtruf der Götter hallte darein: die Trojaner ermunterte Ares, der Gott des Krieges; die Reihen der Griechen feuerte Pallas Athene an.

Paris und Menelaos



Paris und Menelaos

Das Heer, auf Nestors Rat nach Volksstämmen geordnet, stand in Schlachtordnung, als man endlich den Staub der aus ihren Mauern heranziehenden Trojaner gewahr wurde. Nun setzten sich auch die Griechen in Bewegung. Als beide Heere einander nahe genug waren, daß der Kampf beginnen konnte, schritt aus der Reihe der Trojaner der Königssohn Paris vor, in ein buntes Pantherfell gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, sein Schwert an der Seite, und indem er zwo spitze Lanzen schwenkte, forderte er den tapfersten aller Griechen heraus, mit ihm den Zweikampf zu wagen. Als diesen Menelaos aus den sich heranwälzenden Scharen hervorspringen sah, freute er sich wie ein hungriger Löwe, dem eine ansehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirsch in den Weg kommt, und schnell sprang er in voller Rüstung von seinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften Dieb seines Hauses zu bestrafen. Dem Paris graute beim Anblick eines solchen Gegners, und er entzog sich dem Kampfe erblassend und ins Gedränge seiner Landsleute zurückfahrend, als hätte er eine Natter gesehen. Als ihn Hektor so in die Menge der Trojaner zurücktauchen sah, rief er ihm voll Unmut zu: »Bruder, du bist doch nur von Gestalt ein Held, in Wahrheit aber nichts als ein weibischer, schlauer Verführer. Wärest du lieber gestorben, ehe du um Helena gebuhlt! Siehst du nicht, wie die Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wagest, dem Manne standzuhalten, dem du die Gattin gestohlen hast? Du wärest wert zu erfahren, an welchem Manne du dich versündigt, und ich würde dich nicht bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälzest und der Staub dein zierliches Lockenhaar besudelte.« Paris antwortete ihm: »Hektor, dein Herz ist hart und dein Mut unwiderstehlich wie eine Axt aus Erz, mit der der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelst mich nicht mit Unrecht; aber schilt mir nicht meine Schönheit, denn sie ist auch eine Gabe der Unsterblichen. Wenn du mich aber jetzt kämpfen sehen willst, so heiß Trojaner und Griechen ruhen; dann will ich um Helena und alle ihre Schätze mit dem Helden Menelaos vor allem Volke den Zweikampf wagen. Wer von uns beiden siegt, mag sie heimführen; ein Bund soll es bekräftigen; ihr bauet alsdann das trojanische Land in Frieden, und jene schiffen heim gen Argos.«

Eine freudige Überraschung hatte sich Hektors bei diesen Worten seines Bruders bemächtigt; er trat vor die Schlachtordnung heraus in die Mitte und hemmte, den Speer hochhaltend, den Anlauf der trojanischen Haufen. Als die Griechen seiner ansichtig wurden, zielten sie in die Wette mit Wurfspießen, Pfeilen und Steinen nach ihm. Agamemnon aber rief laut nach den griechischen Reihen zurück: »Haltet ein, Argiver, werfet nicht; der helmumflatterte Hektor begehrt zu reden!« Die Griechen ließen ihre Hände sinken und verharrten in Schweigen ringsumher; und nun verkündete Hektor mit lauter Stimme den Völkern den Entschluß seines Bruders Paris. Seine Rede beantwortete ein tiefes Stillschweigen. Endlich nahm Menelaos vor den Heeren das Wort: »Hört mich an«, rief er, »mich, auf dessen Seele der allgemeine Kummer am schwersten lastet! Endlich, hoffe ich, werdet ihr, Argiver und Trojaner, nachdem ihr um des Streites willen, den Paris angefacht, so viel Schlimmes erduldet habt, versöhnt voneinander scheiden! Einer von uns zweien, welchen auch das Schicksal auserkoren hat, soll sterben; ihr andern aber sollt in Frieden scheiden. Laßt uns opfern und schwören, alsdann mag der Zweikampf beginnen!«

Beide Heere wurden froh über diesen Worten; denn sie sehnten sich nach einem Ende des unseligen Kriegs. Auf beiden Seiten zogen die Wagenlenker den Rossen die Zügel an, die Helden sprangen von den Streitwagen, zogen die Rüstungen aus und legten sie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde nieder. Hektor sandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König Priamos herbeizurufen, auch der König Agamemnon schickte den Herold Talthybios zu den Schiffen, ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamos‘ Tochter Laodike umgestaltet, eilte, die Botschaft der Fürstin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand sie am Webestuhl, ein köstliches Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit geheftet. »Komm doch heraus, trautes Kind«, rief sie ihr zu, »du sollst etwas Seltsames schauen! Die Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldschlacht gegeneinander anrückten, ruhen stillschweigend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Boden gesteckt, einander gegenüber; aber Krieg ist beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaos werden mit der Lanze um dich kämpfen: und wer seinen Gegner besiegt, trägt dich als Gemahlin davon!«

So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helenas mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl Menelaos, nach der Heimat und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen Schleier, in welchen sie die Träne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aithra und Klymene, zweien ihrer Dienerinnen, gefolgt, nach dem Skäischen Tore. Hier saß auf den Zinnen König Priamos mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthoos, Thymötes, Lampos, Klytios, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden letztern waren die verständigsten Männer von Troja; sie alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus, in der Ratsversammlung aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Turmes Helena herankommen sahen, flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: »Fürwahr, niemand soll Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden zurückbleibe!« Priamos aber rief Helena liebreich herbei: »Komm näher heran«, sprach er, »mein Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine Verwandten zu schauen geben; du bist mir nicht schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter sind es, die ihn mir zugesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Mannes Namen, der dort so groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter ihnen gesehen.«

Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: »Teurer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen mich, indem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimat, Tochter und Freunde verlassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Tränen möchte ich zerfließen, daß es geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der trefflichste König und ein tapferer Krieger; er war, ach, er war dereinst mein Schwager!« »Glücklicher Atride«, rief Priamos aus, den Helden sich betrachtend, »Gesegneter, dessen Zepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines großen Heeres, als wir die Horde der Amazonen von Phrygien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß wie das deinige!« Dann fragte der Greis von neuem: »Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen; er ragt nicht so hoch empor wie der Atride, aber seine Brust ist breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt zu Boden gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der Männer wie ein Widder die Schafe.« »Das ist der Sohn des Laërtes«, antwortete Helena, »der schlaue Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimat.« Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch: »Du hast recht, Fürstin«, sagte er, »ihn und Menelaos kenne ich gut; habe ich sie doch in meinem Haus als Gesandte einst beherbergt. Im Stehen überragte Menelaos den Helden Odysseus; wenn sie sich aber beide gesetzt, erschien Odysseus als der Herrlichere. Auch redete Menelaos wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte. Odysseus aber, wenn er reden wollte, stand da, die Augen zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der Hand, anzusehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, ist er tückisch oder dumm. Sandte er aber einmal die gewaltige Stimme aus der Brust, dann drängten sich seine Worte wie Schneeflocken im Winter, und kein Sterblicher konnte sich mit Odysseus an Beredsamkeit messen.«

Priamos hatte sich indessen noch weiter umgeschaut. »Wer ist denn der Riese dort«, rief er, »der so gar groß und gewaltig über alles Volk hervorragt?« »Das ist der Held Ajax«, antwortete Helena, »die Stütze der Argiver; und weiter drüben steht wie ein Gott unter seinen Kretern Idomeneus. Ich kenne ihn wohl; Menelaos hat ihn oft in unserer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne ich einen um den andern, die freudigen Krieger aus meiner Heimat; hätten wir Muße, so wollte ich dir sie alle mit Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder Kastor und Pollux sehe ich nicht. Sind sie wohl nicht mit hierhergekommen? Oder scheuen sie sich, in der Schlacht zu erscheinen, weil sie sich ihrer Schwester schämen?« Über diesem Gedanken verstummte Helena; sie wußte nicht, daß ihre Brüder schon lange von der Erde verschwunden waren.

Während diese sich so unterredeten, trugen die Herolde die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus zwei Lämmern und aus einheimischem Weine zum Trankopfer, der in einen bocksledernen Schlauch gefüllt war, bestanden. Der Herold Idaios folgte mit einem blinkenden Krug und goldenen Becher. Als sie durchs Skäische Tor kamen, nahte dieser dem Könige Priamos und sprach zu ihm: »Mach dich auf, König; beide, die Fürsten der Trojaner und der Griechen, rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort einen heiligen Vertrag beschwörest. Dein Sohn Paris und Menelaos werden allein um das Weib mit dem Speere kämpfen: wer im Kampfe siegt, dem folgt sie mitsamt den Schätzen. Alsdann schiffen die Danaer nach Griechenland zurück.« Der König stutzte, doch befahl er seinen Gefährten, die Rosse anzuschirren, und mit ihm bestieg Antenor den Wagensitz. Priamos ergriff die Zügel, und bald flogen die Rosse durchs Skäische Tor hinaus aufs Blachfeld. Zwischen den beiden Völkern angekommen, verließ der König mit seinem Begleiter den Wagen und stellte sich in die Mitte. Aus dem griechischen Heere eilten jetzt Agamemnon und Odysseus herbei. Die Herolde führten die Bundesopfer heran, mischten den Wein im Kruge und besprengten die beiden Könige mit dem Weihwasser. Dann zog der Atride das Opfermesser, das ihm immer neben der großen Scheide seines Schwertes herabhing, schnitt den Lämmern, wie bei Opfern gebräuchlich, das Stirnhaar ab und rief den Göttervater zum Zeugen des Bündnisses. Dann durchstach er den Lämmern die Kehlen und legte die geopferten in den Staub nieder; die Herolde gossen unter Gebet den Wein aus goldnen Bechern, und alles Volk von Griechenland und Troja flehte dazu laut: »Zeus und ihr unsterblichen Götter alle! Welche von uns zuerst den Eidschwur brechen, deren Gehirn fließe auf den Boden wie dieser Wein, ihres und ihrer Kinder!«

Priamos aber sprach: »Jetzt, ihr Trojaner und Griechen, laßt mich wieder zu Ilions hoher Burg zurückkehren; denn ich kann es unmöglich mit eigenen Augen ansehen, wie mein Sohn hier auf Leben und Tod mit dem Fürsten Menelaos kämpft; weiß doch Zeus allein, welchem von beiden der Untergang verhängt ist!« So sprach der Greis, ließ die Opferlämmer in den Wagen legen, bestieg mit seinem Begleiter den Sitz und lenkte die Rosse wieder der Stadt Troja zu.

Hierauf maßen Hektor und Odysseus den Raum des Kampfplatzes und schüttelten in einem ehernen Helm zwei Lose, zu entscheiden, wer zuerst die Lanze auf den Gegner werfen dürfe. Hektor, rückwärts gewandt, schwenkte den Helm: da sprang das Los des Paris heraus. Nun waffneten sich beide Helden und wandelten in Panzer und Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher, von beiden Völkern angestaunt. Endlich traten sie einander in dem abgemessenen Kampfraume gegenüber und schwangen zornig ihre Speere. Durch das Los berechtigt, entsandte zuerst Paris den seinigen: der traf dem Menelaos den Schild, aber die Lanzenspitze bog sich am Erze und sank zurück. Dann erhob auch Menelaos seinen Speer und betete dazu mit lauter Stimme: »Zeus, laß mich den strafen, der mich zuerst beleidigt hat; daß man noch unter den späten Enkeln sich scheue, dem Gastfreunde Böses zu tun!« Der entsandte Speer durchschmetterte dem Paris den Schild, durchdrang den Harnisch und durchschnitt ihm den Leibrock an der Weiche; nun riß der Atride sein Schwert aus der Scheide und führte einen Streich auf den Helm des Gegners; aber die Klinge zersprang ihm klirrend. »Grausamer Zeus, was mißgönnst du mir den Sieg?« rief Menelaos, stürmte auf den Feind ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn, sich umwendend, der griechischen Schlachtordnung zu; ja er hätte ihn geschleift und der beengende Kehlriemen ihn erwürgt, wenn nicht die Göttin Aphrodite die Not gesehen und den Riemen gesprengt hätte. So blieb dem Menelaos der leere Helm in der Hand; diesen schleuderte der Held den Griechen zu und wollte von neuem auf seinen Gegner eindringen. Den aber hatte Aphrodite in einen schirmenden Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier setzte sie ihn im süß duftenden Gemache nieder, trat dann in Gestalt einer alten spartanischen Spinnerin zu Helena, die auf einem der Türme unter vielen trojanischen Weibern saß. Die Göttin zupfte sie am Gewand und sprach zu ihr: »Komm, Paris ruft dich, er sitzt in der Kammer in reizendem Feierkleide; du solltest glauben, er gehe zum Reigen, und nicht, er komme vom Zweikampf.« Als Helena aufblickte, sah sie Aphrodite in göttlichem Reize vor sich verschwinden. Unbemerkt von den Frauen schlich sie sich davon und eilte nach ihrem Palaste. Dort fand sie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite geschmückt, in einem Sessel gelagert. Sie setzte sich ihm gegenüber, kehrte die Augen weg und schalt ihren Gemahl: »So kommst du vom Kampfe zurück? Lieber sähe ich dich getötet von dem Gewaltigen, der mein erster Gatte war! Noch kürzlich prahltest du, ihn im Lanzenwurf und im Handgemenge zu besiegen! Geh nun und fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rate dir, bleib in Ruhe, das zweitemal dürfte er dir übler mitspielen!« »Kränke mir das Herz nicht durch deine Schmähungen, Frau«, erwiderte ihr Paris; »wenn Menelaos mich besiegt hat, so geschah es mit Athenes Hilfe. Ein andermal werde ich über ihn siegen; die Götter haben auch uns noch nicht vergessen.« Da wandte Aphrodite Helenas Herz, daß sie den Gatten freundlicher ansah und ihm versöhnt die Lippen zum Kusse reichte. –

Auf dem Kampfplatze durchstürmte Menelaos noch immer wie ein Raubtier das Heer, den verschwundenen Paris ausspähend: aber weder ein Trojaner noch ein Grieche konnte ihm den Fürsten zeigen, und doch hätten sie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zuwider wie der Tod. Endlich erhob Agamemnon seine Stimme und sprach: »Höret mein Wort, ihr Dardaner und Griechen! Menelaos ist der offenbare Sieger. So gehet uns denn jetzt Helena samt den Schätzen zurück und bezahlet uns für alle Folgezeit einen Tribut!« Die Argiver nahmen diesen Vorschlag mit Jubel auf, die Trojaner schwiegen.