Orestes und die Eumeniden

Orestes hatte, als er die Rachepflicht für den Vater an der Mutter und ihrem Buhlen übte, nach dem Willen der Götter selbst gehandelt, und ein Orakel des Apollo hatte ihm befohlen, zu tun, was er getan. Aber die Frömmigkeit gegen den Vater hatte ihn zum Mörder an der Mutter gemacht. Nach der Tat erwachte die Kindesliebe in seiner Brust, und der durch eine andere Naturpflicht gebotene Frevel gegen die Natur, den er im gräßlichen Zwiespalte der Pflichten begangen hatte, ließ ihn den Rächerinnen solcher Frevel, den Erinnyen oder Rachegöttinnen, anheimfallen, welche die Griechen aus Furcht auch die Eumeniden, das heißt ›die Gnädigen‹ oder ›die uns gnädig sein mögen‹, benannten. Töchter der Nacht und schwarz wie diese, von entsetzlicher Gestalt, übermenschlich groß mit blutigen Augen, Schlangen in den Haaren, Fackeln in der einen Hand, in der andern aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten sie den Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt und sandten ihm ins Herz die nagenden Gewissensbisse und die quälendste Reue.

Sogleich nach der Tat jagten ihn die Eumeniden fort vom Schauplatze derselben, und als ein wahnsinniger Flüchtling verließ er die wiedergefundenen Schwestern, das Vaterhaus Mykene und sein Vaterland. In dieser Not blieb ihm sein treuer Freund Pylades, den er in einem Augenblicke der Besinnung mit seiner Schwester Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in seine Heimat Phokis und zu seinem Vater Strophios zurück, sondern teilte alle Wanderungen in der Irre mit seinem wahnsinnig gewordenen Freunde. Außer dieser treuen Seele hatte Orestes keinen menschlichen Beschützer in seinem Elend. Aber der Gott, der ihm die Rache befohlen hatte, Apollo, war bald sichtbar, bald unsichtbar an seiner Seite und wehrte die ungestüm nachdringenden Erinnyen wenigstens vom Leibe des Verfolgten ab. Auch sein Geist wurde ruhiger, wenn der Gott in der Nähe weilte.

So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irrfahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und Orestes hatte im Tempel des Apollo selbst, dessen Zutritt den Erinnyen verwehrt war, eine Freistätte für den Augenblick gefunden. Der Gott stand mitleidig zu seiner Seite, wie er, auf dem Estrich des Heiligtums ausgestreckt, von Müdigkeit und Gewissensangst abgemattet, gestützt auf seinen Freund Pylades, ausruhte, und sprach ihm Hoffnung und Mut mit den Worten ein: »Unglücklicher Sohn, sei getrost. Ich werde dich nicht verraten; mag ich nahe oder ferne sein, so bin ich dein Wächter, und nie werde ich deinen Feindinnen feige weichen! Du siehst auch, wie dort draußen die grauenvollen alten Mägde, deren Umgang Götter, Menschen und selbst Tiere scheuen, die sonst tief drunten in den Finsternissen des Tartaros wohnen, vom bleiernen Schlafe durch mich gebändigt, meinem Tempel ferne liegen. Dennoch verlaß dich nicht auf ihren Schlummer; er wird nicht lange dauern, denn mir ist immer nur kurze Macht über die greisen Göttinnen vom Schicksale verliehen. Deswegen mußt du bald wieder auf die Flucht; doch sollst du nicht länger ohne Ziel umherirren. Richte vielmehr deine Schritte nach Athen, der ehrwürdigen alten Stadt meiner Schwester Pallas Athene; dort will ich dir für ein gerechtes Gericht sorgen, vor welchem du deine Stimme erheben und deine gute Sache verteidigen kannst. Keine Furcht soll dich darum bekümmern; ich selbst scheide jetzt von dir, aber mein Bruder Hermes wird dich bewachen und sorgen, daß mein Schützling nicht verletzt werde.«

So sprach Apollo. Noch bevor er aber seinen Tempel und den Orestes verließ, war das Schattenbild Klytämnestras im Traum vor die Seelen der schlummernden Rachegöttinnen getreten und hatte ihnen die zornigen Worte zugehaucht: »Ist’s auch recht, daß ihr schlafet? Bin ich so ganz von euch verlassen, daß ich ungerächt in der Nacht der Unterwelt umherirren muß? Das Gräßlichste habe ich von meinen nächsten Blutsverwandten erduldet, und kein Gott zürnt darüber, daß ich von den Händen des eigenen Sohnes ermordet gefallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegossen, habt ihr geschlürft, wie viele nächtliche Mahle habe ich euch aufgetischt! Das alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute lasset ihr entrinnen wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davonhüpft! Höret mich, ihr Unterirdischen! Ich bin’s, Klytämnestra, die ihr zu rächen geschworen und die sich jetzt in euren Traum einmischt, an euren Schwur euch zu erinnern.«

Die schwarzen Göttinnen konnten des Zauberschlafes nicht so bald loswerden, und erst die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: »Orestes, der Muttermörder, entgeht euch!« rüttelten sie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Tiere sprangen sie vom Lager auf, und ohne Scheu stürmten sie in den Tempel Apollos selbst hinein, und hatten schon die Schwelle überschritten: »Zeussohn«, schrien sie ihm entgegen, »du bist ein Betrüger! Du junger Gott trittst die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagst es, uns diesen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du hast ihn uns gestohlen und willst doch ein Gott sein! Ist das auch vor den Göttern recht?« Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit scheltenden Worten aus seinem sonnigen Heiligtum: »Fort von dieser Schwelle«, rief er, »ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle des Löwen, wo Blut geschlürft wird, ihr Scherginnen des Schicksals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!« Vergebens beriefen sich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für seinen Schützling, weil er in seinem Auftrag als der fromme Sohn seines Vaters Agamemnon gehandelt, und vertrieb die Eumeniden von der Schwelle seines Tempels, daß sie, die Macht des Gottes fürchtend, weit rückwärts flohen.

Dann übergab er den Orestes mit seinem Freunde der Obhut des Hermes, des Gottes, in dessen Schutze die Wanderer stehen, und kehrte in den Olymp zurück. Die beiden Freunde aber schlugen, wie der Gott ihnen befohlen hatte, den Weg nach Athen ein, während die Erinnyen ihnen, aus Scheu vor der goldenen Rute des Götterboten, nur aus der Ferne zu folgen wagten. Allmählich jedoch wurden sie kühner; und als die beiden Freunde glücklich in der Stadt Pallas Athenes angekommen waren, heftete sich ihnen die Schar der Rächerinnen dicht an die Ferse, und kaum hatte Orestes mit seinem Freund den Tempel der Athene betreten, so stürmte auch schon der grauenvolle Chor durch die offenen Pforten desselben herein.

Orestes hatte sich vor der Bildsäule der Göttin niedergeworfen, streckte seine offenen Arme betend nach ihr aus und rief in der heftigsten Aufregung seines Gemütes: »Königin Athene, auf Apollos Befehl komme ich zu dir. Nimm einen Angeklagten gnädig auf, dessen Hände nicht mit unschuldigem Blute befleckt sind, und der doch müde ist von ungerechter Flucht und abgestumpft vom Flehen in fremden Häusern. Über Städte und Einöden komme ich daher, gehorsam dem Orakel deines Bruders, liege hier in deinem Tempel und vor deinem Bilde und erwarte deinen Richterspruch, o Göttin!«

Nun erhob auch der Chor der Furien, die hinter ihm herannaheten, seine Stimme und schrie: »Wir sind dir auf der Spur, Verbrecher! Wie der Hund dem verwundeten Rehbock, sind wir deinen Fußstapfen gefolgt, die von Blute triefen! Du sollst kein Asyl finden, Muttermörder! Dein rotes Blut wollen wir dir aus den Gliedern saugen und dann das blasse Schattenbild mit uns hinunter in den Tartaros führen! Nicht Apollos, nicht Athenes Gewalt soll dich von der ewigen Qual befreien! – Mein Wild bist du, mir genährt, für meinen Altar bestimmt! Auf Schwestern, laßt ihn uns mit unsrem Reigen umtanzen und seine beschwichtigte Seele durch unsere Gesänge zu neuem Wahnsinn aufregen!«

Und schon wollten sie ihr furchtbares Lied anstimmen, als plötzlich ein überirdisches Licht den Tempel durchleuchtete, die Bildsäule verschwunden war, und an ihrer Stelle die lebendige Göttin Athene stand, mit ernsten blauen Augen auf die Menge herniederblickend, die ihre Tempelhallen füllte, und den unsterblichen Mund zu der himmlischen Rede erschließend.

»Wer hat sich in mein Heiligtum gedrängt?« sprach die Göttin. »Was für ungewohnte Gäste muß ich in meinem Tempel gewahren? Ein Fremdling hält meinen Altar umfaßt, und Weiber, keinem gezeugten Sterblichen ähnlich, haben sich in drohender Stellung hinter ihm geschart. Redet, wer seid ihr alle und was wollet ihr?«

Orestes, von Furcht und Zittern sprachlos, lag noch immer auf dem Boden, die Erinnyen aber standen unverzagt hinter ihm und nahmen das Wort. »Zeus‘ Tochter«, sprachen sie, »ohne Umschweif sollst du alles aus unsrem Munde hören. Wir sind die Töchter der schwarzen Nacht, und Erinnyen nennt man uns drunten zu Hause.« »Wohl kenn ich euer Geschlecht«, sprach Athene, »und euer Ruf ist oft schon zu mir gedrungen. Ihr seid die Rächerinnen des Meineids und des Verwandtenmordes: was kann euch in mein reines Tempelhaus fuhren?«

»Dieser Mensch, der hier zu deinen Füßen deinen Altar durch seine Gegenwart besudelt!« sprachen sie. »Er hat seine eigene Mutter erschlagen. Richte du selbst ihn; wir werden dein Urteil ehren, denn wir wissen, du bist eine strenge und gerechte Göttin!«

»Wenn ihr mir denn den Richterspruch übertraget«, antwortete Pallas Athene, »so sprich du zuerst, Fremdling, was kannst du gegen die Aussagen dieser Unterirdischen vorbringen? Nenne mir zunächst dein Vaterland, dein Geschlecht und dein Schicksal, und alsdann reinige dich von dem Frevel, der dir schuld gegeben wird. Solches gestatte ich dir, weil du vor meinem Altare kniend liegst und ihn als demütiger Schützling umfasset hältst! Auf alles jenes aber antworte mir ohne Gefährde!«

Jetzt erst wagte Orestes den Blick vom Boden zu erheben, richtete sich auf, doch so, daß er immer noch vor der Göttin auf den Knien lag, und sprach: »Königin Athene! Vor allen Dingen sei dir die Besorgnis um dein Heiligtum benommen! Ich habe keinen unsühnbaren Mord begangen; ich umfange deinen Altar nicht mit unsauberen Händen! Ich bin gebürtig aus Argos, und du kennst meinen Vater wohl. Es ist Agamemnon der Völkerfürst, der Führer der griechischen Flotte vor Troja, mit dem du selbst Ilios‘ herrlichste Feste zerstörst hast. Dieser, nach Hause zurückgekehrt, ist keines ehrlichen Todes gestorben, sondern meine Mutter, die mit dem fremden Manne buhlte, hat ihn in ein trügerisches Netz gewickelt und umgebracht; das Bad war der Zeuge seines Mordes. Da bin ich, der ich seitdem in der Verbannung gelebt, nach langer Zeit zurückgekommen ins Vaterland und habe den Vater gerächt, ich leugne es nicht, des geliebten Erzeugers Mord mit Mord an der Mutter gerächt. Und zu dieser Tat hat dein eigener Bruder Apollo mich aufgemuntert, und sein Orakel hat mir mit großer Seelenqual gedroht, wenn ich die Mörder meines Vaters nicht bestrafe. Nun sollst du Schiedsrichterin sein, o Göttin, ob ich mit Recht oder Unrecht gehandelt! Auch ich unterwerfe mich deinem Richterspruch!«

Die Göttin schwieg eine Weile nachdenklich; dann sprach sie: »Die Sache, die entschieden werden soll, ist freilich dunkel, daß ein menschliches Gericht nicht damit fertig würde; darum, obwohl ich sterbliche Richter für sie wählen will, ist es doch gut, daß ihr euch mit eurem Rechtsstreit an eine Unsterbliche gewendet. Denn ich selbst will das Gericht versammeln, in meinem Tempel den Vorsitz führen und bei schwankendem Urteil den Ausschlag geben. Inzwischen soll dieser Fremdling unter meinem Schirm unangetastet in unsrer Stadt leben. Ihr aber, finstere, unerbittliche Göttinnen, beflecket diesen Boden nicht ohne Not mit eurer Gegenwart. Gehet hinab in eure unterirdische Behausung und erscheinet nicht eher wieder in diesem Tempel, bis der anberaumte Tag des Gerichtes herbeigekommen sein wird. Einstweilen sammle jede Partei Zeugen und Beweise; ich selbst aber will die besten Männer dieser Stadt, die meinen Namen führt, auslesen und zur Aburteilung dieses Streites bestellen.«

Nachdem die Göttin sodann den Tag des abzuhaltenden Gerichtes festgesetzt hatte, wurden die Parteien aus dem Tempel entlassen. Die Rachegöttinnen gehorchten dem Ausspruche Athenes ohne Murren, ihre Schar verließ den Boden von Athen, und sie stiegen wieder zur Unterwelt hinab; Orestes mit seinem Freunde wurde von den Bürgern Athens gastlich aufgenommen und verpflegt.

Als der Gerichtstag erschienen war, berief ein Herold die auserwählten Bürger der Stadt auf einen Hügel vor derselben, der dem Ares heilig war und deswegen der Areopag oder Aresberg hieß, wo die Göttin in Person ihrer harrte und Klägerinnen und Angeklagter bereits sich eingefunden hatten. Aber noch ein Dritter war erschienen und stand dem Angeklagten zur Seite. Es war der Gott Apollo. Als die Erinnyen diesen erblickten, erschraken sie und riefen zornig: »König Apollo, kümmere du dich nicht um unsere Angelegenheiten! Sprich, was hast du hier zu schaffen?« »Dieser Mann«, erwiderte der Gott, »ist mein Schützling, der in meinem Tempel zu Delphi sich in meinen Schirm begeben, und ich habe ihn von dem vergossenen Blut entsündigt. Darum ist es billig, daß ich ihm beistehe; und so bin ich denn erschienen, einesteils für ihn zu zeugen, andernteils als sein Anwalt vor dem ehrwürdigen heimlichen Gerichte dieser Stadt aufzutreten, das meine himmlische Schwester Athene versammelt hat. Denn ich bin es, der ihm den Mord der Mutter als eine fromme, den Göttern wohlgefällige Tat angeraten hat.« Mit solchen Worten trat der Gott seinem Schützling noch näher. Die Göttin erklärte nun das Gericht für eröffnet und forderte die Erinnyen auf, ihre Klage vorzubringen. »Wir werden kurz sein«, nahm die Älteste unter ihnen als Sprecherin das Wort. »Du, den wir verklagen! beantworte uns Frage um Frage: Hast du deine Mutter umgebracht oder leugnest du’s?« »Ich leugne nicht«, sprach Orestes, doch erblaßte er bei der Frage. »So sprich, wie hast du’s vollbracht?« »Ich habe ihr«, antwortete der Angeklagte, »das Schwert in die Kehle gebohrt.« »Auf wessen Rat und Anstiften hast du es getan?« »Der hier neben mir steht«, erwiderte Orestes, »der Gott, hat mir’s durch einen Orakelspruch befohlen; und er ist da, mir dies zu bezeugen.« Darauf verteidigte sich der Orestes kürzlich gegen die Richter, daß er in Klytämnestra nicht mehr die Mutter, sondern nur die Mörderin des Vaters gesehen; und Apollo ließ eine längere und beredtere Verteidigung folgen. Die Rachegöttinnen blieben auch nicht stumm, und wenn der Gott mit schwarzen Farben den Mord des Gatten den Richtern vor Augen gestellt, so schilderten sie dagegen den Frevel des Muttermordes. Und als ihre Rede zu Ende war, sagte die Sprecherin: »Jetzt haben wir alle unsere Pfeile aus dem Köcher versendet; wir wollen ruhig erwarten, wie die Richter urteilen werden.«

Athene hieß die Stimmsteine, jedem einen schwarzen für die Schuld, einen weißen für die Unschuld des Beklagten, unter die Richter verteilen; die Urne, in welche die Steine zu legen waren, wurden in der Mitte des umzäunten Platzes aufgestellt; und ehe die Richter sich zum Abstimmen anschickten, sprach die Göttin noch von der erhöhten Stelle herab, auf welcher sie als Vorsitzerin des Gerichtes ihren Thronsessel eingenommen hatte, indem sie sich aus demselben erhob und in ihrer ganzen himmlischen Hoheit dastand: »Höret diese Bestimmung der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! Jetzt wo ihr den ersten Streit wegen vergossenen Blutes richtet! Für alle Folgezeit soll dieser Gerichtshof in euren Mauern bestehen. Hier auf diesem heiligen Areshügel, wo einst im Amazonenkriege gegen Theseus die feindlichen Heldinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr Opfer darbrachten, soll, nach dem Orte benannt, der Areopag sein Blutgericht halten und durch fromme Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückschrecken. Aus den heiligsten Männern der Stadt gebildet stifte ich ihn, unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, streng, einen wachsamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande. Ihr alle Einwohner sollet seine Würde scheuen und ihn schirmen als eine heilsame Stütze eurer Stadt, wie kein anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern sie besitzt. Dies sei für die Zukunft verordnet. Nun aber, ihr Richter erhebet euch, scheuet euren Eid und leget zur Entscheidung des Streites eure Stimmen in die Urne nieder!«

Schweigend erhuben sich die Richter von den Sitzen und traten einer um den andern an die Urne, und die Stimmsteine rollten nacheinander hinein. Als alle abgestimmt hatten, traten auserlesene, durch einen Eid verpflichtete Bürger hinzu und zählten die schwarzen und die weißen Steine ab. Da befand es sich, daß die Zahl beider gleich war und die Entscheidung der vorsitzenden Göttin zukam, wie sie sich im Beginne des Gerichtes dieselbe vorbehalten hatte. Athene stand abermals von ihrem Sitze auf und sprach: »Ich bin von keiner Mutter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Zeus und aus seiner Stirne entsprungen, eine männliche Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne Beschützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite des Weibes treten, das seinen Ehegatten freventlich erschlagen hat, dem schnöden Buhlen zu Gefallen. Nach meines Herzens Meinung hat Orestes wohlgetan: er hat nicht die Mutter umgebracht, sondern die Mörderin des Vaters. Er siege!« Damit verließ sie den Richterstuhl, ergriff einen weißen Stimmstein und fügte ihn den andern weißen Steinen hinzu. »Dieser Mann«, sprach sie sodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, »ist durch Stimmenmehrheit von dem Vorwurf ungerechten Mordes freigesprochen!«

Als das Urteil gefällt war, wandte sich Orestes zu der Göttin und sprach in tiefer Bewegung seines Herzens: »O Pallas Athene, die du mein Geschlecht und mich des Vaterlands Beraubten gerettet hast, in ganz Griechenland wird man deine Wohltat preisen und sagen: ›So wohnet denn jener Argiver wieder in der Väter Palast, erhalten durch die Gerechtigkeit Athenes und Apollos und des Göttervaters, ohne dessen Willen auch das nicht geschehen wäre.‹ Ich aber ziehe heim, diesem Land und Volke schwörend, daß für ewige Zeiten kein Argiver kommen soll, die frommen Athener zu bekriegen! Ja wenn lange nach meinem Tode einer meiner Landsleute es wagen wollte, diesen meinen Eid zu verletzen, so wird von der Väter Gruft aus noch mein Geist ihn strafen und ihm Unheil auf den Weg senden, daß er seine verfluchten Pläne gegen diese Stadt nicht ausführen kann. Lebe denn wohl, du erhabene Beschützerin des Rechtes und du frommes Volk der Athener; möge dir in jedem Kriege und in allen Dingen Sieg und Heil zuteil werden!«

Unter solchen Segenswünschen verließ Orestes den heiligen Hügel des Ares, geleitet von seinem Freunde, der während des ganzen Gerichts nicht von seiner Seite gewichen war; die Rachegöttinnen wagten es nicht, gegen den Spruch der Göttin sich an dem Freigesprochenen zu vergreifen, auch scheueten sie die Gegenwart Apollos, der bereit war, den Ausspruch des Gerichtes aufrechtzuerhalten. Aber die Sprecherin der Schar stand von dem Sitze der Klägerinnen auf, und in übermenschlicher Größe dem Gott und der Göttin als ebenbürtig entgegenstellend, ließ sie mit der rauhen Stimme der Nacht ihre trotzige Einsprache gegen das Urteil also vernehmen: »Wehe uns! Die uralten Gesetze habt ihr zu Boden getreten, ihr jüngeren Götter; habt sie uns älteren Göttern aus den Händen gerungen! Verachtet, machtlos zürnend stehen wir da. Doch soll euch euer Urteil gereuen, ihr Athener! Alles Gift unseres erzürnten Herzens werden wir über diesen Boden ausschütten, wo die Gerechtigkeit verachtet worden ist. Der Fraß soll über alle Pflanzen, das Verderben über alles Leben kommen; mit Unfruchtbarkeit und Pest wollen wir Land und Stadt heimsuchen, wir, die gekränkten, die beschimpften Göttinnen der Nacht!«

Als Apollo diesen fürchterlichen Fluch vernahm, trat er ins Mittel und sprach besänftigend zu den mächtigen Göttinnen: »Folget mir, ihr Gnädigen! Zürnet nicht allzusehr über das gefällte Urteil! Seid ihr doch nicht besiegt worden; aus der Urne ist die gleiche Zahl schwarzer und weißer Steine hervorgegangen; das Gericht ist nicht zu eurer Schmach ausgefallen, nur die Barmherzigkeit hat gesiegt, nur die Billigkeit hat den Angeklagten, der zwischen zwei heiligen Pflichten wählen und eine von beiden verletzen mußte, gerettet! Und das haben wir Götter getan, nicht die Richter dieses Landes; und Zeus hat es gutgeheißen! Darum lasset euren Grimm nicht an dem unschuldigen Volke aus. Verspreche ich euch doch in seinem Namen, daß ihr Heiligtum und einen würdigen Sitz in seinem Lande erhalten sollet, daß ihr auf glänzenden Altären der gerechten Stadt euren Sitz nehmen werdet, verehrt als die unerbittlichen Göttinnen gerechter Rache von allen Bürgern dieser Stadt!«

Diese Versicherung bekräftigte auch Athene selbst: »Glaubet mir, ehrwürdige Göttinnen«, setzte sie hinzu, »wenn ihr in einem andern Lande euren Sitz aufschlaget, daß euch das gereuen, daß ihr euch nach dem verschmähten sehnen werdet. Die Bürger dieser Stadt sind bereit, euch in hohen Ehren zu halten: Chöre von Männern und Frauen werden euren Ruhm feiern, neben dem Tempel des vergötterten Königes Erechtheus sollt ihr ein geweihetes Heiligtum erhalten! Kein Haus wird gesegnet sein, das euch nicht verehrt!«

Solche Versprechungen besänftigten allmählich den Zorn der strengen Rachegöttinnen; sie gelobten ihren gnädigen Sitz in dem Lande zu nehmen, fühlten sich hochgeehrt, daß sie gleich Athenen und Apollo Altäre und Heiligtum in der berühmtesten Stadt besitzen sollten, und endlich wurde ihr Sinn so milde, daß sie auch ihrerseits das feierliche Versprechen vor den anwesenden Göttern ablegten, die Stadt zu schirmen, böse Wetter, Sonnenbrand, giftige Seuchen von ihrem Gebiet abzuhalten, die Herden des Landes zu schützen, den Bund der Ehen zu segnen und im Einverständnisse mit ihren Halbschwestern, den Parzen oder Schicksalsgöttinnen, das Wohl des ganzen Landes auf alle Weise zu befördern. Ja sie wünschten dem ganzen Volke ewige Eintracht und holden Frieden; und ihr schwarzer Chor brach unter Danksagungen des himmlischen Geschwisterpaares auf und verließ, von der ganzen Einwohnerschaft und Lobgesängen begleitet, den Areopag und die Stadt.