Waffenstillstand



Waffenstillstand

Die Fürsten der Danaer versammelten sich jetzt in dem Gezelte ihres Oberfeldherrn Agamemnon, wohin sie auch den seines Sieges sich hocherfreuenden Ajax jubelnd geführt hatten. Hier wurde dem Zeus ein fünfjähriger fetter Stier geopfert und beim Schmause der Sieger mit dem besten Rückenstücke geehrt. Als sie sich an Speise und Trank gesättiget, eröffnete Nestor den Rat der Fürsten mit dem Vorschlage, am andern Morgen den Krieg ruhen zu lassen und nach Abschluß eines Waffenstillstandes die Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen, mit Rindern und Maultieren bespannt, abzuholen und abseits von den Schiffen zu verbrennen, damit, wenn sie wieder zum Vaterlande heimzögen, ein jeder den Kindern seiner Verwandten den Staub der Ihrigen mitbringen könnte. Die Könige riefen ihm ringsumher Beifall.

Auf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf ihrer Burg, vor dem Palaste des Königes, nicht ohne Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zweikampfes, zur Versammlung, und hier stand der weise Antenor auf und sprach: »Höret mein Wort, ihr Trojaner und Bundesgenossen. Solange wir treulos gegen den heiligen Vertrag, den Pandaros gebrochen hat, kämpfen, kann unserm Volke keine Wohlfahrt blühen; deswegen berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rat nicht, daß wir die Argiverin Helena mitsamt ihren Schätzen den Atriden ausliefern sollten.« Dagegen erhub sich Paris und erwiderte: »Wenn du im Ernste so geredet hast, Antenor, so haben dir wahrhaftig die Götter deinen Verstand geraubt; ich aber bekenne geradeheraus, daß ich das Weib nie wieder hergeben werde. Die Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen sie meinethalben wiederhaben; und ich will freiwillig von dem Meinigen noch hinzutun, was sie als Buße verlangen können!« Nach seinem Sohne sprach der greise König Priamos mit wohlmeinender Gesinnung: »Laßt uns heute nichts Weiteres mehr beginnen, ihr Freunde! Verteilet den Nachtimbiß unter das Heer, stellet die Wachen aus und überlasset euch, behutsam wie immer, dem Schlafe. Am nächsten Morgen aber soll Idaios, unser Herold, zu den Schiffen der Griechen gehen und denselben das friedsame Wort meines Sohnes Paris verkündigen, zugleich sie erforschen, ob sie geneigt seien, uns Waffenruhe zu gewähren, bis wir unsere Toten verbrannt haben. Können wir uns nicht vereinigen, so mag nachher die Feldschlacht wieder beginnen.«

So geschah es. Am andern Morgen erschien Idaios als Herold vor den Griechen und meldete das Anerbieten des Paris und den Vorschlag des Königes. Als die Helden der Danaer solches hörten, blieben alle lange stumm. Endlich begann Diomedes: »Laßt euch doch nicht einfallen, ihr Griechen, die Schätze anzunehmen; auch nicht, wenn ihr Helena dazubekämet. Der Einfältigste wird ja wohl hieraus erkennen, daß die Trojaner bereits mit dem Untergang bedroht sind!« Diesem Worte jauchzten die Fürsten alle Beifall zu, und Agamemnon sprach jetzt zu dem Herolde: »Du hast selbst den Bescheid der Griechen, was den Vorschlag des Paris betrifft, vernommen; die Verbrennung der Toten aber soll euch keineswegs verweigert sein; der Donnerer selbst soll diese unsere Zusage hören!« Mit diesen Worten hub er den Zepter gen Himmel. Idaios kehrte nach Troja zurück und traf den Rat der Trojaner wieder versammelt. Auf die willkommene Botschaft wurde es schnell in der Stadt lebendig; die einen holten die Leichname, die andern Holz aus der Waldung. Und ganz dasselbe geschah im Schiffslager der Griechen. Friedlich begegneten im Strahl der Morgensonne Feinde den Feinden und suchten ihre Toten, einer an der Seite des andern. Schwer war der Gegner vom Freunde zu erkennen, wie die Leichname blutig und der Rüstungen beraubt dalagen. Unter heißen Tränen wuschen die Trojaner den ihrigen, deren viel mehr waren, das Blut von den Gliedern, aber alle laute Wehklage verbot Priamos. So huben sie sie verstummt auf die Wagen und türmten unter großer Herzensbetrübnis die Scheiterhaufen auf. Dasselbe taten die Griechen, gleichfalls mit traurigem Herzen; und als die Glut ausgelodert, kehrten sie zu ihren Schiffen zurück. Der Tag war über dieser Arbeit zu Ende gegangen, und das Abendmahl begann. Gerade zur rechten Zeit waren aus Lemnos von Euneos, dem Sohne Iasons und Hypsipyles, Lastschiffe mit einer Ladung edlen Weines angekommen, den der Gastfreund den verwandten Griechen zum Geschenke sandte, viel tausend Krüge. Da ward ein lieblicher Festschmaus gerüstet, und als die Griechen ihre Beute bei den Schiffen untergebracht, setzten sie sich zum Mahle.

Auch die Trojaner wollten sich beim Schmause von der Schlacht erholen. Aber Zeus ließ ihnen keine Ruhe und schreckte sie die ganze Nacht hindurch mit Donnerschlägen, die sich von Zeit zu Zeit wiederholten und ihnen neues Unglück zu verkündigen schienen. Entsetzen faßte sie, und sie wagten den Becher nicht an den Mund zu führen, ohne dem zürnenden Göttervater ein Trankopfer auszugießen.

Weitere Abenteuer



Weitere Abenteuer

Unter mancherlei Schicksalen fuhren die Helden nun weiter. Auf der Fahrt erkrankte ihnen ihr treuer Steuermann Tiphys, starb und mußte am fremden Ufer begraben werden. An seine Stelle wählten sie denjenigen von den Helden, der des Steuers am kundigsten war. Er hieß Ankaios und weigerte sich lange, das schwierige Geschäft zu übernehmen, bis ihm Hera, die Göttin, Mut und Zuversicht ins Herz gab. Dann aber stellte er sich ans Ruder und lenkte das Schiff so gut, als wenn Tiphys selbst noch am Steuer säße. Unter seiner Führung gingen sie am zwölften Tage in See und kamen bald mit vollen Segeln an die Mündung des Flusses Kallichoros; hier sahen sie auf einem Hügel das Grabmal des Helden Sthenelos, der mit Herakles in den Amazonenkrieg gezogen und hier, von einem Pfeile getroffen, am Meeresufer verschieden war. Sie wollten eben weiterschiffen, als der klägliche Schatten dieses Helden, von Persephone aus der Unterwelt entlassen, sichtbar ward und sehnsüchtig nach den stammesverwandten Männern blickte. Er stand zuoberst auf seinem Grabhügel in der Gestalt, in welcher er in die Schlacht gegangen war: ein purpurner Busch mit vier schönen Federn wehte ihm vom Helme. Doch war er nur wenige Augenblicke zu schauen und tauchte bald wieder in die schwarze Tiefe hinunter. Erschrocken ließen die Helden die Ruder sinken. Nur Mopsos, der Wahrsager, verstand das Verlangen der abgeschiedenen Seele: er riet seinen Genossen, den Geist des Erschlagenen mit einem Trankopfer zu sühnen. Schnell zogen sie die Segel ein, banden das Schiff am Strande an, und indem sie sich um den Grabhügel stellten, benetzten sie ihn mit Trankopfern und verbrannten geschlachtete Schafe. Dann fuhren sie weiter und weiter und gelangten endlich zur Mündung des Flusses Thermodon. Diesem glich kein anderer Strom auf der Erde: aus einer einzigen Quelle tief in den Bergen entsprungen, teilte er sich bald in eine Menge kleinerer Arme und stürmte in so viel Ausflüssen ins Meer, daß nur viere zu einem Hundert fehlten. Sie wimmelten wie eine Menge Schlangen in die offene See. An dem breitesten Ausflusse wohnten die Amazonen. Dieses Weibervolk stammte vom Gotte Ares ab und liebte die Werke des Krieges. Hätten die Argonauten hier gelandet, so wären sie ohne Zweifel in einen blutigen Krieg mit den Frauen geraten, denn diese waren den tapfersten Helden im Kampfe gewachsen. Sie wohnten nicht in einer Stadt vereinigt, sondern auf dem Lande zerstreut und in einzelne Stämme getrennt. Ein günstiger Westwind hielt die Argonauten von diesem kriegerischen Weibervolke fern. Nach der Fahrt eines Tages und einer Nacht kamen sie, wie ihnen Phineus geweissagt hatte, an das Land der Chalyber. Diese pflügten nicht das Erdreich, pflanzten keine fruchttragenden Bäume, weideten keine Herden auf der tauigen Wiese; sie gruben nur Erz und Eisen aus dem rauhen Boden und tauschten gegen dieses ihre Lebensmittel ein. Keine Sonne ging ihnen ohne schwere Arbeit auf, in schwarzer Nacht und dichtem Rauche verbrachten sie arbeitend ihren Tag.

Noch an mancherlei Völkern kamen sie vorüber. Als sie einer Insel, mit Namen Aretia oder Aresinsel, gegenüber waren, flog ihnen ein Bewohner dieses Eilands, ein Vogel, mit kräftigem Flügelschlage entgegen. Als er über dem Schiffe schwebte, schüttelte er seine Schwingen und ließ eine spitze Feder fallen, die in der Schulter des Helden Oïleus steckenblieb. Verwundet ließ der Held das Ruder fahren; die Genossen staunten, als sie das geflügelte Geschoß erblickten, das ihm in der Schulter steckte. Der, der ihm zunächst saß, zog die Feder heraus und verband die Wunde. Bald erschien ein zweiter Vogel; den schoß Klytios, der den Bogen schon gespannt hielt, im Fluge, so daß der Getroffene mitten in das Schiff herabfiel. »Wohl ist die Insel in der Nähe«, sagte da Amphidamas, ein erfahrener Held, »aber trauet jenen Vögeln nicht. Gewiß sind ihrer so viele, daß, wenn wir landeten, wir nicht Pfeile genug hätten, sie zu erlegen. Lasset uns auf ein Mittel sinnen, die kriegslustigen Tiere zu vertreiben. Setzet alle eure Helme mit hohen nickenden Büschen auf; alsdann rudert abwechslungsweise zur Hälfte, zur andern schmücket das Schiff mit blinkenden Lanzen und Schilden aus. Dann erheben wir alle ein entsetzliches Geschrei; wenn das die Vögel hören, dazu die wallenden Helmbüsche, die starrenden Lanzen, die schimmernden Schilde sehen, so werden sie sich fürchten und davonflattern.« Der Vorschlag gefiel den Helden, und alles geschah, wie er ihnen geraten hatte. Kein Vogel ließ sich blicken, solange sie heranruderten; und als sie der Insel näher gekommen, mit den Schilden klirrten, flogen ihrer unzählige aufgeschreckt an der Küste auf und in stürmischer Flucht über das Schiff hin. Aber wie man die Fensterladen eines Hauses vor dem Hagel schließt, wenn man ihn kommen sieht, so hatten sich die Helden mit den Schilden gedeckt, daß die Stachelfedern herabfielen, ohne ihnen zu schaden; die Vögel selbst, die furchtbaren Stymphaliden, flogen weit übers Meer den jenseitigen Ufern zu. Die Argonauten landeten auf dieser Insel nach dem Rate des wahrsagenden Königes Phineus.

Sie sollten hier Freunde und Begleiter finden, die sie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten sie die ersten Schritte am Ufer getan, als ihnen vier Jünglinge im armseligsten Aufzuge, von allem entblößt, begegneten. Einer von diesen eilte den nahenden Helden entgegen und redete sie an. »Wer ihr auch seid, gute Männer«, sprach er, »kommt armen Schiffbrüchigen zu Hilfe! Teilet uns Kleider mit, unsere Blöße zu bedecken, und Speisen, unsern Hunger zu stillen!« Iason versprach ihnen freundlich alle Hilfe und erkundigte sich nach ihrem Namen und Geschlecht. »Ihr habt wohl von Phrixos gehört, dem Sohne des Athamas«, erwiderte der Jüngling, »der das Goldne Vlies nach Kolchis gebracht hat? Der König Aietes hat ihm seine ältere Tochter zur Ehe gegeben, wir sind seine Söhne, und ich heiße Argos. Unser Vater Phrixos ist vor kurzem gestorben, und nach seinem Letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe gesetzt, die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelassen, abzuholen.« Die Helden waren hocherfreut, und Iason begrüßte sie als Vettern; denn die Großväter Athamas und Kretheus waren Brüder gewesen. Die Jünglinge erzählten weiter, wie ihr Schiff im wütenden Sturme zerbrochen sei und ein Brett sie an diese unwirtliche Insel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr Vorhaben mitteilten und sie zur Teilnahme an dem Abenteuer aufforderten, da verbargen sie ihr Entsetzen nicht. »Unser Großvater Aietes ist ein grausamer Mann, er soll der Sohn des Sonnengottes und deswegen mit übermenschlicher Macht begabt sein; unzählige Kolcherstämme beherrscht er, und das Vlies hütet ein entsetzlicher Drache.« Manche der Helden wurden bei diesem Berichte bleich. Peleus jedoch, einer von ihnen, erhub sich und sprach: »Glaube nicht, daß wir dem Kolcherkönige unterliegen müssen; auch wir sind Göttersöhne! Gibt er uns das Vlies nicht in Güte, so werden wir es ihm seinen Kolchern zum Trotz entreißen!« So sprachen sie miteinander noch länger beim reichlichen Mahle. Am andern Morgen schifften sich die Söhne des Phrixos, gekleidet und gestärkt, mit ihnen ein, und die Fahrt ging vorwärts. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht gerudert, sahen sie die Spitzen des Kaukasusgebirges über die Meeresfläche hervorragen. Als es schon dunkelte, hörten sie ein Geräusch über ihren Häuptern: es war der Adler des Prometheus, der seinem Fraß entgegen hoch über das Schiff dahinflog; und doch war sein Flügelschlag so mächtig, daß alle Segel von ihm wie im Winde sich bewegten. Denn es war ein Riesenvogel, und er schlug die Luft mit seinen Flügeln wie mit großen Segeln. Bald darauf hörten sie aus der Ferne das tiefe Stöhnen des Prometheus, in dessen Leber der Vogel schon wühlte. Nach einiger Zeit verhallten die Seufzer, und sie sahen den Adler wieder hoch über sich durch die Lüfte zurückrudern.

Noch in derselben Nacht gelangten sie ans Ziel und in die Mündung des Flusses Phasis. Freudig kletterten sie an den Segelstangen empor und takelten das Schiff ab; dann trieben sie es mit den Rudern in das breite Bett des Stromes, dessen Wellen vor der gewaltigen Masse des Fahrzeugs sich scheu zurückzuziehen schienen. Zur Linken hatten sie den hohen Kaukasus und Kytaia, die Hauptstadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete sich das Feld und der heilige Hain des Ares aus, wo der Drache das Goldne Vlies, das an den blätterreichen Ästen einer hohen Eiche hing, mit seinen scharfen Augen bewachte. Jetzt erhub sich Iason am Borde des Schiffes, er schwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher voll Weins und brachte dem Flusse, der Mutter Erde, den Göttern des Landes und den auf der Fahrt verstorbenen Heroen ein Trankopfer dar. Er bat sie alle, mit liebreicher Hilfe ihnen nahe zu sein und über den Tauen des Schiffes, das sie eben anbinden wollten, zu wachen. »So wären wir denn glücklich zum kolchischen Lande gelangt«, sprach der Steuermann Ankaios: »nun ist’s Zeit, daß wir uns ernstlich beraten, ob wir den König Aietes in Güte angehen oder auf irgendeine andere Weise unser Vorhaben ins Werk setzen wollen.« »Morgen«, riefen die müden Helden. Und so befahl denn Iason, das Schiff in einer schattigen Bucht des Flusses vor Anker gehen zu lassen. Alle legten sich zu süßem Schlummer nieder, der sie jedoch nur mit kurzer Rast erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenrot die Augenlider.

Weitere Heimfahrt der Argonauten



Weitere Heimfahrt der Argonauten

Auf des Peleus Rat schifften die Helden aus der Mündung hervor und schleunig davon, ehe die zurückgelassenen Kolcher zur Besinnung kommen konnten. Diese, als sie innewurden, was geschehen war, gedachten anfangs die Feinde zu verfolgen, aber Hera schreckte sie mit warnenden Blitzen vom Himmel; und da sie zu Hause den Zorn des Königes fürchteten, wenn sie ihm Sohn und Tochter nicht zurückbrächten, so blieben sie auf den Artemisinseln in der Mündung des Ister zurück und siedelten sich hier an.

Die Argonauten aber schifften an mancherlei Gestaden und Inseln vorüber, auch an dem Eilande, wo die Königin Kalypso, die Tochter des Atlas, wohnte. Schon glaubten sie in der Ferne die höchsten Bergspitzen des heimischen Festlandes aufsteigen zu sehen, als Hera, welche die Pläne des erzürnten Zeus fürchtete, einen Sturm gegen sie erhob, der ihr Schiff mit Ungestüm an die unwirtliche Insel Elektris trieb. Jetzt begann auch das weissagende Holz, das Athene mitten in den Kiel eingefügt hatte, zu sprechen, und entsetzliche Furcht ergriff die Horchenden. »Ihr werdet dem Zorn des Zeus und den Irrfahrten des Meeres nicht entgehen«, tönte das hohle Brett, »bevor nicht die Zaubergöttin Kirke euch den grausamen Mord des Absyrtos abgewaschen hat. Kastor und Pollux sollen zu den Göttern beten, daß sie euch die Pfade des Meeres öffnen und ihr Kirke finden könnet, die Tochter des Sonnengottes und der Perse.« So sprach der hölzerne Mund des Schiffes Argo um die Abenddämmerung. Schauder und Furcht ergriff die Helden, als sie den seltsamen Propheten so Schreckliches verkünden hörten. Die Zwillinge Kastor und Pollux allein sprangen auf und hatten den Mut, zu den unsterblichen Göttern um Schutz zu beten; das Schiff aber schoß weiter bis in die innerste Bucht des Eridanos, da wo einst Phaëthon verbrannt vom Sonnenwagen in die Flut gefallen war. Noch jetzt schickt er aus der Tiefe Rauch und Glut aus seiner brennenden Wunde hervor. Kein Schiff kann mit leichten Segeln über dieses Gewässer hinfliegen, sondern es springt mitten in die Flamme hinein. Ringsumher am Ufer seufzen, in Pappeln verwandelt, Phaëthons Schwestern, die Heliaden, im Winde und träufeln lichte Tränen aus Bernstein auf den Boden, welche die Sonne trocknet und die Flut in den Eridanos hineinzieht. Den Argonauten half zwar ihr starkes Schiff aus dieser Gefahr, aber alle Lust nach Speise und Trank verging ihnen; denn bei Tage peinigte sie der unerträgliche Geruch, der aus den Fluten des Eridanos vom dampfenden Phaëthon aufstieg, und bei Nacht hörten sie ganz deutlich das Wehklagen der Heliaden und wie die Bernsteintränen gleich Öltropfen ins Meer rollten. An den Ufern des Eridanos hin kamen sie zu der Mündung des Rhodanos und wären hineingeschifft, von wannen sie nicht lebendig herauskommen sollten, wenn nicht Hera plötzlich auf einer Klippe erschienen wäre und mit furchtbarer Götterstimme sie abgemahnt hätte. Diese hüllte das Schiff schirmend in schwarze Nebel, und so fuhren sie an unzähligen Keltenvölkern viele Tage und Nächte vorbei, bis sie endlich das tyrrhenische Ufer erblickten und bald darauf glücklich in den Hafen der Insel Kirkes einliefen.

Hier fanden sie die Zaubergöttin, wie sie, am Meergestade stehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr hatte geträumt, das Gemach und das ganze Haus ströme über von Blut, und die Flamme fresse alle Zaubermittel, mit welchen sie sonst die Fremdlinge behext hatte; sie aber schöpfe mit hohler Hand das Blut und lösche das Feuer damit. Dieser entsetzliche Traum hatte sie mit der Morgenröte vom Lager aufgeschreckt und ans Meeresufer getrieben; hier wusch sie Kleidung und Haare, als ob sie blutbefleckt wären. Ungeheure Bestien, nicht andern Tieren ähnlich, sondern aus den verschiedensten Gliedern zusammengesetzt, folgten herdenweise, wie das Vieh dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entsetzliches Grausen, zumal da sie der Kirke nur ins Angesicht zu sehen brauchten, um sich zu überzeugen, daß sie die Schwester des grausamen Aietes sei. Die Göttin, als sie die nächtlichen Schrecken von sich entfernt hatte, kehrte schnell wieder um, lockte den Tieren und streichelte sie, wie man Hunde streichelt.

Iason hieß die ganze Mannschaft im Schiffe bleiben, er selbst sprang mit Medea ans Land und zog das widerstrebende Mädchen mit sich fort, Kirkes Palaste zu. Kirke wußte nicht, was die Fremden bei ihr suchten. Sie hieß sie auf schönen Sesseln Platz nehmen. Jene aber flüchteten still und traurig an den Herd und ließen sich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände, und Iason stieß das Schwert, mit welchem er den Absyrtos umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf dasselbe und stützte sein Kinn darauf, ohne die Augen aufzuschlagen. Da merkte Kirke, daß es Schutzflehende seien, und verstand sogleich, daß es sich um den Jammer der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle. Sie trug Scheu vor Zeus, dem Beschirmer der Flehenden, und brachte das verlangte Opfer dar, indem sie ein Ferkel einer noch lebenden Muttersau schlachtete und den reinigenden Zeus dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die Najaden, mußten all die Sühnungsmittel aus dem Hause zusammentragen; sie selbst stellte sich an den Herd und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Gebeten, um den Zorn der Erinnyen zu besänftigen und die Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzurufen. Als alles vorüber war, ließ sie die Fremden erst auf die glänzenden Stühle setzen und setzte sich ihnen gegenüber. Dann fragte sie dieselben über ihr Geschäft und ihre Schiffahrt, woher sie kämen, warum sie hier gelandet und wofür sie ihren Schutz begehrt hätten; denn ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekommen. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und ihr ins Angesicht sah, fielen ihr die Augen des Mädchens auf; denn Medea stammte ja wie Kirke selbst vom Sonnengotte; und alle Abkömmlinge dieses Gottes haben strahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte sie die Muttersprache der Landesflüchtigen zu hören, und die Jungfrau fing an, in kolchischer Mundart, alles, was mit Aietes, den Helden und ihr geschehen war, der Wahrheit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders Absyrtos wollte sie nicht gestehen. Aber der Zaubergöttin Kirke blieb nichts verborgen; doch jammerte sie ihrer Nichte und sie sprach: »Arme, du bist unehrlich geflohen und hast einen großen Frevel begangen. Gewiß wird dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord seines Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch sollst du kein weiteres Übel leiden, weil du eine Schutzflehende und dazu meine Verwandte bist. Nur verlang auch keine Hilfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne, wer es auch sein mag. Ich kann weder deine Pläne noch deine schimpfliche Flucht billigen!« Ein unendlicher Schmerz ergriff die Jungfrau bei diesen Worten. Sie warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich, bis der Held sie an der Hand ergriff und die Wankende mit sich aus Kirkes Palast hinausführte.

Doch Hera erbarmte sich ihrer Schützlinge. Sie sandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ diese zu sich rufen und empfahl das Heldenschiff ihrem Schirm. Sogleich mit Iasons und Medeas Ankunft an Bord fingen nun sanfte Zephire zu wehen an; froheren Mutes lichteten die Helden die Anker und spannten die hohlen Segel aus. Mit leichtem Winde wogte das Schiff weiter, und bald stellte sich ihnen eine schöne blühende Insel dar, die der Sitz der trügerischen Sirenen war, welche die Vorüberschiffenden durch ihre Gesänge anzulocken und zu verderben pflegten. Halb Vögel, halb Jungfrauen, saßen sie immer auf ihrer Warte, und kein Fremder, der vorüberfuhr, entging ihnen. Auch jetzt sangen sie den Argonauten die schönsten Lieder zu, und schon waren diese im Begriffe, die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als der thrakische Sänger Orpheus sich von seinem Sitze erhob und seine göttliche Leier so mächtig zu schlagen begann, daß sie die Stimmen der Jungfrauen übertönte; zugleich blies ein tönender gottgesandter Zephir in den Rücken des Schiffes, so daß der Sirenengesang ganz in den Lüften verhallte. Nur einer der Genossen, Butes, der Sohn des Teleon, hatte der hellen Stimme der Sirenen nicht zu widerstehen vermocht, sprang von der Ruderbank ins Meer und schwamm dem verführerischen Hall entgegen. Er wäre verloren gewesen, wenn ihn nicht die Beherrscherin des Berges Eryx in Sizilien, Aphrodite, erblickt hätte. Sie riß ihn mitten aus den Wirbeln heraus und warf ihn auf ein Vorgebirge dieser Insel, wo er hinfort wohnen blieb. Die Argonauten betrauerten ihn für tot und schifften neuen Gefahren entgegen; denn sie kamen in eine Meerenge, wo auf der einen Seite der steile Fels der Skylla in die Fluten hinausragte und das Schiff zu zerbrechen, auf der andern Seite der Strudel der Charybdis die Wasser in die Tiefe riß und das Schiff zu verschlingen drohte. Dazwischen irrten unter der Flut vom Grunde losgerissene Felsen, wo sonst die glühende Werkstätte des Hephaistos ist; jetzt aber rauchte sie nur und erfüllte den Äther mit Finsternis. Hier begegneten ihnen von allen Seiten die Meernymphen, des Nereus Töchter; im Rücken des Schiffes faßte die Fürstin derselben, Thetis selbst, das Steuerruder. Alle miteinander umgaukelten das Schiff, und wenn es sich den schwimmenden Felsen nähern wollte, so stieß es eine Nymphe der andern zu, wie Jungfrauen, die Ball spielen. Bald stieg es mit den Wellen hoch empor zu den Wolken, bald flog es wieder in den Abgrund hinab. Auf dem Gipfel einer Klippe sah, den Hammer auf die Schulter gelehnt, Hephaistos dem Schauspiele zu und vom gestirnten Himmel herab des Zeus Gemahlin, Hera; diese aber ergriff Athenes Hand; denn sie konnte es ohne Schwindel nicht mit ansehen. Endlich waren sie den Gefahren glücklich entgangen und fuhren weiter auf der offenen See, bis sie zu einer Insel kamen, wo die guten Phäaken und ihr frommer König Alkinoos wohnten.

Zethos und Amphion



Zethos und Amphion

Als der thebanische König Polydoros, ein Sohn des Kadmos, auf dem Totenbette lag, empfahl er seinen unmündigen Sohn Labdakos der Obhut seines Schwähers Nykteus. Dieser regierte mehrere Jahre lang in des Labdakos Namen, bis derselbe großjährig geworden war. Aber nur ein Jahr lang erfreute sich Labdakos der neuen Würde; da starb er, und Nykteus übernahm nun die Vormundschaft über Laïos, den kleinen Sohn des Labdakos. Nykteus hatte eine schöne Tochter, namens Antiope, welche von Zeus geliebt ward. Aber der König von Sikyon, Epopeus, der auch von ihrer Schönheit gehört hatte, kam heimlich nach Theben und entführte die Jungfrau. In Sikyon machte er sie zu seinem Weibe. Darüber ergrimmte Nykteus und fiel mit einem Heere im Lande des Epopeus ein. Es kam zur Schlacht, in welcher sowohl Nykteus als der Entführer verwundet wurden. Der Sieg aber blieb auf seiten des letzteren, und die Thebaner mußten mit ihrem sterbenden Herrscher nach Hause zurückziehen. Vor seinem Tode bestellte er seinen Bruder Lykos zum Nachfolger auf dem Throne, bis der kleine Laïos erwachsen sein werde; auch beschwor er ihn dringend, an Epopeus Rache zu nehmen und Antiope selbst wieder nach Theben zurückzubringen. Lykos gelobte dem sterbenden Bruder feierlich, nach seinem Willen zu tun, und rüstete sich zum Kriege gegen Epopeus. Aber dieser war inzwischen ebenfalls an seiner Wunde gestorben, und sein Thronerbe Laomedon gab die Antiope freiwillig heraus. Als nun Lykos mit ihr zurückkehrte, schenkte sie unterwegs in der Gegend von Eleutherä zwei Söhnen das Leben. Diese wurden alsbald im Gebirge ausgesetzt, aber ein gutherziger Rinderhirt nahm sich ihrer an und erzog sie allmählich zu herrlichen Jünglingen. Niemand ahnte, daß Amphion und Zethos Söhne des Götterkönigs selbst seien. Obwohl beide durch innige Liebe miteinander verbunden waren, so entwickelten sich doch ihre Gemüter ganz verschieden: Zethos wurde ein rüstiger Hirt, kühnen Sinnes und mit riesiger Körperkraft begabt; Amphion dagegen übte sich im Gesang und Saitenspiel, denn er hatte von Hermes selbst eine Leier zum Geschenk erhalten; und er brachte es in seiner Kunst zu so hoher Meisterschaft, daß sogar der hehre Gott Apollon ihn seines Umgangs würdigte.

Während so die Brüder unerkannt in der Einsamkeit dahinlebten, hatte ihre Mutter Antiope schweres Leid zu erdulden. König Lykos nämlich war zwar ein milder und gütiger Mann, aber er hatte ein böses Weib mit Namen Dirke. Diese war von Eifersucht betört und glaubte, ihr Gemahl liebte die Tochter seines Bruders. In ihrer blinden Wut übte sie an der Unglücklichen die grausamste Rache. Oft sengte sie ihr mit glühendem Eisen das goldene Lockenhaar weg, schlug ihr mit der Faust ins zarte Antlitz und quälte sie auf die boshafteste Weise. Die arme Antiope mußte spinnen und arbeiten wie eine gemeine Sklavin und erhielt dafür oft kaum Wasser und Brot zur Nahrung. Tagelang schmachtete sie im Dunkel verpesteter Kerker, ihr Lager war der harte Stein. Endlich aber war das Maß ihrer Leiden voll; Zeus ließ in einer Nacht die Ketten von ihren Händen abfallen und sprengte die Tür des Gefängnisses. So enteilte die Unglückliche zu den Gipfeln des Kithairon, allein, unkundig des Weges, in finstrer Nacht, vom kalten Sturmwind gejagt, bis sie an ein einsames Hirtengehöft mitten im Walde kam. Dort flehte sie um ein Obdach. Zwei Jünglinge traten heraus, ihre eignen Söhne, die beide ihre Mutter nicht kannten. Amphion war sogleich willig, die Arme aufzunehmen, sein zartes Herz fühlte sich unbewußt zu ihr hingezogen; der trotzige Zethos wollte ihr zwar den Eintritt wehren, doch siegte zuletzt die Natur, und sie gewährten der Flehenden das Obdach. Allein jetzt kam auch schon Dirke dahergeeilt. Sie hatte die Flucht der Gefangenen bemerkt und ihre Spur verfolgt. Durch erlogene Beschuldigungen wußte sie die beiden Jünglinge zu überreden, daß Antiope eine gemeine Verbrecherin sei. Den Bitten und Drohungen der Königin wagten die Brüder nicht zu widerstehen, und schon brachten sie einen wilden Stier hergeführt, an den sie ihre eigene Mutter binden wollten, damit sie auf Dirkes Befehl zu Tode geschleift werde da stürzte der alte Hirt herbei, der einst die Zwillinge vom Tode errettet hatte, und offenbarte das Geheimnis: Antiope ist die Mutter des Zethos und Amphion! Nun kehrte sich die gerechte Wut der Brüder gegen die nichtswürdige Dirke. Sie ward an den wilden Stier gebunden, und dieser schleifte sie durch das Gebirge, bis sie unter den gräßlichsten Qualen ihren Geist aufgab. Ihren Leichnam aber verwandelte der Gott Dionysos in eine Quelle in der Nähe von Theben, die den Namen der bösen Königin Dirke noch in späten Zeiten geführt hat.

Nun zogen Amphion und Zethos mit ihrer wiedergefundenen Mutter nach Theben, wo sie den schwachen Lykos vertrieben und selbst sich der Herrschaft bemächtigten. Da aber die Stadt, die unterhalb der alten von Kadmos erbauten Burg lag, noch keine Mauern hatte, so beschlossen die Brüder, sie mit einer solchen zu umgeben. Zethos brach gewaltige Felsblöcke aus den Bergen und schleppte sie zum Bau herbei; Amphion aber ließ sein Saitenspiel ertönen; siehe, da bewegten sich doppelt so große Blöcke ganz von selbst, folgten dem Klange der Musik und fügten sich selbst zusammen. So entstanden die berühmten Mauern von Theben; und weil Amphion die siebensaitige Leier erfunden hatte, bekam die Stadt ihm zu Ehren sieben Tore.

Zweite Niederlage der Griechen



Zweite Niederlage der Griechen

Es war Morgen. Agamemnon befahl dem Volke, sich zu gürten, und legte selbst die Rüstung an, den herrlichen Harnisch, an dem zehn bläuliche Stahlstreifen mit zwölf aus funkelndem Gold und zwanzig aus Zinn wechselten; die Halsbrünne bildeten drei Drachen, glänzend wie Regenbogen; der Panzer war ein Geschenk des Kinyras, Fürsten von Cypern; dann warf er sich das Schwert, mit goldenen Buckeln am Griff, in silberner Scheide, am strahlenden Goldgehenke befestigt, um die Schulter; darauf hob er den kunstreich gewölbten Schild, um den zehn Erzkreise herliefen und zwanzig weiße zinnerne Buckeln blinkten; auf dem mittleren dunkelblauen Felde war das gräßliche Gorgonenhaupt abgebildet, das Schildgehenk hatte die Gestalt eines bläulichen Drachens mit drei gekrümmten Häuptern. Dann setzte er sich den viergipflichten, von Roßhaaren umwallten Helm, mit fürchterlich nickendem Helmbusch, aufs Haupt, ergriff zwei mächtige Lanzen mit strahlenden Erzspitzen und schritt in die Schlacht. Hera und Athene begrüßten vom Himmel herab den herrlich gerüsteten König der Völker mit einem freudigen Donner. Zuerst drangen die Fußgänger mit den ehernen Waffenrüstungen über den Graben, ihnen folgten die Reisigen auf den Streitwagen, und mit lautem Getümmel eilte das ganze Heer vorwärts.

Auf der andern Seite hielten die Trojaner einen Hügel des Feldes mit ihren Scharen besetzt; ihre Führer waren Hektor, Polydamas und Äneas; nächst ihnen Polybos, Agenor und Akamas, die drei tapfern Söhne Antenors. Wie ein Stern durch Nachtgewölk wandelte Hektor bald durch den vordersten, bald durch den äußersten Zug und ordnete die Schlachtreihen; in seiner Erzrüstung leuchtete er wie ein Blitzstrahl des Donnerers. Bald stürmten nun Trojaner und Danaer mordend gegeneinander, wie Schnitter mähend in die Schwaden fahren; alles drängte sich Haupt an Haupt zur Schlacht, in beiden Heeren tobten die Streiter wie Wölfe. Endlich durchbrachen die Griechen mit ihrer Kraft die Schlachtreihen der Feinde, und Agamemnon stieß, voranstürmend, den Fürsten Bianor und seinen Wagenlenker nieder. Dann warf er sich auf zwei Söhne des Königes Priamos, den Antiphos und seinen Wagenlenker, den Bastard Isos; jenem durchschoß er die Brust mit der Lanze, diesen stürzte er mit einem Schwerthiebe vom Wagen, und den Getöteten entzog er eilig die Rüstung. Jetzt begegnete er zwei Söhnen des Antimachos, des Trojanerfürsten, der einst, von Paris‘ Golde betört, die Helena auszuliefern verboten hatte. Vergebens flehten ihn die Knaben, in den Wagen hineingeschmiegt, um Schonung an. Ihres Vaters gedenkend, durchbohrte er den einen und hieb dem andern die Hände vom Leib und das Haupt von der Schulter. Immer tiefer drang die Verfolgung der Griechen ein, auf Fußvolk und auf Wagen, wie ein Feuerbrand unter Sturm durch unausgehauene Waldung sich verbreitet.

Aus den Blutströmen und dem Getümmel entzog den Fürsten Hektor Zeus selbst den Geschossen, daß er zum Denkmale des alten Königes Ilos, an den Feigenhügel vorüber, mitten durch das Gefilde, sehnsüchtig nach der Stadt hin floh; aber Agamemnon, seine Hände mit Trojanerblute besudelt, folgte ihm laut schreiend. Endlich an der Buche des Zeus, nicht fern vom Skäischen Tore, stand Hektor und zugleich die ganze Flucht der Seinigen, ihm nachgedrungen, stille. Da sandte Zeus die Götterbotin Iris und befahl ihm, solange Agamemnon im Vordergewühl tobte, selbst zurückzustehen und dem andern Volke die Feldschlacht zu überlassen, bis der Atride verwundet würde. Dann wollte der Göttervater ihn selbst wieder zum Siege führen. Hektor gehorchte. Von der Hinterhut aus mahnte er die Seinigen zu frischem Kampfe. Aufs neue begann das Gefecht; Agamemnon stürmte voraus und fing wieder an, in den Scharen der Trojaner und ihrer Bundesgenossen zu wüten. Ihm begegnete zuerst Antenors Sohn, Iphidamas, ein großer, gewaltiger Held, der in Thrakien bei seinem Ahn aufgewachsen war und neuvermählt zum Kampfe in die alte Heimat gezogen kam. Agamemnons Lanze fehlte; der Speer des Iphidamas verbog sich die Spitze am Leibgurt seines Feindes. Schleunig ergriff jetzt Agamemnon die Lanze des Gegners, riß sie ihm aus der Hand und durchhieb ihm den Nacken mit dem Schwert. So sank der Arme, von der Gattin getrennt, im Kampfe für die Seinigen, bemitleidenswert in den ehernen Todesschlummer. Agamemnon entwaffnete ihn und prahlte mit der herrlichen Rüstung durch die Reihen der Achiver. Als ihn so der ältere Sohn des Antenor, Koon, einer der gepriesensten trojanischen Kämpfer, einherschreiten sah, faßte ihn unaussprechlicher Gram um den gefallenen Bruder; doch raubte ihm der Schmerz die Besinnung nicht, sondern, unbemerkt vom Atriden, stach er diesem seitwärts mit seinem Speere mitten in den Arm, dicht unter dem Gelenk. Agamemnon fühlte sich von einem plötzlichen Schauer durchdrungen; dennoch gönnte er sich keine Rast vom Kampfe, und während Koon seinen Bruder am Fuß aus dein Gewühl zu ziehen bestrebt war, durchstach ihn der Schaft des Atriden unter dem Schilde, so daß er entseelt auf den Leichnam des Bruders hinsank.

Solange das Blut noch warm aus der offenen Wunde hervordrang, fuhr Agamemnon fort, mit Lanze, Schwert und Steinen in den Reihen der Trojaner zu morden; als aber das Blut in der Wunde zu erharschen anfing, da mahnte ihn ein scharfer zuckender Schmerz, das Gewühl der Schlacht zu verlassen. Schnell sprang er in den Sitz des Streitwagens, dem Rosselenker gebietend, nach den Schiffen umzukehren; und bald trug der Wagen, mit Staub umwölkt, den von der Wunde hart gequälten König dem Schiffslager zu.

Als Hektor sah, wie der Atride sich entfernte, gedachte er an den Befehl des Zeus, eilte in die Vorderschar der Trojaner und Lykier und rief laut aus: »Jetzt, ihr Freunde, seid Männer und sinnet auf Abwehr! Der tapferste Mann Griechenlands ist ferne, und Zeus verleiht mir Siegesruhm. Auf, mitten unter die Helden der Danaer hinein mit den Rossen, damit wir um so höheren Ruhm gewinnen!« So rief Hektor und stürzte sich wie ein Sturmwind zuerst in die Schlacht. Und in kurzer Zeit waren neun Fürsten der Griechen, dazu viel gemeines Volk unter seinen Händen erlegen. Schon war er nahe daran, das fliehende Heer der Griechen in die Schiffe zu drängen, da ermahnte Odysseus den Tydiden: »Ist es möglich, daß wir der Abwehr so ganz vergessen? Tritt doch näher, Freund, und stelle dich neben mich; laß uns die Schande nicht erleben, daß Hektor unser Schiffslager erobere!« Diomedes nickte ihm zu und durchschmetterte die Brust des Trojaners Thymbraios auf der linken Seite mit dem Wurfspieß, daß er vom Wagen auf die Erde herabfiel; sein Wagenlenker, Molion, sank unter Odysseus zu Boden. Weiter noch durchtobten sie, vorwärtsgewendet, den Feind, und die Griechen fingen an, wieder aufzuatmen. Zeus, der noch immer vom Ida herabschaute, ließ den Kampf im Gleichgewichte schweben. Endlich erkannte Hektor durch die Schlachtreihen hindurch die zwei rasenden Helden und stürmte mit seinen Heerscharen auf sie daher. Noch zur rechten Zeit sah sich Diomedes vor und schleuderte ihm die Lanze an die Helmkuppel. Zwar prallte sie ab, doch flog Hektor zurück in die Scharen aufs Knie; seine Rechte stemmte sich gegen die Erde, und vor seinen Blicken ward es Nacht. Bis jedoch der Tydide dem Schwung seines Speeres selbst nachgeeilt kam, hatte sich der Trojaner in den Wagensitz geschwungen und rettete sich vor dem Tod ins Gedränge der Seinigen. Unmutig wandte sich Diomedes einem andern Trojaner zu, den er niederstreckte und der Rüstung zu berauben sich anschickte.

Diesen Augenblick ersah Paris, schmiegte sich hinter die Denksäule des Ilos und schoß den knienden Helden in die Ferse, daß der Pfeil, durch die Sohle gedrungen, im Fleische festsaß. Dann sprang er lachend aus dem Hinterhalte und spottete jauchzend des Getroffenen. Diomedes schaute sich um, und als er den Schützen erblickte, rief er ihm zu: »Bist du es, Weiberheld? Du vermochtest mit offener Gewalt nichts gegen mich und prahlest jetzt, daß du mir den Fuß von hinten geritzt hast? Das macht mir so wenig, als hätte mich ein Mädchen oder ein Knabe getroffen!« Inzwischen war Odysseus herbeigeeilt und stellte sich vor den Verwundeten, der sich mit Schmerzen, doch in Sicherheit den Pfeil aus dem Fuße zog. Dann schwang er sich in den Wagensitz zu seinem Freunde Sthenelos und ließ sich heimgeleiten zu seinen Schiffen.

Nun blieb Odysseus allein zurück im tiefsten Gedränge der Feinde, und kein Argiver wagte sich in die Nähe. Der Held besprach sich mit seinem Herzen, ob er weichen sollte oder ausharren. Doch sah er wohl ein, daß es demjenigen, der in der Feldschlacht edel erscheinen will, durchaus not tut, standzuhalten, mag er nun treffen oder getroffen werden. Während er dies erwog, umschlossen ihn die Trojaner mit ihren Schlachtreihen, wie Jäger und Jagdhunde einen stürzenden Eber umringen, der den Zahn im zurückgebogenen Rüssel wetzt. Er aber empfing entschlossen die auf ihn Einstürmenden, und es dauerte wenig Augenblicke, so waren fünf Trojaner vor seinen Waffen in den Staub gesunken. Da kam ein sechster heran, Sokos, dem er eben den Bruder erstochen, und rief. »Odysseus, heute trägst du entweder den Ruhm davon, daß du beide Söhne des Hippasos, herrliche Männer, zu Boden gestreckt und ihre Waffen erbeutet hast, oder aber du verhauchst unter meiner Lanze das Leben!« Und nun durchschmetterte er ihm den Schild und riß ihm die Haut von den Rippen; tiefer ließ Athene den Stoß nicht eindringen. Odysseus, der sich nicht zum Tode getroffen fehlte, wich nur ein weniges zurück, stürzte dann auf den Gegner los, der sich zur Flucht wendete, und durchbohrte ihm den Rücken zwischen den Schultern, daß der Speer aus dem Busen vordrang und er in dumpfem Falle hinkrachte. Dann erst zog sich Odysseus die Lanze des Feindes aus der Wunde. Als nun die Trojaner sein Blut springen sahen, drängten sich erst recht alle auf ihn zu, daß er zurückwich und dreimal einen lauten Hilferuf ausstieß.

Menelaos vernahm das Geschrei zuerst und rief seinem Nebenmanne Ajax zu: »Laß uns durchdringen durch das Getümmel; ich habe den Schrei des Odysseus gehört!« Beide hatten in kurzem den duldenden Kämpfer erreicht und trafen ihn, gegen unzählige Feinde seine Lanze schwingend. Als aber der Schild des Ajax wie eine getürmte Mauer dem Streitenden vorgehalten ward, erzitterten die Trojaner. Da benützte Menelaos den Augenblick, ergriff den Sohn des Laërtes bei der Hand und half ihm auf seinen eigenen Streitwagen. Ajax aber sprang jetzt auf die Trojaner hinein und wälzte Leichen vor sich her wie ein Bergstrom im Herbst dorrende Kiefern und Eichen. Davon hatte Hektor keine Ahnung; er kämpfte auf der linken Seite des Treffens am Gestade des Skamander und richtete dort in den Reihen der Jünglinge, die den Helden Idomeneus umgaben, breite Verwüstung an. Dennoch wären die Helden nicht vor ihm gewichen, hätte nicht ein dreikantiger Pfeil des Paris dem großen Arzt des Danaerheeres, Machaon, die rechte Schulter verwundet. Da rief erschrocken Idomeneus: »Nestor! Hurtig dem Freund auf den Wagen geholfen! Ein Mann, der Pfeile ausschneidet und lindernden Balsam auflegt, ist hundert andere Helden wert!« Schnell schwang sich Nestor auf seinen Wagen, der verwundete Machaon mit ihm, und beide flogen den Schiffen zu.

Aber der Wagenlenker Hektors machte jetzt diesen auf die Verwirrung aufmerksam, in welcher sich der andere Flügel der Trojaner befand, wo Ajax das Gewühl der Feinde durchtobte. In einem Augenblicke waren sie mit ihrem Wagen dort, und Hektor fing an, unter den Reihen der Griechen zu rasen. Nur den Ajax vermied er; denn Zeus hatte ihn gewarnt, sich mit dem stärkeren Manne messen zu wollen. Zugleich aber sandte der Göttervater in die Seele des Ajax Furcht, daß dieser beim Anblicke Hektors den Schild auf die Schulter warf und, angstvoll um die Schiffe der Danaer besorgt, die Reihen der Trojaner, sich zur Flucht kehrend, verließ. Als die Feinde dies gewahr wurden, schleuderten sie ihm die Lanzen auf den vom Rücken herabhängenden Schild. Doch Ajax durfte sein Angesicht nur umwenden, so flohen sie wieder. Wo der Weg zu den Schiffen ging, stellte er sich jetzt auf, hielt den Schild vor und wehrte die vordringenden Trojaner ab, daß ihre Speere teils in seinem siebenhäutigen Stierschilde hafteten, teils ohne den Leib zu berühren in die Erde fuhren. Als der tapfere Held Eurypylos ihn so von Geschossen bedrängt sah, eilte er dem Telamonier zu Hilfe und durchbohrte dem Trojaner Apisaon die Brust. Doch während Eurypylos dem getöteten Feinde die Rüstung abzog, sandte ihm Paris einen Pfeil in den Schenkel, daß er sich schnell in das Gedräng der Freunde zurückzog, die ihn mit erhöhten Lanzen und vorgehaltenen Schilden deckten.

Inzwischen trugen seine Stuten den Nestor mit dem wunden Machaon aus der Schlacht, vorbei an dem grollenden Achill, der auf dem Hinterdecke seines Schiffes saß und geruhig zusah, wie seine Landsleute von den Trojanern verfolgt wurden. Da rief er dem Patroklos, ohne zu ahnen, daß er das Unglück seines Freundes selbst vorbereite, und sprach: »Geh doch, Patroklos, und erforsche mir von Nestor, welchen Verwundeten er dort aus der Schlacht zurückführt; denn ich weiß nicht, welch Mitleid für die Griechen sich in meiner Seele regt!« Patroklos gehorchte und lief zu den Schiffen. Er kam am Zelte Nestors an, als dieser eben aus dem Wagen stieg, seinem Diener Eurymedon die Rosse übergab und ins Zelt hineintrat, mit Machaon der erquickenden Mahlzeit zu genießen, die ihnen seine erbeutete Sklavin Hekamede vorsetzte. Als der Greis den Helden Patroklos an der Pforte gewahr ward, sprang er vom Sessel, ergriff ihn bei der Hand und wollte ihn freundlich zum Sitzen nötigen. Doch Patroklos sprach: »Es bedarf dessen nicht, ehrwürdiger Greis! Achill hat mich nur ausgesandt, zu schauen, welchen Verwundeten du zurückführest. Nun habe ich selbst in ihm den heilungskundigen Helden Machaon erkannt und eile, ihm dieses zu melden. Du kennst ja den heftigen Sinn meines Freundes, der auch Unschuldige selber leicht beschuldigt.« Aber Nestor antwortete ihm mit tiefer Gemütsbewegung: »Was kümmert sich doch das Herz des Achill so sehr um die Achiver, die bereits zum Tode wund sind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher: Diomedes ist pfeilwund; Odysseus und Agamemnon sind lanzenwund; und diesen unschätzbaren Mann entführte ich soeben, vom Geschoß des Bogens verwundet, aus der Feldschlacht. Aber Achill kennt kein Erbarmen! Will er vielleicht warten, bis unsre Schiffe am Gestad in Flammen lodern und wir Griechen einer um den andern der Reihe nach hinbluten? O wär ich noch kräftig wie in meiner Jugend und in meinen besten Mannsjahren, damals, wo ich als Sieger im Hause des Peleus einkehrte! Da sah ich auch deinen Vater Menötios und dich und den kleinen Achill. Diesen ermahnte der graue Held Peleus, stets der Erste zu sein und allen andern vorzustreben, dich aber dein Vater, des Peliden Lenker und Freund zu sein, weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter dir sei. Erzähle davon dem Achill; vielleicht rührt ihn auch jetzt deine Zurede.« So sprach der Alte und mischte liebliche Erinnerungen aus seiner eigenen Heldenjugend in die Rede, so daß dem Patroklos das Herz im Busen bewegt wurde.

Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odysseus vorübereilte, fand er hier den Eurypylos, der, vom Pfeil in den Schenkel verwundet, mühsam aus der Schlacht einhergehinkt kam. Es erbarmte den Sohn des Menötios, wie der wunde Held ihn so kläglich anrief, seiner mit den Künsten Chirons des Zentauren, die er gewiß durch Achill gelernt habe, zu pflegen, so daß Patroklos endlich den Verwundeten unter der Brust faßte, ins Zelt führte, dort ihn auf eine Stierhaut legte und ihm mit dem Messer den scharfen Pfeil aus dem Schenkel schnitt; dann spülte er das schwarze Blut sogleich mit lauem Wasser ab, zerrieb eine bittere Heilwurzel zwischen den Fingern und streute sie auf die Wunde, bis das Blut ins Stocken geriet. So pflegte der gute Patroklos des wunden Helden.

Volksversammlung der Latiner



Volksversammlung der Latiner

Trojaner und Latiner hatten ihre Toten unter Tränen und Opfern bestattet; die lauteste Wehklage und längste Betrübnis aber war bei den letztern. Trauernde Mütter, Witwen, Schwestern, Knaben, ihrer Väter beraubt, irrten durch die Stadt umher, verfluchten den Krieg und das Eheverlöbnis des Turnus. Diese Stimmung verstärkte noch der Abgesandte Drances, indem er versicherte, daß nur Turnus von Äneas verlangt, nur er zur Entscheidung des Krieges durch einen Zweikampf herausgefordert werde. Auf der andern Seite wurde auch Turnus von der entgegengesetzten Meinung eifrig verteidigt, ihn deckte der mächtige Name der Königin Amata; sein eigener Ruhm und die errungenen Siege verherrlichten ihn in den Augen des Volkes.

Die Niedergeschlagenheit der Latiner vermehrte indessen eine Botschaft, durch welche eine langgehegte Hoffnung vereitelt wurde. Im untern Teile Italiens, in Daunien, saß, auf der Rückkehr von Troja durch die Nachstellungen seiner treulosen Gattin von seiner Heimat Ätolien zurückgehalten, der große Griechenheld Diomedes, der Sohn des Tydeus, und hatte dort die Stadt Argyripa gegründet. Gleich beim Ausbruch des Krieges hatte Turnus zu diesem alten Feinde der Trojaner einen Rutulerhelden, namens Venulus, abgeschickt, welcher demselben meldete, daß Trojaner, von Äneas, dem Schwiegersohne des Königs Priamus, angeführt, im Latinerlande sich festgesetzt hätten und ein zweites Troja gründen wollten. Gegen diese verhaßten Ankömmlinge hatte Turnus die Hilfe des Königs Diomedes verlangt. Mitten in jener Aufregung nun kam Venulus, der Botschafter des Turnus, aus der griechischen Pflanzstadt des Diomedes zurück und brachte keine günstige Antwort mit. Damit war die letzte Hoffnung des alten Königs Latinus verschwunden. Niedergebeugt von Kummer, berief er die Häupter des Volkes zu einer großen Versammlung in seinem Königspalast, setzte sich mit düsterer Stirne auf seinen Herrscherthron und hieß den zurückgekommenen Boten mit seinen Begleitern Bericht erstatten.

»Bürger«, begann hier Venulus, »wir sahen den Helden Diomedes und die Pflanzstadt der Argiver, unter den Eichenwäldern des Berges Garganus auf der schönen Anhöhe gelegen. Als wir ihm Namen und Heimat gesagt, unsere Geschenke vor ihm ausgebreitet und ihm gemeldet hatten, wer uns mit Krieg heimsuche, erwiderte uns der große Fürst mit freundlichem Angesichte: ›O ihr glücklichen Völker Ausoniens, ihr unter der Obhut des guten Saturnus lebenden, welch ein Schicksal stört auch euch aus der Ruhe auf? Wir Sieger Trojas sind die elendesten unter allen Sterblichen! Selbst Priamus müßte uns bemitleiden, wenn er schaute, wie schwer wir unsern Übermut büßen müssen. Der Lokrer Ajax hat im Meere sein Grab gefunden; Agamemnon liegt im eigenen Haus erschlagen; Menelaus irrt in Ägypten umher; Odysseus zitterte vor den Zyklopen. Auch mir haben die Götter die Wiederkehr in meine Heimat mißgönnt; erlasset mir die Erzählung! Ich bin kein Mann des Glückes mehr, seit ich es gewagt habe, die unsterbliche Venus im Kampfe zu verwunden! Darum reizet mich nicht zu neuen Gefechten! Seit Troja gefallen ist, bin ich kein Feind der Trojaner mehr, denke auch nicht mit Freuden an das Übel zurück, das ich ihnen zugefügt. Die Geschenke, die ihr mir von Hause bringet, überreichet sie dem Äneas! Ich habe mich im Kampfe mit ihm gemessen, glaubet mir’s: er ist ein gewaltiger Mann, wenn er sich mit seinem Schild emporbäumt und im Wirbel die Lanze dreht! Wären nach Hektors Tode noch zwei Männer wie er in Troja gewesen, so hätte die Welt nichts von unserm Siege zu erzählen. Darum bietet die Hände zum Frieden, solange es noch Zeit ist; seinen Waffen seid ihr nicht gewachsen.‹«

Als Venulus seinen Bericht geendigt hatte, entstand ein murrendes Tosen in der Volksversammlung, wie ein Gießbach durch Felsen rauscht. Als die bewegten Lippen endlich stille wurden, sprach der König Latinus von seinem hohen Throne herab: »Wir führen einen unglückseligen Krieg, ihr Bürger, mit unbezwinglichen Männern, mit einem Göttergeschlecht. Beherziget deswegen, was ich euch verkünden will. Nicht ferne von der Tiber, gegen Abend, besitze ich ein altes Gebiet, von Rutulern und Aurunkern bebaut und beweidet und von Fichtenbergen begrenzt. Dieses will ich den Trojanern abtreten und sie zu Reichsgenossen aufnehmen; dort mögen sie sich ansiedeln und die verheißene Stadt begründen. Ziehen sie es aber vor, ein anderes Land aufzusuchen, so wollen wir ihnen Erz, Schiffsbauzeug und Hände darreichen, um sich fünfzig Ruderschiffe zu bereiten und auszurüsten. Außerdem sollen hundert Gesandte aus den edelsten Geschlechtern von Latium sich aufmachen, mit Friedenszweigen in der Hand, und ihnen Gold, Elfenbein und Mantel und Thron als Reichskleinodien darbringen.«

Da stand der alte Drances in der Versammlung auf, ein reicher, beredter Mann, obwohl kein Held im Kampfe mehr, der seit langer Zeit den Ruhm des Turnus mit Scheelsucht betrachtete, und rief. »Vortrefflicher König, es fehlt nur eines noch! Du solltest zu den herrlichen Geschenken, die du den Trojanern zu senden befiehlst, auch noch die Hand deiner Tochter Lavinia hinzufügen und so den Frieden mit einem ewigen Bund versiegeln!« Jetzt entbrannte das Herz dem Turnus, der, eben erst von seiner Vaterstadt zurückgekehrt, sich unter die Volksversammlung gemischt hatte. Aus der tiefen Brust emporatmend, rief er: »O Drances, sooft der Krieg Fäuste verlangt, bist du mit der Zunge da! Jetzt aber gilt es nicht, den Ratsaal mit Worten anzufüllen: die Feinde umringen unsere Stadt, gefochten will es sein! Was wird uns der Ätolier Diomedes und seine Pflanzstadt helfen, wenn unser eigener Arm, wenn Latium, wenn ganz Volskerland, das sich für uns erhoben hat, es nicht vermag? Wenn es sich aber nur um meine Seele handelt, die ist euch längst geweiht; wenn es wahr ist, daß Äneas mich allein herausfordert: ich bin Turnus; er soll mich finden!«

Während die Latiner so sich über die Lage ihres Reichs zankten, kam Äneas mit seinem ganzen Gefolge heran, und plötzlich stürmte die Botschaft durch den Palast, daß die Trojaner und Etrusker vom Tiberstrome hergezogen kommen.

Vorgänge in der Stadt und im Palast



Vorgänge in der Stadt und im Palast

Das Schiff, das den Telemach und seine Genossen von Pylos nach Ithaka gebracht hatte, war inzwischen im Hafen der Stadt angekommen, und die Begleiter des Königssohnes hatten einen Herold zu seiner Mutter Penelope gesendet, um ihr die Botschaft von der Heimkehr des Sohnes zu überbringen. Mit derselben Nachricht kam gleichzeitig der Sauhirt vom Lande her, und beide trafen sich im Hause des Königes. Da sprach der Herold zu Penelope laut vor allen Dienerinnen: »Dein Sohn, o Königin, ist wiedergekommen.« Eumaios aber sagte ihr im geheim und ohne Zeugen, was ihm sein junger Herr aufgetragen hatte, insbesondere, daß sie durch eine Schaffnerin seinem Großvater Laërtes die fröhliche Botschaft auch zukommen lassen möchte. Als der Sauhirt alles ausgerichtet, eilte er wieder heim zu seinen Schweinen. Die Freier aber erfuhren die kurze Nachricht von der Heimkehr Telemachs, die der Herold gebracht hatte, durch die treulosen Dienerinnen. Unmutig setzten sie sich zusammen auf die Bänke vor dem Tor, und Eurymachos sprach hier in der Versammlung: »Das hätten wir doch nimmermehr gedacht, daß der Knabe diese Fahrt so trotzig vollenden würde! Laßt uns nur geschwind ein Schiff ausrüsten, einen Schnellsegler, unsern Freunden im Seehinterhalte die Botschaft zu bringen, daß sie vergebens auf ihn warten und nur wieder umkehren dürfen.«

Während Eurymachos sprach, hatte ein anderer Freier, Amphinomos, das Gesicht umgewandt und einen Blick auf den Hafen der Stadt geworfen, den man von dem Vorhofe des Palastes aus mit den Augen erreichen konnte. Er sah das Schiff, in welchem sich diejenigen der Freier befanden, die auf den Hinterhalt ausgefahren waren, wie es eben mit vollen Segeln in den Hafen einlief. »Es bedarf keiner Botschaft an unsere Freunde«, rief er, »hier sind sie ja schon; sei es, daß ein Gott sie von Telemachs Heimkehr benachrichtiget hat, sei es, daß er ihnen entkommen ist und sie ihn nicht einzuholen vermochten.« Die Freier erhoben sich und eilten nach dem Meeresstrande. Dann begaben sie sich mit den Neuangekommenen auf den Markt, wo sie niemand sonst aus dem Volke zuließen, sondern ihre abgesonderte Versammlung veranstalteten. Hier trat der Anführer der Ausrüstung, der Freier Antinoos, unter den Anwesenden auf und sprach: »Wir sind nicht schuld, daß der Mann uns entronnen ist, ihr Freunde! Späher um Späher hatten wir den Tag über auf den Höhen des Gestades aufgestellt, und wenn die Sonne untergegangen war, blieben wir nie die Nacht über auf dem Lande, sondern wir kreuzten beständig auf der Meerenge und waren nur darauf bedacht, den Telemachos zu erhaschen und in aller Stille umzubringen. Ihn aber muß einer der Unsterblichen heimgeleitet haben; denn nicht einmal sein Schiff ist uns zu Gesichte gekommen! Dafür wollen wir ihm hier in der Stadt selbst den Untergang bereiten. Denn der Jüngling wird klug und wächst uns allmählich über den Kopf. Auch das Volk wird uns am Ende aufsässig; bringt er es unter die Leute, daß wir ihm auflauerten, ihn zu morden, so fallen sie am Ende über uns her und jagen uns aus dem Lande. Ehe dies geschieht, laßt uns ihn aus dem Wege räumen; in seine Besitzungen teilen wir uns; den Palast lassen wir der Mutter und ihrem künftigen Gemahl. Gefällt euch aber mein Gedanke nicht, wollt ihr ihn leben und im Besitze seiner Güter lassen, nun, dann wollen wir ihm auch die Habe nicht länger verzehren, dann laßt einen jeden von seiner eigenen Heimat aus um die Fürstin sich mit Brautgeschenken bewerben, und sie wähle den, der ihr am meisten gibt und vom Schicksale begünstigt wird.« Als er seine Rede geendigt hatte, entstand ein langes Schweigen unter den Freiern. Endlich erhob sich Amphinomos, der Sohn des Nisos, aus Dulichion, der Edelste und Bestgesinnte unter den Freiern, der sich durch seine klugen Reden auch der Königin Penelope am meisten zu empfehlen wußte, und sagte seine Meinung in der Versammlung. »Freunde«, sprach er, »ich möchte nicht, daß wir den Telemach heimlich ums Leben brächten! Es ist doch etwas Gräßliches, ein ganzes Königsgeschlecht im letzten Sprößling zu morden. Laßt uns lieber vorher die Götter befragen: erfolgt ein günstiger Ausspruch des Zeus, so bin ich selbst bereit, ihn zu töten; verwehren es uns die Götter, so rate ich euch, von dem Gedanken abzustehen.«

Solche Rede gefiel den Freiern wohl; sie schoben ihren Plan auf und kehrten in den Palast zurück. Auch diesmal hatte sie ihr Herold Medon, der heimliche Anhänger Penelopes, belauscht und der Königin von allem Nachricht gegeben. Diese eilte, jedoch dicht verschleiert, mit ihren Dienerinnen in den Saal zu den Freiern hinab und redete in heftiger Gemütsbewegung den Urheber des tückischen Vorschlages also an: Antinoos, du frecher Unheilstifter, mit Unrecht rühmt dich Ithakas Volk als den Verständigsten unter deinen Genossen; nie bist du das gewesen. Du verachtest die Stimme der Unglücklichen, auf welche doch Zeus selbst horcht, und bist verwegen genug, auf den Tod meines Sohnes Telemach zu sinnen. Erinnerst du dich nicht mehr, wie dein Vater Eupeithes, von seinen Feinden verfolgt, weil er Seeräuberei gegen unsere Verbündeten getrieben, schutzflehend in unser Haus geflohen kam? Seine Verfolger wollten ihn töten und ihm das Herz aus dem Leibe reißen; Odysseus aber war es, der die Tobenden abhielt und besänftigte. Und du, sein Sohn willst zum Danke das Gut des Odysseus verschwenden, wirbst um seine Gattin und willst sein einziges Kind ermorden? Du tätest besser daran, auch die andern von solchem Frevel abzuhalten!«

Statt seiner antwortete Eurymachos: »Edle Penelope, sei nicht bekümmert um das Leben deines Sohnes. Nie, solange ich lebe, wird es ein Mann wagen, Hand an ihn zu legen. Hat doch auch mich Odysseus manchmal als Kind auf den Knien gewiegt und mir einen guten Bissen in den Mund gegeben! Deswegen ist mir auch sein Sohn der Geliebteste unter allen Menschen; den Tod soll er nicht zu fürchten haben, wenigstens nicht von den Freiern: kommt er von Gott, dann kann ihm freilich niemand ausweichen!« So sprach der Falsche mit der freundlichsten Miene, im Herzen aber sann er auf nichts als Verderben.

Penelope kehrte wieder in ihr Frauengemach zurück, warf sich aufs Lager und weinte um ihren Gemahl, bis ihr der Schlummer die Augen zudrückte.

Waffenstillstand



Sechstes Buch

Äneas – Dritter Teil

Waffenstillstand

Die Morgenröte stand über dem Schlachtfelde, das die Trojaner als Sieger innehatten. Äneas richtete auf einem Hügel ein Siegeszeichen auf. Der Stamm einer riesigen Eiche, von dem alle Äste abgehauen waren, wurde mit der funkelnden Waffenrüstung des Feldherrn Mezentius bekleidet: rechts wurde der blutige bebuschte Helm, die zerbrochenen Speere des Fürsten, sein Panzer, der zwölfmal von Geschossen getroffen und durchbohrt war, aufgehängt; links der eherne Schild und an seinem Gurte das Schwert in der Scheide von Elfenbein. Der gesamte Haufe der trojanischen Führer drängte sich um das Denkmal, und Äneas weihte die Beute unter feierlichem Flehen dem Schlachtengott.

Alsdann wandten sie ihre Schritte nach dem Lager, wo der greise Arkadier Acötes, der als Waffenträger und Gefährte seinem geliebten Zögling gefolgt war, den entseelten Leib des Pallas hütete, den eine Schar von Dienern und teilnehmenden Trojanern und Trojanerinnen mit aufgelöstem Haar umstand und der in einer bedeckten Halle der Lagerburg untergebracht war. Als Äneas durch die Pforte trat, erhob sich lautes Stöhnen; alle Anwesenden schlugen an die Brust, und die Burg dröhnte von Jammer. Wie nun Äneas das Haupt des Pallas mit dem blassen Angesichte auf dem Polster erblickte und in der jugendlichen Brust die offene Speerwunde, da rief er, indem ihm die Tränen aus den Augen hervorquollen: »Unglückseliger Knabe, hat dir das trügerische Glück, das dich so schmeichlerisch begleitete, nicht vergönnt, das Reich, das du deinen Freunden gründen halfest, zu schauen, um als Sieger in die Heimat zurückzukehren! Nicht solches habe ich deinem Vater Euander versprochen, als er mich beim Scheiden umarmte und sprach: ›Hüte dich, du gehst in den Kampf mit einem streitbaren und harten Volk!‹ Weh uns, vielleicht bringt jetzt, da wir deinen Leichnam bestatten, dein Vater den Göttern Gelübde für dich dar!« So sprach er weinend und befahl, die Leiche auf ein Geflecht von Eichenzweigen zu legen und ins Lager zu tragen. Dort ward der Jüngling auf einem hohen Grashügel mitsamt der Tragbahre niedergelassen und lag da nun wie ein gepflücktes Veilchen oder eine welkende Hyazinthenblüte, von welcher Schönheit und Farbenschimmer noch nicht ganz gewichen sind. Äneas selbst brachte zwei purpurne, mit Gold durchwobene Feiergewande, von Didos eigener Hand gewirkt, herbei: in das eine hüllte er den Leib des Jünglings, das andere schlang er um sein Lockenhaupt. In diesem Schmucke sollte der Tote seinem Vater nach Pallanteum zurückgeschickt werden. Dem Zuge schlossen sich erbeutete Gefangene, Pferde mit Waffen beladen, Acötes, der alte Diener des Jünglings, der sich das Haar zerraufte und die Brust mit Fäusten schlug, und zuletzt Athon, das Streitroß des Königssohnes, an, das mit gesenktem Kopf einherschritt und Tränen vergoß wie ein Mensch. Dann kamen die Fürsten der Etrusker und Arkadier und ein Trauergefolge von Trojanern, alle mit gesenkten Waffen. Äneas sah dem Zuge der Begleitenden nach, bis er aus seinen Augen verschwand, rief dem Toten ein letztes Lebewohl zu und kehrte wieder in das Lager zurück.

Indessen waren aus der Stadt des Latinus Gesandte mit Ölzweigen in der Hand angekommen und flehten um die Erlaubnis, die Leiber der Ihrigen bestatten zu dürfen. Diesen erwiderte Äneas voll Huld, indem er ihnen ihre Bitte sogleich gewährte: »Welche Verblendung, ihr Latiner, hat euch unsere Freundschaft verschmähen lassen und in diesen großen Krieg verwickelt? Ihr begehret Frieden für eure Toten? Wie gerne gewährte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich gewiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieser Wohnplatz mir nicht durch das Schicksal angewiesen worden wäre. Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht dieses, nur euer König hat unsern Bund verschmäht und sich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will Turnus den Krieg mit der Faust enden, will er die Trojaner durchaus nicht in dem Lande dulden, nun, so werfe er sich in seine Rüstung und kämpfe mit mir, Mann für Mann. Behalte dann recht, wem ein Gott und seine Faust das Leben verleiht. Jetzt aber gehet und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen.«

Als die Gesandten so milde Worte aus dem Munde des Trojanerfürsten hörten, sahen sie, schweigend vor Staunen, einander an. Endlich sprach der greise Drances, von jeher ein Feind des Turnus: »Held von Troja, was soll ich mehr an dir bewundern, deine kriegerische Tugend oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank unserer Vaterstadt deine Willensmeinung zu verkünden und, wenn es möglich ist, den König Latinus mit dir zu versöhnen.« Alle Gesandten bestätigten diese Rede mit ihrem Beifallrufe. Es wurde ein Waffenstillstand auf zwölf Tage geschlossen, und nun schweiften im Schutze desselben Latiner und Trojaner durcheinander ungefährdet auf den waldigen Berghöhen umher; die Esche, die Fichte sank unter dem Streiche der Axt; die Eiche, die Zeder, die Buche wurde mit Keulen gespalten, und seufzende Wagen, schwer mit Holz beladen, fuhren der Stadt der Latiner zu.

Inzwischen war das Gerücht von dem Tode des Pallas zur Stadt des Euander gedrungen, die bisher nur von den Siegen ihres Königssohnes vernommen und geträumt hatte. Unaussprechliche Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Königs und aller Bürger. Leichenfackeln in der Hand, stürzten die Arkadier zu den Toren hinaus, und vom langen Zuge der Flammen leuchtete der Weg. Auf der andern Seite kam ihnen die wehklagende Schar der Phrygier mit dem Leichnam entgegen.

Als die Frauen der Arkadier den Zug auf die Häuser der Stadt zukommen sahen, erfüllten sie die Straßen mit lautem Heulen. Jetzt vermochte auch den König Euander keine Gewalt mehr zurückzuhalten; er ging der Schar entgegen, und als die Tragbahre niedergestellt ward, warf er sich über die Leiche seines Sohnes und ließ seinem Schmerz in lautem Schluchzen und abgebrochenen Worten des Jammers den Lauf.

Unterhandlung. Versuchter Zweikampf. Friedensbruch. Äneas meuchlerisch verwundet



Unterhandlung. Versuchter Zweikampf. Friedensbruch. Äneas meuchlerisch verwundet

Als Turnus sah, daß die Latiner, von den Feinden gedemütigt, ihre Blicke alle auf ihn allein richteten und ihn an sein Versprechen zu erinnern schienen, überflog eine Schamröte sein Gesicht, und sein Herz schlug ihm stolzer in der Brust. Wie ein verwundeter Löwe sich aufs neue ernstlich zur Wehr setzt, die zottige Mähne fröhlich schüttelt und den Speer des Jägers, der ihm im Leibe sitzt, zerbricht, mit den blutigen Zähnen dazu knirschend, so entbrannte der Ungestüm des hohen Jünglings wieder. Er trat vor seinen Schwiegervater Latinus und sprach: »An mir soll der Verzug nicht liegen, wenn nur die feigen Trojaner ihr gegebenes Wort nicht brechen! Laß Opfertiere herbeischaffen, Vater, und schließe den Bund! Entweder schickt mein Arm heute noch den asiatischen Flüchtling zum Orkus hinunter und rächt unsere Schande, oder ich erliege seinem Schwert, und er mag deine Tochter Lavinia als Gattin heimführen!« Ihm antwortete Latinus mit ruhigem Herzen: »Je mehr du an trotziger Tapferkeit alle besiegest, hochherziger Jüngling, desto mehr ist es meine Pflicht, dich zu beraten und alle Glücksfälle des Schicksals sorgfältig zu überlegen. Von Daunus, deinem Vater her ist ein großes Reich dein, und du hast ihm manche Stadt durch Eroberung hinzugefügt. Gold und Gunst wird dir durch Latinus zuteil. Latium hat noch genug andere Bräute, die auch nicht unedlen Stammes sind. Laß mich dir die ganze Wahrheit sagen, so schmerzlich sie dir auch sein mag: Einem von den vorigen Freiern meine Tochter zu geben, verhinderte mich der Warnungsspruch von Göttern und Menschen; dir zulieb aber, getrieben durch die Verwandtschaft, durch die Tränen meiner Gemahlin, überwand ich alle Zweifel, nahm dich zum Eidam an und habe mich in diesen ungesegneten Krieg eingelassen. Unser Schicksal siehest du. Du allein stehest dem Frieden im Wege. Entsage meiner Tochter und verlange nicht von mir, das erst auf den zweifelhaften Ausgang eines Zweikampfes ankommen zu lassen, was du mir sogleich als Gewißheit zu gewähren vermagst! Denk an das ungetreue Kriegsglück! Erbarme dich auch deines bejahrten Vaters, den der Gram um dich in deiner Vaterstadt Ardea verzehrt.«

Aber keine Worte vermochten den Rutuler umzustimmen, ja er wurde durch diese sanfte Rede nur noch wilder entflammt. Nicht einmal die Bitten, die Tränen und Umarmungen der Königin wirkten auf sein Herz. Da kam endlich, von den Wehklagen ihrer Mutter aufgeschreckt, auch seine Braut Lavinia herbeigeeilt. Tränen rannen ihr über die heißen Wangen, und die große Verschämtheit jagte ihr die Glut über das Angesicht. Wie Elfenbein von Purpur überlaufen, wie Lilienschnee von Rosen angeschimmert, so spielten die Farben auf ihrem jungfräulichen Antlitz. Turnus heftete einen Blick auf die Geliebte, und seine Gedanken verwirrten sich einen Augenblick; aber die Hoffnung, den verhaßten Nebenbuhler zu besiegen, entflammte ihn noch mehr zum Streit, und er sprach zu der Königin gewendet: »Mutter, ich bitte dich, verfolge mich nicht mit deinen Tränen, mit deiner bangen Ahnung; Turnus hat keine Wahl mehr!« Dann rief er einen seiner Streitgenossen und sagte zu ihm: »Du, Idmon, eile zum trojanischen Führer und verkündige ihm ein Wort, das ihn nicht freuen wird. Er soll am nächsten Morgen seine Trojaner nicht zum Streite führen, wie ich meine Rutuler nicht: wir lassen die Heere von allem Streite ruhen; aber wir beide, sobald die Sonne am Himmel aufgegangen ist, wollen mit unserem Blute den Krieg entscheiden, nur auf diese Weise soll das Schlachtfeld bestimmen, wem Lavinia als Gattin folgen wird.«

Nun ließ Turnus, ins Innere der Burg zurückgekehrt, seine schneeweißen, windschnellen Rosse vorführen, legte sich die Waffen an, ergriff die unbesiegte Lanze, und sprühenden Auges übte er sich in spielendem Stoß. Auch Äneas, mit der Botschaft des Rutulerfürsten zufrieden, wappnete sich mit seiner göttlichen Rüstung. Kaum bestrahlte der Tag die Gipfel der Berge mit frühem Sonnenlichte, als schon Rutuler und Trojaner vor den Mauern der mächtigen Latinerstadt das Feld für den Zweikampf ihrer Feldherren abmaßen und in der Mitte den gemeinsamen Göttern Rasenaltäre aufbauten. Wasser und Feuer zum Opfer, Kränze für die Priester, Tiere und Altäre wurden herbeigebracht. Dann ergoß sich das gesamte Volk der Italer aus den Toren der Stadt; von der andern Seite eilte das verbündete Heer der Trojaner und Etrusker herbei. Auf ein gegebenes Zeichen zog sich jeder auf seinen Platz zurück, und ein geräumiges Feld blieb zum Kampfe offen. Die Krieger stießen ihre Spieße in die Erde und lehnten die Schilde an. Aus der Stadt strömte jetzt auch noch unbewaffneter Pöbel heraus, selbst schwache Mütter und gebückte Greise. Innerhalb der Stadt besetzten sich Türme und Dächer mit Zuschauern, und auf den höchsten Toren saßen der Schaulustigen genug.

Jetzt nahten die Könige: Latinus kam auf einem vierspännigen Prunkwagen einhergefahren; von seiner Stirne blitzte ein Diadem mit zwölf goldenen Strahlen, zum Zeichen, daß er vom Sonnengotte abstamme. Turnus erschien mit einem Zwiegespann von weißen Rossen, zwei Wurfspieße in der Hand schüttelnd. Auf der andern Seite eilte aus dem trojanischen Lager Äneas hervor, und seine Rüstung samt Schild strahlte wie Sternenschimmer; an seiner Seite ging Askanius, sein kräftig heranblühender Sohn. Dann brachte ein Priester in reinem Gewande ein borstiges Ferkel und ein langwolliges Lamm und stellte die Tiere an die brennenden Altäre. Die Fürsten wandten sich mit ihrem Angesichte der aufgegangenen Sonne zu, streuten gesalzenes Mehl auf die Opfer, schoren ihnen die Scheitel mit dem Stahle und gossen das Dankopfer auf die Altäre. Dann beschworen dort Äneas, hier Latinus mit feierlichen Gebeten den Vertrag: Würde Äneas besiegt, so sollten die Trojaner unter Julus Latium auf der Stelle räumen und nach Pallanteum, der Stadt Euanders, sich zurückziehen; wäre der Sieg sein, so sollten sich Italer und Trojaner, jedes Volk frei und selbständig, vereinigen, Latinus herrschen, Äneas die Tochter des Königs gewinnen und eine Stadt sich und seinem Volke bauen und nach ihrem Namen Lavinia nennen.

Den Rutulern erschien längst der Kampf als ein ungleicher: ihre Herzen gärten ungeduldig, und der Ausgang deuchte ihnen bei des Äneas überwiegender Heldenkraft sehr unsicher. Ihre Sorge vermehrte sich, als sie ihren Führer Turnus mit bleichem Antlitz und eingefallenen Wangen schweigend vortreten und mit gesenktem Haupte vor dem Altare stehen sahen. Seiner Schwester Juturna entgingen diese Eindrücke nicht; sie, eine unsterbliche Nymphe, verwandelte sich schnell in die Gestalt des Helden Kamers, der durch mächtige Ahnen und eigene Taten in großem Ansehen bei dem Rutulervolke stand, und mischte sich mitten unter das Heer. »Rutuler«, flüsterte sie da, »schämt ihr euch nicht, für euch viele streitbaren Männer, die ihr so gut kämpfen könnet, nur eine einzige Seele dem Tode darzubieten? Sind wir unsern Gegnern etwa an Kräften nicht gewachsen? Zählet einmal Trojaner, Arkadier und Etrusker: ihr werdet finden, daß, wenn wir uns Mann gegen Mann schlagen wollten, kaum jeder von uns Rutulern und Latinern seinen Gegner finden würde! Turnus freilich wird zu den Göttern, an deren Altar er sich weiht, ruhmvoll emporsteigen, wenn er fällt; wir aber werden unser Vaterland verlieren, um trotzigen Zwingherren dienstbar zu sein: und es geschieht uns recht; warum saßen wir auch untätig hier im Grase, während wir hätten kämpfen können!«

So sprach Juturna, und sie tat noch mehr. Sie schickte den Italern ein sinnbetörendes günstiges Vorzeichen vom Himmel. Ein Goldadler Jupiters schwebte durch den lichten Äther, scheuchte das Ufergevögel des Stromes auf, schwang sich dann plötzlich zu den Wellen hinab und packte mit den Klauen den schönsten Schwan. Die Rutuler sahen staunend zum Himmel auf, wo alle die Vögel in einem luftverdunkelnden Schwarm, von der Flucht umgewendet, plötzlich ihren Feind, den Adler, der sich mit seiner Beute dem Himmelsgewölbe zuschwang, verfolgten, bis dieser, durch die Übermacht bezwungen und seine Last erschöpft, den Raub aus den Klauen fahren und in den Fluß fallen ließ, dann wieder die Höhe suchte und in den Lüften verschwand. Rutuler und Latiner begrüßten diese Erscheinung mit Freudengeschrei, legten die Hand an den Schwertgriff und lauschten ihrem Seher Tolumnius, der ihnen das Zeichen günstig deutete und sie zu den Waffen greifen hieß. Zugleich warf er selbst zuerst sein Geschoß auf die gegenüberstehenden Feinde, daß es zischend die Luft durchfuhr. Ein Lärm erhob sich, Verwirrung kam in alle Reihen, alle Herzen gerieten in Aufruhr. Ihm gegenüber standen nämlich neun schöne, schlanke Brüder, Söhne des Arkadiers Gylippus und einer einzigen edlen etruskischen Mutter. Einem von diesen stattlichen Jünglingen war der Speer des Tolumnius an der Gürtelschnalle mitten durch den Leib geflogen und hatte ihn in den Sand hingestreckt. Die acht Brüder des Gefallenen, von Schmerz um den Bruder entbrannt, schwangen ihre Lanzen, zückten ihre Schwerter; gegen sie stürzte sich die Macht der Rutuler. Nun brachen alle Arkadier, Trojaner und Etrusker los. Die Altäre wurden vom Gedränge zerwühlt, ein Sturm von Pfeilen durchlief die Luft, ein eiserner Speerhagel ergoß sich, Latinus selbst floh mit den Götterbildern, durch den Bruch des Bündnisses vertrieben; die einen schirrten ihre Wagen an, die andern schwangen sich aufs Roß, und andere stürzten sich mit gezogenen Schwertern ins Handgemenge. Ein fürchterliches Morden erhob sich.

Äneas aber streckte die unbewehrte Rechte gen Himmel, warf sich unverhüllten Hauptes mitten unter die Seinigen und rief»Wo rennet ihr hin, Freunde, welche plötzliche Zwietracht hat sich erhoben? Hemmt doch eure Wut; der Bund ist ja geschlossen, die Bedingungen sind festgesetzt. Wer hindert uns Führer am Kampf?« Aber indem er noch sprach, schwirrte von unbekannter Hand ein Pfeil daher, und verwundet mußte der Held den Kampfplatz verlassen.

Sowie Turnus sah, daß Äneas den Platz räumte und die Führer der Trojaner in Verwirrung gerieten, verlangte er Pferde und Waffen, schwang sich auf den Wagen, lenkte die Zügel in die Schlacht und richtete mit seinen Speeren Verheerung unter den Feinden an oder zermalmte sie unter seinen Rädern. Während er so auf dem Schlachtfelde Leichen auf Leichen häufte, brachten Mnestheus und Achates im Geleite des Askanius den verwundeten Äneas ins Lager zurück, blutend und Schritt für Schritt auf seinen Speer gestützt. Vergebens strengte er sich an, den im Leibe haftenden Pfeil am zerbrochenen Rohre herauszuziehen; er verlangte, daß die Wunde ausgeschnitten werde: Japyx, der Arzt, erschien; auf die Waffe geneigt, stand vor ihm der Held, unbewegt unter seinen weinenden Genossen. Der Alte aber, in der Heilkunst wohlerfahren, brauchte kein gewaltsames Mittel, sondern suchte mit wirksamen Heilkräutern den Pfeil in der Wunde locker zu machen, faßte das Eisen mit packender Zange, rüttelte mit der Hand an dem Rohr; doch alle seine Kunst war nicht vermögend, das Geschoß herauszuziehen. Und während er sich vergebens abmühte, sah man schon die Staubwolke der feindlichen Reiter, dichte Geschosse fielen bereits ins Lager, und das Geschrei der Kämpfenden näherte sich.

Venus von Jupiter mit Rom getröstet. Sie erscheint ihrem Sohne



Venus von Jupiter mit Rom getröstet. Sie erscheint ihrem Sohne

Auf der Zinne des Olymp stand Jupiter der Göttervater und heftete die Blicke, die über Meer und Land und Völker geflogen waren, endlich auf die afrikanische Küste, in das libysche Reich der Königin Dido, wo eben Äneas gelandet hatte. Zu dem Sinnenden trat seine Tochter Venus, in ihren glänzenden Augen schwammen Tränen, und sie sprach traurig: »Was hat dir mein Äneas getan, allmächtiger Beherrscher der Menschen und der Götter, daß ihm, nachdem er schon so viel Unheil erduldet hat, der ganze Erdkreis um Italiens willen verschlossen wird? Hast du nicht selbst mir verheißen, daß dorthin aus dem erneuerten Blute des trojanischen Stammvaters im Laufe der Jahre dereinst das Römervolk kommen und die Herrschaft über Land und Meer erhalten sollte? Nur diese Verheißung söhnte mich mit dem Falle Trojas aus; was hat deinen Sinn so auf einmal verwandelt?«

Der Vater lächelte die Göttin huldvoll an, herzte sie mit einem Kuß und sprach mit dem Blicke, mit welchem er die Wolken vom Himmel verscheucht: »Sei getrost, Töchterchen, das Los deiner Schützlinge bleibt unverrückt. Laviniums Mauern in Italien werden sich erheben, in mächtigem Kriege wird Äneas dort siegen, trotzige Völker bändigen, Gesetz und Ordnung gründen. Drei Jahre wird er in Latium herrschen, sein Sohn Askanius oder Julus wird den Sitz der Herrschaft von Lavinium nach Alba longa verlegen. Drei Jahrhunderte wird dort das Geschlecht des Priamus auf dem Throne sitzen, bis eine Priesterin der Vesta aus dem Königshause dem Kriegsgott Zwillingsknaben gebiert. Von diesen wird Romulus, von einer Wölfin gesäugt, seinem Vater Mars neue Mauern bauen und der Stifter des Römervolks werden. Die Römer aber mache ich zu Herren der Welt, und ihrer Herrschaft sei kein Ziel gesetzt. Juno selbst, welche deinen Sohn jetzo quält, wird sich mit diesen seinen Enkeln versöhnen und sie mit mir begünstigen, und der größte Römer wird ein Nachkomme des Julus sein und Julius heißen. Sein Ruhm wird zu den Sternen sich erheben, er selbst, dein Nachkomme, o Tochter, wird in den Himmel unter die Götter aufgenommen werden. Unter den Menschen aber wird nach beendigten Kriegen der ewige Friede wohnen; eiserne Riegel werden die Pforten der Zwietracht schließen, die, mit hundert Ketten gefesselt, vergebens mit den blutigen Zähnen knirschen wird.«

So sprach Jupiter und sandte sofort seinen Sohn, den Götterboten Merkur, nach Karthago, um dort den Trojanern gastliche Herberge zu bereiten. Dieses Land war ein uralter Sitz phönizischer Pflanzer, und Juno beschirmte das Reich mit besonderer Huld. Ihre Rüstung, ihr Wagen waren dort aufbewahrt, und längst war es Wunsch und Bestreben der Göttin, hier ein Weltreich zu begründen. Jetzt aber beherrschte dieses libysche Reich Dido, die Witwe des Phöniziers Sychäus, welche hier die neue Stadt und Burg Karthago erbaut hatte.

Am andern Morgen machte sich Äneas, nur von seinem Freund Achates begleitet, zwei Wurfspieße in der Hand, auf, um das neue Land zu erforschen, an dessen Gestade ihn der Sturm geworfen hatte. Da begegnete ihm mitten im Walde seine Mutter Venus in Gestalt einer bewaffneten Jägerin, wie Spartas Jungfrauen sich zu tragen pflegen: ein Bogen hing ihr über den Schultern, das Haar flatterte frei in den Lüften, das leichte Gewand war bis ans Knie aufgeschürzt. »Sagt mir doch, ihr Jünglinge«, so redete sie die schreitenden Helden an, »habt ihr keine meiner Gespielinnen gesehen, in Luchspelz gekleidet, mit übergehängtem Köcher?« »Nein«, entgegnete ihr Äneas; »aber wer bist du, Jungfrau? In deinem Antlitz und deiner Stimme ist etwas Übermenschliches, bist du eine Nymphe, bist du eine Göttin? Doch wer du auch seiest: sag uns, in welchem Lande sind wir? Der Sturm hat uns an dieses Gestade verschlagen, und wir irren schon lang in der Welt umher.« Hierauf erwiderte Venus lächelnd: »Wir tyrischen Mädchen pflegen uns immer so zu tragen, und ich bin darum nicht Apollos Schwester, weil du mich mit dem Köcher bewaffnet siehst. Du bist unter Tyriern, Fremdling, in einem Reiche der Phönizier, in der Nähe von Agenors Stadt; demnach ist der Weltteil, in welchem du dich befindest, Afrika, das Land ist libysch und das Volk wild und kriegerisch. Eine Königin herrscht über uns, Dido; auch sie stammt aus Tyrus und war dort die geliebte Gattin des reichen Phöniziers Sychäus. Aber ihr Bruder Pygmalion, der König von Tyrus, ein unmenschlicher Tyrann, haßte den Schwager, und geblendet von Goldgier und unbekümmert um die Liebe der Schwester, erschlug er ihren Gatten heimlich am Altare der Götter. Der blasse Schatten des Gemordeten erschien seiner Gemahlin im Traume mit einer tiefen Schwertwunde in der Brust und entschleierte ihr das geheime Verbrechen; er riet ihr zu schleuniger Flucht aus dem Vaterlande und bezeichnete ihr die unterirdische Stelle, wo der alte verborgene Reichtum des Königs, Silber und Gold, ihre Fahrt zu unterstützen, bereit läge. Dido folgte seinem Winke; der Tyrannenhaß sammelte viele Gefährten um sie. Was von Schiffen bereitlag, wurde mit dem Golde des kargen Pygmalion angefüllt. So gelangten sie an die Küste Afrikas und an den Ort, wo du jetzt bald die gewaltigen Mauern der neuen Stadt Karthago und ihre himmelansteigende Burg erblicken wirst. Hier erkaufte sie anfangs nur ein Stück Landes, welches Byrsa oder Stierhaut genannt wurde; mit diesem Namen aber verhielt es sich so: Dido, in Afrika angekommen, verlangte nur so viel Feldes, als sie mit einer Stierhaut zu umspannen vermochte. Diese Haut aber schnitt sie in so dünne Riemen, daß dieselbe den ganzen Raum einschloß, den jetzt Byrsa, die Burg Karthagos, einnimmt. Von dort aus erwarb sie mit ihren Schätzen immer größeres Gebiet, und ihr königlicher Geist gründete das mächtige Reich, das sie jetzt beherrscht. Nun wißt ihr, wo ihr seid, ihr Männer. Aber wer seid denn ihr, woher kommt ihr, und wohin wandert ihr?« Mit diesen Fragen veranlaßte die Göttin eine rührende Erzählung seines Schicksals aus dem Munde ihres Sohnes, dessen Klage sie jedoch bald unterbrach: »Wenn meine Eltern mich nicht umsonst die Deutung des Vogelflugs gelehrt haben«, sagte sie, »so verkündige ich dir die Rettung deiner verschlagenen Schiffe und die Rückkehr deiner Freunde. Denn ich sah am offenen Himmel in freudigem Fluge zwölf Schwäne, die kurz zuvor ein Adler, der Vogel Jupiters, auseinandergescheucht hatte. In langem Zuge suchten sie teils das Land zu gewinnen, teils schwebten sie schon über dem gewonnenen: so erreichten auch deine Genossen schon zum Teile den Hafen, zum Teil nähern sie sich ihm mit vollen Segeln. Du aber geh immerhin auf dem betretenen Pfade fort.« So sprach die Jungfrau und wandte sich um. Ihr rosiger Nacken erglänzte von überirdischem Licht, ihre ambrosischen Locken verbreiteten einen himmlischen Wohlgeruch, ihr Kleid wallte blendend zu den Fersen hernieder; ihre Gestalt erschien übermenschlich; ihr ganzer Weggang verkündigte die Göttin. Jetzt erkannte Äneas plötzlich seine Mutter und rief die Fliehende vergebens zurück. Diese aber umhüllte die Wanderer mit einer dichten Umkleidung von Nebel, daß niemand sie schauen und ihre Absichten erforschen könnte. Sie selbst schwebte hoch durch die Lüfte nach ihrem Lieblingssitze Paphos.