Theseus und Phädra



Theseus und Phädra

Theseus stand jetzt auf dem Wendepunkte seines Glücks. Gerade ein Versuch, dasselbe nicht nur auf Abenteuern zu suchen, sondern es sich an seinem eigenen Herde zu gründen, stürzte ihn in schwere Drangsal. Als der Held in der Blüte seiner Taten und in den ersten Jünglingsjahren die Geliebte seiner Jugend Ariadne ihrem Vater Minos aus Kreta entführte, wurde diese von ihrer kleinen Schwester Phädra begleitet, welche nicht von ihr weichen wollte und, nachdem Ariadne von Bakchos geraubt worden war, den Theseus nach Athen begleitete, weil sie nicht wagen durfte, zu ihrem tyrannischen Vater zurückzukehren. Erst als ihr Vater gestorben war, ging das aufblühende Mädchen in ihre Heimat Kreta zurück und erwuchs dort in dem Königshause ihres Bruders Deukalion, der als der älteste Sohn des Königes Minos die Insel jetzt beherrschte, zu einer schönen und klugen Jungfrau heran. Theseus, der nach dem Tode seiner Gemahlin Hippolyte lange Zeit unvermählt geblieben war, hörte viel von ihren Reizen und hoffte, sie an Schönheit und Anmut seiner ersten Geliebten, ihrer Schwester Ariadne, ähnlich zu finden; Deukalion, der neue König von Kreta, war auch dem Helden nicht abhold und schloß, als Theseus von der blutigen Hochzeit seines thessalischen Freundes zurückgekehrt war, ein Schutz-und-Trutz-Bündnis mit den Athenern. An ihn wandte sich nun Theseus mit seiner Bitte, ihm die Schwester Phädra zur Gemahlin zu geben. Sie wurde ihm nicht versagt, und bald führte der Sohn des Aigeus die Jungfrau aus Kreta heim, die wirklich von Gestalt und äußerer Sitte der Geliebten seiner Jugend so ähnlich war, daß Theseus die Hoffnung seiner jungen Jahre im späteren Mannesalter erfüllt glauben konnte. Damit zu seinem Glücke nichts fehlen konnte, gebar sie in den ersten Jahren ihrer Ehe dem Könige zwei Söhne, den Akamas und den Demophoon. Aber Phädra war nicht so gut und treu, als sie schön war. Ihr gefiel der junge Sohn des Königes, Hippolytos, der ihres Alters war, besser als der greise Vater. Dieser Hippolytos war der einzige Sohn, den die von Theseus entführte Amazone ihrem Gemahl geboren hatte. In früher Jugend hatte der Vater den Knaben nach Trözen geschickt, um ihn bei den Brüdern seiner Mutter Aithra erziehen zu lassen. Wie er erwachsen war, kam der schöne und züchtige Jüngling, der sein ganzes Leben der reinen Göttin Artemis zu weihen beschlossen und noch keiner Frau ins Auge geschaut hatte, nach Athen und Eleusis, um hier die Mysterien mitfeiern zu helfen. Da sah ihn Phädra zum ersten Male; sie glaubte ihren Gatten verjüngt wiederzusehen, und seine schöne Gestalt und Unschuld entflammte ihr Herz zu unreinen Wünschen; doch verschloß sie ihre verkehrte Leidenschaft noch in ihre Brust. Als der Jüngling abgereist war, erbaute sie auf der Burg von Athen der Liebesgöttin einen Tempel, von wo aus man nach Trözen blicken konnte und der später Tempel der Aphrodite Fernschauerin genannt ward. Hier saß sie tagelang, den Blick auf das Meer gerichtet. Als endlich Theseus eine Reise nach Trözen machte, seine dortigen Verwandten und den Sohn zu besuchen, begleitete ihn seine Gemahlin dorthin und verweilte geraume Zeit daselbst. Auch hier kämpfte sie noch lange mit dem unlautern Feuer in ihrer Brust, suchte die Einsamkeit und verweinte ihr Elend unter einem Myrtenbaume. Endlich aber vertraute sie sich ihrer alten Amme, einem verschmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und törichter Liebe ergebenen Weibe an, die es bald über sich nahm, den Jüngling von der strafbaren Leidenschaft seiner Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unschuldige Hippolytos hörte ihren Bericht mit Abscheu an, und sein Entsetzen stieg, als ihm die pflichtvergessene Stiefmutter sogar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom Throne zu stoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und Herrschaft zu teilen. In seinem Abscheu fluchte er allen Weibern und meinte schon durch das bloße Anhören eines so schändlichen Vorschlags entweiht zu sein. Und weil Theseus gerade abwesend von Trözen war – denn diesen Zeitpunkt hatte das treulose Weib erwählt –, so erklärte Hippolytos, auch keinen Augenblick mit Phädra unter einem Dache verweilen zu wollen, und eilte, nachdem er die Amme gebührend abgefertigt, ins Freie, um im Dienste seiner geliebten Herrin, der Göttin Artemis, in den Wäldern zu jagen und so lange dem Königshause nicht wieder zu nahen, bis sein Vater zurückgekehrt sein würde und er sein gepeinigtes Herz vor ihm ausschütten könnte.

Phädra vermochte die Abweisung ihrer verbrecherischen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtsein ihres Frevels und die unerhörte Leidenschaft stritten sich in ihrer Brust; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theseus zurückkehrte, fand er seine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zusammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem geschrieben stand: ›Hippolytos hat nach meiner Ehre getrachtet; seinen Nachstellungen zu entfliehen ist mir nur ein Ausweg geblieben. Ich bin gestorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe.‹ Lange stand Theseus vor Entsetzen und Abscheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er seine Hände gen Himmel und betete: »Vater Poseidon, der du mich stets geliebt hast wie dein leibliches Kind, du hast mir einst drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wollest und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Versprechen. Nur eine Bitte will ich erfüllt haben: Laß meinem Sohn an diesem Tag die Sonne nicht mehr untergehen!« Kaum hatte er diesen Fluch ausgesprochen, als auch Hippolytos, von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr seines Vaters unterrichtet, in den Palast einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiderte der Sohn mit sanfter Ruhe: »Vater, mein Gewissen ist rein. Ich weiß mich einer Untat nicht schuldig.« Aber Theseus hielt ihm den Brief seiner Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytos rief seine Schutzgöttin, die jungfräuliche Artemis, zur Zeugin seiner Unschuld auf und sagte seinem zweiten Heimatlande Trözen unter Seufzern und Tränen Lebewohl.

Noch am Abende desselben Tages suchte den König Theseus ein Eilbote auf und sprach, als er vor ihn gestellt war: »Herr und König, dein Sohn Hippolytos sieht das Tageslicht nicht mehr!« Theseus empfing diese Botschaft ganz kalt und sagte mit bitterem Lächeln: »Hat ihn ein Feind erschlagen, dessen Weib er entehrt, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?« »Nein, Herr!« erwiderte der Bote. »Sein eigener Wagen und der Fluch deines Mundes haben ihn umgebracht!« »O Poseidon«, sprach Theseus, die Hände dankend zum Himmel erhoben, »so hast du dich mir heute als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört! Aber sprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat meinen Ehrenschänder die Keule der Vergeltung getroffen?« Der Bote fing an zu erzählen: »Wir Diener striegelten am Meeresufer die Rosse unseres Herrn Hippolytos, als die Botschaft von seiner Verbannung und bald er selbst kam, von einer Schar wehklagender Jugendfreunde begleitet, und uns Rosse und Wagen zur Abfahrt zu rüsten befahl. Als alles bereit war, hub er die Hände gen Himmel und betete: ›Zeus, mögest du mich vertilgen, wenn ich ein schlechter Mann war! Und möge, sei ich nun tot oder lebendig, mein Vater erfahren, daß er mich ohne Fug entehrt!‹ Dann nahm er den Rossestachel zur Hand, schwang sich auf den Wagen, ergriff die Zügel und fuhr, von uns Dienern begleitet, auf dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir waren so ans öde Meergestade gekommen, zu unserer Rechten die Flut, zur Linken von den Hügeln vorspringende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräusch vernahmen, unterirdischem Donner ähnlich. Die Rosse wurden aufmerksam und spitzten ihr Ohr; wir alle sahen uns ängstlich um, woher der Schall käme. Als unser Blick auf das Meer fiel, zeigte sich uns hier eine Welle, die turmhoch gen Himmel ragte und alle Aussicht auf das weitere Ufer und den Isthmos uns benahm; der Wasserschwall ergoß sich bald mit Schaum und Tosen über das Ufer, gerade auf den Pfad zu, den die Rosse gingen. Mit der tobenden Welle zugleich aber spie die See ein Ungeheuer aus, einen riesenhaften Stier, von dessen Brüllen das Ufer und die Felsen widerhallten. Dieser Anblick jagte den Pferden eine plötzliche Angst ein. Unser Herr jedoch, ans Lenken der Rosse gewöhnt, zog den Zügel mit beiden Händen straff an und gebrauchte desselben, wie ein geschickter Steuermann sein Ruder regiert. Aber die Rosse waren läufig geworden, bissen in den Zaum und rannten dem Lenker ungehorsam davon. Aber wie sie nun auf ebener Straße fortjagen wollten, vertrat ihnen das Seeungeheuer den Weg; bogen sie seitwärts zu den Felsen um, so drängte es sie ganz hinüber, indem es den Rädern dicht zur Seite trabte. So geschah es endlich, daß auf der andern Seite die Radfelgen auf die Felsen aufzusitzen kamen und dein unglücklicher Sohn kopfüber herabgestürzt und mitsamt dem umgeworfenen Wagen von den Rossen, die ohne Führer dahinstürmten, über Sand und Felsgestein geschleift wurde. Alles ging viel zu schnell, als daß wir begleitenden Diener dem Herrn hätten zu Hilfe kommen können. Halbzerschmettert hauchte er den Zuruf an seine sonst so gehorsamen Rosse und die Wehklage über den Fluch seines Vaters in die Lüfte. Eine Felsecke entzog uns den Anblick. Das Meerungeheuer war verschwunden, wie vom Boden eingeschlungen. Während nun die übrigen Diener atemlos die Spur des Wagens verfolgten, bin ich hierhergeeilt, o König, das jammervolle Schicksal deines Sohnes dir zu verkünden!«

Theseus starrte auf diesen Bericht lange sprachlos zu Boden. »Ich freue mich nicht über sein Unglück; ich beklage es nicht«, sprach er endlich nachsinnend und in Zweifel vertieft. »Könnte ich ihn doch lebend noch sehen, ihn befragen, mit ihm handeln über seine Schuld.« Diese Rede wurde durch das Wehgeschrei einer alten Frau unterbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerrissenem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerschaft trennte und dem Könige Theseus sich zu Füßen warf. Es war die greise Amme der Königin Phädra, die auf das Gerücht von Hippolytos‘ jämmerlichem Untergange, von ihrem Gewissen gefoltert, nicht länger schweigen konnte und unter Tränen und Geschrei die Unschuld des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem König offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Besinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von wehklagenden Dienern sein Sohn Hippolytos, zerschmettert, aber noch atmend, in den Palast und vor seine Augen getragen. Theseus warf sich reumütig und verzweifelnd über den Sterbenden, der seine letzten Lebensgeister zusammenraffte und an die Umstehenden die Frage richtete: »Ist meine Unschuld erkannt?« Ein Wink der Nächststehenden gab ihm diesen Trost. »Unglückseliger getäuschter Vater«, sprach der sterbende Jüngling, »ich vergebe dir!« und verschied.

Er wurde von Theseus unter denselben Myrtenbaum begraben, unter welchem einst Phädra mit ihrer Liebe gekämpft und dessen Blätter sie oft, in der Verzweiflung an den Ästen zerrend, zerrissen hatte und wo nun, als an ihrem Lieblingsplatz, auch ihre Leiche beigesetzt war; denn der König wollte seine Gemahlin im Tode nicht entehren.

Tod des Patroklos



Tod des Patroklos

Indes um das Schiff, auf welchem Ajax stand, auf Tod und Leben gekämpft wurde, war Patroklos, als er das Zelt des wunden Eurypylos verlassen, zu seinem Freunde Achill geeilt, und als er in dessen Lagerhütte eintrat, stürzten ihm die Tränen aus den Augen, wie eine finstere Quelle, die ihr dunkles Wasser aus steilen Klippen gießt. Mitleidig sah ihn der Pelide an und sprach zu ihm: »Du weinst ja wie ein junges Mädchen, Freund Patroklos, das der Mutter nachläuft und: ›Nimm mich!‹ schreit und sich lang an ihr Kleid anklammert, bis die Mutter es aufhebt! Bringst du meinen Myrmidonen, mir oder dir selbst schlimme Botschaft aus Phthia? Ich weiß doch, dein Vater Menötios lebt, mein Vater Peleus lebt! Oder beklagst du vielleicht das Volk von Argos, daß es so jämmerlich zugrunde geht, zum Lohn seines eigenen Frevels? Rede nur immer ehrlich heraus und laß mich alles wissen!« Schwer seufzte bei dieser Frage Patroklos auf und sprach endlich: »Zürne mir nicht, erhabenster Held! Allerdings lastet der Gram der Griechen schwer auf meiner Seele! Alle Tapfersten liegen von Wurf oder Stoß getroffen bei den Schiffen umher; wund ist Diomedes; lanzenwund Odysseus und Agamemnon; den Euryplos traf ein Pfeil in den Schenkel: sie alle sind den Ärzten zur Heilung übergeben, statt daß sie in unsern Reihen kämpfen sollten. Du aber bleibst unerbittlich; nicht Peleus und Thetis, der Mensch und die Göttin, können deine Eltern sein; dich muß das finstre Meer oder ein starrer Fels geboren haben, so unfreundlich ist dein Herz! Nun denn, wenn die Worte deiner Mutter und ein Bescheid der Götter dich zurückhalten, so sende wenigstens mich und deine Krieger ab, ob wir den Griechen nicht vielleicht Trost bringen. Laß mich deine eigene Rüstung anlegen: leicht mag es sein, wenn die Trojaner mich sehen und dich zu erblicken glauben, daß sie vom Kampf abstehen und den Danaern Zeit lassen, sich zu erholen!«

Aber Achill erwiderte unmutig: »Wehe mir, Freund! Nicht das Wort meiner Mutter, auch kein Götterausspruch hindert mich; nur der bittere Schmerz frißt mir an der Seele, daß ein Grieche es gewagt hat, mich, den Ebenbürtigen, des Ehrengeschenks zu berauben. Dennoch habe ich mir nicht vorgesetzt, ewig zu grollen, und war von jeher entschlossen, wenn das Schlachtgetümmel bis zu den Schiffen gelangen sollte, meinem Groll Abschied zu sagen. Selber Anteil am Kampfe zu nehmen, kann ich mich zwar noch nicht entschließen; du aber hülle immerhin deine Schultern in meine Rüstung und führe auch unser streitbares Volk zum Kampfe. Stürze mit aller Macht auf die Trojaner und treibe sie aus den Schiffen fort! Nur an einen lege die Hände nicht, und dies ist Hektor; auch hüte dich, daß du nicht einem Gott in die Hände fallest; denn Apollo liebt unsre Feinde! Wenn du die Schiffe gerettet hast, kehre wieder um. Die andere mögen sich dann auf dem offenen Felde gegenseitig ermorden; denn eigentlich wäre es doch am besten, wenn gar kein Danaer davonkäme und wir zwei allein der Vertilgung entgingen und Trojas Mauern niederreißen könnten!«

Bei den Schiffen atmete inzwischen Ajax immer schwerer. Sein Helm rasselte von feindlichen Geschossen; die Schulter, vom aufliegenden Schilde beschwert, fing an ihm zu erstarren: der Angstschweiß floß ihm von den Gliedern herab, und keine Erholung durfte er sich gönnen. Als nun vollends Hektors Schwert ihm die Lanze dicht am Öhre durchschmetterte, daß der verstümmelte Teil in seiner Hand blieb und die eherne Spitze klirrend auf den Boden fiel, da erkannte Ajax, daß die Gewalt eines Gottes den Griechen entgegen sei, und entwich dem Geschoß. Und nun warf Hektor mit den Seinigen einen mächtigen Feuerbrand in das Schiff, und bald schlug die Flamme lodernd um das Steuerruder zusammen.

Als Achill in seinem Zelt Feuer von dem Schiffe auflodern sah, da durchzuckte auch den unbeugsamen Helden der Schmerz. »Auf, edler Patroklos«, rief er, »erhebe dich, daß sie die Schiffe nicht nehmen und den Unsrigen jeden Ausweg versperren! Ich selbst will hingehen, mein Volk zu versammeln.« Patroklos war des Wortes froh, das er aus dem Munde seines Freundes vernommen hatte: eilig legte er die Beinschienen an, schnallte den kunstvoll gearbeiteten Harnisch um die Brust, hing sich das Schwert um die Schulter, setzte den von Roßhaaren umwallten Helm aufs Haupt, griff mit der Linken zum Schilde, mit der Rechten faßte er zwei mächtige Lanzen. Gern hätte er den mörderischen Speer seines Freundes Achill selbst genommen, der aus einer Esche des thessalischen Berges Pelion gezimmert war und den der Zentaur Chiron dem Vater Peleus geschenkt hatte; dieser aber war so groß und schwer, daß ihn außer dem Peliden kein anderer Held schwingen konnte. Nun ließ Patroklos seinen Freund und Wagenlenker Automedon die Rosse Xanthos und Balios anschirren, die unsterblichen Kinder der Harpyie Podarge und des Zephyros, dazu das Roß Pedasos, das der Pelide einst aus der Stadt Theben als Beute fortgeführt hatte; Achill aber rief sein Myrmidonenvolk, hungrigen Wölfen gleich, herbei, je fünfzig Männer aus den fünfzig Schiffen; ihre Schlachtreihen führten fünf Kriegsobersten: Menesthios, der Sohn des Flußgottes Spercheios und der schönen Peleustochter Polydora; Eudoros, der Sohn des Hermes und der Jungfrau Polymele; Peisander, der Sohn des Maimalos, nach Patroklos der beste Kämpfer in der Schar; endlich der ergraute Phönix und Alkimedon, der Sohn des Laërkes.

Den Abziehenden rief der Pelide zu: »Vergesse mir keiner, ihr Myrmidonen, wie oft ihr während meines Zornes den Trojanern gedroht und unmutig meine Galle gescholten habt, welche die Streitgenossen mit Zwang vom Kampfe zurückhalte. Endlich ist die Stunde, nach der ihr geschmachtet, erschienen: Kämpfe nun, wem es das mutige Herz befiehlt!« Als er so gesprochen, zog er sich in sein Zelt zurück und holte aus dem Kasten, den voll von Leibröcken, Decken und Mänteln, auch andern kostbaren Dingen seine Mutter Thetis ihm mit aufs Schiff gegeben hatte, einen kunstreichen Becher hervor, aus dem kein anderer Mann je den funkelnden Wein getrunken hatte und kein anderer Gott Dankopfer empfangen hatte als der Donnerer. Aus diesem spendete er auch jetzt, in die Mitte seines Hofes tretend, unter Gebete dem Vater Zeus und bat ihn, den Griechen Sieg zu verleihen, seinen Waffengenossen Patroklos aber unverletzt zu den Schiffen zurückzugeleiten. Zu der ersten Bitte winkte Zeus Gewährung, zur zweiten schüttelte er sein Haupt, beides von dem Helden ungesehen. Achill ging in sein Zelt zurück, den Becher wieder aufzubewahren; dann stellte er sich vor sein Zelt, um dem blutigen Kampfe zwischen Griechen und Trojanern zuzusehen.

Die Myrmidonen zogen indessen, den Führer Patroklos an der Spitze, wie ein Wespenschwarm am Heerweg. Als die Trojaner ihn kommen sahen, schlug ihnen das Herz vor Schrecken, und ihre Geschwader gerieten in Verwirrung; denn sie glaubten, Achill selbst habe sich, den Groll aus der Seele verbannend, von den Zelten aufgemacht, und schon fingen sie an umherzublicken, wie sie dem Verderben entrinnen könnten. Patroklos benützte ihre Furcht und schwang seine blinkende Lanze gerade in ihre Mitte hinein, wo am Schiffe des Protesilaos das Getümmel am stärksten war. Sie traf den Päonier Pyraichmes, daß er, an der rechten Schulter durchbohrt, wehklagend rücklings auf den Boden taumelte und die Päonier um ihn her, alle betäubt, vor dem gewaltigen Patroklos flüchteten. Das Schiff blieb halbverbrannt stehen; angstvoll flohen alle Trojaner; die Danaerhaufen stürzten sich in die Schiffsgassen zur Verfolgung: allenthalben tobte der Aufruhr. Doch faßten sich die Trojaner bald wieder, und die Griechen sahen sich genötigt, Mann für Mann zu Fuß zu kämpfen: Patroklos durchschoß dem Areïlykos den Schenkel; Menelaos bohrte dem Thoas die Lanze in die Brust; Meges, der Sohn des Phyleus, durchstach dem Amphiklos die Wade; Antilochos, Nestors Sohn, durchstieß dem Atymnios die Weiche; da flog Maris, voll Zorn über den Fall des Bruders, auf Antilochos zu, stellte sich vor den Erschlagenen und drohte mit der Lanze; doch ihm durchbohrte Thrasimedes, Nestors andrer Sohn, Schulter und Oberarm mit dem Speer, daß er sterbend zusammensank. Als so Brüder die Brüder zu Boden gestreckt hatten, sprang auch der schnelle kleine Ajax hervor und hieb dem vom Gedränge gehinderten Kleobulos auf der Flucht das Schwert in den Nacken. Penelaos und Lykon rannten, beide sich verfehlend, mit den Lanzen gegeneinander; aber im Schwertkampf siegte der Danaer; Meriones traf den Akamas, als er eben den Wagen bestieg, und durchbohrte ihm die rechte Schulter; er stürzte vom Wagen, und Dunkel goß sich ihm über die Augen.

Der große Ajax sann auf nichts anderes, als wie er mit dem Speere Hektorn treffen könnte; dieser aber, voll Kriegserfahrung, deckte sich mit seinem stierledernen Schilde, daß Pfeile und Wurfspieße daran abprallten. Zwar hatte der Feldherr bereits erkannt, daß der Sieg sich von ihm und den Seinen abgewendet habe, dennoch verweilte er unerschüttert in der Schlacht und dachte wenigstens darauf, seine teuren Genossen zu beschützen und zu retten. Erst als der Andrang unwiderstehlich wurde, kehrte er mit seinem Wagen um und flog mit seinen vortrefflichen Rossen über den Graben. Die andern Trojaner waren nicht so glücklich; viele Rosse ließen hier und dort im Graben die Wagen ihrer Herren zerschmettert an der Deichsel zurück; doch was glücklich hinüberkam, stäubte in der eiligsten Flucht nach der Stadt zurück, und Patroklos sprengte mit tönendem Rufe den noch diesseits des Grabens Dahinfliegenden nach: viele stürzten kopfüber unter die Räder ihrer Wagen, und geborstene Sitze krachten. Endlich sprang das unsterbliche Rossegespann des Peliden auch über den Graben, und Patroklos trieb sie an, den auf seinem Wagen dahineilenden Hektor zu erreichen. Dabei mordete er zwischen Schiffen, Mauer und Strom, was er antraf. Pronoos, Thestor, Eryalos und neun andere Troer waren auf seinem stürmenden Weg teils dem Speerschwunge, teils dem Lanzenstiche, teils dem Steinwurfe des Siegers erlegen. Mit Schmerz und Ingrimm sah dies der Lykier Sarpedon, ermahnte scheltend seine Heerschar und sprang gerüstet von seinem Wagen zur Erde. Patroklos tat ein gleiches: und nun stürzten sie schreiend gegeneinander wie zwei scharfklauige, krummschnäblige Habichte. Mit Erbarmen sah Zeus auf seinen Sohn Sarpedon hernieder vom Olymp; aber Hera schalt ihn und sprach: »Was denkst du, Gemahl! Einen Sterblichen willst du schonen, der dem Tode doch schon längst verfallen ist? Bedenke, wenn alle Götter ihre Söhne aus der Schlacht entführen wollten, was aus den Geschicken, die du selber zu vollführen beschlossen hast, alsdann würde. Glaube mir, es ist besser, du lässest ihn in der Feldschlacht umkommen, übergibst ihn dem Schlaf und dem Tode und gestattest seinem Volk, ihn aus dem Getümmel zu tragen und dereinst in Lykien unter Grabhügel und Säule zu bestatten!« Zeus ließ die Göttin gewähren, und nur eine Träne fiel aus seinem Götterauge herab auf die Erde, dem fallenden Sohne geweiht.

Die beiden Kämpfer hatten sich jetzt einander auf Schußweite genähert. Patroklos aber traf zuerst den tapfern Genossen Sarpedons, Thrasydemos; Sarpedons Speer verfehlte zwar den Helden, stieß aber dafür dem Beirosse Pedasos, das sterblich war, den Speer in die rechte Schulter; bei dem Stürzen des Röchelnden waren auch die zwei unsterblichen Rosse scheu geworden; das Joch krachte schon, die Zügel verwirrten sich, und sie wären zerrissen, wenn nicht der Wagenlenker Automedon schnell sein Schwert von der Hüfte gezogen und den Strang des getöteten Rosses zerhauen hätte.

Ein zweiter Lanzenwurf Sarpedons verfehlte den Gegner wieder; der Speer des Patroklos aber traf diesmal den Lykier ins Zwerchfell, und er fiel zu Boden wie eine Bergtanne unter der Axt, knirschte mit den Zähnen und griff mit der Hand in den blutigen Staub. Sterbend rief er seinen Freund Glaukos auf, mit den Lykierscharen sich um seinen Leichnam zu werfen, und verschied. Da betete Glaukos zu Phöbos Apollo, ihm die Armwunde zu heilen, die Teucer ihm bei Erstürmung der Mauer mit dem Pfeile beigebracht hatte und die ihn noch immer quälte und zum Kampf untüchtig machte. Der Gott erbarmte sich seiner und stillte auf der Stelle den Schmerz. Nun durcheilte er die Reihen der Trojaner und rief die Helden Polydamas, Agenor und Äneas, Sarpedons Leichnam zu schützen, auf. Die Fürsten trauerten, als sie den Tod des Mannes vernahmen, der, obwohl aus fremdem Geschlechte, doch ihre Stadt wie eine Säule gestützt hatte; aber ihre Trauer war nicht feige. Wild drangen sie auf die Danaer ein, und ihnen allen flog Hektor voran. Die Griechen dagegen entflammte Patroklos, und so rannten sie gegeneinander mit grauenvollem Geschrei, um die Leiche des gefallenen Sarpedon kämpfend. Als einer ihrer tapfersten Krieger, Epeigeus, der Sohn des Agakles, von einem Steinwurfe Hektors gefallen war, fingen zuerst die Myrmidonen an zurückzugehen. Patroklos aber, den der Tod des Freundes bitter schmerzte, stürzte sich ins vorderste Gewühl, zerschmetterte dem Troer Sthenelaos den Rücken und brachte die Trojaner wieder zum Weichen. Endlich kehrte sich unter diesen Glaukos zuerst wieder um und durchstach den Myrmidonen Bathykles mit der Lanze; dagegen traf Meriones den Laogonos, dessen Vater Onetor Priester des idäischen Zeus war; den Meriones aber verfehlte der Speer des gewaltigen Äneas. Während diese Hohnworte miteinander wechselten, rief Patroklos ihnen zu: »Was schwatzet ihr, Helden? Im Arme sucht der Krieg die Entscheidung!« Und damit drang er an der Spitze der Seinigen auf den Leichnam ein, und die Troer erwehrten sich seiner, daß die Leiche bald vom Haupte bis an die Sohlen von Geschossen, Staub und Blut zugedeckt war.

Zeus, der dem Kampfe aufmerksam zuschaute, bedachte sich eine Weile über den Tod des Patroklos, aber es däuchte ihm besser, diesem vorerst noch Sieg zu verleihen; und so drängte denn der Freund des Peliden die Trojaner samt den Lykiern zurück und der Stadt zu. Die Griechen beraubten den gefallenen König Sarpedon der Rüstung; und eben wollte ihn Patroklos seinen Myrmidonen übergeben, als Apollo auf des Zeus Geheiß vom Gebirge in die Feldschlacht herunterfuhr, den Leichnam auf seine göttlichen Schultern nahm und ihn fern an den Strom des Skamander trug. Hier spülte er ihn im Gewässer rein, salbte ihn mit Ambrosia und gab ihn den Zwillingen Schlaf und Tod hinwegzutragen. Diese flogen mit ihm davon und brachten ihn in sein lykisches Heimatland.

Aber Patroklos, vom bösen Geschicke getrieben, munterte seinen Wagenlenker und seine Rosse auf und rannte den Trojanern und Lykiern nach, ins eigne Unheil. Neun Troern zog er ihre Rüstungen vom erlegten Leichnam ab und tobte so unaufhaltsam im Lanzenkampfe voran, daß er die getürmte Stadt Troja selbst erobert hätte, hätte nicht auf dem festesten Turme der Gott Apollo gestanden und auf das Verderben des Helden und auf die Beschirmung der Trojaner gesonnen. Dreimal stieg der Sohn des Menötios zur hervorragenden Mauerecke heran, und dreimal verdrängte ihn Apollo mit unsterblicher Hand, den leuchtenden Schild ihm entgegenhaltend und sein »Weiche!« rufend. Da entwich Patroklos mit eilendem Schritte vor dem Befehl des Gottes.

Am Skäischen Tore hielt der fliehende Hektor mit seinen Rossen inne und besann sich einen Augenblick, ob er sie ins Schlachtgetümmel zurücktreiben oder seinem Volke gebieten sollte, sich in die Mauern der Stadt einzuschließen. Während er so unentschlossen die Zügel anzog, nahte sich ihm Phöbos in der Gestalt von Hekabes Bruder Asios, der ein Oheim des Fürsten war, und sprach zu ihm: »Hektor, was entziehst du dich dem Kampfe? Wär ich so viel stärker denn du, als ich schwächer bin, ich wollte dich für deine Untätigkeit zum Hades senden. Aber wohlan, wenn du nicht gern solche Worte hörst, lenke deine Rosse dem Patroklos zu; wer weiß, ob dir Apollo nicht den Sieg schenkt.« So raunte ihm der vermummte Gott ins Ohr und verlor sich im Gewühl der Schlacht. Da ermunterte Hektor seinen Wagenlenker Kebriones, einen Bastard seines Vaters, die Rosse wieder in die Schlacht zu treiben, und Apollo drang vor ihm her in die Reihen der Griechen ein und richtete Verwirrung unter ihnen an. Hektor aber rührte keinen andern Achiver an, sondern ging geraden Laufes auf Patroklos allein los.

Als dieser ihn herannahen sah, sprang er aus dem Wagen, in der Linken den Speer, mit der Rechten einen zackigen Marmorstein vom Boden auflesend, mit dem er sofort den Kebriones zum Tod an die Stirne traf, daß der Wagenlenker auf den Boden hinabstürzte. Patroklos sandte dem Fallenden beißenden Spott nach und rief »Bei den Göttern, ein behender Mann! Wie leicht er sich in den Staub taucht! Hat er das Taucherhandwerk etwa auf dem Meere gelernt und einen Austerhandel getrieben?« Mit diesen Worten sprang er wie ein Löwe auf die Leiche des zu Boden Gesunkenen ein, und Hektor wehrte sich um seinen Halbbruder; er faßte das Haupt des Erschlagenen, Patroklos den Fuß; und von beiden Seiten schlugen Troer und Danaer drein, wie wenn Ost- und Südwind miteinander kämpfen. Gegen Abend entschied sich das Gefecht zugunsten der Achiver, sie entrissen die Leiche des Kebriones den Geschossen und beraubten ihn seiner Rüstung. Und nun warf sich Patroklos mit verdoppelter Wut auf die Trojaner und erschlug ihrer dreimal neun. Aber als er das viertemal angestürmt kam, lauerte der Tod auf ihn: denn Phöbos Apollo selbst begegnete ihm in der Schlacht. Patroklos bemerkte den Herannahenden nicht; denn er war in dichtes Nebelgewölk eingehüllt. Apollo aber stellte sich hinter ihn und versetzte dem Helden mit der flachen Hand einen Schlag auf Rücken und Schulter: da schwindelte es ihm vor den Augen; alsdann schlug der Gott ihm den Helm vom Haupte, daß er weithin in den Sand klingend unter die Pferdehufe dahinrollte und der Helmbusch mit Staub und Blut besudelt ward. Nun zerbrach er ihm die Lanze in der Hand, löste ihm den Schildriemen von der Schulter und den Harnisch vom Leibe und betäubte ihm sein Herz, daß er vor sich hinstarrend dastand. Da durchbohrte ihn Euphorbos, der Sohn des Panthoos, ein tapferer Krieger, der schon zwanzig Griechen gefällt hatte, von hinten mit der Lanze und eilte in die Heerschar zurück. Hektor aber rannte jetzt wieder aus der Schlachtreihe hervor und stieß dem schon Verwundeten von vorne den Speer in die Weiche des Bauchs, daß die Erzspitze hinten wieder hervordrang. So bezwang er ihn, wie ein Löwe den Eber am Gebirgsquell bezwingt, wohin sie beide zu trinken gekommen sind. Er entriß ihm mit dem Speere zugleich das Leben und rief frohlockend: »Ha, Patroklos! Du hattest im Sinn, unsre Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln und unsre Weiber als Mägde auf den Schiffen in eure Heimat zu führen! Nun habe ich ihnen den Tag der Knechtschaft wenigstens aufgeschoben, und dich werden die Geier fressen! Was hat dir nun dein Achill geholfen?«

Mit schwacher Stimme antwortete ihm der sterbende Patroklos: »Frohlocke du immerhin nach Herzenslust, Hektor! Zeus und Apollo haben dir Siegesruhm gewährt ohne Mühe, denn sie sind es, die mich entwaffnet haben; sonst hätte meine Lanze dich und zwanzig deinesgleichen gebändigt! Vor den Göttern hat mich Phöbos, vor den Menschen Euphorbos bezwungen. Du nimmst mir nur die Rüstung ab! Aber eines verkünde ich dir: du wirst nicht lange mehr so einhergehen, das Verhängnis steht dir schon zur Seite, und ich weiß, durch wen du sinkest!« Er brachte mit Mühe diese Worte hervor, und die Seele verließ die Glieder des Leibes und entflog hinunter zum Hades. Hektor aber rief dem Gestorbenen noch zu: »Was willst du mir da für Verderben weissagen, Patroklos? Wer weiß, ob nicht Achill selbst, von meiner Lanze durchbohrt, sein Leben aushauchen wird!« Unter solchen Worten zog er, die Ferse anstemmend, ihm den ehernen Speer aus der Wunde und schwang den Toten rücklings auf den Boden. Dann kehrte er die noch vom Blute des Patroklos triefende Lanze gegen seinen Wagenlenker Automedon. Doch diesen retteten die unsterblichen Rosse vor dem nachsprengenden Verfolger.

Um die Leiche des Patroklos zankten sich derweil mit den Waffen Euphorbos, der Trojaner, und Menelaos, der Atride. »Du sollst es mir büßen«, rief jener, »daß du mir den Bruder Hyperenor erschlagen und sein Weib zur Witwe gemacht!« Und damit rannte er mit der Lanze gegen den Schild des Atriden an; aber die Eisenspitze bog sich. Nun erhob auch Menelaos die Lanze und bohrte sie dem Feinde mitten in den Schlund, daß die Spitze zum Genicke herausdrang und sein zierlich gelocktes, mit Gold und Silber durchringeltes Haar vom Blute troff. So sank er in den Staub, unter dem Klirren seiner Waffen, deren ihn sofort Menelaos beraubte; und er hätte die Rüstung fortgetragen, wenn ihn nicht Apollo darum beneidet hätte. Dieser aber spornte den Hektor an, in Gestalt des Mentes, des Fürsten der Kikonen, von den unsterblichen Rossen des Peliden, die Automedon entführte, als einer unerreichbaren Beute abzulassen und sich wieder der Leiche des Euphorbos zuzuwenden. Er kehrte um, und plötzlich ward er den Fürsten Menelaos gewahr, wie er sich die herrliche Wehre des Euphorbos, über den blutenden Leichnam hingebückt, zueignete. Dieser vernahm den schmetternden Weheruf des trojanischen Helden und mußte sich gestehen, daß er dem mit seinen Troerscharen heranstürmenden Hektor nicht standhalten könne. So wich denn Menelaos, Leichnam und Rüstung lassend, doch nur unwillig, schaute sich, zurückeilend, von Zeit zu Zeit um, stand still und suchte den großen Ajax in der Schlacht. Als er ihn endlich zur Linken im Gemenge des Treffens erkannte, eilte er auf ihn zu und forderte ihn auf, mit ihm selbst dem Kampf um die Leiche des Patroklos zuzueilen.

Es war bereits die höchste Zeit, als beide sich wieder dem Platze näherten, wo der Sohn des Menötios gefallen war. Denn Hektor beschäftigte sich eben damit, nachdem er dem Leichnam des Patroklos die Rüstung abgezogen hatte, diesen an sich zu ziehen, um ihm mit dem Schwerte den Kopf von den Schultern zu hauen und den geschleiften Leib den Hunden zum Fraß vorzuwerfen. Wie er aber den Ajax unter seinem siebenhäutigen Stierschilde herannahen sah, ließ er von dem blutigen Vorhaben ab und flüchtete sich schnell in die Schar seiner Streitgenossen zurück. Dort sprang er empor in seinen Wagen und übergab die Rüstung des Patroklos den Freunden, damit sie ihm dieselbe zur Stadt trügen, wo sie als Denkmal seines Ruhmes aufbewahrt werden sollte. Vor die Leiche selbst warf sich Ajax wie ein Löwe vor seinen Jungen hin, und neben ihm stellte sich Menelaos auf.

Glaukos der Lykier aber heftete einen finstern Blick auf Hektor und sprach zu ihm die strafenden Worte: »Umsonst erhebt dich der Ruf, Hektor, wenn du dich so zagend vor dem Helden flüchtest! Denke nur darauf, wie du allein die Stadt verteidigst! Wenigstens ficht hinfort kein Lykier mehr an deiner Seite. Denn welchen geringeren Mann im Heere wirst du verteidigen, nachdem du unsern Fürsten Sarpedon, deinen Gastfreund und Kampfgenossen, den Danaern und den Hunden preisgegeben, hast liegen lassen? Wären die Trojaner an Kühnheit uns gleich, so würden wir bald die Leiche des Patroklos in die Mauern Trojas hereinziehen; dann würden die Achiver auch bald den Leichnam Sarpedons abliefern, um nur wieder seine Rüstung zu erhalten!« Es wußte nämlich Glaukos nicht, daß Apollo die Leiche Sarpedons den Griechen entführt hatte.

»Du bist nicht klug, Freund Glaukos«, erwiderte Hektor, »wenn du meinst, ich fürchte mich vor der Übermacht des Ajax. Noch kein Kampf je hat mir Grauen gemacht. Aber des Zeus Ratschluß ist mächtiger als unsere Tapferkeit. Jetzt jedoch tritt näher, mein Freund, schau mein Tun an und urteile, ob ich so verzagt sei, wie du soeben gesprochen!« Mit diesen Worten flog er seinen Freunden nach, welche die Waffen des Peliden, die Patroklos angetan hatte, als Beute der Stadt zutrugen. Er vertauschte, bei ihnen angekommen, seine eigene Rüstung mit der Rüstung Achills und zog die unsterbliche Wehre an, welche die Götter des Himmels selbst dem Helden Peleus bei seiner Hochzeit mit der Meeresgöttin Thetis geschenkt hatten und die der Vater dem Sohne übergeben, als er zu altern anfing. Aber der Sohn sollte nicht alt werden in den Waffen des Vaters.

Als der Herr der Götter und Menschen aus der Höhe zuschaute, wie Hektor die Waffen des göttergleichen Helden Achill anlegte, schüttelte er mit trübem Ernste sein Haupt und sprach in seines Herzens Tiefe: »Du Armer, du ahnest doch auch gar nichts von dem Todesgeschicke, das schon an deiner Seite geht. Du hast dem erhabenen Helden, vor dem auch andere zittern, seinen geliebten Freund erschlagen, hast ihm von Haupt und Schultern die Rüstung abgezogen und schmückest dich jetzt mit der unsterblichen Wehr des Sohnes der Göttin. Dennoch, weil dich keine Wiederkehr aus der Schlacht erwartet und dir deine Gattin Andromache diese schönen Waffen nicht ablösen und dich nie mehr begrüßen wird, so will ich dir zur Entschädigung noch einmal Siegesruhm verleihen.« Als Zeus so sprach, schloß sich die Rüstung enger an Hektors Leib, der kriegerische Geist des Ares durchdrang ihn, seine Glieder strotzten ihm innerlich von Kraft und Stärke. Mit lautem Zuruf sprengte er zu den Bundesgenossen und führte sie ermunternd, die Lanzen zum Stoß gefällt, gegen den Feind. Da entbrannte der Kampf aufs neue um des Patroklos Leiche, und Hektor wütete so mit Morden, daß Ajax selbst zu Menelaos sprach: »Trauter Held, ich bin nicht mehr so sehr um unsern toten Patroklos besorgt, der nun einmal die Speise trojanischer Vögel und Hunde werden muß, als um mein eigenes Haupt und um das deine. Denn Hektor umringt uns mit seinen Kriegsscharen wie eine Wolke. Versuch es daher, ob die Helden der Danaer unsern Hilferuf nicht hören!« Menelaos erhub seine Stimme, so laut er vermochte, und der erste, der den Ruf hörte, war Ajax der Lokrer, des Oïleus schneller Sohn; dieser flog zuerst herbei, dann kam Idomeneus mit seinem Streitgenossen Meriones und bald unzählige andere, so daß die Griechen nun wieder den Leichnam mit ihren Erzschilden umzäunt hielten. Doch wurden sie von den Trojanern so bedrängt, daß diese schon die Leiche hinwegzuziehen anfingen; endlich aber gelang es dem herrlichen Ajax, der Not zu steuern, und während Hippothoos, der Pelasger, ein troischer Bundesgenosse, die Sehnen des Leichnams unten am Knöchel mit Riemen umband, um ihn so fortzuschleppen, schlug ihm der Speer des Telamoniers durch die Kuppel des Helms, daß dieser zerbarst und das Gehirn aus der Wunde blutig am Speer emporspritzte. Hektor zielte jetzt auf Ajax, aber er traf nur den Phokäer Schedios; Ajax durchstieß dafür Phorkys, dem Sohne des Phainops, der um den Leichnam des Hippothoos kämpfte, den Panzer, daß die Spitze ihm schmetternd ins Eingeweide fuhr. Nun wichen die Trojaner und Hektor selbst, und gegen des Zeus Beschluß hätten die Griechen gesiegt, wenn nicht Apollo, in der Gestalt des Helden Periphas, des greisen Herolds, den gewaltigen Äneas zum Kampf angetrieben hätte. Dieser erkannte den Gott, feuerte die Seinigen mit mächtigem Zuruf an und focht, selbst weit voranspringend, bald der Vorderste im Streite. Jetzt wandten die Trojaner die Stirne wieder dem Feinde zu. Äneas durchstach den Leiokritos, den Genossen des Lykomedes; dieser rächte den Tod des Freundes an Apisaon dem Päonier; und jetzt streckten die Griechen ihre Lanzen alle dem Leichnam wieder vor.

So wetteiferten sie hier, während die Schlacht auch an anderen Punkten nicht feierte, den ganzen Tag in immer wütender Mordlust, und über Schenkel und Knie bis zu den Füßen hinab troff den Streitern der Schweiß. »Schlinge uns«, riefen die Danaer, »lieber der Boden hinab, als daß wir diesen Leichnam den Trojanern überlassen und ohne Ruhm zu den Schiffen kehren!« »Und müßten wir«, schrien dagegen die Trojaner, »alle miteinander bei diesem Manne sterben, so säume doch keiner im Kampf!«

Während sie so stritten, standen die unsterblichen Rosse des Achill abwärts vom Schlachtfeld. Als sie vernommen, daß ihr Wagenlenker Patroklos von der Hand Hektors ermordet im Staube gestreckt liege, fingen sie an zu weinen, wie Menschen tun. Vergebens bemühte sich Automedon, sie jetzt mit der Geißel zu beflügeln, jetzt mit Schmeichelworten, jetzt mit Drohungen anzutreiben. Nicht heim zu den Schiffen wollten sie gehen, nicht zu den Griechen in die Feldschlacht, sondern wie eine Säule, die unbeweglich über dem Grabhügel eines Verstorbenen steht, standen sie beide vor dem Wagensitze fest, ihre Häupter auf den Boden gesenkt; ihre Mähne quoll wallend und mit Staube besudelt aus dem Ringe des Jochs hervor, und aus den Wimpern tropften ihnen heiße Tränen. Nicht ohne Mitleid konnte sie Zeus von seiner Höhe herab erblicken. ›Ihr armen Tiere‹, sprach er bei sich selbst, ›warum haben wir euch ewig Junge, Unsterbliche dem sterblichen Peleus geschenkt! Etwa daß ihr mit den unseligen Menschen Gram ertragen solltet? Denn es gibt doch nichts Jammervolleres auf Erden von allem, was atmet und sich regt, als der Mensch. Aber umsonst hofft Hektor, euch zu bändigen und an seinen Wagen zu spannen. Nimmermehr gestatte ich dieses; ist es nicht genug, daß er in seiner Eitelkeit sich rühmt, des Peliden Waffen zu besitzen?‹ Da beseelte Zeus die Rosse mit Mut und edler Stärke. Plötzlich schüttelten beide den Staub von den Mähnen und sprengten mit dem Wagen rasch unter Trojaner und Griechen hinein. Automedon mußte sie gewähren lassen und wehrte sich, so gut er konnte. Aber allein auf dem hohen Wagensitze, war es ihm unmöglich, zugleich die Rosse zu lenken und die Lanze gegen den Feind zu schwingen. Endlich erspähte ihn sein Genosse Alkimedon, der Sohn des Laërkes, und verwunderte sich, daß der Einsame mit dem leeren Wagen sich dem Schlachtgetümmel aussetze. »Du bist nächst meinem erschlagenen Freunde Patroklos der beste Rossebändiger, Alkimedon«, rief ihm jener zur Antwort zu; »wolltest du Peitsche und Zügel nehmen, so überlasse ich dir die Rosse und warte des Kampfes.«

Wie sich Automedon aus dem Sitze schwang, bemerkte es Hektor und sprach zu seinem Nebenkämpfer Äneas: »Schau, dort sprengen die Rosse des Achill mit sehr unkriegerischen Lenkern in der Schlacht vor; ist es dir recht, so bestürmen wir sie; die Beute kann uns nicht fehlen!« Äneas winkte, und beide sprengten unter ihren Schilden heran, Chromios und Aretos ihnen nach. Aber Automedon betete zu Zeus, und dieser erfüllte ihm sein Herz mit ungewohnter Kraft: »Halt mir die schnaubenden Rosse dicht am Rücken, Alkimedon!« rief er, und: »Ajax herbei, Menelaos herbei! Überlaßt den Gestorbenen andern Tapfern und wehret von uns Lebendigen das Verderben! Uns bedrängen Hektor und Äneas, die tapfersten Helden Trojas!« Mit diesen Worten schwang er die Lanze gegen Aretos, und diese durchstürmte den Schild und drang dem Helden ins Gedärm, daß der Vorspringende in den Staub zurücksank. Dann warf Hektor seinen Speer auf Automedon, aber dieser fuhr über das Haupt des Gegners zitternd in die Erde. Und jetzt wären sie sich im Schwertkampfe begegnet, hätte nicht die Ankunft der beiden Ajax die Streitenden getrennt und die Trojaner zur Rückkehr nach der Leiche des Patroklos vermocht.

Dort flammte der Entscheidungskampf wieder heftiger auf. Dem Zeus hatte sich das Herz gewandt; in dunkler Wolke senkte sich seine Botin Athene hernieder und stellte sich, in des alten Phönix Gestalt sichtbar geworden, neben Menelaos. Dieser sprach, den Helden erblickend: »Vater Phönix, möchte mir Athene heute Kraft verleihen, so wollte ich dem toten Freunde wohl helfen; denn ich verstehe den Vorwurf deines Blickes.« Da freute sich die Göttin, daß er unwissend zu ihr selber vor allen Göttern gefleht, stärkte ihm Schultern und Knie mit Kraft und gab ihm ausdauernden Trotz ins Herz. Schnell eilte er, die Lanze schwingend, auf die Leiche zu, und als Hektors geehrtester Tischfreund, Podes, der Sohn des Eëtion, sich vor ihm zur Flucht wandte, traf ihn der Speer des Atriden durchbohrend am Gurt, daß er in dumpfem Falle zu Boden krachte. Jetzt trat Apollo in des Phainops Gestalt zu Hektor und ermahnte diesen: »Ei, Hektor, wer im ganzen Danaervolke wird dich künftig noch fürchten, wenn ein Menelaos dich zurückzuschrecken vermag? Er hat dir den besten Freund erschlagen, und jetzt wird er, der Weichlichste unter allen Griechen, dir auch die Leiche des Patroklos entführen!« Diese Worte versenkten das Herz Hektors in Schwermut, und er eilte im Glanze seiner Erzrüstung voran. Zeus aber schüttelte die Ägis, hüllte den Ida in Wolken und gab durch Blitz und Donner den Trojanern das Zeichen des Siegs.

Der Böotier Peneleos, dem der Speer des Polydamas die Schultern gestreift, war der erste, der zur Flucht umwendete. Den Leïtos machte Hektor kampfunfähig, indem er ihm die Hand am Knöchel durchstach; ihn selbst verfehlte der Speer des Idomeneus; und statt diesen, der eben erst zu Fuße von den Schiffen angekommen war, mit dem Gegenwurfe zu treffen, durchschmetterte Hektors Speer Ohr und Wange des Köranos, der mit Meriones und seinem Wagen dem Idomeneus zum Heile vorangefahren war. Der Speer stieß ihm die Zähne aus und durchschnitt die Zunge, und der Held entsank dem Wagen; Meriones hob die Zügel aus dem Staub auf und gab sie seinem Freund Idomeneus, der sich schnell in den Wagensitz schwang und das Gespann fliehend den Schiffen zutrieb. Als der herrliche Ajax dies sah, brachte er gegen seinen Nebenstreiter Menelaos in so lauten Jammer aus, daß Zeus selbst Mitleid mit ihm fühlte, das Nebelgewölk zerstreute und die Schlacht wieder von der Sonne beleuchten ließ. »Sieh doch zu, Menelaos«, sprach jetzt Ajax, »ob du nicht den Antilochos, den Sohn des Nestor, irgendwo noch lebend erblickst. Der wär uns ein tauglicher Bote zu Achill, ihm zu melden, daß sein Freund Patroklos tot im Staube liege.« Menelaos ging mit spähendem Blicke, wie ein Adler nach dem flüchtigen Hasen späht, der im Laubgesträuch hingeduckt sitzt, und bald erkannte er Nestors Sohn links im Gewühl des Treffens. »Weißt du noch nicht, Antilochos«, rief er ihm zu, »daß ein Gott den Danaern Unheil und den Trojanern Sieg zugeschleudert? Patroklos ist gesunken, und alle Griechen vermissen ihren tapfersten Helden; nur ein Kühnerer lebt noch, Achill. Eile du zu diesem ins Zelt und bring ihm die Trauerbotschaft; ob er nicht kommen wird, den nackten Leichnam zu retten, dem Hektor die Rüstung ausgezogen hat.«

Ein Schauer durchfuhr den Jüngling, sein Auge füllte sich mit Tränen bei der Nachricht; und lange blieb er stumm und ohne Sprache. Endlich gab er seinem Wagengenossen Laodokos die Rüstung und eilte fliegenden Laufes den Schiffen zu. Als Menelaos wieder bei der Leiche angekommen war, beredete er sich mit Ajax, wie sie beide den erschlagenen Freund hinwegziehen wollten; denn sie hofften selbst von Achills Ankunft wenig, da dieser seiner unsterblichen Wehre beraubt war. Sie huben den Leichnam mit Gewalt hoch von der Erde empor, und obgleich die Trojaner von hinten ein grauenvolles Geschrei hören ließen und mit Schwertern und Lanzen folgten, so brauchte sich Ajax doch nur umzuwenden, daß sie erblaßten und ihnen die Bürde nicht streitig zu machen wagten. So trugen sie mit großer Anstrengung den Leichnam aus der Schlacht zu den Schiffen, und mit ihnen flüchteten auch die andern Griechen aus dem Treffen. Hektor und Äneas waren ihnen auf den Fersen; und hier und dort entsank den Fliehenden ein Waffenstück, indem sie in wilder Unordnung über den Graben zurückgingen.

Trojas Erbauung



Zweiter Teil

Die Sagen Trojas

Erstes Buch

Trojas Erbauung

In uralten Zeiten wohnten auf der Insel Samothrake, im Ägäischen Meere, zwei Brüder, Iasion und Dardanos, Söhne des Zeus und einer Nymphe, Fürsten des Landes. Von diesen wagte Iasion, als ein Göttersohn, seine Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine ungestüme Neigung auf die Göttin Demeter und wurde zur Strafe seiner Kühnheit von seinem eigenen Vater mit dem Blitze erschlagen. Dardanos, der andere Sohn, verließ, tief betrübt über den Tod seines Bruders, Reich und Heimat und ging hinüber auf das asiatische Festland an die Küste Mysiens, da wo die Flüsse Simois und Skamander vereinigt in das Meer strömen und das hohe Idagebirge sich nach dem Meere abgedacht in eine Ebene verliert. Hier herrschte der König Teukros, kretischen Ursprungs, und nach ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegenden Teukrer. Von diesem Könige wurde Dardanos gastfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich Landes zum Eigentum und die Tochter des Königs zur Gemahlin. Er gründete eine Ansiedlung, das Land wurde nach ihm Dardania und das Volk der Teukrer von nun an Dardaner genannt. Ihm folgte sein Sohn Erichthonios in der Herrschaft, und dieser zeugte den Tros, nach welchem die Landschaft nun Troas, der offene Hauptort des Landes Troja, und Teukrer oder Dardaner jetzt auch Trojaner oder Troer genannt wurden. Nachfolger des Königs Tros war sein ältester Sohn Ilos. Als dieser einst das benachbarte Land der Phryger besuchte, wurde er von dem Könige Phrygiens zu eben angeordneten Kampfspielen eingeladen und trug hier im Ringkampfe den Sieg davon. Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und ebenso viele Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der König mit der Weisung eines alten Orakelspruches übergab: wo sie sich niederlegen würde, da sollte er eine Burg gründen. Ilos folgte der Kuh, und da sie sich bei dem offenen Flecken lagerte, der seit seinem Vater Tros der Hauptort des Landes und seine eigene Wohnung war, auch schon Troja hieß, so baute er hier auf einem Hügel die feste Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamos geheißen, wie denn das ganze Wesen von nun an bald Troja, bald Ilion, bald Pergamos genannt wurde. Ehe er jedoch die Burg anlegte, bat er seinen Ahnherrn Zeus um ein Zeichen, daß ihm die Gründung derselben genehm sei. Am folgenden Tage fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, Palladion genannt, vor seinem Zelte liegen. Es war drei Ellen hoch, hatte geschlossene Füße und hielt in der rechten Hand einen erhobenen Speer, in der andern Rocken und Spindel. Mit diesem Bilde hatte es folgende Bewandtnis: Die Göttin Athene wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton, einem Meergott, erzogen, der eine Tochter namens Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre geliebte Gespielin war. Eines Tages nun, als die beiden Jungfrauen ihren kriegerischen Übungen oblagen, traten sie zu einem scherzhaften Wettkampfe einander gegenüber. Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich auf ihre Gespielin führen, als Zeus, für seine Tochter bangend, den Schild aus Ziegenfell, die Ägis, dieser vorhielt. Dadurch erschreckt, blickte Pallas furchtsam auf und wurde in dem Augenblicke von Athene tödlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte sich der Göttin, und sie ließ zum dauernden Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer geliebten Gespielin Pallas verfertigen, legte demselben einen Brustharnisch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild war, um, der nun auch Ägispanzer oder Ägide hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber nannte sich seitdem Pallas Athene. Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter seinem und seiner Tochter Schutze stehe.

Der Sohn des Königs Ilos und der Eurydike war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewalttätiger Mann, welcher Götter und Menschen betrog. Dieser dachte darauf, den offenen Flecken Troja, der noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer förmlichen Stadt zu machen. Damals irrten die Götter Apollo und Poseidon, die sich gegen Zeus, den Göttervater, empört hatten und aus dem Himmel gestoßen waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war der Wille des Zeus, daß sie dem Könige Laomedon an der Mauer Trojas bauen helfen sollten, damit seine und Athenes Lieblingsstadt der Zerstörung trotzende Mauern hätte. So führte sie denn ihr Geschick in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten dem Könige Laomedon ihre Anträge, und da sie auf der Erde nicht bloß müßig gehen durften noch ohne Arbeit mit Ambrosia gespeist wurden, so bedingten sie sich einen Lohn aus, der ihnen auch versprochen ward, und fingen nun an zu frönen. Poseidon half unmittelbar bei dem Bau; unter seiner Leitung stieg die Ringmauer breit und schön, eine undurchdringliche Schutzwehr der Stadt, in die Höhe. Phöbos Apollo weidete inzwischen das Hornvieh des Königes in den gewundenen Schluchten und Tälern des waldreichen Gebirges Ida. Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem Könige ein Jahr lang zu frönen. Als nun diese Frist abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer fertig stand, entzog der trügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn, und als sie mit ihm rechteten und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, da jagte er beide fort, mit der Androhung, dem Phöbos Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren zu verstümmeln. Mit großer Erbitterung schieden die Götter und wurden Todfeinde des Königs und des Volkes der Trojaner; auch Athene kehrte sich von der Stadt, die bisher unter ihrem Schutz gestanden, ab, und schon jetzt war, einer stillschweigenden Einwilligung des Zeus zufolge, die eben erst mit stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volke diesen Göttern, zu welchen sich mit dem glühendsten Hasse in kurzer Zeit auch Hera gesellte, zum Verderben überlassen.

Turnus beim Lager der Trojaner



Turnus beim Lager der Trojaner

Während dies in Tuscien vorging, schickte Juno, deren Groll gegen Äneas doch noch nicht gedämpft war, ihre Botin Iris zu dem Rutuler Turnus. Diese meldete dem Anführer der Feinde, daß Äneas sein Lager, seine Genossen, seine Flotte verlassen und sich nach dem Reich Euanders gewendet habe, und befahl ihm, das trojanische Lager zu stürmen. Turnus folgte auf der Stelle dem Ruf. Der Held Messapus voran, Tyrrhus und seine Söhne in der Hinterhut, mit dem Kerne des Heeres Turnus selbst, zogen sie durchs offene Feld nach dem Gestade der Tiber. Plötzlich sah Kaïkus, der Wächter der vordersten trojanischen Warte, ein dunkles Staubgewölke vom Felde wirbelnd aufsteigen. »Brüder«, rief er rückwärtsgewendet, »es verfinstert ein nahender Schwarm die Luft; Waffen herbei; schnell auf die Lagermauern; der Feind ist da!« Auf diese Nachricht stürzten die auf dem Felde zerstreuten Trojaner durch alle Tore ins Lager zurück und sammelten sich, wie es Äneas für unvorhergesehene Fälle scheidend befohlen hatte, auf den Schanzen und Mauern, obgleich sie Scham und Zorn viel mehr zum offenen Gefechte getrieben hätte. Sie sperrten also die Tore und vollzogen in allem die Gebote ihres Führers, indem sie den Feind auf den Zinnen und in den hohlen Türmen erwarteten.

Turnus aber eilte dem Heere, das ihm zu langsam vorwärts ging, mit zwanzig auserlesenen Reitern voran und erschien, auf einem thrakischen gefleckten Schimmel, unvermutet vor den Mauern des Lagers. »Wer wagt sich zuerst an den Feind?« fragte er rückwärtsgewendet seine kleine Schar und schleuderte seinen Wurfspieß durch die Lüfte hinan. Jubelnd taten seine Genossen ein Gleiches und höhnten die feigen Trojanerseelen, die sich hinter ihren Mauern verschanzt hielten und es nicht wagten, ins Feld zum offenen Kampfe herabzusteigen. Indessen spähte Turnus hoch zu Roß, den goldenen Helm mit dem roten Federbusch auf dem Haupte, ringsum die Mauern des Lagers aus und suchte einen unbemerkten Zugang. So schnaubt ein Wolf bei Wind und Regen die halbe Nacht hindurch um den vollen Schafstall herum und ergrimmt über das Blöken der Schafe und Lämmer, die drinnen in Sicherheit sitzen. Endlich fiel ihm die Flotte ins Auge, die, ganz von Dämmen und Wellen umgeben, sich geborgen an die eine Seite des Lagers lehnte. Jauchzend ermahnte er seine Freunde, diese in Brand zu stecken, ergriff selbst zuerst die flammende Fackel, und sofort bewehrte sich die gesamte Jugend des allmählich nachgerückten Heeres mit Feuerbränden, die von den Herden der benachbarten Hütten geraubt worden waren. Und unfehlbar wäre nun die Flotte der Trojaner verbrannt worden, wenn nicht ein göttliches Wunder das Feuer von den Schiffen abgewendet hätte. Schon damals nämlich, als Äneas am Fuße des Idagebirges die Flotte zimmerte, die ihn in das fremde Land tragen sollte, flehte Cybele, die Mutter aller Götter, zum allmächtigen Zeus: »Sohn, gib mir, was ich von dir verlange! Ich habe dem dardanischen Manne, der einer Flotte bedurfte, willig meinen schönen Hain von Ahornbäumen und Kiefern fällen lassen. Nun aber ängstet mich die Sorge, meine geliebten Bäume, zu Schiffen umgewandelt, möchten ein Raub der Stürme werden. Darum erhöre meine Bitte, laß es dem Holz zugute kommen, daß es auf dem Ida gewachsen ist, und schütze die Schiffe vor aller Gefahr.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Jupiter, »ich vermag dem von sterblichen Händen Erbauten nicht Unsterblichkeit auf Erden zu verleihen; doch was ich für sie tun kann, das will ich. Soviel ihrer, ausgedient, das Ziel und den Hafen Ausoniens erreichen, die will ich von der sterblichen Form befreien, und wie die Töchter des Nereus sollen sie als Göttinnen des Meeres ein seliges Leben in den Fluten führen.«

Dies Wort ging jetzt in Erfüllung. Als Turnus den Brand in die Schiffe werfen wollte, verbreitete sich von Morgen her ein Strahlengewölk über den Himmel, und ein grauenvoller Schall aus den Lüften durchlief die Scharen der Trojaner und Rutuler. »Bemühet euch nicht so ängstlich«, rief es, »ihr Trojaner, meine Schiffe zu schirmen. Eher wird Turnus das Meer verbrennen als sie! Ihr aber, Schiffe, schwimmst erlöst dahin, seid Meeresgöttinnen; die Mutter der Götter will es so!« Bei diesem Worte wurden die Schiffe plötzlich lebendig, zerrissen jedes seine Seile, mit welchen sie angebunden waren, tauchten mit den Schnäbeln wie Delphine ins Meer unter und schwammen, wieder aufgetaucht, in Gestalt schöner Jungfrauen durch die Meeresflut. Entsetzen ergriff die Rutuler. Messapus, ihr vorderster Führer, schreckte mit scheuem Gespann auf seinem Wagen zusammen, ja der Tiberstrom selbst zog sich mit seinen Wellen schaudernd vom Meere zurück. Nur der tollkühne Turnus ließ die Hoffnung noch nicht fahren. »Merket ihr nicht, Freunde«, sprach er, »daß dieses Wunder allein gegen die Trojaner gerichtet ist? Jupiter selbst hat ihnen ihre Hilfe entrissen; alle Hoffnung zur Heimkehr ist ihnen mit der Verwandlung ihrer Schiffe abgeschnitten, und die Rutuler brauchen keine Feuerbrände mehr! Das Land aber ist in unsern Händen. Tausende in ganz Italien waffnen sich für uns. Mich ängstigen keine Göttersprüche und Verheißungen, deren sie sich rühmen. Auch mir ist mein Schicksal bestimmt, und es lautet auf Vertilgung dieses verruchten Geschlechtes mit dem Schwerte!«

Auch mit der Tat blieb Turnus so unverdrossen wie mit dem Worte. Dem Messapus wurde das Geschäft übertragen, die Tore mit Kriegern zu umstellen und die Wälle rings mit Feuern zu umzingeln, und unter ihm versahen, von vierzehn auserlesenen Hauptleuten befehligt, je hundert Jünglinge, schimmernd von Gold und mit rotbebuschten Helmen, den Dienst. Diese machten einander ablösend die Runde, und die Feiernden lagerten sich ins Gras und taten sich beim Weinkruge gütlich. Die Trojaner von ihren Wällen herab schauten dieses und hielten die Zinnen aufs vorsichtigste mit Bewaffneten besetzt. Nicht ohne Besorgnis umwandelten sie die Tore, versahen die Bollwerke mit Brücken und brachten den nötigen Vorrat von Geschossen herbei. Das Ganze leitete Mnestheus und Serestus, welche Äneas vor seiner Abfahrt über das Lager gesetzt hatte. Und so wachte denn das ganze Heer innerhalb der Lagermauern.

Telemach bei Nestor



Telemach bei Nestor

Telemach ging hinab ans Meergestade, und die Hände in der Flut waschend, rief er zu dem unbekannten Gott, der tags zuvor in Menschengestalt bei ihm in seiner Wohnung erschienen war. Da nahete ihm Pallas Athene, dem Freunde seines Vaters, Mentor, an Gestalt und Stimme ähnlich, und sprach: »Telemach, wenn du hinfort nicht zaghaft und besinnungslos sein willst, wenn der Geist deines Vaters, des klugen Odysseus, nicht ganz von dir gewichen ist, so hoffe ich, daß du deinen Entschluß ausführest. Ich bin der alte Freund deines Vaters, ich will dir für ein schnelles Schiff sorgen und dich selber begleiten.« Telemach, der nicht anders glaubte, als daß Mentor selbst zu ihm geredet, eilte entschlossen nach Hause; auf dem Wege begegnete er dem jungen Freier Antinoos, der ihm lachend die Hand hinbot und sprach: »Unbändiger, trotziger Jüngling, zürne nicht länger! Lieber geschmaust und getrunken mit uns, wie bisher! Laß die Bürger für deine Reise sorgen, und wenn sie dir Schiff und Mannschaft gerüstet haben, dann magst du meinethalben nach Pylos fahren!« Aber Telemach erwiderte: »Nein, Antinoos, es ist mir unmöglich, länger schweigend mit euch ausschweifenden Männern am Mahle zu sitzen. Ich bin kein Knabe mehr; ihr habt es hinfort mit einem mutigen Manne zu tun, mag ich nun gen Pylos fahren oder auf unsrem Eilande verbleiben. Aber ich will gehen, und nichts soll mir die beschlossene Fahrt vereiteln.« So sprechend, zog er leicht seine Hand aus der Hand des Freiers und eilte in die Vorratskammer seines Vater hinab, wo Gold und Erz in Haufen lag, kostbare Gewande im Kasten ruhten, Krüge voll duftigen Öles und Fässer mit balsamischem Weine gefüllt an die Mauer gelehnt umherstanden. Hier fand er die wachsame Schaffnerin Eurykleia, schloß hinter sich die Pforte riegelfest und sprach zu ihr: »Mütterchen! Geschwind schöpf und fülle mir zwölf Henkelkrüge mit Wein und spünde sie wohl mit Deckeln, schütte mir auch zwanzig Maße feingemahlenen Mehls in Schläuche und rüste alles zusammen auf einen Haufen. Denn vor Nacht noch, wenn die Mutter schon im Schlafgemach ist, komme ich und hole alles ab. Erst nach zwölf Tagen, oder wenn sie mich selbst vermißt, darfst du ihr sagen, daß ich fort bin, den Vater zu suchen!« Weinend schwur ihm dieses die gute Schaffnerin zu und tat, wie er befohlen. Indessen hatte Athene selbst Telemachs Gestalt angenommen, Genossen für die Reise geworben und von einem reichen Bürger, Noëmon, ein Schiff zur Reise geborgt. Dann betäubte sie den Sinn der Freier, daß ihnen die Becher aus den Händen fielen und ein tiefer Schlummer, wie Berauschten zu geschehen pflegt, sich ihrer bemächtigte. Endlich nahm sie Mentors Gestalt wieder an, gesellte sich zu Telemach und ermunterte ihn, die Fahrt nicht länger zu verschieben. Bald standen beide am Meere, fanden dort die Genossen, ließen die Zehrung zu Schiffe bringen und bestiegen das Fahrzeug. Als die Woge schon um den Kiel schlug und der Wind die Segel schwellte, brachten sie den Göttern ein Trankopfer dar und fuhren bei günstiger Luft die ganze Nacht pfeilschnell dahin.

Mit Sonnenaufgang lag Nestors Stadt Pylos vor den Augen der Schiffenden. Dort brachte gerade das Volk, in neun Rotten geschart, dem Meeresgotte neun schwarze Stiere zum Opfer dar, verbrannte sie dem Gott und schmauste von den Überbleibseln. Da landeten die Männer aus Ithaka, und Telemach, von Athene als Mentor geführt und zu keckem Gruße aufgemuntert, eilte unter die Versammlung des pylischen Volkes. Hier saß Nestor mit seinen Söhnen; Freunde rüsteten das Mahl, Diener steckten das Fleisch an Spieße und brieten es. Als nun die Pylier Fremdlinge ans Ufer steigen und herannahen sahen, eilten sie ihnen sogleich in dichten Haufen entgegen, boten ihnen die Hände zum Gruß und nötigten den Telemach und seinen Führer zu sitzen. Insbesondere ergriff sie Peisistratos, der Sohn Nestors, beide bei der Hand, ermunterte sie freundlich, am Gastmahl teilzunehmen, und wies ihnen am Ufersande des Meeres auf dickwolligen Vliesen zwischen seinem Vater Nestor und seinem Bruder Thrasymedes den Ehrensitz an. Dann legte er ihnen von dem besten Fleische vor, füllte zwei goldene Becher mit Wein, trank ihnen unter Handschlag zu und sprach zu der verstellten Athene: »Bring dem Poseidon das Trankopfer mit Gebet, o Fremdling, und laß auch deinen jüngeren Freund also tun! Bedürfen doch alle Sterblichen der Götter!« Athene nahm den Becher, flehte vom Meeresgotte Segen auf Nestor, seine Söhne und alle Pylier herab und bat um Vollendung dessen, weswegen Telemach zu Meere dahergekommen. Dann schüttete sie von dem Trank zu Boden und hieß ihren jungen Begleiter ein Gleiches zu tun.

Darauf wandte man sich zu Trank und Speise, und als Hunger und Durst gestillt waren, begann der greise Nestor das freundliche Gespräch und forschte nach dem Geschlecht und der Absicht der Fremden. Telemach beantwortete ihm beides, und als er auf seinen Vater Odysseus zu reden gekommen war, sprach er mit Seufzen: »Vergebens suchten wir bisher sein Schicksal zu erkunden. Wir wissen nicht, kam er auf dem Festlande von Feinden um, oder hat ihn die Brandung des Meeres verschlungen. Darum flehe ich dich, mir seinen traurigen Tod zu verkündigen, magst du nun Augenzeuge gewesen sein oder ihn nur von einem Wanderer vernommen haben. Schone mich nicht aus Mitleid, sondern erzähle mir nur alles getreulich!«

»Lieber Jüngling«, antwortete Nestor, »weil du jener Zeit der Trübsal gedenkst, so höre alles, wie es ergangen.« Der Alte holte dann nach Greisensitte weit aus, meldete von dem Tode der größten Helden noch unter Ilions Mauern selbst, von dem Hader der beiden Atriden, endlich von seiner eigenen Rückfahrt; aber von Odysseus wußte er so wenig als der fragende Telemach selbst. Dagegen erzählte er ihm weitläufig den Tod des Agamemnon zu Mykene und die Rache des Orestes. Endlich riet er ihm, nach Sparta zum Fürsten Menelaos zu gehen, der erst neulich von fern entlegenen Menschen, an deren Küste ihn der Sturm geschleudert, zurückgekehrt sei. Da dieser am längsten unter allen Griechenhelden auf der Fahrt gewesen, sei es auch am ehesten glaublich, daß er irgendwo etwas von dem Geschicke des Odysseus vernommen.

Athene billigte als Mentor den Vorschlag und erwiderte hierauf: »Der Abend ist unter unsern Gesprächen eingebrochen; erlaube jetzt, o lieber Greis, meinem jungen Freunde, dich in deinen Palast zu begleiten und dort zu ruhen. Ich selbst will nach unsrem Schiffe sehen und meine Genossen ermuntern, alles Nötige anzuordnen. Dann will ich mein Nachtlager auch daselbst nehmen. Am andern Morgen fahre ich zum Volk der Kaukonen, wo ich eine Schuld einzufordern habe. Meinen Freund Telemach aber sende du selbst« – Nestor hatte dies so angeboten – »mit deinem Sohne auf einem wohlgezimmerten Wagen, mit deinen leichtfüßigsten Rossen bespannt, nach Sparta.« So sprach Athene, und siehe da, plötzlich verwandelte sie sich in einen Adler und flog empor zum Himmel. Alle sahen ihr staunend nach, Nestor ergriff den Jüngling Telemach bei der Hand und sprach: »Du darfst nicht verzagen und nicht trostlos werden, mein Lieber, da schon in deiner Jugend beschirmende Götter dich begleiten! Denn kein anderer war dein Genosse als Zeus‘ Tochter, Athene, die auch deinen tapfren Vater vor allen andern Argivern immer besonders geehrt hat!« Dann richtete der Greis ein frommes Gebet an die Göttin, gelobte, ihr ein jähriges Rind am andern Morgen zu opfern, und führte mit Söhnen und Eidamen seinen Gast zur Nachtruhe nach Pylos in den Königspalast. Hier wurde noch einmal ein Trankopfer dargebracht und ein Umtrunk getan. Alsdann begab sich ein jeder zur Ruhe. Telemach erhielt seine Lagerstatt in einem zierlichen Bettgestelle unter der hohen Halle des Hauses, und neben ihm legte sich der tapfere Peisistratos, Nestors Sohn, zur Ruhe.

Kaum schimmerte die Morgenröte in den Palast, so erhob sich der rüstige Greis Nestor vom Lager, trat vor die Schwelle und setzte sich auf die schönen weißen Marmorquadern nieder, die als Ruhesitze an den Flügeltoren des Palastes angebracht waren und wo schon vor alters sein Vater Neleus oft gesessen. Um ihn versammelten sich seine sechs Söhne, und der letzte, Peisistratos, brachte auch den Gast aus Ithaka mit, der den König Nestor begrüßte, dann aber die Versammlung wieder verließ. Nun wurde die Kuh herbeigeholt, die Nestor als Opfer der Athene gelobt hatte; der Goldschmied Laërkes wurde gerufen, der die Hörner des Rinds vergolden mußte; die Mägde im Palast rüsteten ein Festmahl, setzten Stühle, brachten Holz und frisches Wasser herbei. Vom Schiffe herauf kamen Telemachs Freunde. Die Söhne Nestors führten die Kuh an den vergoldeten Hörnern herzu, ein anderer trug Wasserbecken und Opfergerste herbei, der vierte brachte die Axt, das Opfer zu schlachten, ein fünfter hielt die Schale hin, um das Blut des Tieres aufzufangen. Als das Opfertier den Streich mit der Axt erhalten hatte, schlachtete es unter dem Flehen der Gemahlin und der Töchter Nestors der sechste Sohn Peisistratos. Die besten Stücke wurden der Göttin verbrannt und dunkler Wein daraufgeschüttet; das übrige ward an Spieße gesteckt und gebraten.

Telemach war bei dem Opfer nicht zugegen gewesen; er hatte sich entfernt, um sich von der Reise im warmen Bade zu erholen, und trat jetzt in den schönen Leibrock gekleidet und in einen prächtigen Mantel gehüllt unter die Versammelten wieder ein. Nun setzte man sich zum Schmaus und Becher, und nach dem fröhlichen Mahle schirrte man die schönsten Rosse vor den Wagen, der den jungen Gastfreund nach Sparta bringen sollte. Die Schaffnerin legte Brot, Wein und andere Speisen hinein, und Telemach bestieg den Wagensitz. Neben ihm setzte sich Peisistratos in den Sessel, faßte die Zügel und schwang treibend die Geißel. Die Rosse flogen dahin; bald lag die Stadt Pylos hinter ihnen, und den ganzen Tag ging es im Fluge fort, ohne daß die Tiere zu ruhen begehrten.

Als die Sonne sich zum Untergang neigte und die Pfade schattiger wurden, kamen sie nach der Stadt Pherai, wo ein edler Griechenheld, namens Diokles, der Sohn des Orsilochos, hauste. Dieser nahm die reisenden Fürstensöhne gastlich auf, und sie ruheten in seiner Burg die Nacht über. Am andern Morgen fuhren sie weiter durch üppiges Weizenfeld, und endlich mit dem Abendschatten kamen sie zu der großen, zwischen Bergen gelegenen Stadt Lakedaimon oder Sparta.

Telemach kommt heim



Telemach kommt heim

An demselben Morgen landete Telemach mit seinen Begleitern an Ithakas Gestade. Dem Rate Athenes gehorchend, hieß er diese ohne Verzug nach der Stadt fortrudern, versprach ihnen, am andern Tage durch ein fröhliches Mahl den Dank für die Reise zu bezahlen, und schickte sich zum Wege nach dem Hirten an. »Aber wo soll ich hingehen, mein Sohn«, fragte den Scheidenden Theoklymenos, »wer in der Stadt wird mich aufnehmen? Soll ich etwa geradenwegs auf den Palast deiner Mutter zugehen?« »Hätte unser Haus«, antwortete Telemach, »ein anderes Ansehen, als es gegenwärtig hat, so würde ich dir unbedenklich dazu raten; so aber würdest du von den Freiern doch nicht vorgelassen, und meine Mutter webt im einsamsten Gemache des Hauses an einem Gewande. Da wäre es noch klüger, dich in das Haus des Eurymachos zu begeben, der ein Sohn des in Ithaka hoch angesehenen Mannes, des Polybos, und der Erste unter denen ist, die sich um meine Mutter bewerben.« Während er noch redete, flog ein Habicht mit einer Taube vorüber, deren Gefieder er berupfte. Da führte der Seher den Jüngling bei der Hand auf die Seite und sagte ihm ins Ohr: »Sohn, wenn meine Kunst mich nicht ganz täuscht, so gilt dieses Zeichen deinem Hause. Nie wird ein anderes Geschlecht auf Ithaka walten: ihr seid die ewigen Beherrscher dieses Landes!«

Ehe nun Telemach von Theoklymenos Abschied nahm, empfahl er diesen noch seinem vertrautesten Freunde, dem Peiraios, dem Sohne des Klytios, daß er den Fremdling in seine eigene Wohnung aufnehmen und liebreich pflegen möchte, bis Telemach in die Stadt käme. Dann schied er, und die Genossen fuhren weiter.

Inzwischen rüsteten Odysseus und der Sauhirte in der Hütte das Frühstück, und die Knechte trieben die Schweine hinaus. Als sie behaglich beim Mahle saßen, ließen sich draußen Fußtritte hören, und die Hunde wurden laut, doch ohne zu bellen; sie schienen vielmehr einem Herankommenden zu schmeicheln. »Gewiß«, sagte Odysseus zu dem Hirten, »besucht dich ein Freund oder Bekannter; denn gegen Fremde gebärden sich deine Hunde ganz anders, das hab ich erfahren!«

Das Wort war noch nicht ganz ausgeredet, als sein lieber Sohn Telemach unter der Hüttentür stand. Der Sauhirt ließ das Trinkgeschirr vor freudiger Bestürzung aus der Hand sinken, eilte seinem jungen Herrn entgegen, umschlang ihn und bedeckte ihm weinend Antlitz, Augen und Hände mit seinen Küssen, als wäre er vom Tode erstanden. Ein alter Vater kann seinen einzigen spätgeborenen Sohn, wenn dieser nach zehn Jahren aus der Fremde kommt, nicht herzlicher bewillkommnen. Jener trat erst über die Schwelle, als er von seinem Diener vernommen, daß in der Mutter Hause nichts Neues vorgefallen sei. Dann übergab er dem Hirten seine Lanze und ging in die Hütte. Sein Vater Odysseus wollte dem Hereintretenden auf seinem Sitze Platz machen, Telemach aber hielt ihn und sagte freundlich: »Bleib nur sitzen, Fremdling; der Mann da wird mir schon meinen Platz anweisen.« Inzwischen bereitete Eumaios seinem jungen Herrn ein weiches Polster aus grünem Laube, darüber er einen Schafpelz deckte. Nun setzte sich Telemach zu den beiden, und der Sauhirt tischte eine Schüssel mit gebratenem Fleische auf, stellte den Brotkorb dazu und mischte in der hölzernen Kanne den Wein. So schmausten sie alle drei zusammen. Da fragte denn Telemach den Diener nach dem Fremdlinge, und dieser brachte kürzlich vor, was Odysseus an ihn hingefabelt. »Er hat sich jetzt«, beschloß er seine Antwort, »aus einem thesprotischen Schiffe geflüchtet und kam in mein Gehege; ich gebe ihn dir in die Hände, tue mit ihm, wie du willst.« »Dein Wort ängstet mich«, erwiderte Telemach; »wie kann ich den Mann in meinem Hause, so wie es dort aussieht, beschirmen? Behalte du ihn lieber hier; ich will ihm Rock und Mantel auf den Leib, Beschuhung an die Füße und um die Lenden ein zweischneidiges Schwert schicken, auch Speise genug, damit er dir und deinen Knechten nicht beschwerlich falle. Nur kann ich nicht darein willigen, daß er sich unter die Freier begebe; denn diese schalten und walten gar zu frech im Hause, selbst ein gewaltiger Mann vermöchte nichts gegen sie.«

Odysseus, der Bettler, drückte seine Verwunderung darüber aus, daß die Freier, dem Sohne des Hauses zum Trotze, sich so viele Unarten herausnehmen dürften. »Haßt dich denn etwa«, fragte er den Telemach, »das Volk, oder liegst du mit Brüdern im Streite, oder gibst du dich von freien Stücken so tief herunter? Wäre ich so jung wie du und der Sohn des Odysseus oder gar er selber käme zurück – denn noch ist ja die Hoffnung dazu nicht ganz verloren! –, eher sollte mir ein Fremder den Kopf von der Schulter hauen, ja lieber wollte ich in meinem eigenen Hause sterben, als daß ich so schändliche Taten länger mit anschaute!«

Darauf antwortete Telemach: »Nein, lieber Gast, das Volk haßt mich nicht; auch habe ich keine Brüder, die mich anfeindeten, ich bin das einzige Kind im Hause; aber feindselig gesinnte Männer von allen Inseln umher und von Ithaka selbst werben in Unzahl um meine Mutter. Sie weicht ihnen aus, ohne ihnen wehren zu können, und in kurzem wird mein Haus und Gut verwüstet sein.« Dann wandte er sich zu dem Sauhirten und sprach: »Du aber, Väterchen, tu mir den Gefallen und eile hinein in die Stadt zu Penelope, meiner Mutter, und sag ihr, daß ich da bin, doch so, daß es ja kein Freier vernimmt.« »Soll ich«, fragte Eumaios, »nicht den Umweg über den Aufenthalt deines Großvaters Laërtes machen und ihm deine Heimkehr auch zu wissen tun? Seitdem du nach Pylos gefahren bist, erzählen sie, habe er keine Speise und keinen Trank mehr genossen und nicht mehr nach den Feldarbeiten gesehen; in beständiger Betrübnis sitze er da, von den Gliedern schwinde ihm das Fleisch.« »So betrübt es ist«, antwortete Telemach, »so kann ich dich doch den Umweg nicht machen lassen. Nicht bald genug kann mir die Mutter wissen, daß ich wiedergekommen bin!« So sprach er und trieb den Diener an. Der Sauhirt langte sich seine Sohlen hervor, band sie sich unter die Füße, griff zu seiner Lanze und eilte fort.

Telemach, Odysseus und Eumaios kommen in die Stadt



Telemach, Odysseus und Eumaios kommen in die Stadt

An demselben Abende kam der Sauhirt in seine Hütte zurück, während Odysseus und sein Sohn Telemach gerade damit beschäftigt waren, ein geschlachtetes Schwein zur Nachtkost zuzubereiten. Der erstere, vom Stab Athenes berührt, war bereits wieder zum zerlumpten Bettler eingeschrumpft, daß Eumaios ihn nicht zu erkennen vermochte. »Kommst du endlich Sauhirt«, rief dem Eintretenden Telemach zuerst entgegen, »und was bringst du Neues aus Ithaka? Lauern die Freier noch immer auf mich, oder sind sie von ihrem Hinterhalte zurück?« Eumaios meldete ihm, was er von den beiden Schiffen gesehen, und Telemach winkte vergnügt lächelnd seinem Vater, doch so, daß es der Sauhirt nicht bemerkte. Nun schmausten sie traulich miteinander alle drei und legten sich dann zur Ruhe.

Am andern Morgen frühe gürtete sich Telemach, nach der Stadt zu gehen, und sprach zu Eumaios: »Alter, ich muß jetzt nach der Mutter sehen. Du selbst komm nach mit diesem armen Fremdling, daß er sich in den Häusern umher seine Brosamen und seinen Wein erflehe; ich kann unmöglich aller Welt Last auf mich laden und habe genug an meinem eigenen Kummer zu tragen. Hält sich der Greis dadurch für beleidigt, desto schlimmer für ihn!« Odysseus, der sich über die geschickte Verstellung seines Sohnes im Herzen nicht genug wundern konnte, sagte nun auch seinerseits: »Lieber Jüngling, ich selbst begehre nicht länger hierzubleiben; ein Bettler bringt sich in der Stadt immer besser fort als auf dem Lande. Geh du denn immerhin, und wenn ich mich in meinen Lumpen noch ein wenig am Feuer gewärmt habe und die Luft milder geworden ist – denn die Stadt ist, wie man mir sagt, weit von hier entfernt –, so mag dein Diener da mich begleiten.«

Nun eilte Telemach in die Stadt. Es war noch ziemlich früh am Tage, als er vor seinem Palaste ankam, und die Freier hatten sich noch nicht eingefunden. Er lehnte seine Lanze an eine Säule des Eingangs und schritt über die steinerne Schwelle in den Saal. Hier war die Schaffnerin Eurykleia damit beschäftigt, die stattlichen Thronsessel mit schönen Vliesen zu bedecken. Als sie den Jüngling ansichtig ward, eilte sie mit Freudentränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen; auch die andern Mägde umringten ihn und küßten ihm Hände und Schultern. Jetzt trat auch seine Mutter Penelope aus der Kammer, schlank wie Artemis und schön wie Aphrodite. Weinend schloß sie ihren Sohn in die Arme und küßte ihm Antlitz und Augen. »Kommst du, kommst du, mein süßes Leben«, rief sie schluchzend; »nimmermehr hoffte ich, dich wiederzusehen, seit du heimlich und ohne meinen Willen nach Pylos geschifft warst, um Erkundigung vom lieben Vater einzuziehen! Nun sage mir doch, was bringst du für Nachrichten, liebes Kind?« »Ach Mutter«, antwortete Telemach, der seine wahren Gefühle mit Gewalt in den Busen zurückdrängen mußte, »rege mir, der ich selbst eben erst dem Verderben entflohen bin, den Gram um den Vater nicht wieder auf. Bade du dich jetzt, lege reine Gewande an, und gelobe droben in dem Söller mit deinen Jungfrauen den Göttern köstliche Dankopfer, wenn sie einst uns die Vergeltung gönnen. Ich selbst will zum Markte hingehen, um einen Fremdling ins Haus zu führen, der mich auf der Fahrt begleitet hat und dessen Pflege ich bis zur eigenen Wiederkehr einem Freunde anempfohlen habe.« Penelope folgte seinem Rat, und Telemach eilte, den Speer in der Hand, von seinen Hunden begleitet, auf den Markt. Athene hatte ihm besondere Anmut verliehen, daß den Kommenden alle Bürger anstaunten, und auch die Freier versammelten sich sogleich um ihn und sagten ihm viel Schönes ins Angesicht, während sie im Herzen über ihren bösen Entwürfen brüteten. Telemach verweilte jedoch nicht in ihrem Gedränge. Er setzte sich zu drei alten Freunden seines Vaters, Mentor, Antiphos und Halitherses, und erzählte ihnen, was er durfte. Jetzt führte auch Peiraios seinen Gastfreund Theoklymenos an der Hand daher, und Telemach begrüßte beide; Peiraios aber wandte sich an seinen Freund und sprach: »Lieber Telemach, schicke doch auf der Stelle Dienerinnen in mein Haus, daß sie die Geschenke in Empfang nehmen, die dir Menelaos mitgegeben hat.« »Freund«, erwiderte Telemach, »die Gaben liegen besser bei dir. Wissen wir doch noch nicht, welche Wendung die Sache nimmt. Fall ich von dem Meuchelmorde der Freier und teilen sie mein Erbgut, so gönne ich jene köstlichen Dinge dir besser als ihnen; strafe dagegen ich sie mit dem Untergange, dann komm du und bringe fröhlich dem Fröhlichen jene Schätze!«

So sprach Telemach, faßte den landesflüchtigen Seher Theoklymenos bei der Hand und führte ihn vom Markte weg in seinen Palast. Dort nahmen beide ein erquickendes Bad und genossen in Penelopes Gesellschaft, welche ihnen gegenüber an der zierlichen Spindel saß, das Frühstück im Saal. Da sprach denn die Mutter Telemachs traurig zu ihrem Sohne: »Eigentlich tu ich besser daran, Telemach, zum Söller hinaufzusteigen und dort einsam das Lager zu benetzen wie bisher; denn dir gefällt es ja doch nicht, mir zu erzählen, was du vom heimfahrenden Vater gehört hast.« »Liebe Mutter«, antwortete Telemach, »gerne will ich dir alles der Wahrheit nach verkündigen, was ich vernommen habe, wenn es nur Tröstlicheres wäre! So liebreich mich der greise Nestor zu Pylos aufnahm, so wußte er mir doch gar nichts vom Vater zu melden; aber er sendete mich mit seinem eigenen Sohne zu Wagen gen Sparta. Dort ward ich von dem großen Helden Menelaos gastlich aufgenommen und sah auch die Königin Helena, um welche Trojaner und Griechen so vieles erduldet haben. Hier erfuhr ich endlich weniges vom geliebten Vater, was dem Fürsten Menelaos der Meergott Proteus in Ägypten mitgeteilt hatte. Dieser hatte ihn auf der Insel Ogygia in Kummer versunken gesehen. Dort hält den Odysseus die Nymphe Kalypso wider Willen in ihrer Grotte zurück, und es fehlt ihm an Schiffen und Ruderern, um die Heimat zu erreichen.«

Als der Seher Theoklymenos die Fürstin bei dieser Nachricht sehr bewegt sah, unterbrach er seinen Gastfreund und sagte: »Königin, dieser weiß nicht alles. Vernimm du meine Weissagung: Fürwahr, Odysseus sitzt bereits irgendwo im Gefilde seiner Heimat, oder er schleicht heimlich umher, auf das Verderben der Freier sinnend! Dies hat mir ein Vogelzeichen gesagt, das ich deinem Sohn auf der Stelle so gedeutet habe.« »Möchte sich dein Wort erfüllen, edler Gast!« antwortete Penelope mit einem Seufzer, »mein Dank dafür sollte nicht ausbleiben.«

Während diese drei sich so im Wechselgespräch unterhielten, erfreuten sich die Freier vor dem Palaste auf dem Pflaster des Hofes wie gewöhnlich mit Diskuswerfen und Speerschleudern und brachen endlich auf die Erinnerung des Herolds zum Mittagsmahl ins Innere des Palastes auf. Unterdessen hatten sich in der Hütte des Eumaios auch dieser und sein Gast zum Weg in die Stadt angeschickt; Odysseus der Bettler hatte den häßlichen geflickten Ranzen umgeworfen und der Sauhirt ihm den Stab in die Hand gegeben. So wanderten beide dahin und überließen das Gehöft den Knechten und Hunden zur Bewachung. Sie waren schon an dem Stadtbrunnen angekommen, der von den Vorfahren des Odysseus schön in den Felsen gefaßt worden war; ein Pappelhain war in die Runde gepflanzt, und aus den Steinen sprang der hohe, helle Wasserstrahl. Hier erreichte sie Melanthios der Hirte mit zwei Knechten, der den Freiern die besten Ziegen aus der Herde zum Schmaus in die Stadt hineintrieb. Als dieser das wandernde Paar erblickte, fing er laut an zu schimpfen. »Wahrhaftig, da heißt es recht, ein Taugenichts führt den andern, und gleich zu gleich gesellt sich gern. Wohin führst du den heißhungrigen Bettler, verdammter Sauhirt, daß er an den Türpfosten müßig stehe und um Brocken bettle? Gäbest du ihn mir zum Hüter meines Geheges, daß er die Ställe ausfege und den Zicklein Laub vorwerfe, so könnte er, mit Ziegenkäse gefüttert, noch Fleisch um seine dürren Lenden sich wachsen sehen! Aber freilich, er hat nichts gelernt, er kann nichts als sich den gefräßigen Bauch füllen.« So rief jener und gab ihm in der Bosheit einen Fersentritt in die Hüfte; aber Odysseus wich nicht aus dem Fußsteige. Im Innern besann er sich freilich, ob er ihm nicht mit seinem Stab einen Streich über das Haupt versetzen sollte, daß er nicht mehr aufstände; aber er bezwang sein Herz und duldete die Schmach. Eumaios hingegen schalt den Unverschämten ins Gesicht und sprach, nach dem Brunnen gewendet: »Ihr heiligen Quellnymphen, Zeus‘ Töchter! Hat euch jemals mein Herr köstliche Opfer dargebracht, so gewährt mir meine Bitte, daß endlich einmal der Held Odysseus heimkehre! Er würde diesem trotzigen Müßiggänger den Übermut bald vertreiben; ist ein solcher doch der unbrauchbarste Hirte von der Welt und versteht nichts, als den ganzen Tag in der Stadt herumzulungern!« »Du Hund«, erwiderte Melanthios schimpfend, »du wärest wert, daß man dich auf den Inseln drüben als Sklave verkaufte und ein gutes Stück Geld aus dir löste. Möchte doch der Bogen Apollos oder der Dolch der Freier deinen Telemach treffen, auf welchen du pochest, daß er zugrunde ginge wie sein Vater!« Mit solchen Scheltworten ging er an ihnen vorüber und setzte sich im Palaste mitten unter die Freier, gerade dem Eurymachos gegenüber an die Tafel; denn diese hatten ihn gern und teilten ihm stets von ihrem Schmause mit.

Jetzt waren auch Odysseus und der Sauhirt vor dem Königspalast angekommen. Als jener sein Haus nach so langer, langer Zeit wieder erblickte, bewegte sich ihm das Herz im Leibe; er faßte seinen Begleiter an der Hand und sprach: »Fürwahr, Eumaios, das muß die Wohnung des Odysseus sein! Welch ein Palast, welch eine Reihe von Gemächern! Wie wohl umschlossen ist der Vorhof mit Mauern und mit Zinnen; welch mächtige Torflügel bilden den Eingang; wahrlich, diese Burg ist unbezwinglich! Auch merke ich wohl, daß viele Menschen da drinnen ein Gastmahl begehen; duftet es doch bis zu uns heraus von Speisen, und die Harfe des Sängers, der den Schmaus mit seinen Liedern würzt, schallt aus dem Saale hervor!«

Sie beratschlagten nun miteinander und beschlossen, daß der Sauhirt vorangehen und sich für den Odysseus im Saal umsehen, dieser aber solange vor dem Tor warten sollte. Während sie noch miteinander sprachen, erhub ein alter Haushund an der Türe Haupt und Ohren von seinem Lager. Er hieß Argos; Odysseus selbst hatte ihn noch aufgezogen, ehe er gen Troja schiffte. Er begleitete sonst die Männer auf die Jagd, jetzt aber lag er, im Alter verachtet, vor der Türe auf einem Düngerhaufen, mit Ungeziefer bedeckt. Als dieser den Odysseus bemerkte, schien er ihn trotz der Verkleidung zu kennen, er senkte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz; aber näher herangehen konnte er vor Schwäche nicht mehr. Odysseus wischte sich heimlich eine Träne aus dem Auge, als er es bemerkte; dann sprach er, seinen Schmerz verhehlend, zu dem Sauhirten: »Der Hund, der hier auf dem Miste liegt, scheint einmal so übel nicht gewesen zu sein, man sieht es seinem Wuchse noch an!« »Freilich«, erwiderte Eumaios, »er war der liebste Jagdhund meines unglücklichen Herrn; da hättest du ihn in den waldigen Tälern sehen sollen, wie weidlich er durchs Gestrüppe dem Wild nachspürte! Jetzt aber, seit sein Herr dahin ist, liegt er hier verachtet, und die Mägde geben ihm nicht einmal das nötige Futter!«

Mit diesen Worten ging der Sauhirt in den Palast; der Hund aber, nachdem er im zwanzigsten Jahre seinen Herrn wiedergesehen, senkte seinen Kopf und starb.

Telemach und die Freier



Zweites Buch

Odysseus – Erster Teil

Telemach und die Freier

Die Heimkehr der Griechen von Troja war vollbracht, und so viele der Helden den Schlachten während des Krieges oder dem Sturm auf der Heimfahrt entronnen waren, befanden sich jetzt zu Hause, glücklich oder unglücklich. Nur Odysseus, der Sohn des Laërtes, Ithakas Fürst, war noch auf der Irrfahrt und von einem seltsamen Schicksale betroffen. Nach mancherlei Abenteuern saß er in der Ferne auf einer rauhen, mit Wäldern bedeckten, einsamen Insel, mit Namen Ogygia, wo ihn eine hohe Nymphe, die Göttin Kalypso, die Tochter des Atlas, in ihrer Grotte gefangenhielt, weil sie ihn zum Gemahl begehrte. Er aber blieb der zurückgelassenen Gattin, der edlen Penelope, treu; und endlich jammerte sein auch die Götter im Olymp; nur Poseidon, der Gott des Meeres, der alte Feind der Griechen, zürnte auch diesem Helden unversöhnlich, und wenn er ihn nicht zu vertilgen wagte, so legte er seiner Heimfahrt doch allenthalben Hindernisse in den Weg und trieb ihn in der Irre umher. Und so war er es auch, der ihn an jene unwirtliche Insel geworfen hatte.

Nun aber wurde doch im Rate der Himmlischen beschlossen, daß Odysseus aus den Banden der Inselfürstin Kalypso befreit werden sollte. Auf die Fürbitte Athenes wurde Hermes, der Götterbote, nach dem ogygischen Eilande geschickt, um der schönen Nymphe den unwiderruflichen Ratschluß des Zeus zu verkündigen, daß dem Dulder die Wiederkehr in seine Heimat bestimmt sei. Athene selbst band sich die ambrosischen goldenen Sohlen unter die Füße, womit sie über Wasser und Land dahinschwebt, nahm ihre mächtige Lanze mit der gediegenen scharfen Spitze von Erz, mit welcher sie so manche Helden in der Schlacht bezwungen hatte, zur Hand, schwang sich stürmend von dem felsigen Gipfel des Olympos herab, und bald stand sie auf der Insel Ithaka, die an der Westküste Griechenlands liegt, am Palaste des fernen Odysseus, vor der Schwelle des Hofes, da, wo der Weg zum hohen Tore des Königshauses führte. Ihre Göttergestalt war verwandelt, und die Lanze in der Hand, glich sie dem tapfern Mentes, dem Könige der Taphier.

Im Hause des Odysseus sah es traurig aus. Die schöne Penelope, die Tochter des Ikarios, blieb mit ihrem jungen Sohne Telemach nicht lange Meister in dem verlassenen Palaste. Als Odysseus, nachdem längst Nachricht von Trojas Fall und von der Rückkehr der andern Helden gekommen war, allein nicht heimkehrte, verbreitete sich allmählich mit immer größerer Sicherheit die Sage von seinem Tode, und es fanden sich aus der Insel Ithaka selbst, auf welcher noch andere mächtige und reiche Leute außer dem Fürsten Odysseus wohnten, nicht weniger als zwölf, von Zakynth zwanzig, ja von Dulichion zweiundfünfzig Freier mit einem Herold, einem Sänger, zween geübten Köchen und großem Sklavengefolge bei Penelope ein, die unter dem Vorwand, um die Hand der jungen Witwe zu werben, alle im Hause und vom Gute des abwesenden Fürsten zehrten und den frechesten Übermut trieben; und dieses Unwesen hatte nun schon über drei Jahre gewährt.

Als Athene in der Gestalt des Mentes ankam, fand sie die üppigen Freier eben an der Pforte des Hauses beim Brettspiel; sie saßen auf den Häuten von Rindern, die sie selbst dem Odysseus aus den Ställen genommen und geschlachtet hatten. Herolde und aufwartende Diener eilten hin und her; die einen mischten in gewaltigen Krügen den Wein unter das Wasser, andere säuberten die umhergestellten Tische mit Schwämmen und zerlegten das reichlich aufgetragene Fleisch. Der Sohn des Hauses, Telemach selbst, saß mit einem Herzen voll Betrübnis unter den Freiern und gedachte an seinen herrlichen Vater, ob er nicht endlich käme, die Scharen der Frechen zu zerstreuen und sich wieder in den Besitz seiner Habe zu setzen. Wie er die Göttin in der Gestalt des fremden Königs erblickte, eilte er ihr an der Pforte entgegen, faßte die Rechte des vermeintlichen Gastfreundes und hieß ihn willkommen. Als die beide in den gewölbten Saal des Palastes eingetreten waren und Athene ihre Lanze in den Speerkasten, der sich an der Hauptsäule befand, zu den Lanzen des Odysseus gelehnt hatte, führte Telemach seinen Gast zu Tische an einen Thronsessel mit schön gewirktem Polster, hieß ihn sitzen und schob ihm einen Schemel unter die Füße; er selbst stellte seinen Sessel neben den seinen; eine Dienerin brachte in goldener Kanne Waschwasser für die Hände des Fremdlings; die ehrbare Schaffnerin trug Brot und Fleisch herbei, ein Diener zerlegte die Speisen, und um die goldenen gefüllten Becher wandelte, Wein einschenkend, der Herold. Bald darauf traten auch, einer um den andern, die Freier ein und setzten sich alle auf stattliche Lehnsessel; die Herolde besprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen Brot in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher bis zum Rand, und sie machten sich, als kämen sie nicht eben vom Schmause, über das leckere Mahl her. Dann gelüstete sie nach Reigentanz und Gesang, der Herold reichte dem Sänger Phemios die zierliche Harfe, und dieser, von den trotzigen Freiern gezwungen, schlug die Saiten an und begann den herzerfreuenden Gesang.

Während nun diese dem Liede horchten, neigte Telemach sein Haupt nahe an das seines Gastes und flüsterte der verwandelten Göttin ins Ohr: »Wirst du mir, lieber Gastfreund, was ich dir sage, nicht verargen? Siehst du, wie diese Menschen hier fremdes Gut ohne Ersatz verprassen? das Gut meines Vaters, dessen Gebein vielleicht am Meeresstrand im Regen modert oder auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl nicht wieder heim, sie zu strafen! – Aber du sage mir, edler Fremdling, wer bist du, wo hausest du, wo sind deine Eltern? Bist du vielleicht schon vom Vater her unser Gastfreund?« »Ich bin«, erwiderte Athene, »Mentes, der Sohn des Anchialos, und beherrsche die Insel Taphos; ich kam zu Schiffe hierher, um in Temesa Erz gegen Eisen einzutauschen. Frage deinen Großvater Laërtes, den Greis, der, wie man sagt, ferne von der Stadt, in Kummer auf dem Lande sich abhärmt: er wird dir sagen, daß unsere Häuser seit der Altväter Zeiten in Gastfreundschaft miteinander leben. Ich kam, weil ich glaubte, dein Vater sei wieder daheim. Dem ist nun freilich nicht so; aber doch lebt er gewiß noch; er ist wohl irgendwo an eine wilde Insel verschlagen und wird mit Zwang dort festgehalten. Ja, mir sagt es mein weissagender Sinn, er weilt nicht lange mehr, er macht sich bald los und kehret heim!

Du bist doch deines Vaters leiblicher Sohn, lieber Telemach! Wie du ihm am Haupte, zumal an den freundlichen Augen gleichest! Denn wisse, ich habe deinen Vater gekannt, ehe er gen Troja fuhr. Seitdem sah ich ihn nicht mehr. Doch sage mir, was ist denn das für ein Gewühl in deinem Hause? Feierst du denn ein Gastmahl oder ein Hochzeitsfest?«

Telemach antwortete mit einem Seufzer: »Ach lieber Gastfreund, ehemals mochte wohl unser Haus angesehen und begütert heißen, jetzt ist es anders; alle diese Männer aus der Nachbarschaft, die du hier siehest, umwerben meine Mutter und verzehren unser Gut. Sie selbst kann eine verabscheute Wiedervermählung nicht abschlagen und nicht vollziehen. Indessen verwüsten diese Schlemmer mein Haus, und in kurzem werden sie mich selbst umbringen!« Mit zornigem Schmerz antwortete die Göttin: »Wehe, wie sehr bedarfst du des Vaters, Jüngling! Wohl empfehle ich dir, zu bedenken, wie du diesen lästigen Schwarm aus dem Palaste fortdrängest! Laß mich dir einen Rat geben. Morgen erhebe dich unter ihnen und heiße sie, einen jeglichen in das Seinige, sich zerstreuen; deiner Mutter aber sage: wenn ihr eigenes Herz nach einer Vermählung begehrt, so soll sie in den Palast ihres königlichen Vaters heimkehren; dort mag die Hochzeit angeordnet, mag die Brautgabe bereitet werden. Du selbst aber rüste das beste Schiff, das du hast, mit zwanzig Ruderern aus und begib dich auf den Weg, den lange abwesenden Vater zu suchen. Zuerst gehe nach Pylos im Lande Elis, frage dort den ehrwürdigen Greis Nestor; erfährst du da nichts, so wende dich nach Sparta zum Helden Menelaos, denn dieser ist der letzte von den Griechen, der heimgekehrt ist. Hörst du vielleicht dort, daß dein Vater lebe, daß er wiederkehre, nun, dann ertrag es noch ein Jahr. Vernimmst du aber, daß er gestorben sei, alsdann kehre heim, opfre Totenopfer und errichte ihm ein Denkmal. Findest du die Freier noch immer in deinem Hause, so sinne darauf, wie du sie durch List oder öffentlich tötest. Bist du doch nicht mehr unmündig und dem Knabenalter längst entwachsen! Hörest du nicht, welchen Ruhm der Jüngling Orestes unter den Menschen geerntet hat, daß er seines Vaters Mörder, Ägisth, erschlagen? Du bist so groß und stattlich; halte dich wohl! Mach, daß auch dich einst spätere Geschlechter loben!« Telemach dankte dem Gastfreunde für seinen guten Rat und seine väterliche Gesinnung, und da dieser sich zum Aufbruch anschickte, wollte er ihm ein Gastgeschenk mit auf den Weg geben; der verstellte Mentes versprach aber, wiederzukommen und auf dem Rückweg es abzuholen. Dann enteilte die Göttin und verschwand; denn wie ein Vogel durchflog sie den Kamin. Telemach staunte über dem Verschwinden des Fremden tief in der Seele; er ahnte, daß es ein Gott gewesen, und sann in sich gekehrt seinem Rate nach.

Im Saale dauerte indessen Saitenspiel und Gesang fort: der Sänger meldete die traurige Heimfahrt der Griechen von Troja, und alle Freier horchten. Droben im Söller saß inzwischen die einsame Penelope, und der Hall des Liedes drang zu ihr empor. Da stieg auch sie mit zwei Dienerinnen die Stufen ihrer hohen Wohnung herab und trat zu den Freiern in den Saal ein, doch in einen dichten Schleier gehüllt; eine der Mägde stand ihr zur Seite, und weinend begann sie, zu Phemios dem Sänger gewendet: »Du weißt ja sonst viele herzerquickende Lieder, guter Sänger! Erfreue sie damit; aber diesen Jammergesang, der mir beständig das Herz im Busen quält, den laß ruhen! Gedenke ich doch auch ohne das beständig des Mannes, dessen Ruhm durch ganz Griechenland reicht und der noch immer nicht heimgekehrt ist!« – Aber Telemach redete freundlich zu der Mutter: »Tadle doch den lieblichen Sänger nicht, daß er uns mit dem erfreut, was ihm gerade das Herz entzündet. Nicht den Sängern, Zeus müssen wir Schuld geben, der ihnen die Lieder eingibt und sie begeistert, wie er will! Laß ihn deswegen immerhin das Leid der Danaer besingen! Odysseus ist es ja nicht allein, der den Tag der Wiederkehr verlor; wieviel andere Griechen sind untergegangen! Du selbst, liebe Mutter, kehr ins Frauengemach zurück, besorge dort deine Geschäfte, die Spindel und den Webestuhl und leite das Tagwerk deiner Frauen! Das Wort gebührt den Männern, und vor allem mir, der ich die Herrschaft im Hause zu führen habe.«

Penelope verwunderte sich über die verständige und bestimmte Rede des Knaben, den sie früher nie so hatte sprechen hören und der auf einmal zum Jüngling gereift schien; sie kehrte nach dem Söller zurück und beweinte dort ihren Gemahl in der Einsamkeit. Den Freiern aber, die zu toben und beim Becher Mutwill zu treiben anfingen, trat Telemach auch entgegen und rief in die Versammlung hinein: »Freuet euch immerhin beim Mahle, ihr Freier, aber lärmet mir nicht so, denn das ist eine Lust, dem Sänger in Stille zuzuhorchen! Morgen wollen wir Ratsversammlung halten; da will ich euch frank und frei den Vorschlag machen, nach Hause zu gehen; denn es ist Zeit, daß ihr euch an eurer eigenen Habe wärmet und nicht des fremden Mannes Erbgut vollends aufzehret.«

Die Freier bissen sich auf die Lippen, als sie solche Reden hörten, und konnten über die entschlossenen Worte des Jünglings nicht genug staunen. Aber von seinem Vorschlage, zum Vater Penelopes, Ikarios, zu wandern, wollten sie nichts hören und zankten sich trotzig mit ihm herum. Endlich brachen sie auf, und auch Telemach ging zur Ruhe.

Am andere Morgen sprang er zeitig vom Lager, kleidete sich an und hängte das Schwert um die Schultern. Dann trat er aus der Kammer hervor und gebot den Herolden, die Versammlung der Bürger zu berufen, und lud auch die Freier zu derselben ein. Als das Volk sich gedrängt eingefunden hatte, erschien der Fürstensohn, die Lanze in der Hand; Pallas Athene hatte seiner Gestalt Hoheit und Anmut verliehen, so daß alles Volk den Kommenden anstaunte. Selbst die Greise machten ihm ehrerbietig Platz, und er setzte sich auf den Stuhl seines Vaters Odysseus. Da erhub zuerst der Held Aigyptios, von Alter gebückt und reich an Erfahrung, er, dessen ältester Sohn Antiphos schon mit Odysseus vor Troja gezogen war und erst auf dem Rückwege verunglückte, dessen zweiter Sohn Eurynomos mit unter den Freiern sich befand, während die zwei jüngsten Söhne noch des Vaters Geschäfte zu Hause betrieben, sich in der Volksversammlung und sprach: »Seit Odysseus fort ist, sind wir nicht versammelt gewesen. Wem ist denn auf einmal eingefallen, uns zusammenzuberufen? Ist es ein älterer Mann oder ein jüngerer, und welches Bedürfnis treibt ihn? Höret er etwa Kunde von einem heranziehenden Kriegsheere? Oder hat er einen Antrag zum Besten des Landes zu machen? Nun, gewiß es ist ein Biedermann, der also gehandelt hat; Zeus segne ihn, was er auch im Herzen vorhaben mag!«

Telemach erfreute sich des glücklichen Vorzeichens, das in diesen Worten lag, erhub sich von seinem Stuhle und sprach, mitten unter die Versammlung eintretend, nachdem der Herold Peisenor ihm das Zepter gereicht, indem er sich zuerst dem greisen Aigyptios zuwandte: »Edler Greis! der Mann, der euch berufen hat, ist nicht ferne: ich bin’s, denn der Kummer und die Sorge bedrängen mich. Erst habe ich meinen trefflichen Vater, euren Beherrscher, verloren, und jetzt stürzt mein Haus ins Verderben, und alle meine Habe geht in Trümmer. Mit unerwünschter Bewerbung sieht sich meine Mutter Penelope von Freiern umdrängt. Diese sträuben sich, meinem Vorschlage sich zu fügen und beim Vater der Mutter, Ikarios, um die Tochter zu werben. Nein, von Tag zu Tage wenden sie sich an unser Haus, opfern Rinder zum Mahle, halten bei unsern Schafen und Ziegen Schmaus und trinken mir den funkelnden Wein ohne Scheu aus dem Keller. Was vermag ich gegen so viele? Erkennet doch selbst, ihr Freier, euer Unrecht; habt auch Scheu vor andern, vor der Nachbarschaft; bebet endlich vor der Rache der Götter! Wann hat euch mein Vater beleidigt, wann habe ich selbst euch Schaden zugefügt, dessen Ersatz ihr von mir zu nehmen berechtigt wäret? Ihr aber ladet mir unverdienten Schmerz auf die Seele!«

So sprach Telemach, vergoß Tränen dazu und warf zornig seinen Zepter auf die Erde. Die Freier saßen schweigend umher, und keiner außer Antinoos, der Sohn des Eupeithes, wagte es, ihm ein heftiges Wort auf seine Rede zu erwidern. Dieser erhub sich und rief laut: »Trotziger Jüngling, welche Schmähung erlaubst du dir gegen uns? Nicht die Freier haben alles das verschuldet, sondern deine eigene Mutter, die ränkevolle! Drei Jahre, und bald das vierte, sind dahin, und immer noch spottet sie des Wunsches der Achajer. Allen verheißt sie Gunst, bald diesem, bald jenem Manne sendet sie Botschaft zu; aber im Herzen denkt sie ganz anders. Wohl durchschauen wir ihre List. In ihrer Kammer hat sie ein großes Gewebe angefangen, und zur Versammlung der Freier hat sie gesprochen: ›Ihr Jünglinge, wartet mit der Entscheidung und der Hochzeit nur so lange, bis ich das Leichengewand für meines Gemahles alten Vater Laërtes fertiggewirkt habe, daß, wenn er dereinst stirbt, keine Griechin mich tadeln kann, wenn der angesehene Mann als Leiche nicht festlich eingekleidet daläge!‹ Mit diesem frommen Vorwande gewann sie unsere Herzen. Nun saß sie auch wirklich den Tag über da und wirkte an ihrem großen Gewebe, in der Nacht aber beim Kerzenlichte, da trennte sie heimlich alles wieder auf, was sie am Tage gewoben hatte. So entging sie unsern Aufforderungen drei Jahre lang und täuschte edle Griechensöhne. Eine der Dienerinnen, welche sie nachts belauscht hatte, hat uns dieses hinterbracht, und so überraschten wir sie selbst, während sie damit beschäftigt war, ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nötigten wir sie, das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur Antwort, Telemach, daß dir allerdings vergönnt sein soll, die Mutter hinweg- und zu ihrem Vater zu senden; aber du sollst ihr auch gebieten, sich demjenigen zu vermählen, den ihr Vater auserlesen wird oder den sie sich selbst erwählt. Wenn sie aber die edlen Griechen noch länger verhöhnt und mit ihrem Truggewebe täuschen will, so zehren wir auch noch länger von deinem Gute, und nicht eher weichen wir von deinem Herde und begeben uns an den unsrigen, als bis deine Mutter einen Gatten gewählt hat.«

Darauf antwortete Telemach: »Antinoos, mit Zwang kann ich meine Mutter nicht aus dem Hause verstoßen, sie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein Vater noch leben oder tot sein. Weder Ikarios, ihr Vater, noch die Götter könnten ein solches Verfahren billigen. Nein, wenn ihr selbst noch Gefühl für Recht und Unrecht habt, so verlasset mein Haus und besorget euch eure Gastmahle anderswo, oder verzehrt wenigstens eure eigene Habe und lasset die Bewirtung im Kreise herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererstattung zu verschlingen – nun, so tut es! Ich aber werde die Ewigen laut anflehen, daß mir Zeus zur wohlverdienten Bezahlung an euch verhelfe!«

Während Telemach so sprach, schickte ihm Zeus ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges schwebten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften und umeinander her: als sie der Versammlung über den Häuptern waren, schauten sie drohend herab und fingen dann an, sich selbst mit den Klauen Hals und Kopf zu zerkratzen, dann erhoben sie sich wieder und stürmten rechts hin über Ithakas Stadt. Dies deutete der anwesende greise Vogelschauer Halitherses auf großes Verderben, das den Freiern drohe. Denn noch am Leben sei Odysseus und nahe schon, und der Tod sei allen jenen Männern bereitet. Aber der Freier Eurymachos, des Polybos Sohn, spottete des Zeichens und sagte: »Geh du nach Hause und verkündige deinen eigenen Kindern ihr Geschick, alberner Greis! Uns wirst du nicht betören. Viel Vögel fliegen unter den Strahlen der Sonne herum, aber nicht alle bedeuten etwas. Gewisser ist nichts, als daß Odysseus in der Ferne starb!« Übrigens beharrten die Freier auf ihrem Ansinnen, daß die Mutter Telemachs selbst das Haus verlassen, zu ihrem Vater Ikarios ziehen und dort wählen solle.

Da drang Telemach nicht weiter in sie, sondern er begehrte vom Volke nur ein schnellsegelndes Schiff und zwanzig Ruderer, um zu Pylos und zu Sparta nach dem verschollenen Vater zu fragen. Lebe der, so wollte auch Telemach noch ein Jahr zusehen; sei er tot, so möge ein anderer die Mutter nehmen. Jetzt erhub sich Mentor, der Freund und Altersgenosse des Odysseus, dem der Held, in den Kampf vor Troja ziehend, die Sorge des Hauses anvertraut hatte, daß er, unter der Oberaufsicht seines Vaters Laërtes, alles in Ordnung erhielte. Dieser ereiferte sich zornig gegen die Freier und rief. »Kein Wunder, wenn ein zeptertragender König Recht und Billigkeit vergäße, stets zürnte und grausam frevelte: verdienen es die Menschen doch nicht anders! Wer in diesem Kreise gedenkt jetzt noch des freundlichen, väterlichen Herrschers Odysseus? Prassen doch diese Freier ungestraft von seinem Gute! Und nicht ihnen verdenke ich es, die da im Wahne handeln, als kehre Odysseus nicht wieder! Aber dem andern Volke verarg ich’s, das stumm dasitzt und zuschauen mag und auch nicht mit einem Wörtchen es versucht, die frevelnden Freier im Zaum zu halten, so überlegen es ihnen an Zahl ist!«

Aber Leiokritos, einer der frechsten Freier, spottete des Scheltenden und sprach: »Laß immerhin den Odysseus kommen, du alter Schadenfroh; wir wollen sehen, ob er mit uns fertig wird, wenn er uns beim Mahle überrascht! Und glaubet mir nur, Penelope selbst, sosehr sie nach ihm zu schmachten scheint, würde seiner Ankunft sich am wenigsten freuen. Möge ihn das böse Verhängnis vertilgen! Nun, laßt uns scheiden, ihr Männer! Mögen Mentor und der alte Vogelschauer Halitherses die Reise des Knaben Telemach beschleunigen. Aber, was wollen wir wetten? er sitzt noch nach Wochen hier unter uns und erspäht sich hier in Ithaka selbst die Botschaft nach seinem Vater. Nimmermehr vollendet er die Reise!«

Lärmend trennten sich die Freier, und die ganze Volksversammlung tat, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben, das gleiche. Jeder ging in seine Wohnung, und die Freier lagerten sich wieder im Palaste des Odysseus.

Telemach verläßt Sparta



Telemach verläßt Sparta

Pallas Athene, die Göttin, wandelte inzwischen nach Sparta und fand dort die beiden Jüngling aus Pylos und aus Ithaka bei dem Fürsten Menelaos auf ihr Nachtlager hingestreckt. Peisistratos, der Sohn des Nestor, lag in süßem Schlafe, den Telemach aber labte kein Schlummer. Er wachte die ganze Nacht hindurch aus Bekümmernis über das Schicksal seines Vaters. Da sah er auf einmal die Tochter des Zeus vor seinem Bette stehen, die also zu ihm sprach: »Du tust nicht wohl daran, Telemach, fern von deinem Hause dich in der Irre umherzutreiben, während in deinem Palaste zügellose Männer dein Gut unter sich verteilen. Wohlan, bitte den Fürsten Menelaos unverzüglich um die Heimfahrt, ehe deine Mutter eine Beute der Freier wird! Denn bereits stürmen Vater und Brüder auf sie ein und verlangen, daß sie den Eurymachos zum Gemahl erkiese, der allerdings mit seinen Geschenken alle andern übertroffen hat und sich noch zu reichlicherer Bräutigamsgabe erbietet. Wenn sie aber diesen wählt, dann magst du selbst zusehen, wie es dir ergehen wird! Eile daher zurück, und im schlimmsten Fall übergib deine Güter einer getreuen Dienerin, bis dir die Götter einmal eine würdige Gemahlin bescheren. Aber noch eines vernimm: In der Meerenge zwischen Ithaka und Same liegen die tapfersten Freier in einem Hinterhalte und sind dazu gerüstet, dich umzubringen, ehe du dein Vaterland wieder erreichest. Steure deswegen fern von den andern Inseln und fahre nur in der Nacht; für guten Wind wird ein Gott sorgen. Hast du sodann das nächste Ufer von Ithaka erreicht, so sende deine Genossen alle sogleich nach der Stadt, du selbst aber begib dich vor allen Dingen zu dem treuen Hirten, der deine Schweine bewacht; bei ihm bleibst du bis an den Morgen, und von dort aus meldest du der Mutter Penelope deine glückliche Zurückkunft aus Pylos!«

Nachdem sie also gesprochen, flog die Göttin wieder zum Olymp empor. Telemach aber weckte den Sohn Nestors, indem er ihn mit dem Fuß an die Ferse stieß, und rief. »Wach auf, Peisistratos, schirre die Rosse vor den Wagen und laß uns die Heimfahrt beginnen!« »Wie«, antwortete der Sohn Nestors noch im halben Schlummer, »wir werden doch im Dunkel der Nacht nicht auf die Fahrt gehen wollen? Warte doch, bis der Morgen kommt; dann legt uns der König Menelaos schöne Geschenke in den Wagensessel und entläßt uns mit freundlichen Abschiedsworten.« Während sie so noch länger miteinander über die Abreise unterhandelten, erschien die Morgenröte, und Menelaos erhub sich noch vor den Jünglingen von dem Lager. Als ihn Telemach in der Ferne durch die Halle wandeln sah, warf er sich schnell in seinen Leibrock, schlug den Mantel um die Schultern, trat zu dem Fürsten und bat ihn um Entlassung in die Heimat. Freundlich entgegnete ihm Menelaos: »Lieber Gast, ich bin weit entfernt, dich länger aufhalten zu wollen, wenn du dich nach Hause sehnest. Ich selbst kann den Wirt nur tadeln, der durch lästige Freundschaft sich gegen seinen Gastfreund als ein Feind beweist. Es ist ebenso unrecht, einen Eilenden aufzuhalten, als einen Zögernden an die Heimkehr zu erinnern. Warte nur so lange, bis ich dir Geschenke in den Wagen gelegt und die Weiber dir einen Schmaus bereitet haben.« »Edler Fürst«, antwortete Telemach, »ich wünsche nur deswegen heimzukehren, um nicht, während ich nach dem Vater forsche, selbst zugrunde zu gehen; denn es warten allerlei Gefahren auf mich, und im väterlichen Palaste wird mein Erbgut aufgezehrt.« Als Menelaos dieses hörte, sorgte er in aller Eile für das Mahl und verfügte sich mit Helena und Megapenthes in die Vorratskammer. Hier suchte er selbst einen goldenen Becher heraus, seinem Sohne Megapenthes gab er einen schönen silbernen Krug zu tragen, und aus dem Kasten suchte Helena das unterste ihrer selbstgewirkten Gewande hervor, welches das schönste und größte von allen war. Mit diesen Gaben kehrten sie zu dem Gastfreunde zurück; Menelaos reichte ihm den Becher, sein Sohn stellte den Krug vor ihm auf, und Helena ging mit ihrem Gewand in den Händen ihm entgegen und sprach: »Nimm dieses Geschenk, lieber Sohn, als ein Andenken aus der Hand Helenas; am Hochzeitstage soll es deine junge Braut tragen; bis dahin mag es im Gemache deiner Mutter liegen. Du aber kehre mit fröhlichem Herzen in das Haus deiner Väter zurück!«

Telemach empfing die Gaben mit ehrerbietigem Danke, und sein Freund Peisistratos legte sie, jedes einzelne bewundernd, im Wagenkorbe nieder. Dann führte Menelaos die Gäste noch einmal in seinen Saal, und der Abschiedsimbiß wurde genossen. Als sie schon auf dem Wagen saßen, trat Menelaos, mit einem vollen Becher in der Rechten, noch einmal vor die Rosse, brachte zu glücklicher Abfahrt den Unsterblichen eine Opferspende dar, trank mit einem Handschlag den Jünglingen zu, sagte ihnen Lebewohl und gab ihnen einen Gruß an seinen greisen Freund Nestor auf. Während Telemach noch dankte und seinen Wunsch aussprach, den Vater Odysseus im Palaste heimgekehrt zu treffen und ihm von des Menelaos Gastfreundschaft Bericht abstatten zu können, siehe, da flog ein Adler, mit einer zahmen Gans aus dem Hofe in den Klauen, von schreienden Männern und Weibern verfolgt, rechts her gerade vor die Rosse der Jünglinge. Alle freuten sich über dieses Zeichen, Helena aber sprach: »Höret meine Weissagung, ihr Freunde! Wie der Adler, aus seinem Nest im Gebirge gekommen, die Gans weggerafft hat, die sich vom Fett unsrer Wohnung mästete, so wird Odysseus nach langer Irrfahrt und Qual als Rächer in die Heimat zurückkehren oder ist schon zurückgekehrt, den gemästeten Freiern zum Verderben!« »Geb es Zeus so«, antwortete Telemach, »dann, edle Fürstin, will ich dich zu Hause stets wie eine Göttin anflehen.«

Und nun eilten die beiden Gäste mit dem Wagen davon. Am Abend übernachteten sie, gastreich gepflegt, wieder in der Burg bei dem gütigen Helden Diokles zu Pherai, und am zweiten Tage erreichten sie glücklich die Stadt Pylos. Aber ehe sie hineinfuhren, wandte sich Telemach bittend an seinen jungen Freund: »Lieber Peisistratos«, sprach er, »so befreundet unsere Väter sind, so innig diese Fahrt uns beide vereinigt hat: verarge mir’s nicht, wenn ich die Stadt nicht betreten will, daß dein greiser Vater mich nicht aus lauter Liebe mit Zwang in seiner Wohnung zurückhalte, denn du weißt ja selbst, wie sehr ich meine Heimkehr beschleunigen muß. »Peisistratos fand sein Gesuch natürlich, lenkte mit seinen Rossen an der Stadt vorüber und brachte den Jüngling geradenwegs an den Strand zu seinem Schiffe. Hier nahm er recht herzlichen Abschied von seinem Freunde und sprach: »Besteige nur rasch dein Schiff und fahre davon; denn erführe mein Vater, daß du da bist, er würde gewiß selbst kommen und dich nötigen, in seinem Palast einzukehren.« Telemach gehorchte seinen Worten; die Genossen bestiegen das Schiff und setzten sich auf die Ruderbänke, er selbst aber stellte sich noch auf dem Strande hinten an das Steuerruder des Schiffes und brachte seiner Beschützerin Athene unter Gebet ein Opfer dar.

Während er dies tat, näherte sich ein Mann mit hastigen Schritten dem äußersten Ufer, streckte seine Hände nach Telemach aus und rief: »Bei deinem Opfer, Jüngling, bei den Göttern und bei der Wohlfahrt deines Hauptes und der Deinigen flehe ich zu dir: sage mir, wer du bist und wo du wohnest.« Als Telemach ihm alles der Wahrheit nach kurz zugerufen, fuhr er fort zu bitten: »Auch ich bin auf der Wanderschaft begriffen. Ich bin der Seher Theoklymenos, mein Geschlecht stammt aus Pylos, ich selbst aber hausete zu Argos. Dort hab ich im Streit und Jähzorn einen Mann aus mächtigem Geschlecht erschlagen und bin seinen Brüdern und Verwandten, die mir den Tod geschworen haben, entronnen. Hinfort bleibt mir nichts übrig, als wie ein Verbannter durch die Welt zu irren. Du aber, guter Jüngling, betrachte mich als einen Schutzflehenden und laß mich zu dir ins Schiff, denn meine Verfolger sind mir auf den Fersen!«

Telemach, der einen milden Sinn hatte, nahm den Fremdling gern in sein Schiff auf und versprach ihm, auch in Ithaka für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er empfing den Speer aus den Händen des Fremden und legte ihn aufs Verdeck nieder; dann bestieg er selbst mit dem Seher das Schiff und setzte sich mit ihm an das Steuerende; die Seile, mit welchen das Fahrzeug am Gestade angebunden war, wurden abgelöst, der Mast aus Fichtenholz in die mittlere Vertiefung des Schiffsbodens gestellt und hoch aufgerichtet, die weißen Segel mit Riemen an den Stangen aufgespannt, und unter dem Sausen des günstigen Windes flog das Schiff davon.

Telemach zu Sparta



Telemach zu Sparta

Freunde und Nachbarn umgaben den Fürsten Menelaos zu Sparta im Palaste beim fröhlichen Schmause; ein Sänger rührte die Harfe im dichten Gedränge; zwei Gaukler machten lustige Sprünge im Kreise; der Beherrscher des Landes feierte das doppelte Verlobungsfest zweier Kinder, der lieblichen Hermione, Helenas Tochter, die damals dem mutigen Sohne des Achill, Neoptolemos, als Braut entgegengesandt werden sollte, und eines Sohnes von einem Nebenweibe, Megapenthes, den er einer edeln Spartanerin verlobte. Unter diesem Getümmel hielten am Tore der Königsburg Telemach und Peisistratos mit ihrem Wagen, und ein Krieger des Menelaos, der sie zuerst erblickte, meldete dem Fürsten die Ankunft der Fremden und fragte an, ob die Rosse abgespannt oder die Fremden, wegen der festlichen Feier im Hause, einer Herberge zur Bewirtung zugewiesen werden sollten. »Ei, Held Eteoneus«, antwortete ihm Menelaos ärgerlich, »du warst doch sonst nie ein Tor, heute aber redest du wie ein Kind! Wie viele Gastfreundschaft habe ich selbst bei andern Menschen genossen; und ich sollte um irgendeiner Ursache willen Fremdlinge von meinem Herd abweisen? Hurtig die Rosse abgespannt und die Männer zum Gastmahl hereingeführt!« Der Krieger verließ eilends mit vielen Dienern den Saal, und die schäumenden Rosse wurden vom Wagenjoch abgelöst und vor reichlichen Haber an die Krippe im Stalle gestellt; auch der Wagen wurde eingetan. Die Gäste führte man in den herrlichen Palast und wusch ihnen den Staub des Weges durch ein erquickendes Bad vom Leibe. Dann wurden sie dem Könige Menelaos zugeführt und nahmen an seiner Seite beim köstlichen Mahle Platz. Staunend betrachtete sich Telemach die Pracht des Palastes und der Bewirtung und flüsterte seinem Freunde ins Ohr: »Sieh nur, Peisistratos, das Erz, das rings in dem gewölbten Saale glänzt, das Gold und Silber, das schimmernde Elfenbein! Welch unendlicher Schatz! Zeus‘ Palast auf dem Olymp kann nicht herrlicher sein! Mich erfüllt dieser Anblick mit Staunen!« Telemach hatte nicht so leise gesprochen, daß Menelaos nicht die letzten Worte vernommen hätte. »Lieben Söhne«, sagte er daher lächelnd, »mit Zeus wetteifere kein Sterblicher! Sein Palast ist unvergänglich und all sein Besitz! Aber das ist wahr: unter den Menschen wird sich nicht leicht einer mit mir im Reichtum messen können; habe ich ihn doch auch nach vielen Leiden und Irrfahrten eingetan und brauchte acht Jahre, bis ich wohlbehalten in der Heimat wieder ankam. Auf Zypern, in Phönizien, in Ägypten, Äthiopien, Libyen bin ich gewesen. Das ist ein Land, ihr Freunde! Dort kommen die Lämmer gleich mit Hörnern auf die Welt; die Schafe werfen dreimal des Jahres, und nie fehlt es dem Herrn und dem Hirten an Fleisch, Milch und Käse! Während ich mir in diesen Landen viel kostbare Habe sammelte, hat mir zu Mykene ein anderer den Bruder erschlagen, ein Meuchelmörder, durch die List seines treulosen Weibes – so daß ich bei all meinem Besitze doch nicht recht fröhlich herrschen kann! Doch das habt ihr wohl alles schon von euren Vätern vernommen, wer sie auch sein mögen!

Aber gern wär ich mit dem Drittel meines Gutes zufrieden, wenn nur die Männer noch lebten, die vor Troja gefallen sind. Und doch – keinen von ihnen betraure ich so innig als einen, der mir Schlaf und Speise verleidet, wenn ich sein gedenke! Denn so viel erduldete doch kein anderer Grieche als Odysseus! Und nun weiß ich nicht einmal, ob er lebt oder tot ist! Vielleicht trauern um ihn längst sein alter Vater Laërtes und seine züchtige Gemahlin Penelope und sein junger Sohn Telemach, der noch ein Säugling war, als er ihn verließ.«

So sprach Menelaos, und ohne es zu wollen, machte er dem Telemach das Herz so weichmütig, daß ihm die Tränen von den Wimpern herabrollten und er den Purpurmantel mit beiden Händen fest vor die Augen drücken mußte. Dem Könige Spartas blieb dies nicht verborgen, und er erkannte in dem Jüngling alsbald den Sohn des Odysseus.

Indessen wandelte auch die Fürstin Helena aus ihrem duftenden Frauengemach hervor, einer Göttin an Schönheit gleich; sie umringten anmutige Dienerinnen: die eine stellte ihr den Sessel hin; eine andere breitete den wollenen Teppich unter; die dritte brachte ihr einen silbernen Korb, das Gastgeschenk der Königin von Theben in Ägypten; er war mit gesponnenem Garne gefüllt, und die volle Spindel lag darüber. So setzte sich die Königin auf den Sessel, stellte die Füße auf den Schemel und begann ihren Gemahl neugierig nach dem Geschlechte der neuangekommenen Männer zu fragen: »Sah ich doch auf der Welt noch keinen Menschen, der dem hochgesinnten Odysseus so ähnlich wäre wie der eine der Jünglinge hier!« So sprach sie leise zu ihrem Gemahl, und dieser antwortete ihr: »Auch mir, o Frau, kommt es so vor. Füße, Hände, Blick der Augen, Haupt- und Scheitelhaare, alles ist dasselbe an beiden! Auch tropften dem Jüngling bittere Zähren von den Wimpern, als ich vorhin unserer Not und des Odysseus gedachte.«

Peisistratos, Telemachs Begleiter, vernahm diese Reden und sagte laut: »Du redest recht, König Menelaos, dieser ist des Odysseus Sohn, Telemach; er aber ist zu bescheiden, dreist mit dir zu sprechen. Ihn hat mit mir Nestor, mein Vater, gesandt, denn er hofft von dir Nachricht von seinem Vater zu erhalten.« »Ihr Götter«, rief nun Menelaos aus, »so ist wirklich der Sohn des geliebtesten Mannes mein Gast, des Mannes, dem ich selbst so gerne alle Liebe erwiesen hätte, wenn er auf der Heimkehr in meinem Hause einspräche!«

Als nun der König fortfuhr, so sehnlich von seinem alten Freunde zu reden, da mußten alle weinen, Helena und Telemach und Menelaos selbst, und auch Nestors Sohn weinte, denn er mußte an seinen Bruder Antilochos denken, der vor Troja, seinen Vater rettend, gefallen war.

Endlich bedachten sie, daß es fruchtlos und nicht heilsam sei, dem Gram beim Abendschmause nachzuhängen, und wollten, nachdem die Diener ihnen mit Wasser die Hände besprengt, alle zur Nachtruhe aufbrechen. Helena aber, die als Zeus‘ Tochter in allerlei Wunderkünsten erfahren war, warf noch vorher schnell in den letzten Becher Weins, den sie tranken, ein Mittel, das allen Kummer und die Erinnerung an alle Leiden aus der Seele vertilgte. Wenn ein Mensch von dieser Mischung trank, so benetzte ihm den ganzen Tag über keine Träne die Wangen, und wären ihm Vater und Mutter gestorben, wären ihm Sohn oder Bruder vor seinen Augen vom Schwert des Feindes durchbohrt worden. Da wurden sie alle fröhlich und sprachen noch lange in die Nacht hinein. Endlich wurde den Gästen ihr Bett von prächtigen Purpurpolstern und Teppichen unter der Halle bereitet; Menelaos und Helena aber begaben sich in das Innere des Palastes.

Am andern Morgen fragte der Fürst seine Gastfreunde über die Absicht ihrer Reise weiter aus und vernahm, wie es zu Ithaka, im Hause seines Freundes Odysseus, stehe. Als er hörte, wie sich die Freier dort gebärdeten, rief er entrüstet aus: »Ha, die Elenden, die im Lager des gewaltigen Mannes zu ruhen gedenken! Wie der Löwe zurückkommt, dem eine Hindin ihre Jungen ins Nest gelegt hat, während er im grünen Tale weidet, wird Odysseus kommen und ihnen ein Ende voll Entsetzen bereiten! Wisse, was mir in Ägypten der Meeresgreis Proteus geweissagt hat, als er, in mancherlei Gestalten verwandelt, endlich von mir gebunden und gezwungen ward, die Schicksale der heimkehrenden Griechenhelden mir kundzutun. ›Den Odysseus‹, sprach der Gott, ›sah ich im Geist auf einer einsamen Insel Tränen der Sehnsucht vergießen. Dort hält ihn die Nymphe Kalypso mit Gewalt zurück, und ihm gebricht’s an Schiffen und Ruderern, um in die Heimat zurückzukehren.‹ Nun weißt du alles, lieber Jüngling, was ich dir über deinen Vater zu berichten vermag. Bleib nun noch ein eilf oder zwölf Tage bei uns, dann will ich dich mit köstlichen Geschenken entlassen.«

Aber Telemach dankte und ließ sich nicht zurückhalten. Nun schenkte ihm Menelaos einen silbernen Mischkrug mit goldenem Rande von unvergleichlich schöner Arbeit, ein Werk des kunstreichen Gottes Hephaistos selbst, und ein köstliches Frühmahl von Ziegen und Schafen wurde dem Abschied nehmenden Gastfreunde bereitet.