Theseus und Phädra
Theseus stand jetzt auf dem Wendepunkte seines Glücks. Gerade ein Versuch, dasselbe nicht nur auf Abenteuern zu suchen, sondern es sich an seinem eigenen Herde zu gründen, stürzte ihn in schwere Drangsal. Als der Held in der Blüte seiner Taten und in den ersten Jünglingsjahren die Geliebte seiner Jugend Ariadne ihrem Vater Minos aus Kreta entführte, wurde diese von ihrer kleinen Schwester Phädra begleitet, welche nicht von ihr weichen wollte und, nachdem Ariadne von Bakchos geraubt worden war, den Theseus nach Athen begleitete, weil sie nicht wagen durfte, zu ihrem tyrannischen Vater zurückzukehren. Erst als ihr Vater gestorben war, ging das aufblühende Mädchen in ihre Heimat Kreta zurück und erwuchs dort in dem Königshause ihres Bruders Deukalion, der als der älteste Sohn des Königes Minos die Insel jetzt beherrschte, zu einer schönen und klugen Jungfrau heran. Theseus, der nach dem Tode seiner Gemahlin Hippolyte lange Zeit unvermählt geblieben war, hörte viel von ihren Reizen und hoffte, sie an Schönheit und Anmut seiner ersten Geliebten, ihrer Schwester Ariadne, ähnlich zu finden; Deukalion, der neue König von Kreta, war auch dem Helden nicht abhold und schloß, als Theseus von der blutigen Hochzeit seines thessalischen Freundes zurückgekehrt war, ein Schutz-und-Trutz-Bündnis mit den Athenern. An ihn wandte sich nun Theseus mit seiner Bitte, ihm die Schwester Phädra zur Gemahlin zu geben. Sie wurde ihm nicht versagt, und bald führte der Sohn des Aigeus die Jungfrau aus Kreta heim, die wirklich von Gestalt und äußerer Sitte der Geliebten seiner Jugend so ähnlich war, daß Theseus die Hoffnung seiner jungen Jahre im späteren Mannesalter erfüllt glauben konnte. Damit zu seinem Glücke nichts fehlen konnte, gebar sie in den ersten Jahren ihrer Ehe dem Könige zwei Söhne, den Akamas und den Demophoon. Aber Phädra war nicht so gut und treu, als sie schön war. Ihr gefiel der junge Sohn des Königes, Hippolytos, der ihres Alters war, besser als der greise Vater. Dieser Hippolytos war der einzige Sohn, den die von Theseus entführte Amazone ihrem Gemahl geboren hatte. In früher Jugend hatte der Vater den Knaben nach Trözen geschickt, um ihn bei den Brüdern seiner Mutter Aithra erziehen zu lassen. Wie er erwachsen war, kam der schöne und züchtige Jüngling, der sein ganzes Leben der reinen Göttin Artemis zu weihen beschlossen und noch keiner Frau ins Auge geschaut hatte, nach Athen und Eleusis, um hier die Mysterien mitfeiern zu helfen. Da sah ihn Phädra zum ersten Male; sie glaubte ihren Gatten verjüngt wiederzusehen, und seine schöne Gestalt und Unschuld entflammte ihr Herz zu unreinen Wünschen; doch verschloß sie ihre verkehrte Leidenschaft noch in ihre Brust. Als der Jüngling abgereist war, erbaute sie auf der Burg von Athen der Liebesgöttin einen Tempel, von wo aus man nach Trözen blicken konnte und der später Tempel der Aphrodite Fernschauerin genannt ward. Hier saß sie tagelang, den Blick auf das Meer gerichtet. Als endlich Theseus eine Reise nach Trözen machte, seine dortigen Verwandten und den Sohn zu besuchen, begleitete ihn seine Gemahlin dorthin und verweilte geraume Zeit daselbst. Auch hier kämpfte sie noch lange mit dem unlautern Feuer in ihrer Brust, suchte die Einsamkeit und verweinte ihr Elend unter einem Myrtenbaume. Endlich aber vertraute sie sich ihrer alten Amme, einem verschmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und törichter Liebe ergebenen Weibe an, die es bald über sich nahm, den Jüngling von der strafbaren Leidenschaft seiner Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unschuldige Hippolytos hörte ihren Bericht mit Abscheu an, und sein Entsetzen stieg, als ihm die pflichtvergessene Stiefmutter sogar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom Throne zu stoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und Herrschaft zu teilen. In seinem Abscheu fluchte er allen Weibern und meinte schon durch das bloße Anhören eines so schändlichen Vorschlags entweiht zu sein. Und weil Theseus gerade abwesend von Trözen war – denn diesen Zeitpunkt hatte das treulose Weib erwählt –, so erklärte Hippolytos, auch keinen Augenblick mit Phädra unter einem Dache verweilen zu wollen, und eilte, nachdem er die Amme gebührend abgefertigt, ins Freie, um im Dienste seiner geliebten Herrin, der Göttin Artemis, in den Wäldern zu jagen und so lange dem Königshause nicht wieder zu nahen, bis sein Vater zurückgekehrt sein würde und er sein gepeinigtes Herz vor ihm ausschütten könnte.
Phädra vermochte die Abweisung ihrer verbrecherischen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtsein ihres Frevels und die unerhörte Leidenschaft stritten sich in ihrer Brust; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theseus zurückkehrte, fand er seine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zusammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem geschrieben stand: ›Hippolytos hat nach meiner Ehre getrachtet; seinen Nachstellungen zu entfliehen ist mir nur ein Ausweg geblieben. Ich bin gestorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe.‹ Lange stand Theseus vor Entsetzen und Abscheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er seine Hände gen Himmel und betete: »Vater Poseidon, der du mich stets geliebt hast wie dein leibliches Kind, du hast mir einst drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wollest und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Versprechen. Nur eine Bitte will ich erfüllt haben: Laß meinem Sohn an diesem Tag die Sonne nicht mehr untergehen!« Kaum hatte er diesen Fluch ausgesprochen, als auch Hippolytos, von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr seines Vaters unterrichtet, in den Palast einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiderte der Sohn mit sanfter Ruhe: »Vater, mein Gewissen ist rein. Ich weiß mich einer Untat nicht schuldig.« Aber Theseus hielt ihm den Brief seiner Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytos rief seine Schutzgöttin, die jungfräuliche Artemis, zur Zeugin seiner Unschuld auf und sagte seinem zweiten Heimatlande Trözen unter Seufzern und Tränen Lebewohl.
Noch am Abende desselben Tages suchte den König Theseus ein Eilbote auf und sprach, als er vor ihn gestellt war: »Herr und König, dein Sohn Hippolytos sieht das Tageslicht nicht mehr!« Theseus empfing diese Botschaft ganz kalt und sagte mit bitterem Lächeln: »Hat ihn ein Feind erschlagen, dessen Weib er entehrt, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?« »Nein, Herr!« erwiderte der Bote. »Sein eigener Wagen und der Fluch deines Mundes haben ihn umgebracht!« »O Poseidon«, sprach Theseus, die Hände dankend zum Himmel erhoben, »so hast du dich mir heute als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört! Aber sprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat meinen Ehrenschänder die Keule der Vergeltung getroffen?« Der Bote fing an zu erzählen: »Wir Diener striegelten am Meeresufer die Rosse unseres Herrn Hippolytos, als die Botschaft von seiner Verbannung und bald er selbst kam, von einer Schar wehklagender Jugendfreunde begleitet, und uns Rosse und Wagen zur Abfahrt zu rüsten befahl. Als alles bereit war, hub er die Hände gen Himmel und betete: ›Zeus, mögest du mich vertilgen, wenn ich ein schlechter Mann war! Und möge, sei ich nun tot oder lebendig, mein Vater erfahren, daß er mich ohne Fug entehrt!‹ Dann nahm er den Rossestachel zur Hand, schwang sich auf den Wagen, ergriff die Zügel und fuhr, von uns Dienern begleitet, auf dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir waren so ans öde Meergestade gekommen, zu unserer Rechten die Flut, zur Linken von den Hügeln vorspringende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräusch vernahmen, unterirdischem Donner ähnlich. Die Rosse wurden aufmerksam und spitzten ihr Ohr; wir alle sahen uns ängstlich um, woher der Schall käme. Als unser Blick auf das Meer fiel, zeigte sich uns hier eine Welle, die turmhoch gen Himmel ragte und alle Aussicht auf das weitere Ufer und den Isthmos uns benahm; der Wasserschwall ergoß sich bald mit Schaum und Tosen über das Ufer, gerade auf den Pfad zu, den die Rosse gingen. Mit der tobenden Welle zugleich aber spie die See ein Ungeheuer aus, einen riesenhaften Stier, von dessen Brüllen das Ufer und die Felsen widerhallten. Dieser Anblick jagte den Pferden eine plötzliche Angst ein. Unser Herr jedoch, ans Lenken der Rosse gewöhnt, zog den Zügel mit beiden Händen straff an und gebrauchte desselben, wie ein geschickter Steuermann sein Ruder regiert. Aber die Rosse waren läufig geworden, bissen in den Zaum und rannten dem Lenker ungehorsam davon. Aber wie sie nun auf ebener Straße fortjagen wollten, vertrat ihnen das Seeungeheuer den Weg; bogen sie seitwärts zu den Felsen um, so drängte es sie ganz hinüber, indem es den Rädern dicht zur Seite trabte. So geschah es endlich, daß auf der andern Seite die Radfelgen auf die Felsen aufzusitzen kamen und dein unglücklicher Sohn kopfüber herabgestürzt und mitsamt dem umgeworfenen Wagen von den Rossen, die ohne Führer dahinstürmten, über Sand und Felsgestein geschleift wurde. Alles ging viel zu schnell, als daß wir begleitenden Diener dem Herrn hätten zu Hilfe kommen können. Halbzerschmettert hauchte er den Zuruf an seine sonst so gehorsamen Rosse und die Wehklage über den Fluch seines Vaters in die Lüfte. Eine Felsecke entzog uns den Anblick. Das Meerungeheuer war verschwunden, wie vom Boden eingeschlungen. Während nun die übrigen Diener atemlos die Spur des Wagens verfolgten, bin ich hierhergeeilt, o König, das jammervolle Schicksal deines Sohnes dir zu verkünden!«
Theseus starrte auf diesen Bericht lange sprachlos zu Boden. »Ich freue mich nicht über sein Unglück; ich beklage es nicht«, sprach er endlich nachsinnend und in Zweifel vertieft. »Könnte ich ihn doch lebend noch sehen, ihn befragen, mit ihm handeln über seine Schuld.« Diese Rede wurde durch das Wehgeschrei einer alten Frau unterbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerrissenem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerschaft trennte und dem Könige Theseus sich zu Füßen warf. Es war die greise Amme der Königin Phädra, die auf das Gerücht von Hippolytos‘ jämmerlichem Untergange, von ihrem Gewissen gefoltert, nicht länger schweigen konnte und unter Tränen und Geschrei die Unschuld des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem König offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Besinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von wehklagenden Dienern sein Sohn Hippolytos, zerschmettert, aber noch atmend, in den Palast und vor seine Augen getragen. Theseus warf sich reumütig und verzweifelnd über den Sterbenden, der seine letzten Lebensgeister zusammenraffte und an die Umstehenden die Frage richtete: »Ist meine Unschuld erkannt?« Ein Wink der Nächststehenden gab ihm diesen Trost. »Unglückseliger getäuschter Vater«, sprach der sterbende Jüngling, »ich vergebe dir!« und verschied.
Er wurde von Theseus unter denselben Myrtenbaum begraben, unter welchem einst Phädra mit ihrer Liebe gekämpft und dessen Blätter sie oft, in der Verzweiflung an den Ästen zerrend, zerrissen hatte und wo nun, als an ihrem Lieblingsplatz, auch ihre Leiche beigesetzt war; denn der König wollte seine Gemahlin im Tode nicht entehren.