Wormser Wahrzeichen

Am westlichen Portal des uralten Domes Unser lieben Frauen zu Worms ist als ein steinern Bildwerk ein Weib mit einer Mauerkrone zu erblicken, reitend auf einem seltsamen vierfüßigen Tiere. Das wird eines der Wahrzeichen der Stadt Worms genannt und ist vielfach ausgedeutet worden. Manche meinen, das Frauenbild stelle die triumphierende Kirche dar; andere meinen, es sei Brunhild, die Gemahlin des Austrasierkönigs Siegbert, über welche, nachdem sie bereits 80 Jahre alt geworden, ein furchtbares Strafgericht, ihrer Herrschsucht wegen, gehalten ward. Drei Tage lang wurde Brunhild gemartert, alsdann auf ein Kamel gesetzt und allem Volke zur Verspottung darauf umhergeführt, endlich an eines wilden Hengstes Schweif gebunden und dahingeschleift über Stock und Stein.

Weiter zeigt sich auf freier Straße westlich vom Dom nach St. Andreaspforte zu ein Felsstück; das warf vom Rosengarten, einer Insel im Rhein, ein Recke bis herein in die Stadt. Ohnweit davon ward eine Stange aufbewahrt, die war groß wie ein Weberbaum, war spitz und 23 Werkschuh lang. Das soll, wie die Sage geht, der Weberbaum gewesen sein, mit welchem der Hörnerne Siegfried den Drachen erschlug, wie im Volksbuche zu lesen ist. Eine andere Riesenstange, 66 Werkschuh lang, ward vordem im Dome aufbewahrt. Auch hat man lange Jahre hindurch bis zum großen Brande zu Worms des Hörnernen Siegfrieds Grab gezeigt.

Des Schweizervolkes Ursprung

In alten Zeiten, bevor noch das Schweizerland bevölkert und bebauet war, saß ein starkes und zahlreiches Volk in Ost- und Westfriesland und im Lande Schweden. Einst kam über dieses Volk große Hungersnot und leidiger Mangel. Da beschlossen die Gemeinden, weil der Menschen bei ihnen zu viel waren, daß von Monat zu Monat eine Schar auswandern sollte; wen das Los treffe, der müsse fort, bei Strafe Leibes und Lebens. Als dies immer noch nicht fruchtete und dem Mangel steuerte, ward ferner beschlossen, daß jede Woche der zehnte Mann ausgelost werden und hinwegziehen solle. So geschah es, und es zogen an die 6000 Schweden fort und 1200 Friesen mit ihnen. Sie ernannten sich Führer, deren Namen waren Suiter, Swei und Hasius, ferner Restius, Rumo und Ladislaus.

Sie fuhren auf Schiffen den Rhein hinauf und hatten unterwegs manchen Kampf zu bestehen. Endlich kamen sie in ein Land voll hoher Gebirge, allda bescherte ihnen Gott Wonne und Weide, und sie bauten sich an, wirkten und schafften. Ein Teil zog ins Brünig1, ein anderer an die Aar. Ein Teil Schweden, die aus der Stadt Hasle2 stammten, erbauten Hasli3 und wohnten darin unter ihrem Führer Hasius. Restius erbaute die Burg Resty bei Meiringen4 und wohnte allda. Swei und Suiter gaben der Schweiz und dem Volke den Gesamtnamen. Auch das Bernerland gewannen sie. Sie waren ein treu und gehorsam Volk, trugen zwilchene5 Kleider, nährten sich von Fleisch, Milch und Käse, denn des Obstes war damals noch nicht viel im Lande. Sie waren stark wie die Riesen, und Wälder auszureuten war ihnen so leicht wie einem Fiedler sein Geigenspiel. Alte Lieder sagen aus, wie ihrer ein Teil unter den Führern Ladislaus und Suiter gen Rom gezogen und dem römischen Kaiser tapfer beigestanden gegen hereingebrochenes Heidenvolk und wie beide Führer vom Kaiser Feldzeichen empfangen, Adler und Bären, ein rotes Kreuz und ein weißes, und wie sie dann diese Zeichen nach der neuen Heimat getragen.

Immer noch erzählen sich auf ihren Bergen die Alpenhirten, wie die Vorfahren ins Land gezogen und wie die Berge eher bewohnt gewesen seien als die Täler. Erst ein späteres, jüngeres Geschlecht habe die Talgründe bebaut, wie das auch in andern Bergländern geschehen ist.

  1. Brunegg (Aargau)
  2. auf Bornholm (gehört jetzt den Dänen)
  3. in Luzern
  4. in Bern
  5. Gewebe mit zweiteiligen Fäden

Die Königstochter am Rhein

Vor grauen Zeiten soll das alte Worms auch die Hauptstadt des burgundischen Reiches gewesen sein. Ein Zigeunerweib stahl aus der Insel des Rosengartens eine Königstochter in einem kleinen Badewännlein und trug sie über den Rhein. Niemand wußte, wo das Kind hingekommen war. Sein Vater grämte sich zu Tode, und seine Mutter starb fast vor Herzeleid.

Achtzehn Jahre gingen darüber hin, da ritt der Königssohn durch einen Wald, fand dort ein Wirtshaus und kehrte ein. Den Wein, den er begehrte, brachte ihm eine schöne Jungfrau, die ihm über alle Maßen wohlgefiel. Da er nun eines Fußbades begehrte, so rüstete ihm das die Maid mit frischen grünen Kräutern und brachte es in einem Badewännlein getragen. Die Wirtin aber war ein häßliches, altes, braunes Weib, die gab der Maid böse Rede und sagte dem unbekannten jungen Rittersmann, daß jene nur ein Findelkind sei, vor langen Jahren von ihr angenommen und auferzogen zu einer Dienstmagd.

Wie aber der Königssohn sich das Badewännlein ansah, gewahrte er mit Staunen daran das burgundische Wappenschild, und er dachte bei sich selbst: »Wie kommt dieses Wännelein mit dem Wappen meines Stammes in dieses schlechte Wirtshaus?« Und da fiel ihm ein, gehört zu haben, daß vor langen Jahren sein Schwesterlein zusamt dem Wännchen, in dem es gebadet worden, aus dem Rosengarten verschwunden sei, und daß seine Mutter ihm oft erzählt, das Schwesterlein habe ein Malzeichen am Halse gehabt, und dasselbige Zeichen entdeckte nun alsobald der Königssohn am Halse der Dienerin. Da grüßte und umfing er sie als seine liebe Schwester.

Und als die Wirtin hereintrat, fragte er sie, von wem und von wannen sie diese edle Jungfrau habe. Die Wirtin erschrak gar sehr, zitterte und erbleichte und fiel auf die Knie. Sie hatte, als die Wärterin nur auf eine kurze Zeit sich entfernt, Kind und Wännlein davongetragen und war eilend in einem Kahn über den Rhein hinübergefahren. – Da zog der Königssohn sein Schwert, das war sehr spitz und scharf, und er stach die böse Wirtin damit in das Ohr, daß die Spitze zum andern Ohr wieder heraustrat, hob die Maid samt dem Wännelein auf sein Roß und ritt gen Worms zu seiner Frau Mutter.

Die Königin wunderte sich sehr, als sie das Paar so seltsam daherreiten sah, und sie fragte ihren Sohn: »Welch eine Dirne bringst du uns daher?« – »Frau Mutter, ich bringe keine Dirne, sondern Euer verlorenes Kind, mein lieb Schwesterlein, samt dem Wännelein, darin es Euch geraubt ward vor achtzehn Jahren!« Bei dieser Rede fiel die Königin vor Freude in Ohnmacht, und als sie wieder in den Armen ihrer Kinder erwacht war, priesen alle drei den Herrn.

Die Wiesenjungfrau

Auf einer grünen Wiese bei Auerbach an der Bergstraße hütete ein Hirtenbub seines Vaters Kühe, stand müßig und dachte an gar nichts. Da fühlte er auf einmal einen sanften Backenstreich von einer weichen Hand, und wie er sich erschrocken umdrehte, stand eine wunderschöne Jungfrau vor ihm da, ganz schleierweiß, und tat den Mund auf, ihn anzureden. Aber der Bub brüllte vor Schreck, als wenn er am Spieße stäke, und rannte davon, nach Auerbach zu.

Nach einiger Zeit hütete der Bub abermals auf jener Wiese und stand träumend in der heißen Mittagsstunde am Waldesrain. Da raschelte es am sonnigen Rain, als schlüpfe eine Eidechse ins Dorngebüsch. Der Knabe blickte hin; da sah er eine kleine Schlange, die trug in ihrem Mund eine blaue Blume und sprach: »Guter, erlöse mich! erlöse mich! Mit dieser Blume öffnest du droben im alten Schloß Auerbach die verfallenen Keller und die Fässer voll Gold, und alles ist dein! Nimm die Blume! Nimm die Blume!« Aber dem Buben wurde es ganz unheimlich und graulich; er hatte all sein Lebetage noch keine Schlange sprechen hören – und lief von dannen, als wenn der wilde Jäger hinter ihm drein wäre.

Als der Spätherbst kam, hütete der Bube zufällig wieder an derselben Stelle, und da empfing er wieder einen sanften Backenstreich und sah im Umdrehen wieder die weiße Jungfrau, welche ihn flehend ansprach: »Erlöse mich! erlöse mich! Ich will dich reich und glücklich machen. Du allein kannst es, nur du allein. Ich bin verwünscht, zu harren und zu wandeln, und kann nicht eher zur Seligkeit eingehen, bis aus einem Kirschkern, den ein Vöglein auf diese Wiese fallen läßt, ein Kirschbaum groß und stark gewachsen ist, der Baum abgehauen und aus ihm eine Wiege gemacht ist. Nur das erste Kind, das in solcher Wiege geschaukelt worden ist, kann mich dadurch erlösen, daß es mit der blauen Blume, die ich hier halte, hinauf zur Burg geht und dort die unterirdischen Schätze hebt. Du bist das Kind, das in solcher Wiege gewiegt worden ist.«

Als der Bube diese Rede hörte, zitterte er, und es lief ihm eiskalt über den Nacken; denn er hatte kein Herz, und wenn der Mensch kein Herz hat, ist er ein Tropf. Und er kreuzigte und segnete sich und schüttelte mit dem Kopfe. »Wehe mir! Wehe!« rief da die Jungfrau. »So muß ich wieder hundert Jahre harren und wandeln. Wehe dir, daß du kein Herz hast; so sollst du auch keins finden!« Und sie tat einen lauten Schmerzensschrei und verschwand.

Der Bube aber ging von diesem Tage an still und bleich umher und hat nicht lange gelebt.

Des Rodensteiners Auszug

Im Odenwalde oder nahe dabei stehen zwei Trümmerburgen, die heißen der Rodenstein und der Schnellerts, zwei Stunden voneinander entfernt.

Die Herren von Rodenstein waren ein mächtiges Rittergeschlecht. Einer derselben war ein gewaltiger Kriegs- und Jagdfreund. Kampf und Jagd war sein Vergnügen, bis er auf einem Turnier zu Heidelberg auch die Minne kennenlernte und ein schönes Weib gewann. Doch lange hielt er es nicht aus im friedsamen Minneleben auf seiner Burg: eine nachbarliche Fehde lockte ihn zu blutiger Teilnahme. Vergebens warnte ihn sein Weib, das durch schwere Träume geängstigt worden; sie bat und flehte, sie doch nicht zu verlassen. Er zog dennoch von dannen und achtete ihres Flehens nicht. Sie aber war so sehr erschüttert, daß sie eines toten Sohnes genas und – starb.

Der Ritter war, um dem Feinde näher zu sein, auf seine Burg Schnellerts gezogen. Dort erschien ihm im Nachtgrauen der Geist seines Weibes und sprach eine Verwünschung über ihn aus. »Rodenstein!« sprach sie, »du hast nicht meiner, nicht deiner geschont. Der Krieg ging dir über die Liebe. So sei fortan ein Bote des Krieges bis an den Jüngsten Tag!«

Bald darauf begann der Kampf. Der Rodensteiner fiel und ward auf Burg Schnellerts begraben. Ruhelos muß seit der Zeit sein Geist ausziehen und dem Lande ein Unheilsbote werden. Wenn ein Krieg auszubrechen droht, erhebt er sich schon ein halbes Jahr zuvor, begleitet von Troß und Hausgesinde, mit lautem Jagdlärm und Pferdegewieher und Hörner- und Trompetenblasen. Das haben viele Hunderte gehört. Man kennt sogar im Dorfe Oberkainsbach einen Bauernhof, durch den er hindurchbraust mit seinem Zuge, dann durch Brensbach und Fränkisch-Krumbach und endlich hinauf zum Rodenstein. Dort weilt das Geisterheer bis zum nahenden Frieden; dann zieht es, doch minder lärmend, nach dem Schnellerts zurück.

Das Rad im Mainzer Wappen

Erzbischof Willegis von Mainz war ein gelehrter und frommer Mann und von Herzen demütig. Er war aber von niederer und geringer Herkunft; sein Vater war ein armer Rademacher. Das machte ihm Neid bei den adeligen Domherren; die malten ihm heimlich Räder an die Türen und Wände seines Bischofhofes und spotteten: »Das ist unsers Bischofs Ahnenwappen.« Willegis aber, der fromme Mann, nahm sich des mit nichten als eines Spottes an. Er ließ über seiner Bettstatt ein hölzernes Pflugrad aufhängen und in seine Gemächer weiße Räder in rote Wappenfelder malen und dazu einen Reim setzen, der lautete:

»Willegis, Willegis,
denk, woher du kommen sis!«

Und nachher haben dem frommen Willegis zum Gedächtnis alle nach ihm kommenden Erzbischöfe dieses Rad als Wappenzeichen beibehalten, und Stadt und Bistum Mainz haben es angenommen und beibehalten bis auf den heutigen Tag.

Die Totenglocken zu Speyer

Kaiser Heinrich IV. nahm ein gar trauriges Ende. Seine Gebeine ruhen im Dome zu Speyer, aber sie kamen nicht alsbald nach seinem Tode dahin. Verstoßen von Thron und Reich gedachte er, am Dome zu Speyer einer Chorherrenpfründe teilhaftig zu werden; allein der Bischof Gebhard, den der Kaiser als solchen selbst auf den Stuhl gesetzt und bestätigt hatte, weigerte ihm die Aufnahme. Da seufzte der Kaiser und sprach: »Gottes Hand liegt schwer auf mir!« und zog trauernd von dannen. Und es geht in Speyer die Sage, als der alte Kaiser endlich arm und elend zu Lüttich an der Maas verstorben sei, da habe die Kaiserglocke im Dome von selbst zu läuten begonnen, und alle andern Glocken haben volltönig eingestimmt in das Geläute, und das Volk sei zusammengelaufen und habe gerufen: »Der Kaiser ist tot, der Kaiser ist tot! Aber wo? Wo ist er gestorben?« – Das wußte keiner.

Rheinsagen

Der Bischof zu Lüttich fühlte minder hart als der undankbare Bischof zu Speyer; er ließ den Verstorbenen mit gebührenden Ehren bestatten. Aber als das der unnatürliche Sohn Heinrichs, Kaiser Heinrich V., vernahm, ward der Bischof von Lüttich verurteilt, den Sarg des Bestatteten mit seinen eigenen Händen wieder auszugraben, da der Verstorbene im Banne dahingegangen und einen Gebannten die geweihte Erde nicht decken dürfe. Da ward der tote Kaiser in seinem Sarge auf eine Insel in der Maas gestellt, und niemand kümmerte sich um ihn. Aber siehe, da kam ein Mönch, den niemand kannte; der fuhr hinüber auf die Insel und betete an dem Sarge und las Messen über den Toten und sang ihm das Requiem29 . Und das trieb er fort und fort, bis Heinrich V. es vernahm und den Sarg mit den Resten seines Vaters gen Speyer führen ließ. Und als nun der Sarg im Königschor des Domes beigesetzt werden sollte, litt es der Bischof nicht, ehe denn der Papst zu Rom des deutschen Kaisers Überreste aus dem Banne löste. Das währte fünf Jahre; so lange blieb Kaiser Heinrichs IV. Sarg in Sankt Afra’s Kapelle unbeerdigt stehen.

Aber den Kaiser Heinrich V. wußte Gottes Hand auch zu finden; denn er blieb erbenlos und fiel in des Papstes Bann wie sein Vater. Und als er verstarb, da läutete vom Münsterturme zu Speyer ein Glöcklein von selbst gar hell und schrillend, und keine andere Glocke fiel ein, und niemand wußte, warum es läute. Und das Volk lief zusammen und fragte sich untereinander: »Wo wird denn einer zur Richtstätte hinausgeführt, daß das Armesünderglöcklein läutet?« –

  1. Totenmesse

Siegenheim

Nahe der Stadt Mannheim, an der Straße von da nach Heidelberg, liegt das Dorf Seckenheim, früher Siegenheim genannt von einem großen Siege, den Kurfürst Friedrich I. von der Pfalz, genannt der Sieghafte, im Jahre des Herrn 1462 in Siegenheims Gefild erfochten. Damals ward ein steinern Kreuz auf der Walstatt erhöht, mit einer Gedenkschrift, welche Kurfürst Friedrichs Sieg verkündete. Der junge mutige Sieger machte alle seine Gegner, den Markgrafen Karl von Baden, den Herzog Ulrich von Württemberg, den Bischof Georg von Metz und nicht weniger als 240 Grafen und Herren nebst noch einer großen Schar reisigen Volkes zu Gefangenen, ohne das Volk, welches erschlagen ward und die blutige Walstatt deckte. Da konnte man wohl vom Siege reden. Alle Gefangenen ließ der Kurfürst gen Heidelberg führen und mit den Fahnen, die er den Feinden abgewonnen, die Heilige-Geist-Kirche daselbst ausschmücken.

Die gefangenen Fürsten wurden indes standesgemäß behandelt und ehrlich gehalten, und des Abends rüstete man ihnen eine stattliche Mahlzeit. Da gab es Wild und Fisch und Beiessen und Wein im Überfluß, und nichts mangelte bis auf eins. Und der Kurfürst trat zu den Gefangenen und munterte sie auf, doch zuzulangen und wacker zu essen, es werde ihnen doch schmecken nach so heißem Tage! Aber sie aßen nicht, und einer sprach: »Gnädigster Herr Kurfürst, es mangelt uns an Brot!« – »Ha so!« entgegnete der Kurfürst, »das tut mir leid. Da ergeht es euch gerade wie meinen Untertanen, denen ihr und euer Volk alle Brotfrucht geraubt und verbrannt und nicht einmal der Früchte auf dem Felde verschont habt. Wo soll dann Brot herkommen?«

Mit großen Summen mußten die Gefangenen sich lösen, und sie dachten all ihr Lebtag an den Tag bei Siegenheim und an das Gastmahl zu Heidelberg.

Chorkönig

Das alte Münster zu Straßburg hatte Chlodwig erbaut, der Frankenkönig. Es war ursprünglich nur ein hölzern Gebäu, und im Jahre 1002 brannte es Hermann, Herzog von Elsaß und Schwaben, der mit Kaiser Heinrich um die Kaiserkrone stritt, fast ganz bis auf den Grund nieder; doch blieb der Chor Karls des Großen stehen. Aber 1007 schlug das Wetter hinein, und der Rest des Baues sank in Trümmer.

Da geschah es, daß Kaiser Heinrich II. im Jahre 1012 gen Straßburg kam. Er beklagte des Münsters Untergang und ließ sich die Regel und Ordnung der Chorherren vorlegen. Die gefiel ihm also wohl, daß er bei sich beschloß, der Bürde seiner Krone zu entsagen und ein Chorherr in »Unser lieben Frauen Münster« zu Straßburg zu werden. Das erschreckte gar sehr alle seine Getreuen; denn das Reich bedurfte seiner, und sie redeten ihm zu, von diesem Vorhaben abzustehen. Kaiser Heinrich aber, den man seines frommen Sinnes und seiner Mildtätigkeit gegen Klöster und Stifte wegen den Heiligen nannte, wollte nicht von seinem Vorsatz lassen.

Nun war zu Straßburg ein Bischof, der hieß Werinhard. Als dieser sah, daß der Kaiser sich nicht abbringen ließe von seinem Vorhaben, nahm er sich vor, ihm die geistlichen Gelübde abzunehmen, vor allem das Gelübde des Gehorsams. Wie der Kaiser das geleistet hatte, befahl er ihm kraft Gottes und in dessen Namen, die Kaiserkrone zu behalten, da das Reich seiner Herrschaft nicht entraten könne. Der Kaiser sah sich überlistet; doch gebot er, so solle fortan an seiner Statt ein anderer Chorherr im Frauenmünster Gott dienen und das Amt versehen und am Altar für ihn singen und beten, der solle der Chorkönig heißen. Er stiftete auch eine reiche Pfründe in das Gotteshaus, das war die Chorkönigspfründe, die hat bestanden weit über 600 Jahre.

Und Bischof Werinhard war es, der hernach im Jahre 1015 den Grundstein zu dem steinernen Münster in Straßburg legte.

Die Münsteruhr

Zu Straßburg im Münster ist ein kostbares und bewunderungswürdiges Uhrwerk, das seinesgleichen in der ganzen Welt nicht hat. Hoch und stolz, ein wundersames, figurenreiches Gebäu, steht es da vor aller Augen.

Am Fuße des Kunstwerks zeigt sich neben einem Himmelsglobus ein Pelikan; darüber erhebt sich ein Kalender, in dessen Mitte die Erdkugel ersichtlich ist. Zu beiden Seiten stehen der Sonnengott und die Mondgöttin, welche mit ihren Pfeilen die Tages- und Nachtstunden zeigen. Schildhalter an den vier Winkeln des Kalendariums lassen Wappen erblicken. Darüber fahren in Wagen, von verschiedenen Tiergespannen gezogen, die sieben Planetengötter als Tagesboten. Jeden Tag zeigt sich, sanft vorrückend, ein anderes Gespann, steht zur Mittagsstunde in der Mitte und gibt dann allmählich dem nachfolgenden Raum. Darüber befindet sich ein großer Viertelstundenzeiger, und zur Seite sieht man vier Gebilde: die Schöpfung, Tal Josaphat, Jüngstes Gericht und Verdammnis. Zur Rechten des Beschauers steht ein freier Treppenturm am Uhrgebäu, zur Linken ein ähnlicher von anderer Form mit Göttergestalten, auf der Spitze ein großer Hahn, welcher die Stunden kräht und mit den Flügeln schlägt. Am Sockel der Türme halten zwei große, aufrechtsitzende Löwen je einer den Helm mit dem Kleinod, der andere das Wappenschild Straßburgs. Rechts in der Mitte ist das riesiggroße, mannigfach verzierte und mit kunstvollem Triebwerk versehene Zifferblatt, umgeben von den Bildern der vier Jahreszeiten; darüber steht: Dominus lux mea, quem timeo28 . Den Zeiger bildet ein geschlängelter Drache, dessen Zungenpfeil auf die Stundenzahl deutet. Über dem Zifferblatte zeigt ein kleinerer Kreis mit der Mondesscheibe genau des Mondes wechselnde Zeiten. Darüber zeigen sich zwischen Schildhaltern und Wappenfiguren wandelnde Gestalten der Menschenalter, welche an die offen hängenden Viertelstundenglocken schlagen; über ihnen hängt die Stundenglocke. Nach jedem Viertelstundenschlage tritt der Tod hervor, die Stunde anzuschlagen; aber da begegnet ihm die Gestalt unsers Heilands und wehrt ihm. Erst wenn die Stunde voll ist, darf der Tod sein Stundenamt üben. Hoch über allem diesem erhebt sich eine gotische Krone mit den freistehenden Gestalten der vier Evangelisten, die Tiere der Offenbarung neben sich, und über diesen stehen zwei musizierende Engel. Dahinter aber birgt sich ein gar schönes, klangvolles Glockenspiel. Auch ist noch manch anderes künstliches Bildwerk an der Münsteruhr zu sehen und manch gedankenvoller Spruch daran zu lesen.

Dieses herrlichen Werkes Meister hieß Jsaak Habrecht; der hatte gar lange gesonnen Tag und Nacht und unermüdlich gearbeitet, bis er es vollendet und bis es durch seinen lebendigen Gang alle Welt zum Erstaunen hinriß. Da es nun vollbracht war, gedachte der Meister auch anderswo seine unvergleichliche Kunst zu üben. Da blies der böse Feind dem Rate der Stadt Straßburg schlimmen Neid in das Herz; denn es sollte ihre Stadt solch Wunderwerk nur einzig und allein haben. Und weil die Herren im Rate glaubten, wenn sie dem Meister Habrecht auch verböten, der Stadt Weichbild zu verlassen, werde er Straßburg dennoch den Rücken kehren, so wurden sie miteinander eins, ihn des Augenlichts zu berauben. Das ward dem Meister angesagt, und wie er es vernahm, schauderte ihn, und er sprach: »Nur einmal noch muß ich mein Uhrwerk sehen! Ich möchte noch etwas daran verbessern, da ich’s später nicht mehr vermag, wenn ich nicht mehr sehend bin.« Das wurde ihm vergönnt, und so stieg der Meister zu seinem künstlichen Bau hinauf und trat hinein und schaffte was darin, eine kurze Weile. Und hernach haben sie auf dem Rathause den Meister des Augenlichts beraubt. Aber siehe – da stockte mit einem Male das Uhrwerk. Christus und der Tod und die Gestalten der Menschenalter wandelten nicht mehr, das Glockenspiel verstummte, der Hahn krähte nicht, die Uhrglocken tönten nicht, der Zeigerdrache zeigte nicht, die Götter fuhren nicht mehr – alles stand. Bald aber nach der grausamen Tat wurden Meister Habrechts geblendete Augen aufgetan zum ewigen Licht.

Vergebens sandte der Rat nach Künstlern umher, die das Uhrwerk wieder in Gang bringen sollten. Viele kamen, viele probten und pösselten daran und darin herum, aber keiner bracht’s in Gang, von alter Zeit zu neuer Zeit. Erst in den Jahren 1839–42 ist es gelungen, das Werk zu erneuern und wieder in Gang zu setzen.

  1. Der Herr ist mein Licht, den ich fürchte.