Adler

Adler

        Steig nur, Sonne,
Auf die Höhn!
Schauer wehn,
Und die Erde bebt vor Wonne.

Kühn nach oben
Greift aus Nacht
Waldespracht,
Noch von Träumen kühl durchwoben.

Und vom hohen
Felsaltar
Stürzt der Aar
Und versinkt in Morgenlohen.

Frischer Morgen!
Frisches Herz,
Himmelwärts!
Laß den Schlaf nun, laß die Sorgen!

Der Pilger

Der Pilger

1
                  Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
Tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg‘, Schloß und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht, wohin?
 
2
Dein Wille, Herr, geschehe!
Verdunkelt schweigt das Land,
Im Zug der Wetter sehe
Ich schauernd Deine Hand.
O mit uns Sündern gehe
Erbarmend ins Gericht!
Ich beug im tiefsten Wehe
Zum Staub mein Angesicht,
Dein Wille, Herr, geschehe!
 
3
Schlag mit den flammgen Flügeln!
Wenn Blitz aus Blitz sich reißt:
Steht wie in Rossesbügeln
So ritterlich mein Geist.

Waldesrauschen, Wetterblicken
Macht recht die Seele los,
Da grüßt sie mit Entzücken,
Was wahrhaft, ernst und groß.

Es schiffen die Gedanken
Fern wie auf weitem Meer,
Wie auch die Wogen schwanken:
Die Segel schwellen mehr.

Herr Gott, es wacht Dein Wille,
Ob Tag und Lust verwehn,
Mein Herz wird mir so stille
Und wird nicht untergehn.

 
4
So laß herein nun brechen
Die Brandung, wie sie will,
Du darfst ein Wort nur sprechen,
So wird der Abgrund still;
Und bricht die letzte Brücke,
Zu Dir, der treulich steht,
Hebt über Not und Glücke
Mich einsam das Gebet.
 
5
Wie ein todeswunder Streiter,
Der den Weg verloren hat,
Schwank ich nun und kann nicht weiter,
Von dem Leben sterbensmatt.
Nacht schon decket alle Müden
Und so still ists um mich her,
Herr, auch mir gib endlich Frieden,
Denn ich wünsch und hoff nichts mehr.
 
6
Wie oft wollt mich die Welt ermüden,
Ich beugt aufs Schwert mein Angesicht
Und bat Dich frevelhaft um Frieden –
Du wußtests besser, gabst ihn nicht.

Ich sah in Nacht das Land vergehen,
In Blitzen Du die Wetter brachst,
Da könnt ich schauernd erst verstehen,
Was Du zu mir Erschrocknem sprachst:

»Meine Lieder sind nicht deine Lieder,
Leg ab den falschen Schmuck der Zeit
Und nimm das Kreuz, dann komme wieder
In deines Herzens Einsamkeit.«

Und alle Bilder ferne treten,
Und tief noch rauschet kaum die Rund –
Wie geht ein wunderbares Beten
Mir leuchtend durch der Seele Grund!

Joseph Freiherr von Eichendorff

Sprüche

Von allen guten Schwingen

Zu brechen durch die Zeit,

Die mächtigste im Ringen,

Das ist ein rechtes Leid.

Gleichwie auf dunklem Grunde

Der Friedensbogen blüht,

So durch die böse Stunde

Versöhnend geht das Lied.

Der Soldat

Der Soldat

      Und wenn es einst dunkelt,
Der Erd bin ich satt,
Durchs Abendrot funkelt
Eine prächtge Stadt:

Von den goldenen Türmen
Singet der Chor,
Wir aber stürmen
Das himmlische Tor.

Verloren

Verloren

      Still bei Nacht fährt manches Schiff,
Meerfey kämmt ihr Haar am Riff,
Hebt von Inseln an zu singen,
Die im Meer dort untergingen.

Wann die Morgenwinde wehn,
Ist nicht Riff noch Fey zu sehn,
Und das Schifflein ist versunken,
Und der Schiffer ist ertrunken.

Mittagsruh

Joseph von Eichendorff

Über Bergen, Fluß und Talen,
Stiller Lust und tiefen Qualen
Webet heimlich, schillert, Strahlen!
Sinnend ruht des Tags Gewühle
In der dunkelblauen Schwüle,
Und die ewigen Gefühle,
Was dir selber unbewußt,
Treten heimlich, groß und leise
Aus der Wirrung fester Gleise,
Aus der unbewachten Brust,
In die stillen, weiten Kreise.

Abendständchen

Abendständchen

        Schlafe Liebchen, weils auf Erden
Nun so still und seltsam wird!
Oben gehn die goldnen Herden,
Für uns alle wacht der Hirt.

In der Ferne ziehn Gewitter;
Einsam auf dem Schifflein schwank,
Greif ich draußen in die Zither,
Weil mir gar so schwül und bang.

Schlingend sich an Bäum und Zweigen,
In dein stilles Kämmerlein
Wie auf goldnen Leitern steigen
Diese Töne aus und ein.

Und ein wunderschöner Knabe
Schifft hoch über Tal und Kluft,
Rührt mit seinem goldnen Stabe
Säuselnd in der lauen Luft.

Und in wunderbaren Weisen
Singt er ein uraltes Lied,
Das in linden Zauberkreisen
Hinter seinem Schifflein zieht.

Ach, den süßen Klang verführet
Weit der buhlerische Wind,
Und durch Schloß und Wand ihn spüret
Träumend jedes schöne Kind.

Der Abend

Joseph von Eichendorff

Schweigt der Menschen laute Lust:
Rauscht die Erde wie in Träumen
Wunderbar mit allen Bäumen,
Was dem Herzen kaum bewußt,
Alte Zeiten, linde Trauer,
Und es schweifen leise Schauer
Wetterleuchtend durch die Brust.

Jugendsehnen

Jugendsehnen

        Du blauer Strom, an dessen duftgem Strande
Ich Licht und Lenz zum erstenmale schaute,
In frommer Sehnsucht mir mein Schifflein baute,
Wann Segel unten kamen und verschwanden.

Von fernen Bergen überm weiten Lande
Brachtst du mir Gruß und fremde hohe Laute,
Daß ich den Frühlingslüften mich vertraute,
Vom Ufer lösend hoffnungsreich die Bande.

Noch wußt ich nicht, wohin und was ich meine,
Doch Morgenrot sah ich unendlich quellen,
Das Herz voll Freiheit, Kraft der Treue, Tugend;

Als ob des Lebens Glanz für mich nur scheine,
Fühlt ich zu fernem Ziel die Segel schwellen,
All Wimpel rauschten da in ewger Jugend!

SONETTE

SONETTE

Es qualmt‘ der eitle Markt in Staub und Schwüle,
So klanglos öde wallend auf und nieder,
Wie dacht ich da an meine Berge wieder,
An frischen Sang, Felsquell und Waldeskühle!

Doch steht ein Turm dort über dem Gewühle,
Der andre Zeiten sah und beßre Brüder,
Das Kreuz treu halten seine Riesenglieder,
Wie auch der Menschlein Flut den Fels umspüle

Das war mein Hafen in der weiten Wüste,
Oft kniet ich betend in des Domes Mitte,
Dort hab ich dich, mein liebes Kind, gefunden;

Ein Himmelbote wohl, der so mich grüßte:
„Verzweifle nicht! Die Schönheit und die Sitte
Sie sind noch von der Erde nicht verschwunden.“

2

Ein alt Gemach voll sinnger Seltsamkeiten,
Still´ Blumen aufgestellt am Fensterbogen,
Gebirg und Länder draußen blau gezogen,
Wo Ströme gehn und Ritter ferne reiten.

Ein Mädchen, schlicht und fromm wie jene Zeiten,
Das, von den Abendscheinen angeflogen,
Versenkt in solcher Stille tiefe Wogen –
Das mocht auf Bildern oft das Herz mir weiten.

Und nun wollt wirklich sich das Bild bewegen,
Das Mädchen atmet‘ auf, reicht aus dem Schweigen
Die Hand mir, daß sie ewig meine bliebe.

Da sah ich draußen auch das Land sich regen,
Die Wälder rauschen und Aurora steigen –
Die alten Zeiten all weckt mir die Liebe.

3

Wenn zwei geschieden sind von Herz und Munde,
Da ziehn Gedanken über Berg‘ und Schlüfte
Wie Tauben säuselnd durch die blauen Lüfte,
Und tragen hin und wieder süße Kunde.

Ich schweif umsonst, so weit der Erde Runde,
Und stieg ich hoch auch über alle Klüfte,
Dein Haus ist höher noch als diese Lüfte,
Da reicht kein Laut hin, noch zurück zum Grunde.

Ja, seit du tot – mit seinen blühnden Borden
Wich ringsumher das Leben mir zurücke,
Ein weites Meer, wo keine Bahn zu finden.

Doch ist dein Bild zum Sterne mir geworden,
Der nach der Heimat weist mit stillem Blicke,
Daß fromm der Schiffer streite mit den Winden.

(Joseph von Eichendorff)

Das Schloß Dürande

Erzählung (1837)

Das Schloß Dürande

In der schönen Provence liegt ein Tal zwischen waldigen Bergen, die Trümmer des alten Schlosses Dürande sehen über die Wipfel in die Einsamkeit hinein; von der andern Seite erblickt man weit unten die Türme der Stadt Marseille; wenn die Luft von Mittag kommt, klingen bei klarem Wetter die Glocken herüber, sonst hört man nichts von der Welt. In diesem Tale standen ehemals ein kleines Jägerhaus, man sahs vor Blüten kaum, so überwaldet wars und weinumrankt bis an das Hirschgeweih über dem Eingang: in stillen Nächten, wenn der Mond hell schien, kam das Wild oft weidend bis auf die Waldeswiese vor der Tür. Dort wohnte dazumal der Jäger Renald, im Dienst des alten Grafen Dürande, mit seiner jungen Schwester Gabriele ganz allein, denn Vater und Mutter waren lange gestorben.

In jener Zeit nun geschah es, daß Renald einmal an einem schwülen Sommerabend, rasch von den Bergen kommend, sich nicht weit von dem Jägerhaus mit seiner Flinte an den Saum des Waldes stellte. Der Mond beglänzte die Wälder, es war so unermeßlich still, nur die Nachtigallen schlugen tiefer im Tal, manchmal hörte man einen Hund bellen aus den Dörfern oder den Schrei des Wildes im Walde. Aber er achtete nicht darauf, er hatte heut ein ganz anderes Wild auf dem Korn. Ein junger, fremder Mann, so hieß es, schleiche abends heimlich zu seiner Schwester, wenn er selber weit im Forst; ein alter Jäger hatte es ihm gestern vertraut, der wußte es vom Waldhüter, dem hatt es ein Köhler gesagt. Es war ihm ganz unglaublich, wie sollte sie zu der Bekanntschaft gelangt sein? Sie kam nur Sonntags in die Kirche, wo er sie niemals aus den Augen verlor. Und doch wurmte ihn das Gerede, er konnte sichs nicht aus dem Sinn schlagen, er wollte endlich Gewißheit haben. Denn der Vater hatte sterbend ihm das Mädchen auf die Seele gebunden, er hätte sein Herzblut gegeben für sie.

So drückte er sich lauernd an die Bäume im wechselnden Schatten, den die vorüberfliegenden Wolken über den stillen Grund warfen. Auf einmal aber hielt er den Atem an, es regte sich am Hause, und zwischen den Weinranken schlüpfte eine schlanke Gestalt hervor; er erkannte sogleich seine Schwester an dem leichten Gang; o mein Gott, dachte er, wenn alles nicht wahr wäre! Aber in demselben Augenblick streckte sich ein langer, dunkler Schatten neben ihr über den mondbeschienenen Rasen, ein hoher Mann trat rasch aus dem Hause, dicht in einen schlechten grünen Mantel gewickelt wie ein Jäger. Er konnte ihn nicht erkennen, auch sein Gang war ihm durchaus fremd; es flimmerte ihm vor den Augen, als könnte er sich in einem schweren Traume noch nicht recht besinnen.

Das Mädchen aber, ohne sich umzusehen, sang mit fröhliches Stimme, daß es dem Renald wie ein Messer durchs Herz ging:

«Ein Gems auf dem Stein,
Ein Vogel im Flug,
Ein Mädel, das klug,
Kein Bursch holt die ein!»

«Bist du toll!» rief der Fremde, rasch hinzuspringend.

«Es ist dir schon recht», entgegnete sie lachend, «so werd ich dirs immer machen; wenn du nicht artig bist, sing ich aus Herzensgrund.» Sie wollte von neuem singen, er hielt ihr aber voll Angst mit der Hand den Mund zu. Da sie so nahe vor ihm stand, betrachtete sie ihn ernsthaft im Mondschein. «Du hast eigentlich recht falsche Augen», sagte sie; «nein, bitte mich nicht wieder so schön, sonst sehen wir uns niemals wieder, und das tut uns beiden leid.» – «Herr Jesus!» schrie sie auf einmal; denn sie sah plötzlich den Bruder hinterm Baum nach dem Fremden zielen. – Da, ohne sich zu besinnen, warf sie sich hastig dazwischen, so daß sie, den Fremden umklammernd, ihn ganz mit ihrem Leibe bedeckte. Renald zuckte, da ers sah, aber es war zu spät, der Schuß fiel, daß es tief durch die Nacht widerhallte. Der Unbekannte richtete sich in dieser Verwirrung hoch empor, als wäre er plötzlich größer geworden, und riß zornig ein Taschenpistol aus dem Mantel; da kam ihm auf einmal das Mädchen so bleich vor, er wußte nicht, war es vom Mondlicht oder vom Schreck. «Um Gottes willen», sagte er, «bist du getroffen?»

«Nein, nein», erwiderte Gabriele, ihm unversehens und herzhaft das Pistol aus der Hand windend, und drängte ihn heftig fort. «Dorthin», flüsterte sie, «rechts über den Steg am Fels, nur fort, schnell fort!»

Der Fremde war schon zwischen den Bäumen verschwunden, als Renald zu ihr trat. «Was machst du da für dummes Zeug!» rief sie ihm entgegen und verbarg rasch Arm und Pistol unter der Schürze. Aber die Stimme versagte ihr, als er nun dicht vor ihr stand und sie sein bleiches Gesicht bemerkte. Er zitterte am ganzen Leibe, und auf seiner Stirn zuckte es zuweilen, wie wenn es von fern blitzte. Da gewahrte er plötzlich einen blutigen Streif an ihrem Kleide. «Du bist verwundet», sagte er erschrocken, und doch wars, als würde ihm wohler beim Anblick des Bluts; er wurde sichtbar milder und führte sie schweigend in das Haus. Dort pinkte er schnell Licht an, es fand sich, daß die Kugel ihr nur leicht den rechten Arm gestreift; er trocknete und verband die Wunde, sie sprachen beide kein Wort miteinander. Gabriele hielt den Arm fest hin und sah trotzig vor sich nieder, denn sie konnte gar nicht begreifen, warum er böse sei; sie fühlte sich so rein von aller Schuld, nur die Stille jetzt unter ihnen wollte ihr das Herz abdrücken, und sie atmete tief auf, als er endlich fragte: wer es gewesen? – Sie beteuerte nun, daß sie das nicht wisse, und erzählte, wie er an einem schönen Sonntagsabend, als sie eben allein vor der Tür gesessen, zum ersten Male von den Bergen gekommen und sich zu ihr gesetzt und dann am folgenden Abend wieder und immer wieder gekommen, und wenn sie ihn fragte, wer er sei, nur lachend gesagt: ihr Liebster.

Unterdes hatte Renald unruhig ein Tuch aufgehoben und das Pistol entdeckt, das sie darunter verborgen hatte. Er erschrak auf das heftigste und betrachtete es dann aufmerksam von allen Seiten. «Was hast du damit?» sagte sie erstaunt; «wem gehört es?» Da hielt ers ihr plötzlich am Licht vor die Augen: «Und du kennst ihn wahrhaftig nicht?» Sie schüttelte mit dem Kopfe.

«Ich beschwöre dich bei allen Heiligen», hub er wieder an, «sag mir die Wahrheit.»

Da wandte sie sich auf die andere Seite. «Du bist heute rasend», erwiderte sie, «ich will dir gar keine Antwort mehr geben.»

Das schien ihm das Herz leichter zu machen, daß sie ihren Liebsten nicht kannte, er glaubte es ihr, denn sie hatte ihn noch niemals belogen. Er ging nun einige Male finster in der Stube auf und nieder. «Gut, gut», sagte er dann, «meine arme Gabriele, so mußt du gleich morgen zu unserer Muhme ins Kloster; mach dich zurecht, morgen, ehe der Tag graut, führ ich dich hin.» Gabriele erschrak innerlichst, aber sie schwieg und dachte: kommt Tag, kommt Rat. Renald aber steckte das Pistol zu sich und sah noch einmal nach ihrer Wunde, dann küßte er sie noch herzlich zur guten Nacht.

Als sie endlich allein in ihrer Schlafkammer war, setzte sie sich angekleidet aufs Bett und versank in ein tiefes Nachsinnen. Der Mond schien durchs offene Fenster auf die Heiligenbilder an der Wand, im stillen Gärtchen draußen zitterten die Blätter in den Bäumen. Sie wand ihre Haarflechten auf, daß ihr die Locken über Gesicht und Achseln herabrollten, und dachte vergeblich nach, wen ihr Bruder eigentlich im Sinn habe und warum er vor dem Pistol so sehr erschrocken – es war ihr alles wie im Traume. Da kam es ihr ein paarmal vor, als ginge draußen jemand sachte ums Haus. Sie lauschte am Fenster, der Hund im Hofe schlug an, dann war alles wieder still. Jetzt bemerkte sie erst, daß auch ihr Bruder noch wach war; anfangs glaubte sie, er rede im Schlaf, dann aber hörte sie deutlich, wie er auf seinem Bett vor Weinen schluchzte. Das wandte ihr das Herz, sie hatte ihn noch niemals weinen gesehen, es war ihr nun selber, als hätte sie was verbrochen. In dieser Angst beschloß sie, ihm seinen Willen zu tun; sie wollte wirklich nach dem Kloster gehen, die Priorin war ihre Muhme, der wollte sie alles sagen und sie um ihren Rat bitten. Nur das war ihr unerträglich, daß ihr Liebster nicht wissen sollte, wohin sie gekommen. Sie wußte wohl, wie herzhaft er war und besorgt um sie; der Hund hatte vorhin gebellt, im Garten hatte es heimlich geraschelt wie Tritte, wer weiß, ob er nicht nachsehen wollte, wie es ihr ging nach dem Schrecken. – Gott, dachte sie, wenn er noch draußen stünd! – Der Gedanke verhielt ihr fast den Atem. Sie schnürte sogleich eilig ihr Bündel, dann schrieb sie für ihren Bruder mit Kreide auf den Tisch, daß sie noch heute allein ins Kloster fortgegangen. Die Türen waren nur angelehnt, da schlich sie vorsichtig und leise aus der Kammer über den Hausflur in den Hof, der Hund sprang freundlich an ihr herauf, sie hatte Not, ihn am Pförtchen zurückzuweisen; so trat sie endlich mit klopfendem Herzen ins Freie.

Draußen schaute sie sich tief aufatmend nach allen Seiten um, ja, sie wagte es sogar, noch einmal bis an den Gartenzaun zurückzugehen, aber ihr Liebster war nirgends zu sehen, nur die Schatten der Bäume schwankten ungewiß über den Rasen. Zögernd betrat sie nun den Wald und blieb immer wieder stehen und lauschte; es war alles so still, daß ihr graute in der großen Einsamkeit. So mußte sie nun endlich doch weitergehen und zürnte heimlich im Herzen auf ihren Schatz, daß er sie in ihrer Not so zaghaft verlassen. Seitwärts im Tal aber lagen die Dörfer in tiefer Ruh. Sie kam am Schloß des Grafen Dürande vorbei, die Fenster leuchteten im Mondschein herüber, im herrschaftlichen Garten schlugen die Nachtigallen und rauschten die Wasserkünste; das kam ihr so traurig vor, sie sang für sich das alte Lied:

Gut Nacht, mein Vater und Mutter,
Wie auch mein stolzer Bruder,
Ihr seht mich nimmermehr!
Die Sonne ist untergegangen
Im tiefen, tiefen Meer.

Der Tag dämmerte noch kaum, als sie endlich am Abhange der Waldberge bei dem Kloster anlangte, das mit verschlossenen Fenstern, noch wie träumend, zwischen kühlen, duftigen Gärten lag. In der Kirche aber sangen die Nonnen soeben ihre Metten durch die weite Morgenstille, nur einzelne, früh erwachte Lerchen draußen stimmten schon mit ein in Gottes Lob. Gabriele wollte abwarten, bis die Schwestern aus der Kirche zurückkämen, und setzte sich unterdes auf die breite Kirchhofsmauer. Da fuhr ein zahmer Storch, der dort übernachtet, mit seinem langen Schnabel unter den Flügeln hervor und sah sie mit den klugen Augen verwundert an; dann schüttelte er in der Kühle sich die Federn auf und wandelte mit stolzen Schritten wie eine Schildwacht den Mauerkranz entlang. Sie aber war so müde und überwacht, die Bäume über ihr säuselten noch so schläfrig, sie legte den Kopf auf ihr Bündel und schlummerte unter den Blüten ein, womit die alte Linde sie bestreute.

Als sie aufwachte, sah sie eine hohe Frau in faltigen Gewändern über sich gebeugt, der Morgenstern schimmerte durch ihren langen Schleier, es war ihr, als hätt im Schlaf die Mutter Gottes ihren Sternenmantel um sie geschlagen. Da schüttelte sie erschrocken die Blütenflocken aus dem Haar und erkannte ihre geistliche Muhme, die zu ihrer Verwunderung, als sie aus der Kirche kam, die Schlafende auf der Mauer gefunden. Die Alte sah ihr freundlich in die schönen, frischen Augen. «Ich hab dich gleich daran erkannt», sagte sie, «als wenn mich deine selige Mutter ansähe!» – Nun mußte sie ihr Bündel nehmen, und die Priorin schritt eilig ins Kloster voraus; sie gingen durch kühle, dämmernde Kreuzgänge, wo soeben noch die weißen Gestalten einzelner Nonnen wie Geister vor der Morgenluft lautlos verschlüpften. Als sie in die Stube traten, wollte Gabriele sogleich ihre Geschichte erzählen, aber sie kam nicht dazu. Die Priorin, so lange wie auf eine selige Insel verschlagen, hatte so viel zu erzählen und zu fragen von dem jenseitigen Ufer ihrer Jugend und konnte sich nicht genug verwundern, denn alle ihre Freunde waren seitdem alt geworden oder tot, und eine andere Zeit hatte alles verwandelt, die sie nicht mehr verstand. Geschäftig in redseliger Freude strich sie ihrem lieben Gast die Locken aus der glänzenden Stirn wie einem kranken Kinde, holte aus einem altmodischen, künstlich geschnitzten Wandschrank Rosinen und allerlei Naschwerk und fragte und plauderte immer wieder. Frische Blumensträuße standen in bunten Krügen am Fenster, ein Kanarienvogel schmetterte gellend dazwischen, denn die Morgensonne funkelte draußen schon durch die Wipfel und vergoldete wunderbar die Zelle, das Betpult und die schwergewirkten Lehnstühle; Gabriele lächelte fast betroffen wie in eine neue, ganz fremde Welt hinein.

Noch an demselben Tage kam auch Renald zum Besuch; sie freute sich außerordentlich, es war ihr, als hätte sie ihn ein Jahr lang nicht gesehn. Er lobte ihren raschen Entschluß von heute nacht und sprach dann viel und heimlich mit der Priorin; sie horchte ein paarmal hin, sie hätte so gern gewußt, wer ihr Geliebter sei, aber sie konnte nichts erfahren. Dann mußte sie auch wieder heimlich lachen, daß die Priorin so geheimnisvoll tat, denn sie merkt es wohl, sie wußt es selber nicht. – Es war indes beschlossen worden, daß sie fürs erste noch im Kloster bleiben sollte. Renald war zerstreut und eilig, er nahm bald wieder Abschied und versprach, sie abzuholen, sobald die rechte Zeit gekommen.

Aber Woche auf Woche verging, und die rechte Zeit war noch immer nicht da. Auch Renald kam immer seltener und blieb endlich ganz aus, um dem ewigen Fragen seiner Schwester nach ihrem Schatze auszuweichen, denn er konnte oder mochte ihr nichts von ihm sagen. Die Priorin wollte die arme Gabriele trösten, aber sie hatt es nicht nötig, so wunderbar war das Mädchen seit jener Nacht verwandelt. Sie fühlte sich, seit sie von ihrem Liebsten getrennt, als seine Braut vor Gott, der wolle sie bewahren. Ihr ganzes Dichten und Trachten ging nun darauf, ihn selber auszukundschaften, da ihr niemand beistand in ihrer Einsamkeit. Sie nahm sich daher eifrig der Klosterwirtschaft an, um mit den Leuten in der Gegend bekannt zu werden; sie ordnete alles in Küche, Keller und Garten, alles gelang ihr, und wie sie so sich selber half, kam eine stille Zuversicht über sie wie Morgenrot, es war ihr immer, als müßt ihr Liebster plötzlich einmal aus dem Walde zu ihr kommen.

Damals saß sie eines Abends noch spät mit der jungen Schwester Renate am offenen Fenster der Zelle, aus dem man in den stillen Klostergarten und über die Gartenmauer weit ins Land sehen konnte. Die Heimchen zirpten unten auf den frischgemähten Wiesen, überm Walde blitzte es manchmal aus weiter Ferne. Da läßt mein Liebster mich grüßen, dachte Gabriele bei sich. – Aber Renate blickte verwundert hinaus; sie war lange nicht wach gewesen um diese Zeit. «Sieh nur», sagte sie, «wie draußen alles anders aussieht im Mondschein, der dunkle Berg drüben wirft seinen Schatten bis an unser Fenster, unten erlischt ein Lichtlein nach dem andern im Dorfe. Was schreit da für ein Vogel?» – «Das ist das Wild im Walde», meinte Gabriele.

«Wie du auch so allein im Dunkeln durch den Wald gehen kannst», sagte Renate wieder; «ich stürbe vor Furcht. Wenn ich so manchmal durch die Scheiben hinaussehe in die tiefe Nacht, dann ist mir immer so wohl und sicher in meiner Zelle wie unterm Mantel der Mutter Gottes.»

«Nein», entgegnete Gabriele, «ich möcht mich gern einmal bei Nacht verirren recht im tiefsten Wald, die Nacht ist wie im Traum so weit und still, als könnt man über die Berge reden mit allen, die man lieb hat in der Ferne. Hör nur, wie der Fluß unten rauscht und die Wälder, als wollten sie auch mit uns sprechen und könnten nur nicht recht! Da fällt mir immer ein Märchen ein dabei, ich weiß nicht, hab ichs gehört oder hat mirs geträumt.» «Erzähl mir doch, ich bete unterdes meinen Rosenkranz fertig», sagte die Nonne, und Gabriele setzte sich fröhlich auf die Fußbank vor ihr, wickelte vor der kühlen Nachtluft die Arme in ihre Schürze und begann sogleich folgendermaßen:

«Es war einmal eine Prinzessin in einem verzauberten Schlosse gefangen, das schmerzte sie sehr, denn sie hatte einen Bräutigam, der wußte gar nicht, wohin sie gekommen war, und sie konnte ihm auch kein Zeichen geben, denn die Burg hatte nur ein einziges, festverschlossenes Tor nach einem tiefen, tiefen Abhang hin, und das Tor bewachte ein entsetzlicher Riese, der schlief und trank und sprach nicht, sondern ging nur immer Tag und Nacht vor dem Tore auf und nieder wie der Perpendikel einer Turmuhr. Sonst lebte sie ganz herrlich in dem Schloß; da war Saal an Saal, einer immer prächtiger als der andere, aber niemand drin zu sehen und zu hören, kein Lüftchen ging und kein Vogel sang in den verzauberten Bäumen im Hofe, die Figuren auf den Tapeten waren schon ganz krank und bleich geworden in der Einsamkeit, nur manchmal warf sich das trockne Holz an den Schränken vor Langeweile, daß es weit durch die öde Stille schallte, und auf der hohen Schloßmauer draußen stand ein Storch, wie eine Vedette, den ganzen Tag auf einem Bein.»

«Ach, ich glaube gar, du stichelst auf unser Kloster», sagte Renate. Gabriele lachte und erzählte munter fort:

«Einmal aber war die Prinzessin mitten in der Nacht aufgewacht, da hörte sie ein seltsames Sausen durch das ganze Haus. Sie sprang erschrocken ans Fenster und bemerkte zu ihrem großen Erstaunen, daß es der Riese war, der eingeschlafen vor dem Tore lag und mit solcher grausamer Gewalt schnarchte, daß alle Türen, sooft er den Atem einzog und wieder ausstieß, von dem Zugwind klappend auf und zu flogen. Nun sah sie auch, sooft die Tür nach dem Saale aufging, mit Verwunderung, wie die Figuren auf den Tapeten, denen die Glieder schon ganz eingerostet waren von dem langen Stillstehen, sich langsam dehnten und reckten; der Mond schien hell über den Hof, da hörte sie zum erstenmal die verzauberten Brunnen rauschen, der steinerne Neptun unten saß auf dem Rand der Wasserkunst und strählte sich sein Binsenhaar; alles wollte die Gelegenheit benutzen, weil der Riese schlief; und der steife Storch machte so wunderliche Kapriolen auf der Mauer, daß sie lachen mußte, und hoch auf dem Dache drehte sich der Wetterhahn und schlug mit den Flügeln und rief immerfort: ‹Kick, kick dich um, ich seh ihn gehn, ich sag nicht wen!› Am Fenster aber sang lieblich der Wind: ‹Komm mit geschwind!› und die Bächlein schwatzten draußen untereinander im Mondglanz, wie wenn der Frühling anbrechen sollte, und sprangen glitzernd und wispernd über die Baumwurzeln: ‹Bist du bereit? wir haben nicht Zeit, weit, weit, in die Waldeinsamkeit!› – ‹Nun, nun, mir Geduld, ich komm ja schon›, sagte die Prinzessin ganz erschrocken und vergnügt, nahm schnell ihr Bündel unter den Arm und trat vorsichtig aus dem Schlafzimmer; zwei Mäuschen kamen ihr atemlos nach und brachten ihr noch den Fingerhut, den sie in der Eile vergessen. Das Herz klopfte ihr, denn die Brunnen im Hofe rauschten schon wieder schwächer, der Flußgott streckte sich taumelnd wieder zum Schlafe zurecht, auch der Wetterhahn drehte sich nicht mehr; so schlich sie leise die stille Treppe hinab.»

«Ach Gott! wenn der Riese jetzt aufwacht!» sagte Renate ängstlich.

«Die Prinzessin hatte auch Angst genug», fuhr Gabriele fort, «Sie hob sich das Röckchen, daß sie nicht an seinen langen Sporen hängenblieb, stieg geschickt über den einen, dann über den andern Stiefel, und noch einen herzhaften Sprung – jetzt stand sie draußen am Abhang. Da aber wars einmal schön! da flogen die Wolken und rauschte der Strom und die prächtigen Wälder im Mondschein, und auf dem Strom fuhr ein Schifflein, saß ein Ritter darin.»

«Das ist ja gerade wie jetzt hier draußen», unterbrach sie Renate, «da fährt auch noch einer im Kahn dicht unter unserm Garten; jetzt stößt er ans Land.» «Freilich», sagte Gabriele mutwillig und setzte sich ins Fenster und wehte mit ihrem weißen Schnupftuch hinaus. – «Und grüß dich Gott», rief da die Prinzessin, «grüß dich Gott in die weite, weite Fern, es ist ja keine Nacht so still und tief als meine Lieb!»

Renate faßte sie lachend um den Leib, um sie zurückzuziehen. – «Herr Jesus!» schrie sie da plötzlich auf, «ein fremder Mann, dort an der Mauer hin!» – Gabriele ließ erschrocken ihr Tuch sinken, es flatterte in den Garten hinab. Ehe sie sich aber noch besinnen konnte, hatte Renate schon das Fenster geschlossen; sie war voll Furcht, sie mochte nichts mehr von dem Märchen hören und trieb Gabrielen hastig aus der Tür, über den stillen Gang in ihre Schlafkammer.

Gabriele aber, als sie allein war, riß noch rasch in ihrer Zelle das Fenster auf. Zu ihrem Schreck bemerkte sie nun, daß das Tuch unten von dem Strauche verschwunden war, auf den es vorhin geflogen. Ihr Herz klopfte heftig, sie legte sich hinaus, so weit sie nur konnte, da glaubte sie draußen den Fluß wieder aufrauschen zu hören, darauf schallte Ruderschlag unten im Grunde, immer ferner und schwächer, dann alles, alles wieder still – so blieb sie verwirrt und überrascht am Fenster, bis das erste Morgenlicht die Bergesgipfel rötete.

Bald darauf traf der Namenstag der Priorin, ein Fest, worauf sich alle Hausbewohner das ganze Jahr hindurch freuten; denn auf diesen Tag war zugleich die jährliche Weinlese auf einem nahegelegenen Gute des Klosters festgesetzt, an welcher die Nonnen mit teilnahmen. Da verbreitete sich, als der Morgenstern noch durch die Lindenwipfel in die kleinen Fenster hineinfunkelte, schon eine ungewohnte, lebhafte Bewegung durch das ganze Haus, im Hofe wurden die Wagen von dem alten Staube gereinigt, in ihren besten blütenweißen Gewändern sah man die Schwestern in allen Gängen geschäftig hin und her eilen; einige versahen noch ihre Kanarienvögel sorgsam mit Futter, andere packten Taschen und Schachteln, als gälte es eine wochenlange Reise. – Endlich wurde von dem zahlreichen Hausgesinde ausführlich Abschied genommen, die Kutscher knallten, und die Karawane setzte sich langsam in Bewegung. Gabriele fuhr nebst einigen auserwählten Nonnen an der Seite der Priorin in einem mit vier alten, dicken Rappen bespannten Staatswagen, der mit seinem altmodischen, vergoldeten Schnitzwerk einem chinesischen Lusthause gleichsah. Es war ein klarer, heiterer Herbstmorgen, das Glockengeläute vom Kloster zog weit durchs stille Land, der Altweibersommer flog schon über die Felder, überall grüßten die Bauern ehrerbietig den ihnen wohlbekannten geistlichen Zug.

Wer aber beschreibt nun die große Freude auf dem Gratialgute, die fremden Berge, Täler und Schlösser umher, das stille Grün und den heitern Himmel darüber, wie sie da in dem mit Astern ausgeschmückten Gartensaal um eine reichliche Kollation vergnügt auf den altfränkischen Kanapees sitzen und die Morgensonne die alten Bilder römischer Kirchen und Paläste an den Wänden bescheint und vor den Fenstern die Sperlinge sich lustig tummeln und lärmen im Laub, während draußen weißgekleidete Dorfmädchen unter den schimmernden Bäumen vor der Tür ein Ständchen singen.

Die Priorin aber ließ die Kinder hereinkommen, die scheu und neugierig in dem Saal umherschauten, in den sie das ganze Jahr über nur manchmal heimlich durch die Ritzen der verschlossenen Fensterladen geguckt hatten. Sie streichelte und ermahnte sie freundlich, freute sich, daß sie in dem Jahre so gewachsen, und gab dann jedem aus ihrem Gebetbuch ein buntes Heiligenbild und ein großes Stück Kuchen dazu.

Jetzt aber ging die rechte Lust der Kleinen erst an, da nun wirklich zur Weinlese geschritten wurde, bei der sie mithelfen und naschen durften. Da belebte sich allmählich der Garten, fröhliche Stimmen da und dort, geputzte Kinder, die große Trauben trugen, flatternde Schleier und weiße, schlanke Gestalten zwischen den Rebengeländern schimmernd und wieder verschwindend, als wanderten Engel über den Berg. Die Priorin saß unterdes vor der Haustür und betete ihr Brevier und schaute oft über das Buch weg nach den vergnügten Schwestern; die Herbstsonne schien warm und kräftig über die stille Gegend, und die Nonnen sangen bei der Arbeit:

Es ist nun der Herbst gekommen,
Hat das schöne Sommerkleid
Von den Feldern weggenommen
Und die Blätter ausgestreut,
Vor dem bösen Winterwinde
Deckt er warm und sachte zu
Mit dem bunten Laub die Gründe,
Die schon müde gehn zur Ruh.

Einzelne verspätete Wandervögel zogen noch über den Berg und schwatzten vom Glanz der Ferne, was die glücklichen Schwestern nicht verstanden. Gabriele aber wußte wohl, was sie sangen, und ehe die Priorin sichs versah, war sie auf die höchste Linde geklettert; da erschrak sie, wie so groß und weit die Welt war. – Die Priorin schalt sie aus und nannte sie ihr wildes Waldvögelein. Ja, dachte Gabriele, wenn ich ein Vöglein wäre! Dann fragte die Priorin, ob sie von da oben das Schloß Dürande überm Walde sehen könne? «Alle die Wälder und Wiesen», sagte sie, «gehören dem Grafen Dürande; er grenzt hier an, das ist ein reicher Herr!» Gabriele aber dachte an ihren Herrn, und die Nonnen sangen wieder:

Durch die Felder sieht man fahren
Eine wunderschöne Frau,
Und von ihren langen Haaren
Goldne Fäden auf der Au

Spinnet sie und singt im Gehen:
Eia, meine Blümelein,
Nicht nach andern immer sehen,
Eia, schlafet, schlafet ein!

«Ich höre Waldhörner!» rief hier plötzlich Gabriele; es verhielt ihr fast den Atem vor Erinnerung an die alte, schöne Zeit. – «Komm schnell herunter, mein Kind», rief ihr die Priorin zu. Aber Gabriele hörte nicht darauf, zögernd und im Hinabsteigen noch immer zwischen den Zweigen hinausschauend, sagte sie wieder: «Es bewegt sich drüben am Saum des Waldes; jetzt seh ich Reiter; wie das glitzert im Sonnenschein! Sie kommen gerade auf uns her.»

Und kaum hatte sie sich vom Baum geschwungen, als einer von den Reitern, über den grünen Plan dahergeflogen, unter den Linden anlangte und mit höflichem Gruß vor der Priorin stillhielt. Gabriele war schnell in das Haus gelaufen, dort wollte sie durchs Fenster nach dem Fremden sehen. Aber die Priorin rief ihr nach: Der Herr sei durstig, sie solle ihm Wein herausbringen. Sie schämte sich, daß er sie auf dem Baum gesehen, so kam sie furchtsam mit dem vollen Becher vor die Tür mit gesenkten Blicken, durch die langen Augenwimpern nur sah sie das kostbare Zaumzeug und die Stickerei auf seinem Jagdrock im Sonnenschein flimmern. Als sie aber an das Pferd trat, sagte er leise zu ihr: Er sehe doch ihre dunkeln Augen im Wein sich spiegeln wie in einem goldnen Brunnen. Bei dem Klang der Stimme blickte sie erschrocken auf – der Reiter war ihr Liebster – sie stand wie verblendet. Er trank jetzt auf der Priorin Gesundheit, sah aber dabei über den Becher weg Gabriele an und zeigte ihr verstohlen ihr Tuch, das sie in jener Nacht aus dem Fenster verloren. Dann drückte er die Sporen ein, und flüchtig dankend flog er wieder zu dem bunten Schwarm am Walde, das weiße Tuch flatterte weit im Winde hinter ihm her.

«Sieh nur», sagte die Priorin lachend, «wie ein Falk, der eine Taube durch die Luft führt!»

«Wer war der Herr?» fragte endlich Gabriele tief aufatmend. – «Der junge Graf Dürande», hieß es. –

Da tönte die Jagd schon wieder fern und immer ferner den funkelnden Wald entlang, die Nonnen aber hatten in ihrer Fröhlichkeit von allem nichts bemerkt und sangen von neuem:

Und die Vöglein hoch in Lüften
Über blaue Berg und Seen
Ziehn zur Ferne nach den Klüften,
Wo die hohen Zedern stehn,
Wo mit ihren goldnen Schwingen
Auf des Benedeiten Gruft
Engel Hosianna singen
Nächtens durch die stille Luft.

Etwa vierzehn Tage darauf schritt Renald eines Morgens still und rasch durch den Wald nach dem Schloß Dürande, dessen Türme finster über die Tannen hersahen. Er war ernst und bleich, aber mit Hirschfänger und leuchtendem Bandelier wie zu einem Feste geschmückt. In der Unruhe seiner Seele war er der Zeit ein gut Stück vorausgeschritten; denn als er ankam, war die Haustür noch verschlossen und alles still, nur die Dohlen erwachten schreiend auf den alten Dächern. Er setzte sich unterdes auf das Geländer der Brücke, die zum Schlosse führte. Der Wallgraben unten lag lange trocken, ein marmorner Apollo mit seltsamer Lockenperücke spielte dort zwischen gezirkelten Blumenbeeten die Geige, auf der ein Vogel sein Morgenlied pfiff; über den Helmen der steinernen Ritterbilder am Tore brüsteten sich breite Aloen; der Wald, der alte Schloßgesell, war wunderlich verschnitten und zerquält, aber der Herbst ließ sich sein Recht nicht nehmen und hatte alles phantastisch gelb und rot gefärbt, und die Waldvögel, die vor dem Winter in die Gärten flüchteten, zwitscherten lustig von Wipfel zu Wipfel. – Renald fror, er hatte Zeit genug und überdachte noch einmal alles: wie der junge Graf Dürande wieder nach Paris gereist, um dort lustig durchzuwintern, wie er selbst mit fröhlichem Herzen zum Kloster geeilt, um seine Schwester abzuholen. Aber da war Gabriele heimlich verschwunden, man hatte einmal des Nachts einen fremden Mann am Kloster gesehn; niemand wußte, wohin sie gekommen.

Jetzt knarrte das Schloßtor, Renald sprang schnell auf, er verlangte seinen Herrn, den alten Grafen Dürande, zu sprechen. Man sagte ihm, der Graf sei eben erst aufgewacht; er mußte noch lange in der Gesindestube warten zwischen Überresten vom gestrigen Souper, zwischen Schuhbürsten, Büchsen und Katzen, die sich verschlafen an seinen blanken Stiefeln dehnten, niemand fragte nach ihm. Endlich wurde er in des Grafen Garderobe geführt, der alte Herr ließ sich soeben frisieren und gähnte unaufhörlich. Renald bat nun ehrerbietig um kurzen Urlaub zu einer Reise nach Paris. Auf die Frage des Grafen, was er dort wolle, entgegnete er verwirrt: Seine Schwester sei dort bei einem weitläufigen Verwandten – er schämte sich herauszusagen, was er dachte. Da lachte der Graf. «Nun, nun», sagte er, «mein Sohn hat wahrhaftig keinen übeln Geschmack. Geh Er nur hin, ich will Ihm an seiner Fortune nicht hinderlich sein; die Dürandes sind in solchen Affären immer splendid; so ein junger, wilder Schwan muß gerupft werden, aber mach Ers mir nicht zu arg.» – Dann nickte er mit dem Kopfe, ließ sich den Pudermantel umwerfen und schritt langsam zwischen zwei Reihen von Bedienten, die ihn im Vorüberwandeln mit großen Quasten einpuderten, durch die entgegengesetzte Flügeltür zum Frühstück. Die Bedienten kicherten heimlich – Renald schüttelte sich wie ein gefesselter Löwe.

Noch an demselben Tage trat er seine Reise an.

Es war ein schöner, blanker Herbstabend, als er in der Ferne Paris erblickte; die Ernte war längst vorüber, die Felder standen alle leer, nur von der Stadt her kam ein verworrenes Rauschen über die stille Gegend, daß ihn heimlich schauerte. Er ging nun an prächtigen Landhäusern vorüber durch die langen Vorstädte immer tiefer in das wachsende Getöse hinein, die Welt rückte immer enger und dunkler zusammen, der Lärm, das Rasseln der Wagen betäubte, das wechselnde Streiflicht aus den geputzten Läden blendete ihn; so war er ganz verwirrt, als er endlich im Wind den roten Löwen, das Zeichen seines Vetters, schwanken sah, der in der Vorstadt einen Weinschank hielt. Dieser saß eben vor der Tür seines kleinen Hauses und verwunderte sich nicht wenig, da er den verstaubten Wandersmann erkannte. Doch Renald stand wie auf Kohlen. «War Gabriele bei dir?» fragte er gleich nach der ersten Begrüßung gespannt. – Der Vetter schüttelte erstaunt den Kopf, er wußte von nichts. «Also doch!» sagte Renald, mit dem Fuß auf die Erde stampfend; aber er konnte es nicht über die Lippen bringen, was er vermute und vorhabe.

Sie gingen nun in das Haus und kamen in ein langes, wüstes Gemach, das von einem Kaminfeuer im Hintergrunde ungewiß erleuchtet wurde. In den roten Widerscheinen lag dort ein wilder Haufe umher: abgedankte Soldaten, müßige Handwerksburschen und dergleichen Hornkäfer, wie sie in der Abendzeit um die großen Städte schwärmen. Alle Blicke aber hingen an einem hohen, hagern Manne mit bleichem, scharfgeschnittenem Gesicht, der, den Hut auf dem Kopf und seinen langen Mantel stolz und vornehm über die linke Achsel zurückgeschlagen, mitten unter ihnen stand. – «Ihr seid der Nährstand», rief er soeben aus; «wer aber die andern nährt, der ist ihr Herr; hoch auf, ihr Herren!» – Er hob ein Glas, alles jauchzte wild auf und griff nach den Flaschen, er aber tauchte kaum die feinen Lippen in den dunkelroten Wein, als schlürft er Blut, seine spielenden Blicke gingen über dem Glase kalt und lauernd in die Runde.

Da funkelte das Kaminfeuer über Renalds blankes Bandelier, das stach plötzlich in ihre Augen. Ein starker Kerl mit rotem Gesicht und Haar wie ein brennender Dornbusch trat mit übermütiger Bettelhaftigkeit dicht vor Renald und fragte, ob er dem Großtürken diene? Ein anderer meinte, er habe ja da, wie ein Hund, ein adeliges Halsband umhängen. – Renald griff rasch nach seinem Hirschfänger, aber der lange Redner trat dazwischen, sie wichen ihm scheu und ehrerbietig aus. Dieser führte den Jäger an einen abgelegenen Tisch und fragte, wohin er wolle. Da Renald den Grafen Dürande nannte, sagte er: «Das ist ein altes Haus, aber der Totenwurm pickt schon drin, ganz von Liebschaften zerfressen.» – Renald erschrak, er glaubte, jeder müßte ihm seine Schande an der Stirn ansehen. «Warum kommt Ihr gerade auf die Liebschaften?» fragte er zögernd. – «Warum?» erwiderte jener, «sind sie nicht die Herrn im Forst, ist das Wild nicht ihre, hohes und niederes? Sind wir nicht verfluchte Hunde und lecken die Schuh, wenn sie uns stoßen?» – Das verdroß Renald; er entgegnete kurz und stolz, der junge Graf Dürande sei ein großmütiger Herr, er wolle nur sein Recht von ihm und weiter nichts. – Bei diesen Worten hatte der Fremde ihn aufmerksam betrachtet und sagte ernst: «Ihr seht aus wie ein Scharfrichter, der, das Schwert unterm Mantel, zu Gerichte geht; es kommt die Zeit, gedenkt an mich, Ihr werdet der Rüstigen einer sein bei der blutigen Arbeit.» – Dann zog er ein Blättchen hervor, schrieb etwas mit Bleistift darauf, versiegelte es am Licht und reichte es Renald hin. «Die Grafen hier kennen mich wohl», sagte er; er solle das nur abgeben an Dürande, wenn er einen Strauß mit ihm habe, es könnte ihm vielleicht von Nutzen sein. – «Wer ist der Herr?» fragte Renald seinen Vetter, da der Fremde sich rasch wieder wandte. – «Ein Feind der Tyrannen», entgegnete der Vetter leise und geheimnisvoll.

Dem Renald aber gefiel hier die ganze Wirtschaft nicht, er war müde von der Reise und streckte sich bald in einer Nebenkammer auf das Lager, das ihm der Vetter angewiesen. Da konnte er vernehmen, wie immer mehr und mehr Gäste nebenan allmählich die Stube füllten; er hörte die Stimme des Fremden wieder dazwischen, eine wilde Predigt, von der er nur einzelne Worte verstand, manchmal blitzte das Kaminfeuer blutrot durch die Ritzen der schlechtverwahrten Tür; so schlief er spät unter furchtbaren Träumen ein.

 

Der Ball war noch nicht beendigt, aber der junge Graf Dürande hatte dort so viel Wunderbares gehört von den feurigen Zeichen einer Revolution, vom heimlichen Aufblitzen kampffertiger Geschwader, Jakobiner, Volksfreunde und Royalisten, daß ihm das Herz schwoll wie im nahenden Gewitterwinde. Er konnte es nicht länger aushalten in der drückenden Schwüle. In seinen Mantel gehüllt, ohne den Wagen abzuwarten, stürzte er sich in die scharfe Winternacht hinaus. Da freute er sich, wie draußen fern und nah die Turmuhren verworren zusammenklangen im Wind und die Wolken über die Stadt flogen und der Sturm sein Reiselied pfiff, lustig die Schneeflocken durcheinander wirbelnd. «Grüß mir mein Schloß Dürande!» rief er dem Sturme zu; es war ihm so frisch zumut, als müßt er wie ein lediges Roß mit jedem Tritte Funken aus den Steinen schlagen.

In seinem Hotel aber fand er alles wie ausgestorben, der Kammerdiener war vor Langeweile fest eingeschlafen, die jüngere Dienerschaft ihren Liebschaften nachgegangen, niemand hatte ihn so früh erwartet. Schauernd vor Frost stieg er die breite, dämmernde Treppe hinauf, zwei tief herabgebrannte Kerzen beleuchteten zweifelhaft das vergoldete Schnitzwerk des alten Saales, es war so still, daß er den Zeiger der Schloßuhr langsam fortrücken und die Wetterfahnen im Winde sich drehen hörte. Wüst und überwacht warf er sich auf eine Ottomane hin. «Ich bin so müde», sagte er, «so müde von Lust und immer Lust, langweiliger Lust! ich wollt, es wäre Krieg!» – Da wars ihm, als hört er draußen auf der Treppe gehen mit leisen, langen Schritten, immer näher und näher. «Wer ist da?» rief er. – Keine Antwort. – «Nur zu, mir eben recht», meinte er, Hut und Handschuhe wegwerfend, «rumor nur zu, spukhafte Zeit, mit deinem fernen Wetterleuchten über Stadt und Land, als wenn die Gedanken aufständen überall und schlaftrunken nach den Schwertern tappten. Was gehst du in Waffen rasselnd um und pochst an die Türen unserer Schlösser bei stiller Nacht; mich gelüstet, mit dir zu fechten; herauf, du unsichtbares Kriegsgespenst!»

Da pocht es wirklich an der Tür. Er lachte, daß der Geist die Herausforderung so schnell angenommen. In keckem Übermut rief er: «Herein!» Eine hohe Gestalt im Mantel trat in die Tür; er erschrak doch, als diese den Mantel abwarf und er Renald erkannte; denn er gedachte der Nacht im Walde, wo der Jäger auf ihn gezielt. – Renald aber, da er den Grafen erblickte, ehrerbietig zurücktretend, sagte, er habe den Kammerdiener hier zu finden geglaubt, um sich anmelden zu lassen. Er sei schon öfters zu allen Tageszeiten hier gewesen, jedesmal aber, unter dem Vorwand, daß die Herrschaft nicht zu Hause oder beschäftigt sei, von den Pariser Bedienten zurückgewiesen worden, die ihn noch nicht kannten; so habe er denn heute auf der Straße gewartet, bis der Graf zurückkäme.

«Und was willst du denn von mir?» fragte der Graf, ihn mit unverwandten Blicken prüfend. «Gnädiger Herr», erwiderte der Jäger nach einer Pause, «Sie wissen wohl, ich hatte eine Schwester, sie war meine einzige Freude und mein Stolz – sie ist eine Landläuferin geworden, sie ist fort.»

Der Graf machte eine heftige Bewegung, faßte sich aber gleich wieder und sagte halb abgewendet: «Nun, und was geht das mich an?»

Renalds Stirn zuckte wie fernes Wetterleuchten; er schien mit sich selber zu ringen. «Gnädiger Herr», rief er darauf im tiefsten Schmerz, «gnädiger Herr, gebt mir meine arme Gabriele zurück!»

«Ich?» fuhr der Graf auf, «zum Teufel, wo ist sie?»

«Hier», entgegnete Renald ernst.

Der Graf lachte laut auf und, den Leuchter ergreifend, stieß er rasch eine Flügeltür auf, daß man eine weite Reihe glänzender Zimmer übersah. «Nun», sagte er mit erzwungener Lustigkeit, «so hilf mir suchen. Horch, da raschelt was hinter der Tapete, jetzt hier, dort, nun sage mir, wo steckt sie?»

Renald blickte finster vor sich nieder, sein Gesicht verdunkelte sich immer mehr. Da gewahrte er Gabrielens Schnupftuch auf einem Tischchen; der Graf, der seinen Augen gefolgt war, stand einen Augenblick betroffen. – Renald hielt sich noch, es fiel ihm der Zettel des Fremden wieder ein, er wünschte immer noch, alles in Güte abzumachen und reichte schweigend dem Grafen das Briefchen hin. Der Graf, ans Licht tretend, erbrach es schnell, da flog eine dunkle Röte über sein ganzes Gesicht. – «Und weiter nichts?» murmelte er leise zwischen den Zähnen, sich in die Lippen beißend. «Wollen sie mir drohen, mich schrecken?» – Und rasch zu Renald gewandt, rief er: «Und wenn ich deine ganze Sippschaft hätt, ich gäb sie nicht heraus! Sag deinem Bettleradvokaten, ich lachte sein und wäre zehntausendmal noch stolzer als er, und wenn ihr beide euch im Hause zeigt, laß ich mit Hunden euch vom Hofe hetzen, das sag ihm; fort, fort, fort!» – Hiermit schleuderte er den Zettel dem Jäger ins Gesicht und schob ihn selber zum Saal hinaus, die eichene Tür hinter ihm zuwerfend, daß es durchs ganze Haus öde erschallte.

Renald stand, wild um sich blickend, auf der stillen Treppe. Da bemerkte er erst, daß er den Zettel noch krampfhaft in den Händen hielt; er entfaltete ihn hastig und las an dem flackernden Licht einer halbverlöschten Laterne die Worte: «Hütet Euch. Ein Freund des Volks.» –

Unterdes hörte er oben den Grafen heftig klingeln; mehrere Stimmen wurden im Hause wach; er stieg langsam hinunter wie ins Grab. Im Hofe blickte er noch einmal zurück, die Fenster des Grafen waren noch erleuchtet, man sah ihn im Saale heftig auf und nieder gehen. Da hörte Renald auf einmal draußen durch den Wind singen:

Am Himmelsgrund schießen
So lustig die Stern,
Dein Schatz läßt dich grüßen
Aus weiter, weiter Fern!

Hat eine Zither gehangen
An der Tür unbeacht’t,
Der Wind ist gegangen
Durch die Saiten bei Nacht.

Schwang sich auf dann vom Gitter
Über die Berge, übern Wald –
Mein Herz ist die Zither,
Gibt einen fröhlichen Schall.

Die Weise ging ihm durch Mark und Bein; er kannte sie wohl. – Der Mond streifte soeben durch die vorüberfliegenden Wolken den Seitenflügel des Schlosses, da glaubte er in dem einen Fenster flüchtig Gabrielen zu erkennen; als er sich aber wandte, wurde es schnell geschlossen. Ganz erschrocken und verwirrt warf er sich auf die nächste Tür, sie war fest zu. Da trat er unter das Fenster und rief leise aus tiefster Seele hinauf, ob sie drin wider ihren Willen festgehalten werde? so solle sie ihm ein Zeichen geben, es sei keine Mauer so stark wie die Gerechtigkeit Gottes. – Es rührte sich nichts als die Wetterfahne auf dem Dach. – «Gabriele», rief er nun lauter, «meine arme Gabriele, der Wind in der Nacht weint um dich an den Fenstern, ich liebte dich so sehr, ich lieb dich noch immer, um Gottes willen komm, komm herab zu mir, wir wollen miteinander fortziehen, weit, weit fort, wo uns niemand kennt, ich will für dich betteln von Haus zu Haus, es ist ja kein Lager so hart, kein Frost so scharf, keine Not so bitter als die Schande.»

Er schwieg erschöpft, es war alles wieder still, nur die Tanzmusik von dem Balle schallte noch von fern über den Hof herüber, der Wind trieb große Schneeflocken schräg über die harte Erde, er war ganz verschneit. – «Nun, so gnade uns beiden Gott!» sagte er, sich abwendend, schüttelte den Schnee vom Mantel und schritt rasch fort.

Als er zu der Schenke seines Vetters zurückkam, fand er zu seinem Erstaunen das ganze Haus verschlossen. Auf sein heftiges Pochen trat der Nachbar, sich vorsichtig nach den Seiten umsehend, aus seiner Tür, er schien auf des Jägers Rückkehr gewartet zu haben und erzählte ihm geheimnisvoll, das Nest nebenan sei ausgenommen, Polizeisoldaten hätten heute abend den Vetter plötzlich abgeführt, niemand wisse wohin. – Den Renald überraschte und verwunderte nichts mehr, und zerstreut mit flüchtigem Danke nahm er alles an, als der Nachbar nun auch das gerettete Reisebündel des Jägers unter dem Mantel hervorbrachte und ihm selbst eine Zuflucht in seinem Hause anbot.

Gleich am andern Morgen aber begann Renald seine Runde in der weitläufigen Stadt; er mochte nichts mehr von der Großmut des stolzen Grafen, er wollte jetzt nur sein Recht! So suchte er unverdrossen eine Menge Advokaten hinter ihren großen Tintenfässern auf, aber die sahens gleich alle den goldbortenen Rauten seines Rockes an, daß sie nicht aus seiner eigenen Tasche gewachsen waren; der eine verlangte unmögliche Zeugen, der andere Dokumente, die er nicht hatte, und alle forderten Vorschuß. Ein junger, reicher Advokat wollte sich totlachen über die ganze Geschichte; er fragte, ob die Schwester jung, schön, und erbot sich, den ganzen Handel umsonst zu führen und die arme Waise dann zu sich ins Haus zu nehmen, während ein andrer gar das Mädchen selber heiraten wollte, wenn sie fernerhin beim Grafen bliebe. – In tiefster Seele empört, wandte sich Renald nun an die Polizeibehörde; aber da wurde er aus einem Revier ins andere geschickt, von Pontius zu Pilatus, und jeder wusch seine Hände in Unschuld, niemand hatte Zeit, in dem Getreibe ein vernünftiges Wort zu hören, und als er endlich vor das rechte Büro kam, zeigten sie ihm ein langes Verzeichnis der Dienstleute und Hausgenossen des Grafen Dürande: seine Schwester war durchaus nicht darunter. Er habe Geister gesehen, hieß es, er solle keine unnützen Flausen machen; man hielt ihn für einen Narren, und er mußte froh sein, nur ungestraft wieder unter Gottes freien Himmel zu kommen. Da saß er nun todmüde in seiner einsamen Dachkammer, den Kopf in die Hand gestützt; seine Barschaft war mit dem frühzeitigen Schnee auf den Straßen geschmolzen, jetzt wußt er keine Hilfe mehr, es ekelte ihm recht vor dem Schmutz der Welt. In diesem Hinbrüten, wie wenn man beim Sonnenglanz die Augen schließt, spielten feurige Figuren wechselnd auf dem dunklen Grund seiner Seele: schlängelnde Zornesblicke und halbgeborne Gedanken blutiger Rache. In dieser Not betete er still für sich; als er aber an die Worte kam: «Vergib uns unsere Schuld, als auch wir vergeben unseren Schuldnern», fuhr er zusammen; er konnte es dem Grafen nicht vergeben. Angstvoll und immer brünstiger betete er fort. – Da sprang er plötzlich auf, ein neuer Gedanke erleuchtete auf einmal sein ganzes Herz. Noch war nicht alles versucht, nicht alles verloren, er beschloß, den König selber anzutreten – so hatte er sich nicht vergeblich zu Gott gewendet, dessen Hand auf Erden ja der König ist.

Ludwig XVI. und sein Hof waren damals in Versailles; Renald eilte sogleich hin und freute sich, als er bei seiner Ankunft hörte, daß der König, der unwohl gewesen, heute zum ersten Male wieder den Garten besuchen wolle. Er hatte zu Hause mit großem Fleiß eine Supplik aufgesetzt, Punkt für Punkt, das himmelschreiende Unrecht und seine Forderung, alles, wie er es dereinst vor Gottes Thron zu verantworten gedachte. Das wollte er im Garten selbst übergeben, vielleicht fügte es sich, daß er dabei mit dem König sprechen durfte; so, hoffte er, könne noch alles wieder gut werden.

Vielerlei Volk, Neugierige, Müßiggänger und Fremde hatten sich unterdes schon unweit der Tür, aus welcher der König treten sollte, zusammengestellt. Renald drängte sich mit klopfendem Herzen in die vorderste Reihe. Es war einer jener halbverschleierten Wintertage, die lügenhaft den Sommer nachspiegeln, die Sonne schien lau, aber falsch über die stillen Paläste, weiterhin zogen Schwäne auf den Weihern, kein Vogel sang mehr, nur die weißen Marmorbäder standen noch verlassen in der prächtigen Einsamkeit. Endlich gaben die Schweizer das Zeichen, die Saaltür öffnete sich, die Sonne tat einen kurzen Blitz über funkelnden Schmuck, Ordensbänder und blendende Achseln, die schnell vor dem Winterhauch unter schimmernden Tüchern wieder verschwanden. Da schallte es auf einmal «Vive le roi!» durch die Lüfte, und im Garten, so weit das Auge reichte, begannen plötzlich alle Wasserkünste zu spielen, und mitten in dem Jubel, Rauschen und Funkeln schritt der König in einfachem Kleide langsam die breiten Marmorstufen hinab. Er sah traurig und bleich – eine leise Luft rührte die Wipfel der hohen Bäume und streute die letzten Blätter wie einen Goldregen über die fürstlichen Gestalten. Jetzt gewahrte Renald mit einiger Verwirrung auch den Grafen Dürande unter dem Gefolge; er sprach soeben halbflüsternd zu einer jungen, schönen Dame. Schon rauschten die taftnen Gewänder immer näher und näher. Renald konnte deutlich vernehmen, wie die Dame, ihre Augen gegen Dürande aufschlagend, ihn neckend fragte, was er drin sehe, daß sie ihn so erschreckten. «Wunderbare Sommernächte meiner Heimat», erwiderte der Graf zerstreut. Da wandte sich das Fräulein lachend, Renald erschrak, ihr dunkles Auge war wie Gabrielens in fröhlichen Tagen – es wollte ihm das Herz zerreißen.

Darüber hatte er alles andere vergessen, der König war fast vorüber; jetzt drängte er sich nach, ein Schweizer aber stieß ihn mit der Partisane zurück, er drang noch einmal verzweifelt vor. Da bemerkt ihn Dürande, er stutzt einen Augenblick, dann, schnell gesammelt, faßt er den Zudringlichen rasch an der Brust und übergibt ihn der herbeieilenden Wache. Der König über dem Getümmel wendet sich fragend. – «Ein Wahnsinniger», entgegnet Dürande.

Unterdes hatten die Soldaten den Unglücklichen umringt, die neugierige Menge, die ihn für verrückt hielt, wich scheu zurück, so wurde er ungehindert abgeführt. Da hörte er hinter sich die Fontänen noch rauschen, dazwischen das Lachen und Plaudern der Hofleute in der lauen Luft; als er aber einmal zurückblickte, hatte sich alles schon wieder nach dem Garten hingekehrt, nur ein bleiches Gesicht aus der Menge war noch zurückgewandt und funkelte ihm mit scharfen Blicken nach. Er glaubte schaudernd den prophetischen Fremden aus des Vetters Schenke wiederzuerkennen.

 

Der Mond bescheint das alte Schloß Dürande und die tiefe Waldesstille am Jägerhaus, nur die Bäche rauschen so geheimnisvoll in den Gründen. Schon blühts in manchem tiefen Tal, und nächtliche Züge heimkehrender Störche hoch in der Luft verkünden in einzelnen halbverlornen Lauten, daß der Frühling gekommen. Da fahren plötzlich Rehe, die auf der Wiese vor dem Jägerhaus gerastet, erschrocken ins Dickicht, der Hund an der Tür schlägt an, ein Mann steigt eilig von den Bergen, bleich, wüst, die Kleider abgerissen, mit wildverwachsenem Bart – es ist der Jäger Renald.

Mehrere Monate hindurch war er in Paris im Irrenhause eingesperrt gewesen; je heftiger er beteuerte, verständig zu sein, für desto toller hielt ihn der Wärter; in der Stadt aber hatte man jetzt Wichtigeres zu tun, niemand bekümmerte sich um ihn. Da ersah er endlich selbst seinen Vorteil, die Hinterlist seiner verrückten Mitgesellen half ihm treulich aus Lust an der Heimlichkeit. So war es ihm gelungen, in einer dunklen Nacht mit Lebensgefahr sich an einem Seil herabzulassen und in der allgemeinen Verwirrung der Zeit unentdeckt aus der Stadt durch die Wälder, von Dorf zu Dorfe bettelnd, heimwärts zu gelangen. Jetzt bemerkte er erst, daß es von fern überm Walde blitzte; vom stillen Schloßgarten her schlug schon eine Nachtigall, es war ihm, als ob ihn Gabriele riefe. Als er aber mit klopfendem Herzen auf dem altbekannten Fußsteig immer weiterging, öffnete sich bei dem Hundegebell ein Fensterchen im Jägerhaus. Es gab ihm einen Stich ins Herz; es war Gabrielens Schlafkammer, wie oft hatte er dort ihr Gesicht im Mondschein gesehen. Heut aber guckte ein Mann hervor und fragte barsch, was es draußen gäbe. Es war der Waldwärter, der heimtückische Rotkopf war ihm immer zuwider gewesen. «Was macht Ihr hier in Renalds Haus?» sagte er. «Ich bin müde, ich will hinein.» Der Waldwärter sah ihn von Kopf bis zu den Füßen an, er erkannte ihn nicht mehr. «Mit dem Renald ists lange vorbei», entgegnete er dann, «er ist nach Paris gelaufen und hat sich dort mit verdächtigem Gesindel und Rebellen eingelassen, wir wissens recht gut, jetzt habe ich seine Stelle vom Grafen.» – Drauf wies er Renald am Waldesrand den Weg zum Wirtshause und schlug das Fenster wieder zu. – Oho, stehts so! dachte Renald. Da fielen seine Augen auf sein Gärtchen, die Kirschbäume, die er gepflanzt, standen schon in voller Blüte; es schmerzte ihn, daß sie in ihrer Unschuld nicht wußten, für wen sie blühten. Währenddes hatte sein alter Hofhund sich gewaltsam vom Stricke losgerissen, sprang liebkosend an ihm herauf und umkreiste ihn in weiten Freudensprüngen; er herzte sich mit ihm wie mit einem alten, treuen Freunde. Dann aber wandte er sich rasch zum Hause; die Tür war verschlossen, er stieß sie mit einem derben Fußtritt auf. Drin hatte der Waldwärter unterdes Feuer gemacht. «Herr Jesus!» rief er erschrocken, da er, entgegentretend, plötzlich beim Widerschein der Lampe den verwilderten Renald erkannte. Renald aber achtete nicht darauf, sondern griff nach der Büchse, die überm Bett an der Wand hing. «Lump», sagte er, «das schöne Gewehr so verstauben zu lassen!» Der Waldwärter, die Lampe hinsetzend und auf dem Sprunge, durchs Fenster zu entfliehen, sah den furchtbaren Gast seitwärts mit ungewissen Blicken an. Renald bemerkte, daß er zitterte. «Fürcht dich nicht», sagte er, «dir tu ich nichts, was kannst du dafür; ich hol mir nur die Büchse, sie ist vom Vater, sie gehört mir und nicht dem Grafen, und so wahr der alte Gott noch lebt, so hol ich mir auch mein Recht, und wenn sies im Turmknopf von Dürande versiegelt hätten, das sag dem Grafen und wers sonst wissen will.» – Mit diesen Worten pfiff er dem Hunde und schritt wieder in den Wald hinaus, wo ihn der Waldwärter bei dem wirren Wetterleuchten bald aus den Augen verloren hatte.

Währenddes schnurrten im Schloß Dürande die Gewichte der Turmuhr ruhig fort, aber die Uhr schlug nicht, und der verrostete Weiser rückte nicht mehr von der Stelle, als wäre die Zeit eingeschlafen auf dem alten Hofe beim einförmigen Rauschen der Brunnen. Draußen, nur manchmal vom fernen Wetterleuchten zweifelhaft erhellt, lag der Garten mit seinen wunderlichen Baumfiguren, Statuen und vertrockneten Bassins wie versteinert im jungen Grün, das in der warmen Nacht schon von allen Seiten lustig über die Gartenmauer kletterte und sich um die Säulen der halbverfallenen Lusthäuser schlang, als wollt nun der Frühling alles erobern. Das Hausgesinde aber stand, heimlich untereinander flüsternd, auf der Terrasse; denn man sah es hie und da brennen in der Ferne; der Aufruhr schritt wachsend schon immer näher über die stillen Wälder von Schloß zu Schloß. Da hielt der kranke alte Graf um die gewohnte Stunde einsam Tafel im Ahnensaal; die hohen Fenster waren fest verschlossen, Spiegel, Schränke und Marmortische standen unverrückt umher wie in der alten Zeit, niemand durfte, bei seiner Ungnade, der neuen Ereignisse erwähnen, die er verächtlich ignorierte. So saß er, im Staatskleide, frisiert, wie eine geputzte Leiche, am reichbesetzten Tisch vor den silbernen Armleuchtern und blätterte in alten Historienbüchern, seiner kriegerischen Jugend gedenkend. Die Bedienten eilten stumm über den glatten Boden hin und her, nur durch die Ritzen der Fensterladen sah man zuweilen das Wetterleuchten, und alle Viertelstunden hakte im Nebengemach die Flötenuhr knarrend ein und spielte einen Satz aus einer alten Opernarie.

Da ließen sich auf einmal unten Stimmen vernehmen, drauf hörte man jemand eilig die Treppe heraufkommen, immer lauter und näher. «Ich muß herein!» rief es endlich an der Saaltür, sich durch die abwehrenden Diener drängend, und bleich, verstört und atemlos stürzte der Waldwärter in den Saal, in wilder Hast dem Grafen erzählend, was ihm soeben im Jägerhaus mit Renald begegnet. –

Der Graf starrte ihn schweigend an. Dann, plötzlich einen Armleuchter ergreifend, richtete er sich zum Erstaunen der Diener ohne fremde Hilfe hoch auf. «Hüte sich, wer einen Dürande fangen will!» rief er, und gespenstisch wie ein Nachtwandler mit dem Leuchter quer durch den Saal schreitend, ging er auf eine kleine eichene Tür los, die zu dem Gewölbe des Eckturms führte. Die Diener, als sie sich vom ersten Entsetzen über sein grauenhaftes Aussehen erholt, standen verwirrt und unentschlossen um die Tafel. «Um Gottes willen», rief da auf einmal ein Jäger, herbeieilend, «laßt ihn nicht durch, dort in dem Eckturm habe ich auf sein Geheiß heimlich alles Pulver zusammentragen müssen; wir sind verloren, er sprengt uns alle mit sich in die Luft!» – Der Kammerdiener, bei dieser schrecklichen Nachricht, faßte sich zuerst ein Herz und sprang rasch vor, um seinen Herrn zurückzuhalten, die andern folgten seinem Beispiel. Der Graf aber, da er sich so unerwartet verraten und überwältigt sah, schleuderte dem nächsten den Armleuchter an den Kopf, darauf, krank wie er war, brach er selbst auf dem Boden zusammen.

Ein verworrenes Durcheinanderlaufen ging nun durch das ganze Schloß; man hatte den Grafen auf sein seidenes Himmelbett gebracht. Dort versuchte er vergeblich, sich noch einmal emporzurichten, zurücksinkend rief er: «Wer sagte da, daß der Renald nicht wahnsinnig ist?» – Da alles stillblieb, fuhr er leiser fort: «Ihr kennt den Renald nicht, er kann entsetzlich sein, wie fressend Feuer – läßt man denn reißende Tiere frei aufs Feld? – Ein schöner Löwe, wie er die Mähnen schüttelt – wenn sie nur nicht so blutig wären!» – Hier, sich plötzlich besinnend, riß er die müden Augen weit auf und starrte die umherstehenden Diener verwundert an.

Der bestürzte Kammerdiener, der seine Blicke allmählich verlöschen sah, redete von geistlichem Beistand, aber der Graf, schon im Schatten des nahenden Todes, verfiel gleich darauf von neuem in fieberhafte Phantasien. Er sprach von einem großen, prächtigen Garten und einer langen, langen Allee, in der ihm seine verstorbene Gemahlin entgegenkäme, immer näher und heller und schöner. «Nein, nein», sagte er, «sie hat einen Sternenmantel um und eine funkelnde Krone auf dem Haupt. Wie rings die Zweige schimmern von dem Glanz! Gegrüßt seist du, Maria, bitt für mich, du Königin der Ehren!» – Mit diesen Worten starb der Graf.

Als der Tag anbrach, war der ganze Himmel gegen Morgen dunkelrot gefärbt; gegenüber aber stand das Gewitter bleifarben hinter den grauen Türmen des Schlosses Dürande, die Sterbeglocke ging in einzelnen, abgebrochenen Klängen über die stille Gegend, die fremd und wie verwandelt in der seltsamen Beleuchtung heraufblickte. – Da sahen einige Holzhauer im Walde den wilden Jäger Renald mit seiner Büchse und dem Hunde eilig in die Morgenglut hinabsteigen; niemand wußte, wohin er sich gewendet.

 

Mehrere Tage waren seitdem vergangen, das Schloß stand wie verzaubert in öder Stille, die Kinder gingen abends scheu vorüber, als ob es drin spuke. Da sah man eines Tages plötzlich droben mehrere Fenster geöffnet, buntes Reisegepäck lag auf dem Hofe umher, muntere Stimmen schallten wieder auf den Treppen und Gängen, die Türen flogen hallend auf und zu, und vom Turme fing die Uhr trostreich wieder zu schlagen an. Der junge Graf Dürande war, auf die Nachricht vom Tode seines Vaters, rasch und unerwartet von Paris zurückgekehrt. Unterwegs war er mehrmals verworrenen Zügen von Edelleuten begegnet, die schon damals flüchtend die Landstraßen bedeckten. Er aber hatte keinen Glauben an die Fremde und wollte ehrlich Freud und Leid mit seinem Vaterlande teilen. Wie hatte auch der erste Schreck aus der Ferne alles übertrieben! Er fand seine nächsten Dienstleute ergeben und voll Eifer und überließ sich gern der Hoffnung, noch alles zum Guten wenden zu können.

In solchen Gedanken stand er an einem der offenen Fenster, die Wälder rauschten so frisch herauf, das hatte er so lange nicht gehört, und im Tale schlugen die Vögel und jauchzten die Hirten von den Bergen, dazwischen hörte er unten im Schloßgarten singen:

Wärs dunkel, ich läg im Walde,
Im Walde rauschts so sacht,
Mit ihrem Sternenmantel
Bedecket mich da die Nacht;
Da kommen die Bächlein gegangen:
Ob ich schon schlafen tu?
Ich schlaf nicht, ich hör noch lange
Den Nachtigallen zu,
Wenn die Wipfel über mir schwanken,
Es klinget die ganze Nacht,
Das sind im Herzen die Gedanken,
Die singen, wenn niemand wacht.

Jawohl, gar manche stille Nacht, dachte der Graf, sich mit der Hand über die Stirn fahrend. – «Wer sang da?» wandte er sich dann zu den auspackenden Dienern; die Stimme schien ihm so bekannt. Ein Jäger meinte, es sei wohl der neue Gärtnerbursch aus Paris, der habe keine Ruhe gehabt in der Stadt; als sie fortgezogen, sei er ihnen zu Pferde nachgekommen. «Der?» sagte der Graf – er konnte sich kaum auf den Burschen besinnen. Über den Zerstreuungen des Winters in Paris war er nicht oft in den Garten gekommen; er hatte den Knaben nur selten gesehen und wenig beachtet, um so mehr freute ihn seine Anhänglichkeit.

Indes war es beinahe Abend geworden, da ließ der Graf noch sein Pferd satteln, die Diener verwunderten sich, als sie ihn bald darauf so spät und ganz allein noch nach dem Walde hinreiten sahen. Der Graf aber schlug den Weg zu dem nahen Nonnenkloster ein und ritt in Gedanken rasch fort, als gält es, ein lange versäumtes Geschäft nachzuholen; so hatte er in kurzer Zeit das stille Waldkloster erreicht. Ohne abzusteigen, zog er hastig die Glocke am Tor. Da stürzte ein Hund ihm entgegen, als wollt er ihn zerreißen, ein langer, bärtiger Mann trat aus der Klosterpforte und stieß den Köter wütend mit den Füßen; der Hund heulte, der Mann fluchte, eine Frau zankte drin im Kloster, sie konnte lange nicht zu Worte kommen. Der Graf, befremdet von dem seltsamen Empfang, verlangte jetzt schleunig die Priorin zu sprechen. – Der Mann sah ihn etwas verlegen an, als schämte er sich. Gleich aber wieder in alter Roheit gesammelt, sagte er, das Kloster sei aufgehoben und gehöre der Nation; er sei der Pächter hier. Weiter erfuhr nun der Graf noch, wie ein Pariser Kommissar das alles so rasch und klug geordnet. Die Nonnen sollten nun in weltlichen Kleidern hinaus in die Städte, heiraten und nützlich sein; da zogen alle in einer schönen, stillen Nacht aus dem Tal, für das sie so lange gebetet, nach Deutschland hinüber, wo ihnen in einem Schwesterkloster freundliche Aufnahme angeboten worden.

Der überraschte Graf blickte schweigend umher, jetzt bemerkte er erst, wie die zerbrochenen Fenster im Winde klappten; aus einer Zelle unten sah ein Pferd schläfrig ins Grün hinaus, die Ziegen des Pächters weideten unter umgeworfenen Kreuzen auf dem Kirchhof, niemand wagte es, sie zu vertreiben; dazwischen weinte ein Kind im Kloster, als klagte es, daß es geboren in dieser Zeit. Im Dorfe aber war es wie ausgekehrt, die Bauern guckten scheu aus den Fenstern, sie hielten den Grafen für einen Herrn von der Nation. Als ihn aber nach und nach einige wiedererkannten, stürzte auf einmal alles heraus und umringte ihn, hungrig, zerlumpt und bettelnd. Mein Gott, mein Gott, dachte er, wie wird die Welt so öde! – Er warf alles Geld, das er bei sich hatte, unter den Haufen, dann setzte er rasch die Sporen ein und wandte sich wieder nach Hause.

Es war schon völlig Nacht, als er in Dürande ankam. Da bemerkte er mit Erstaunen im Schloß einen unnatürlichen Aufruhr, Lichter liefen von Fenster zu Fenster, und einzelne Stimmen schweiften durch den dunklen Garten, als suchten sie jemand. Er schwang sich rasch vom Pferde und eilte ins Haus. Aber auf der Treppe stürzte schon der Kammerdiener mit einem versiegelten Blatte atemlos entgegen: es seien Männer unten, die es abgegeben und trotzig Antwort verlangten. Ein Jäger, aus dem Garten hinzutretend, fragte ängstlich den Grafen, ob er draußen dem Gärtnerburschen begegnet? Der Bursch habe ihn überall gesucht, der Graf möge sich aber hüten vor ihm, er sei in der Dämmerung verdächtig im Dorf gesehen worden, ein Bündel unterm Arm, mit allerlei Gesindel sprechend, nun sei er gar spurlos verschwunden.

Der Graf, unterdes oben im erleuchteten Zimmer angelangt, erbrach den Brief und las in schlechter, mit blasser Tinte mühsam gezeichneter Handschrift: Im Namen Gottes verordne ich hiermit, daß der Graf Hippolyt von Dürande auf einem mit dem gräflichen Wappen besiegelten Pergament die einzige Tochter des verstorbenen Försters am Schloßberg, Gabriele Dubois, als seine rechtmäßige Braut und künftiges Gemahl bekennen und annehmen soll. Dieses Gelöbnis soll heute bis elf Uhr nachts in dem Jägerhause abgeliefert werden. Ein Schuß aus dem Schloßfenster aber bedeutet: Nein. Renald.

«Was ist die Uhr?» fragte der Graf – Bald Mitter, erwiderten einige, sie hätten ihn so lange im Walde und Garten vergeblich gesucht. – «Wer von euch sah den Renald, wo kam er her?» fragte er von neuem. Alles schwieg. Da warf er den Brief auf den Tisch. «Der Rasende!» sagte er und befahl für jeden Fall die Zugbrücke aufzuziehen, dann öffnete er rasch das Fenster und schoß ein Pistol als Antwort in die Luft hinaus. Da gab es einen wilden Widerhall durch die stille Nacht, Geschrei und Rufen und einzelne Flintenschüsse bis in die fernsten Schlünde hinein, und als der Graf sich wieder wandte, sah er in dem Saal einen Kreis verstörter Gesichter lautlos um sich her.

Er schalt sie Hasenjäger, denen vor Wölfen graute. «Ihr habt lange genug Krieg gespielt im Walde», sagte er, «nun wendet sich die Jagd, wir sind jetzt das Wild, wir müssen durch. Was wird es sein! Ein Tollhaus mehr ist wieder aufgeriegelt, der rasende Veitstanz geht durchs Land, und der Renald geigt ihnen vor. Ich hab nichts mit dem Volk, ich tat ihnen nichts als Gutes, wollen sie noch Besseres, sie sollens ehrlich fordern, ich gäbs ihnen gern, abschrecken aber laß ich mir keine Handbreit meines alten Grund und Bodens; Trotz gegen Trotz!»

So trieb er sie in den Hof hinab, er selber half die Pforten, Luken und Fenster verrammen. Waffen wurden rasselnd von allen Seiten herbeigeschleppt, sein fröhlicher Mut belebte alle. Man zündete mitten im Hofe ein großes Feuer an, die Jäger lagerten sich herum und gossen Kugeln in den roten Widerscheinen, die lustig über die stillen Mauern liefen – sie merkten nicht, wie die Raben, von der plötzlichen Helle aufgeschreckt, ächzend über ihnen die alten Türme umkreisten. – Jetzt brachte ein Jäger mit großem Geschrei den Hut und die Jacke des Gärtnerburschen, die er zu seiner Verwunderung beim Aufsuchen der Waffen im Winkel eines abgelegenen Gemaches gefunden. Einige meinten, das Bürschchen sei vor Angst aus der Haut gefahren, andere schworen, er sei ein Schleicher und Verräter, während der alte Schloßwart Nicolo, schlau lächelnd, seinem Nachbar heimlich etwas ins Ohr flüsterte. Der Graf bemerkte es. «Was lachst du?» fuhr er den Alten an; eine entsetzliche Ahnung flog plötzlich durch seine Seele. Alle sahen verlegen zu Boden. Da faßte er den erschrockenen Schloßwart hastig am Arm und führte ihn mit fort in einen entlegenen Teil des Hofes, wohin nur einige schwankende Schimmer des Feuers langten. Dort hörte man beide lange Zeit lebhaft miteinander reden, der Graf ging manchmal heftig an dem dunklen Schloßflügel auf und ab und kehrte dann immer wieder fragend und zweifelnd zu dem Alten zurück. Dann sah man sie in den offenen Stall treten, der Graf half selbst eilig den schnellsten Läufer satteln, und gleich darauf sprengte Nicolo quer über den Schloßhof, daß die Funken stoben, durchs Tor in die Nacht hinaus. «Reit zu», rief ihm der Graf noch nach, «frag, suche bis ans Ende der Welt.»

Nun trat er rasch und verstört wieder zu den andern, zwei der zuverlässigsten Leute mußten sogleich bewaffnet nach dem Dorfe hinab, um den Renald draußen aufzusuchen; wer ihn zuerst sähe, solle ihm sagen, er, der Graf, wolle ihm Satisfaktion geben wie einem Kavalier und sich mit ihm schlagen, Mann gegen Mann – mehr könne der Stolze nicht verlangen.

Die Diener starrten ihn verwundert an, er aber hatte unterdes einen rüstigen Jäger auf die Zinne gestellt, wo man am weitesten ins Land hinaussehen konnte. «Was siehst du?» fragte er, unten seine Pistolen ladend. Der Jäger erwiderte, die Nacht sei zu dunkel, er könne nichts unterscheiden, nur einzelne Stimmen höre er manchmal fern im Feld und schweren Tritt, als zögen viele Menschen lautlos durch die Nacht, dann alles wieder still. «Hier ists lustig oben», sagte er, «wie eine Wetterfahne im Wind – was ist denn das?»

«Wer kommt?» fuhr der Graf hastig auf.

«Eine weiße Gestalt, wie ein Frauenzimmer», entgegnete der Jäger, «fliegt unten dicht an der Schloßmauer hin.» – Er legte rasch seine Büchse an. Aber der Graf, die Leiter hinauffliegend, war schon selber droben und riß dem Zielenden heftig das Gewehr aus der Hand. Der Jäger sah ihn erstaunt an. «Ich kann auch nichts mehr sehen», sagte er dann halb unwillig und warf sich nun auf die Mauer nieder, über den Rand hinausschauend: «Wahrhaftig, dort an der Gartenecke ist noch ein Fenster offen, der Wind klappt mit den Laden, dort ists hereingehuscht.»

Die Zunächststehenden im Hofe wollten eben nach der bezeichneten Stelle hineilen, als plötzlich mehrere Diener wie Herbstblätter im Sturm über den Hof daherflogen. Die Rebellen, hieß es, hätten im Seitenflügel eine Pforte gesprengt, andere meinten, der rotköpfige Waldwärter habe sie mit Hilfe eines Nachschlüssels heimlich durch das Kellergeschoß hereingeführt. Schon hörte man Fußtritte hallend auf den Gängen und Treppen und fremde rauhe Stimmen da und dort, manchmal blitzte eine Brandfackel vorüberschweifend durch die Fenster. –. «Hallo, nun gilts, die Gäste kommen, spielt auf zum Hochzeitstanze!» rief der Graf, in niegefühlter Mordlust aufschauernd. Noch war nur erst ein geringer Teil des Schlosses verloren; er ordnete rasch seine kleine Schar, fest entschlossen, sich lieber unter den Trümmern seines Schlosses zu begraben, als in diese rohen Hände zu fallen.

Mitten in dieser Verwirrung aber ging auf einmal ein Geflüster durch seine Leute: der Graf zeige sich doppelt im Schloß; der eine hatte ihn zugleich im Hof und am Ende eines dunklen Ganges gesehen, einem andern war er auf der Treppe begegnet, flüchtig und auf keinen Anruf Antwort gebend, das bedeute seit uralter Zeit dem Hause großes Unglück. Niemand hatte jedoch in diesem Augenblick das Herz und die Zeit, es dem Grafen zu sagen, denn soeben begann auch unten der Hof sich schon grauenhaft zu beleben; unbekannte Gesichter erschienen überall an den Kellerfenstern, die Kecksten arbeiteten sich gewaltsam hervor und sanken, ehe sie sich draußen noch aufrichten konnten, von den Kugeln der wachsamen Jäger wieder zu Boden, aber über ihre Leichen weg kroch und rang und hob es sich immer wieder von neuem unaufhaltsam empor, braune, verwilderte Gestalten, mit langen Vogelflinten, Stangen und Brecheisen, als wühlte die Hölle unter dem Schlosse sich auf. Es war die Bande des verräterischen Waldwärters, der ihnen heimtückisch die Keller geöffnet. Nur auf Plünderung bedacht, drangen sie sogleich nach dem Marstall und hieben in der Eile die Stränge entzwei, um sich der Pferde zu bemächtigen. Aber die edlen, schlanken Tiere, von dem Lärm und der gräßlichen Helle verstört, rissen sich los und stürzten in wilder Freiheit in den Hof; dort mit zornigfunkelnden Augen und fliegender Mähne, sah man sie bäumend aus der Menge steigen und Roß und Mann verzweifelnd durcheinanderringen beim wirren Wetterleuchten der Fackeln, Jubel und Todesschrei und die dumpfen Klänge der Sturmglocken dazwischen. Die versprengten Jäger fochten nur noch einzeln gegen die wachsende Übermacht; schon umringte das Getümmel immer dichter den Grafen, er schien unrettbar verloren, als der blutige Knäuel mit dem Ausruf: «Dort, dort ist er!» sich plötzlich wieder entwirrte und alles dem andern Schloßflügel zuflog.

Der Graf, in einem Augenblick fast allein stehend, wandte sich tiefaufatmend und sah erstaunt das alte Banner des Hauses Dürande drüben vom Balkon wehen. Es wallte ruhig durch die wilde Nacht, auf einmal aber schlug der Wind wie im Spiel die Fahne zurück – da erblickte er mit Schaudern sich selbst dahinter, in seinen weißen Reitermantel tief gehüllt, Stirn und Gesicht von seinem Federbusch umflattert. Alle Blicke und Rohre zielten auf die stille Gestalt, doch dem Grafen sträubte sich das Haar empor, denn die Blicke des furchtbaren Doppelgängers waren mitten durch den Kugelregen unverwandt auf ihn gerichtet. Jetzt bewegte es die Fahne, es schien ihm ein Zeichen geben zu wollen, immer deutlicher und dringender ihn zu sich hinaufwinkend.

Eine Weile starrte er hin, dann, von Entsetzen überreizt, vergißt er alles andere, und unerkannt den Haufen teilend, der wütend nach dem Haupttor dringt, eilt er selbst dem gespenstischen Schloßflügel zu. Ein heimlicher Gang, nur wenigen bekannt, führt seitwärts näher zum Balkon, dort stürzt er sich hinein; schon schließt die Pforte sich schallend hinter ihm, er tappt am Pfeiler einsam durch die stille Halle, da hört er atmen neben sich, es faßt ihn plötzlich bei der Hand, schauernd sieht er das Banner und den Federbusch im Dunkeln wieder schimmern. Da, den weißen Mantel zurückschlagend, stößt es unten rasch eine Tür auf nach dem stillen Feld, ein heller Mondblick streift blendend die Gestalt, sie wendet sich. – «Um Gottes willen, Gabriele!» ruft der Graf und läßt verwirrt den Degen fallen.

Das Mädchen stand bleich, ohne Hut vor ihm, die schwarzen Locken aufgeringelt, rings von der Fahne wunderbar umgeben. Sie schien noch atemlos. «Jetzt zaudere nicht», sagte sie, den ganz Erstaunten eilig nach der Tür drängend, «der alte Nicolo harrt deiner draußen mit dem Pferde. Ich war im Dorf, der Renald wollte mich nicht wiedersehn, so rannte ich ins Schloß zurück, zum Glück stand noch ein Fenster offen, da fand ich dich nicht gleich und warf mich rasch in deinen Mantel. Noch merken sie es nicht, sie halten mich für dich; bald ists zu spät, laß mich und rette dich, nur schnell!» Dann setzte sie leiser hinzu: «Und grüße auch das schöne Fräulein in Paris, und betet für mich, wenns euch wohlgeht.»

Der Graf aber, in tiefster Seele bewegt, hatte sie schon fest in beide Arme genommen und bedeckte den bleichen Mund mit glühenden Küssen. Da wand sie sich schnell los. «Mein Gott, liebst du mich denn noch, ich meinte, du freiest um das Fräulein?» sagte sie voll Erstaunen, die großen Augen fragend zu ihm aufgeschlagen. – Ihm wars auf einmal, wie in den Himmel hineinzugehen. «Die Zeit fliegt heut entsetzlich», rief er aus, «dich liebte ich immerdar, da nimm den Ring und meine Hand auf ewig, und so verlaß mich Gott, wenn ich je von dir lasse!» –

Gabriele, von Überraschung und Freude verwirrt, wollte niederknien, aber sie taumelte und mußte sich an der Wand festhalten. Da bemerkte er erst mit Schrecken, daß sie verwundet war. Ganz außer sich riß er sein Tuch vom Halse, suchte eilig mit Fahne, Hemd und Kleidern das Blut zu stillen, das auf einmal unaufhaltsam aus vielen Wunden zu quellen schien. In steigender, unsäglicher Todesangst blickte er nach Hilfe rings umher, schon näherten sich verworrene Stimmen, er wußte nicht, ob es Freund oder Feind. Sie hatte währenddes den Kopf müde an seine Schulter gelehnt. «Mir flimmerts so schön vor den Augen», sagte sie, «wie dazumal, als du durchs tiefe Abendrot noch zu mir kamst; nun ist ja alles, alles wieder gut.»

Da pfiff plötzlich eine Kugel durch das Fenster herein.«Das war der Renald!» rief der Graf, sich nach der Brust greifend; er fühlte den Tod im Herzen. Gabriele fuhr hastig auf. «Wie ist dir?» fragte sie erschrocken. Aber der Graf, ohne zu antworten, faßte heftig nach seinem Degen. Das Gesindel war leise durch den Gang herangeschlichen, auf einmal sah er sich in der Halle von bewaffneten Männern umringt. – «Gute Nacht, mein liebes Weib!» rief er da; und mit letzter, übermenschlicher Gewalt das von der Fahne verhüllte Mädchen auf den linken Arm schwingend, bahnt er sich eine Gasse durch die Plünderer, die ihn nicht kannten und verblüfft von beiden Seiten vor dem Wütenden zurückwichen. So hieb er sich durch die offene Tür glücklich ins Freie hinaus, keiner wagte ihm aufs Feld zu folgen, wo sie in den schwankenden Schatten der Bäume einen heimlichen Hinterhalt besorgten.

Draußen aber rauschten die Wälder so kühl. «Hörst du die Hochzeitsglocken gehn?» sagte der Graf; «ich spür schon Morgenluft.» – Gabriele konnte nicht mehr sprechen, aber sie sah ihn still und selig an. – Immer ferner und leiser verhallten unterdes schon die Stimmen vom Schlosse her, der Graf wankte verblutend, sein steinernes Wappenschild lag zertrümmert im hohen Gras, dort stürzt er tot neben Gabrielen zusammen. Sie atmeten nicht mehr, aber der Himmel funkelte von Sternen, und der Mond schien prächtig über das Jägerhaus und die einsamen Gründe; es war, als zögen Engel singend durch die schöne Nacht.

Dort wurden die Leichen von Nicolo gefunden, der vor Ungeduld schon mehrmals die Runde um das Haus gemacht hatte. Er lud beide mit dem Banner auf das Pferd, die Wege standen verlassen, alles war im Schloß, so brachte er sie unbemerkt in die alte Dorfkirche. Man hatte dort vor kurzem erst die Sturmglocke geläutet, die Kirchtür war noch offen. Er lauschte vorsichtig in die Nacht hinaus, es war alles still, nur die Linden säuselten im Wind, vom Schloßgarten hörte er die Nachtigallen schlagen, als ob sie im Traume schluchzten. Da senkte er betend das stille Brautpaar in die gräfliche Familiengruft und die Fahne darüber, unter der sie noch heut zusammen ausruhn. Dann aber ließ er mit traurigem Herzen sein Pferd frei in die Nacht hinauslaufen, segnete noch einmal die schöne Heimatsgegend und wandte sich rasch nach dem Schloß zurück, um seinen bedrängten Kameraden beizustehen; es war ihm, als könnte er nun selbst nicht länger mehr leben.

Auf den ersten Schuß des Grafen aus dem Schloßfenster war das raubgierige Gesindel, das durch umlaufende Gerüchte von Renalds Anschlag wußte, aus allen Schlupfwinkeln hervorgebrochen, er selbst hatte in der offenen Tür des Jägerhauses auf die Antwort gelauert und sprang bei dem Blitz im Fenster wie ein Tiger allen voraus, er war der erste im Schloß. Hier, ohne auf das Treiben der andern zu achten, suchte er mitten zwischen den pfeifenden Kugeln in allen Gemächern, Gängen und Winkeln unermüdlich den Grafen auf. Endlich erblickt er ihn durchs Fenster in der Halle, er hört ihn drin sprechen, ohne Gabrielen in der Dunkelheit zu bemerken. Der Graf kannte den Schützen wohl, er hatte gut gezielt. Als Renald ihn getroffen taumeln sah, wandte er sich tiefaufatmend – sein Richteramt war vollbracht.

Wie nach einem schweren, löblichen Tagewerke durchschritt er nun die leeren Säle in der wüsten Einsamkeit zwischen zertrümmerten Tischen und Spiegeln, der Zugwind strich durch alle Zimmer und spielte traurig mit den Fetzen der zerrissenen Tapeten.

Als er durchs Fenster blickte, verwunderte er sich über das Gewimmel fremder Menschen im Hofe, die ihm geschäftig dienten wie das Feuer dem Sturm. Ein seltsam Gelüsten funkelte ihn da von den Wänden an aus dem glatten Getäfel, in dem der Fackelschein sich verwirrend spiegelte, als äugelte der Teufel mit ihm. – So war er in den Gartensaal gekommen. Die Tür stand offen, er trat in den Garten hinaus. Da schauerte ihn in der plötzlichen Kühle. Der untergehende Mond weilte noch zweifelnd am dunkeln Rand der Wälder, nur manchmal leuchtete der Strom noch herauf, kein Lüftchen ging, und doch rührten sich die Wipfel, und die Alleen und geisterhaften Statuen warfen lange, ungewisse Schatten dazwischen, und die Wasserkünste spielten und rauschten so wunderbar durch die weite Stille der Nacht. Nun sah er seitwärts auch die Linde und die mondbeglänzte Wiese vor dem Jägerhause; er dachte sich die verlorne Gabriele wieder in der alten, unschuldigen Zeit als Kind mit den langen, dunkeln Locken; es fiel ihm immer das Lied ein: «Gute Nacht, mein Vater und Mutter, wie auch mein stolzer Bruder» – es wollte ihm das Herz zerreißen, er sang verwirrt vor sich hin, halb wie im Wahnsinn:

Meine Schwester, die spielt an der Linde. –
Stille Zeit, wie so weit, so weit!
Da spielten so schöne Kinder
Mit ihr in der Einsamkeit.

Von ihren Locken verhangen,
Schlief sie und lachte im Traum,
Und die schönen Kinder sangen
Die ganze Nacht unterm Baum.

Die ganze Nacht hat gelogen,
Sie hat mich so falsch gegrüßt,
Die Engel sind fortgeflogen,
Und Haus und Garten stehn wüst.

Es zittert die alte Linde
Und klaget der Wind so schwer,
Das macht, das macht die Sünde,
Ich wollt, ich läg im Meer.

Die Sonne ist untergegangen
Und der Mond im tiefen Meer,
Es dunkelt schon über dem Lande;
Gute Nacht! seh dich nimmermehr.

«Wer ist da?» rief er auf einmal in den Garten hinein. Eine dunkle Gestalt unterschied sich halb kenntlich zwischen den wirren Schatten der Bäume; erst hielt er es für eins der Marmorbilder, aber es bewegte sich, er ging rasch darauf los, ein Mann versuchte sich mühsam zu erheben, sank aber immer wieder ins Gras zurück. «Um Gott, Nicolo, du bists!» rief Renald erstaunt; «was machst du hier?» – Der Schloßwart wandte sich mit großer Anstrengung auf die andere Seite, ohne zu antworten.

«Bist du verwundet?» sagte Renald, besorgt nähertretend, «wahrhaftig, an dich dacht ich nicht in dieser Nacht. Du warst mir der liebste immer unter allen, treu, zuverlässig, ohne Falsch; ja, wär die Welt wie du! Komm nur mit mir, du sollst herrschaftlich leben jetzt im Schloß auf deine alten Tage, ich will dich über alle stellen.»

Nicolo aber stieß ihn zurück: «Rühre mich nicht an, deine Hand raucht noch von Blut.»

«Nun», entgegnete Renald finster, «ich meine, ihr solltet mirs alle danken, die wilden Tiere sind verstoßen in den wüsten Wald, es bekümmert sich niemand um sie, sie müssen sich ihr Futter selber nehmen – bah! und was ist Brot gegen Recht?»

«Recht?» sagte Nicolo, ihn lange starr ansehend, «um Gottes willen, Renald, ich glaube gar, du wußtest nicht –»

«Was wußt ich nicht?» fuhr Renald hastig auf.

«Deine Schwester Gabriele –»

«Wo ist sie?»

Nicolo wies schweigend nach dem Kirchhof; Renald schauderte heimlich zusammen. «Deine Schwester Gabriele», fuhr der Schloßwart fort, «hielt schon als Kind immer große Stücke auf mich, du weißt es ja; heut abend nun in der Verwirrung, ehs noch losging, hat sie in ihrer Herzensangst mir alles anvertraut.»

Renald zuckte an allen Gliedern, als hinge in der Luft das Richtschwert über ihm. «Nicolo», sagte er drohend, «belüg mich nicht, denn dir, gerade dir glaube ich.»

Der Schloßwart, seine klaffende Brustwunde zeigend, erwiderte: «Ich rede die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe, vor dem ich noch in dieser Stunde stehen werde! – Graf Hippolyt hat deine Schwester nicht entführt.»

«Hoho!» lachte Renald, plötzlich wie aus unsäglicher Todesangst erlöst, «ich sah sie selber in Paris am Fenster in des Grafen Haus.»

«Ganz recht», sagte Nicolo, «aus Lieb ist sie bei Nacht dem Grafen heimlich nachgezogen aus dem Kloster.»

«Nun siehst du, siehst du wohl? ich wußts ja doch. Nur weiter, weiter», unterbrach ihn Renald; große Schweißtropfen hingen in seinem wildverworrenen Haar.

«Das arme Kind», erzählte Nicolo wieder, «sie konnte nicht vom Grafen lassen; um ihm nur immer nahe zu sein, hat sie, verkleidet als Gärtnerbursche, sich verdungen im Palast, wo sie keiner kannte.»

Renald, aufs äußerste gespannt, hatte sich unterdes neben dem Sterbenden, der immer leiser sprach, auf die Knie hingeworfen, beide Hände vor sich auf die Erde gestützt. «Und der Graf», sagte er, «der Graf, aber der Graf, was tat der? Er lockte, er kirrte sie, nicht wahr?»

«Wie sollt ers ahnen!» fuhr der Schloßwart fort; «er lebte wie ein loses Blatt im Sturm von Fest zu Fest. Wie oft stand sie des Abends spät in dem verschneiten Garten vor des Grafen Fenstern, bis er nach Hause kam, wüst, überwacht – er wußte nichts davon bis heute Abend. Da schickt er mich hinaus, sie aufzusuchen; sie aber hatte sich dem Tode schon geweiht, in seinen Kleidern Euch täuschend, wollte sie Eure Kugel von seinem Herzen auf ihr eigenes wenden – o jammervoller Anblick – so fand ich beide tot im Felde, Arm in Arm – der Graf hat ehrlich sie geliebt bis in den Tod – sie beide sind schuldlos – rein – Gott sei uns allen gnädig!»

Renald war über diese Worte ganz still geworden, er horchte noch immer hin, aber Nicolo schwieg auf ewig, nur die Gründe rauschten dunkel auf, als schauderte der Wald.

Da stürzte auf einmal vom Schloß die Bande siegestrunken über Blumen und Beete daher; sie schrien Vivat und riefen den Renald im Namen der Nation zum Herrn von Dürande aus. Renald, plötzlich sich aufrichtend, blickte wie aus einem Traum in die Runde. Er befahl, sie sollten schleunig alle Gesellen aus dem Schlosse treiben und keiner, bei Lebensstrafe, es wieder betreten, bis er sie riefe. Er sah so schrecklich aus, sein Haar war grau geworden über Nacht; niemand wagte es, ihm jetzt zu widersprechen. Darauf sahen sie ihn allein rasch und schweigend in das leere Schloß hineingehen, und während sie noch überlegen, was er vorhat und ob sie ihm gehorchen oder dennoch folgen sollen, ruft einer erschrocken aus: «Herr Gott, der rote Hahn ist auf dem Dach!» und mit Erstaunen sehen sie plötzlich feurige Spitzen bald da, bald dort aus den zerbrochenen Fenstern schlagen und an dem trockenen Sparrwerk hurtig nach dem Dache klettern. Renald, seines Lebens müde, hatte eine brennende Fackel ergriffen und das Haus an allen vier Ecken angesteckt. – Jetzt, mitten durch die Lohe, die der Zugwind wirbelnd faßte, sahen sie den Schrecklichen eilig nach dem Eckturme schreiten; es war, als schlüge Feuer auf, wohin er trat. «Dort in dem Turme liegt das Pulver», hieß es auf einmal, und voll Entsetzen stiebte alles über den Schloßberg auseinander. Da tat es gleich darauf einen furchtbaren Blitz, und donnernd stürzte das Schloß hinter ihnen zusammen. Dann wurde alles still. Wie eine Opferflamme, schlank, mild und prächtig stieg das Feuer zum gestirnten Himmel auf, die Gründe und Wälder ringsumher erleuchtend – den Renald sah man nimmer wieder.

Das sind die Trümmer des alten Schlosses Dürande, die weinumrankt in schönen Frühlingstagen von den waldigen Bergen schauen. – Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt.

Das Marmorbild

Erzählung (1819)

Das Marmorbild

Es war ein schöner Sommerabend, als Florio, ein junger Edelmann, langsam auf die Tore von Lucca zuritt, sich erfreuend an dem feinen Dufte, der über der wunderschönen Landschaft und den Türmen und Dächern der Stadt vor ihm zitterte, sowie an den bunten Zügen zierlicher Damen und Herren, welche sich zu beiden Seiten der Straße unter den hohen Kastanienalleen fröhlich schwärmend ergingen. Da gesellte sich, auf zierlichem Zelter desselben Weges ziehend, ein anderer Reiter in bunter Tracht, eine goldene Kette um den Hals und ein samtnes Barett mit Federn über den dunkelbraunen Locken, freundlich grüßend zu ihm. Beide hatten, so nebeneinander in den dunkelnden Abend hineinreitend, gar bald ein Gespräch angeknüpft, und dem jungen Florio dünkte die schlanke Gestalt des Fremden, sein frisches, keckes Wesen, ja selbst seine fröhliche Stimme so überaus anmutig, daß er gar nicht von demselben wegsehen konnte. «Welches Geschäft führt Euch nach Lucca?» fragte endlich der Fremde. «Ich habe eigentlich gar keine Geschäfte», antwortete Florio ein wenig schüchtern. «Gar keine Geschäfte? – Nun, so seid Ihr sicherlich ein Poet!» versetzte jener lustig lachend. «Das wohl eben nicht», erwiderte Florio und wurde über und über rot. «Ich liebe mich wohl zuweilen in der fröhlichen Sangeskunst versucht, aber wenn ich dann wieder die alten großen Meister las, wie da alles wirklich da ist und leibt und lebt, was ich mir manchmal heimlich nur wünschte und ahnete, da komm ich mir vor wie ein schwaches, vom Winde verwehtes Lerchenstimmlein unter dem unermeßlichen Himmelsdom.» – «Jeder lobt Gott auf seine Weise», sagte der Fremde, «und alle Stimmen zusammen machen den Frühling.» Dabei ruhten seine großen, geistreichen Augen mit sichtbarem Wohlgefallen auf dem schönen Jünglinge, der so unschuldig in die dämmernde Welt vor sich hinaussah.

«Ich habe jetzt», fuhr dieser nun kühner und vertraulicher fort, «das Reisen erwählt und befinde mich wie aus einem Gefängnis erlöst, alle alten Wünsche und Freuden sind nun auf einmal in Freiheit gesetzt. Auf dem Lande in der Stille aufgewachsen, wie lange habe ich da die fernen blauen Berge sehnsüchtig betrachtet, wenn der Frühling wie ein zauberischer Spielmann durch unsern Garten ging und von der wunderschönen Ferne verlockend sang und von großer, unermeßlicher Lust.» Der Fremde war über die letzten Worte in tiefe Gedanken versunken. «Habt Ihr wohl jemals», sagte er zerstreut, aber sehr ernsthaft, «von dem wunderbaren Spielmann gehört, der durch seine Töne die Jugend in einen Zauberberg hinein verlockt, aus dem keiner wieder zurückgekehrt ist? Hütet Euch!»

Florio wußte nicht, was er aus diesen Worten des Fremden machen sollte, konnte ihn auch weiter darum nicht befragen; denn sie waren soeben, statt zu dem Tore, unvermerkt dem Zuge der Spaziergänger folgend, an einen weiten grünen Platz gekommen, auf dem sich ein fröhlichschallendes Reich von Musik, bunten Zelten, Reitern und Spazierengehenden in den letzten Abendgluten schimmernd hin und her bewegte.

«Hier ist gut wohnen», sagte der Fremde lustig, sich vom Zelter schwingend; «auf baldiges Wiedersehen!» und hiermit war er schnell in dem Gewühle verschwunden.

Florio stand in freudigem Erstaunen einen Augenblick still vor der unerwarteten Aussicht. Dann folgte auch er dem Beispiele seines Begleiters, übergab das Pferd seinem Diener und mischte sich in den munteren Schwarm.

Versteckte Musikchöre erschauten da von allen Seiten aus den blühenden Gebüschen, unter den hohen Bäumen wandelten sittige Frauen auf und nieder und ließen die schönen Augen musternd ergehen über die glänzende Wiese, lachend und plaudernd und mit den bunten Federn nickend im lauen Abendgolde wie ein Blumenbeet, das sich im Winde wiegt. Weiterhin auf einem heitergrünen Plane vergnügten sich mehrere Mädchen mit Ballspielen. Die buntgefiederten Bälle flatterten wie Schmetterlinge, glänzende Bogen hin und her beschreibend, durch die blaue Luft, während die unten im Grünen auf und nieder schwebenden Mädchenbilder den lieblichsten Anblick gewährten. Besonders zog die eine durch ihre zierliche, fast noch kindliche Gestalt und die Anmut aller ihrer Bewegungen Florios Augen auf sich. Sie hatte einen vollen, bunten Blumenkranz in den Haaren und war recht wie ein fröhliches Bild des Frühlings anzuschauen, wie sie so überaus frisch bald über den Rasen dahinflog, bald sich neigte, bald wieder mit ihren anmutigen Gliedern in die heitere Luft hinauflangte. Durch ein Versehen ihrer Gegnerin nahm ihr Federball eine falsche Richtung und flatterte gerade vor Florio nieder. Er hob ihn auf und überreichte ihn der nacheilenden Bekränzten. Sie stand fast wie erschrocken vor ihm und sah ihn schweigend aus den schönen, großen Augen an. Dann verneigte sie sich errötend und eilte schnell wieder zu ihren Gespielinnen zurück.

Der größere, funkelnde Strom von Wagen und Reitern, der sich in der Hauptallee langsam und prächtig fortbewegte, wendete indes auch Florio von jenem reizenden Spiele wieder ab, und er schweifte wohl eine Stunde lang allein zwischen den ewig wechselnden Bildern umher.

«Da ist der Sänger Fortunato!» hörte er da auf einmal mehrere Frauen und Ritter neben sich ausrufen. Er sah sich schnell nach dem Platze um, wohin sie wiesen, und erblickte zu seinem großen Erstaunen den anmutigen Fremden, der ihn vorhin hierher begleitet. Abseits auf der Wiese an einen Baum gelehnt, stand er soeben inmitten eines zierlichen Kranzes von Frauen und Rittern, welche seinem Gesange zuhörten, der zuweilen von einigen Stimmen aus dem Kreise holdselig erwidert wurde. Unter ihnen bemerkte Florio auch die schöne Ballspielerin wieder, die in stiller Freudigkeit mit weiten, offenen Augen in die Klänge vor sich hinaussah.

Ordentlich erschrocken gedachte da Florio, wie er vorhin mit dem berühmten Sänger, den er lange dem Rufe nach verehrte, so vertraulich geplaudert, und blieb scheu in einiger Entfernung stehen, um den lieblichen Wettstreit mitzuvernehmen. Er hätte die ganze Nacht hindurch dort gestanden, so ermutigend flogen diese Töne ihn an, und er ärgerte sich recht, als Fortunato nun so bald endigte und die ganze Gesellschaft sich von dem Rasen erhob.

Da gewahrte der Sänger den Jüngling in der Ferne und kam sogleich auf ihn zu. Freundlich faßte er ihn bei beiden Händen und führte den Blöden, ungeachtet aller Gegenreden, wie einen lieblichen Gefangenen nach dem nahegelegenen offenen Zelte, wo sich die Gesellschaft nun versammelte und ein fröhliches Nachtmahl bereitet hatte. Alle begrüßten ihn wie alte Bekannte, manche schöne Augen ruhten in freudigem Erstaunen auf der jungen, blühenden Gestalt.

Nach mancherlei lustigem Gespräche lagerten sich bald alle um den runden Tisch, der in der Mitte des Zeltes stand. Erquickliche Früchte und Wein in hellgeschliffenen Gläsern funkelten von dem blendendweißen Gedecke, in silbernen Gefäßen dufteten große Blumensträuße, zwischen denen die hübschen Mädchengesichter anmutig hervorsahen; draußen spielten die letzten Abendlichter golden auf dem Rasen und dem Flusse, der spiegelglatt vor dem Zelte dahinglitt. Florio hatte sich fast unwillkürlich zu der niedlichen Ballspielerin gesellt. Sie erkannte ihn sogleich wieder und saß still und schüchtern da, aber die langen, furchtsamen Augenwimpern hüteten nur schlecht die dunkelglühenden Blicke.

Es war ausgemacht worden, daß jeder in die Runde seinem Liebchen mit einem kleinen, improvisierten Liedchen zutrinken solle. Der leichte Gesang, der nur gaukelnd wie ein Frühlingswind die Oberfläche des Lebens berührte, ohne es in sich selbst zu versenken, bewegte fröhlich den Kranz heiterer Bilder um die Tafel. Florio war recht innerlichst vergnügt, alle blöde Bangigkeit war von seiner Seele genommen, und er sah fast träumerisch still vor fröhlichen Gedanken zwischen den Lichtern und Blumen in die wunderschöne, langsam in die Abendgluten versinkende Landschaft vor sich hinaus. Und als nun auch an ihn die Reihe kam, seinen Trinkspruch zu sagen, hob er sein Glas in die Höh und sang:

Jeder nennet froh die seine,
Ich nur stehe hier alleine,
Denn was früge wohl die eine,
Wen der Fremdling eben meine?
Und so muß ich, wie im Strome dort die Welle,
Ungehört verrauschen an des Frühlings Schwelle.

Seine schöne Nachbarin sah bei diesen Worten beinahe schelmisch an ihm herauf und senkte schnell wieder das Köpfchen, da sie seinem Blicke begegnete. Aber er hatte so herzlich bewegt gesungen und neigte sich nun mit den schönen, bittenden Augen so dringend herüber, daß sie es willig geschehen ließ, als er sie schnell auf die roten, heißen Lippen küßte. – «Bravo, bravo!» riefen mehrere Herren, ein mutwilliges, aber argloses Lachen erschallte um den Tisch. – Florio stürzte hastig und verwirrt sein Glas hinunter, die schöne Geküßte schaute hochrot in den Schoß und sah so unter dem vollen Blumenkranze unbeschreiblich reizend aus.

So hatte ein jeder der Glücklichen sein Liebchen in dem Kreise sich heiter erkoren. Nur Fortunato allein gehörte allen oder keiner an und erschien fast einsam in dieser anmutigen Verwirrung. Er war ausgelassen lustig, und mancher hätte ihn wohl übermütig genannt, wie er so wild-wechselnd in Witz, Ernst und Scherz sich ganz und gar losließ, hätte er dabei nicht wieder mit so frommklaren Augen beinahe wunderbar dreingeschaut. Florio hatte sich fest vorgenommen, ihm über Tische einmal so recht seine Liebe und Ehrfurcht, die er längst für ihn hegte, zu sagen. Aber es wollte heute nicht gelingen, alle leisen Versuche glitten an der spröden Lustigkeit des Sängers ab. Er konnte ihn gar nicht begreifen.

Draußen war indes die Gegend schon stiller geworden und feierlich, einzelne Sterne traten zwischen den Wipfeln der dunkelnden Bäume hervor, der Fluß rauschte stärker durch die erquickende Kühle. Da war auch zuletzt an Fortunato die Reihe zu singen gekommen. Er sprang rasch auf, griff in seine Gitarre und sang:

Was klingt mir so heiter
Durch Busen und Sinn?
Zu Wolken und weiter –
Wo trägt es mich hin?

Wie auf Bergen hoch bin ich
So einsam gestellt
Und grüße herzinnig,
Was schön auf der Welt.

Ja, Bacchus, dich seh ich.
Wie göttlich bist du!
Dein Glühen versteh ich,
Die träumende Ruh.

O rosenbekränztes
Jünglingsbild,
Dein Auge, wie glänzt es,
Die Flammen so mild!

Ists Liebe, ists Andacht,
Was so dich beglückt?
Rings Frühling dich anlacht,
Du sinnest entzückt.

Frau Venus, du frohe,
So klingend und weich,
In Morgenrots Lohe
Erblick ich dein Reich

Auf sonnigen Hügeln
Wie ein Zauberring. –
Zart Bübchen mit Flügeln
Bedienen dich flink,

Durchsäuseln die Räume
Und laden, was fein,
Als goldene Träume
Zur Königin ein.

Und Ritter und Frauen
Im grünen Revier
Durchschwärmen die Auen
Wie Blumen zur Zier.

Und jeglicher hegt sich
Sein Liebchen im Arm,
So wirrt und bewegt sich
Der selige Schwarm.

Hier änderte er plötzlich Weise und Ton und fuhr fort:

Die Klänge verrinnen,
Es bleichet das Grün,
Die Frauen stehn sinnend,
Die Ritter schaun kühn.

Und himmlisches Sehnen
Geht singend durchs Blau,
Da schimmert von Tränen
Rings Garten und Au. –

Und mitten im Feste
Erblick ich, wie mild!
Den stillsten der Gäste.
Woher, einsam Bild?

Mit blühendem Mohne,
Der träumerisch glänzt,
Und Lilienkrone
Erscheint er bekränzt.

Sein Mund schwillt zum Küssen
So lieblich und bleich,
Als brächt er ein Grüßen
Aus himmlischem Reich.

Eine Fackel wohl trägt er,
Die wunderbar prangt.
«Wo ist einer», frägt er,
«Den heimwärts verlangt?»

Und manchmal da drehet
Die Fackel er um –
Tiefschauend vergehet
Die Welt und wird stumm.

Und was hier versunken
Als Blumen zum Spiel,
Siehst oben du funkeln
Als Sterne nun kühl.

O Jüngling vom Himmel,
Wie bist du so schön!
Ich laß das Gewimmel,
Mit dir will ich gehn!

Was will ich noch hoffen?
Hinauf, ach, hinauf!
Der Himmel ist offen,
Nimm, Vater, mich auf!

Fortunato war still und alle die übrigen auch, denn wirklich waren draußen nun die Klänge verronnen und die Musik, das Gewimmel und alle die gaukelnde Zauberei nach und nach verhallend untergegangen vor dem unermeßlichen Sternenhimmel und dem gewaltigen Nachtgesange der Ströme und Wälder. Da trat ein hoher, schlanker Ritter in reichem Geschmeide, das grünlichgoldene Scheine zwischen die im Winde flackernden Lichter warf, in das Zelt herein. Sein Blick aus tiefen Augenhöhlen war irre flammend, das Gesicht schön, aber blaß und wüst. Alle dachten bei seinem plötzlichen Erscheinen unwillkürlich schaudernd an den stillen Gast in Fortunatos Liede. – Er aber begab sich nach einer flüchtigen Verbeugung gegen die Gesellschaft zu dem Büfett des Zeltwirtes und schlürfte hastig dunkelroten Wein mit den bleichen Lippen in langen Zügen hinunter.

Florio fuhr ordentlich zusammen, als der Seltsame sich darauf vor allen andern zu ihm wandte und ihn als einen früheren Bekannten in Lucca willkommen hieß. Erstaunt und nachsinnend betrachtete er ihn von oben bis unten, denn er wußte sich durchaus nicht zu erinnern, ihn jemals gesehn zu haben. Doch war der Ritter ausnehmend beredt und sprach viel über mancherlei Begebenheiten aus Florios früheren Tagen. Auch war er so genau bekannt mit der Gegend seiner Heimat, dem Garten und jedem heimischen Platz, der Florio herzlich lieb war aus alter Zeit, daß sich derselbe bald mit der dunkeln Gestalt auszusöhnen anfing.

In die übrige Gesellschaft indes schien Donati, so nannte sich der Ritter, nirgends hineinzupassen. Eine ängstliche Störung, deren Grund sich niemand anzugeben wußte, wurde überall sichtbar. Und da unterdes auch die Nacht nun völlig hereingekommen war, so brachen bald alle auf.

Es begann nun ein wunderliches Gewimmel von Wagen, Pferden, Dienern und hohen Windlichtern, die seltsame Scheine auf das nahe Wasser, zwischen die Bäume und die schönen, wirrenden Gestalten umherwarfen. Donati erschien in der wilden Beleuchtung noch viel bleicher und schauerlicher als vorher. Das schöne Fräulein mit dem Blumenkranze hatte ihn beständig mit heimlicher Furcht von der Seite angesehen. Nun, da er gar auf sie zukam, um ihr mit ritterlicher Artigkeit auf den Zelter zu helfen, drängte sie sich scheu an den zurückstehenden Florio, der die Liebliche mit klopfendem Herzen in den Sattel hob. Alles war unterdes reisefertig, sie nickte ihm noch einmal von ihrem zierlichen Sitze freundlich zu, und bald war die ganze schimmernde Erscheinung in der Nacht verschwunden.

Es war Florio recht sonderbar zumute, als er sich plötzlich so allein mit Donati und dem Sänger auf dem weiten, leeren Platze befand. Seine Gitarre im Arme, ging der letztere am Ufer des Flusses vor dem Zelte auf und nieder und schien auf neue Weisen zu sinnen, während er einzelne Töne griff, die beschwichtigend über die stille Wiese dahinzogen. Dann brach er plötzlich ab. Ein seltsamer Mißmut schien über seine sonst immer klaren Züge zu fliegen, er verlangte ungeduldig fort.

Alle drei bestiegen daher nun auch ihre Pferde und zogen miteinander der nahen Stadt zu. Fortunato sprach kein Wort unterwegs, desto freundlicher ergoß sich Donati in wohlgesetzten, zierlichen Reden; Florio, noch im Nachklange der Lust, ritt still wie ein träumendes Mädchen zwischen beiden.

Als sie ans Tor kamen, stellte sich Donatis Roß, das schon vorher vor manchem Vorübergehenden gescheuet, plötzlich fast gerade in die Höh und wollte nicht hinein. Ein funkelnder Zornesblitz fuhr fast verzerrend über das Gesicht des Ritters und ein wilder, nur halb ausgesprochener Fluch aus den zuckenden Lippen, worüber Florio nicht wenig erstaunte, da ihm solches Wesen zu der sonstigen feinen und besonnenen Anständigkeit des Ritters ganz und gar nicht zu passen schien. Doch faßte sich dieser bald wieder. «Ich wollte Euch bis in die Herberge begleiten», sagte er lächelnd und mit der gewohnten Zierlichkeit zu Florio gewendet, «aber mein Pferd will es anders, wie Ihr seht. Ich bewohne hier vor der Stadt ein Landhaus, wo ich Euch recht bald bei mir zu sehen hoffe.» – Und hiermit verneigte er sich, und das Pferd, in unbegreiflicher Hast und Angst kaum mehr zu halten, flog pfeilschnell mit ihm in die Dunkelheit fort, daß der Wind hinter ihm dreinpfiff.

«Gott sei Dank», rief Fortunato aus, «daß ihn die Nacht wieder verschlungen hat! Kam er mir doch wahrhaftig vor wie einer von den falben, ungestalten Nachtschmetterlingen, die, wie aus einem phantastischen Traume entflogen, durch die Dämmerung schwirren und mit ihrem langen Katzenbarte und gräßlich großen Augen ordentlich ein Gesicht haben wollen.» Florio, der sich mit Donati schon ziemlich befreundet hatte, äußerte seine Verwunderung über dieses harte Urteil. Aber der Sänger, durch solche erstaunliche Sanftmut nur immer mehr gereizt, schimpfte lustig fort und nannte den Ritter, zu Florios heimlichem Ärger, einen Mondscheinjäger, einen Schmachthahn, einen Renommisten in der Melancholie.

Unter solchen Gesprächen waren sie endlich bei der Herberge angelangt, und jeder begab sich bald in das ihm angewiesene Gemach.

Florio warf sich angekleidet auf das Ruhebett hin, aber er konnte lange nicht einschlafen. In seiner von den Bildern des Tages aufgeregten Seele wogte und hallte und sang es noch immer fort. Und wie die Türen im Hause nun immer seltener auf- und zugingen, nur manchmal noch eine Stimme erschallte, bis endlich Haus, Stadt und Feld in tiefe Stille versank: da war es ihm, als führe er mit schwanenweißen Segeln einsam auf einem mondbeglänzten Meer. Leise schlugen die Wellen an das Schiff, Sirenen tauchten aus dem Wasser, die alle aussahen wie das schöne Mädchen mit dem Blumenkranze vom vorigen Abend. Sie sang so wunderbar, traurig und ohne Ende, als müsse er vor Wehmut untergehn. Das Schiff neigte sich unmerklich und sank langsam immer tiefer und tiefer. – Da wachte er erschrocken auf.

Er sprang von seinem Bette und öffnete das Fenster. Das Haus lag am Ausgange der Stadt, er übersah einen weiten, stillen Kreis von Hügeln, Gärten und Tälern, vom Monde klar beschienen. Auch da draußen war es überall in den Bäumen und Strömen noch wie ein Verhallen und Nachhallen der vergangenen Lust, als sänge die ganze Gegend leise, gleich den Sirenen, die er im Schlummer gehört. Da konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er ergriff die Gitarre, die Fortunato bei ihm zurückgelassen, verließ das Zimmer und ging leise durch das ruhige Haus hinab. Die Tür unten war nur angelehnt, ein Diener lag eingeschlafen auf der Schwelle. So kam er unbemerkt ins Freie und wandelte fröhlich zwischen Weingärten durch leere Alleen an schlummernden Hütten vorüber immer weiter fort.

Zwischen den Rebengeländen hinaus sah er den Fluß im Tale; viele weißglänzende Schlösser, hin und wieder zerstreut, ruhten wie eingeschlafene Schwäne unten in dem Meer von Stille. Da sang er mit fröhlicher Stimme:

Wie kühl schweift sichs bei nächtger Stunde,
Die Zither treulich in der Hand!
Vom Hügel grüß ich in die Runde
Den Himmel und das stille Land.

Wie ist das alles so verwandelt,
Wo ich so fröhlich war, im Tal.
Im Wald wie still, der Mond nur wandelt
Nun durch den hohen Buchensaal.

Der Winzer Jauchzen ist verklungen
Und all der bunte Lebenslauf,
Die Ströme nur, im Tal geschlungen,
Sie blicken manchmal silbern auf.

Und Nachtigallen wie aus Träumen
Erwachen oft mit süßem Schall,
Erinnernd rührt sich in den Bäumen
Ein heimlich Flüstern überall.

Die Freude kann nicht gleich verklingen,
Und von des Tages Glanz und Lust
Ist so auch mir ein heimlich Singen
Geblieben in der tiefsten Brust.

Und fröhlich greif ich in die Saiten,
O Mädchen, jenseits überm Fluß,
Du lauschest wohl und hörsts von weiten
Und kennst den Sänger an dem Gruß!

Er mußte über sich selber lachen, da er am Ende nicht wußte, wem er das Ständchen brachte. Denn die reizende Kleine mit dem Blumenkranze war es lange nicht mehr, die er eigentlich meinte. Die Musik bei den Zelten, der Traum auf seinem Zimmer und sein die Klänge und den Traum und die zierliche Erscheinung des Mädchens nachträumendes Herz hatten ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, größeres und herrlicheres, wie er es noch nirgends gesehen.

So in Gedanken schritt er noch lange fort, als er unerwartet bei einem großen, von hohen Bäumen rings umgebenen Weiher anlangte. Der Mond, der eben über die Wipfel trat, beleuchtete scharf ein marmornes Venusbild, das dort dicht am Ufer auf einem Steine stand, als wäre die Göttin soeben erst aus den Wellen aufgetaucht und betrachte nun, selber verzaubert, das Bild der eigenen Schönheit, das der trunkene Wasserspiegel zwischen den leise aus dem Grunde aufblühenden Sternen widerstrahlte. Einige Schwäne beschrieben still ihre einförmigen Kreise um das Bild, ein leises Rauschen ging durch die Bäume ringsumher.

Florio stand wie eingewurzelt im Schauen, denn ihm kam jenes Bild wie eine langgesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. Je länger er hinsah, je mehr schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. Er hielt die Augen lange geschlossen vor Blendung, Wehmut und Entzücken.

Als er wieder aufblickte, schien auf einmal alles wie verwandelt. Der Mond sah seltsam zwischen Wolken hervor, ein stärkerer Wind kräuselte den Weiher in trübe Wellen, das Venusbild, so fürchterlich weiß und regungslos, sah ihn fast schreckhaft mit den steinernen Augenhöhlen aus der grenzenlosen Stille an. Ein nie gefühltes Grausen überfiel da den Jüngling. Er verließ schnell den Ort, und immer schneller und ohne auszuruhen eilte er durch die Gärten und Weinberge wieder fort, der ruhigen Stadt zu; denn auch das Rauschen der Bäume kam ihm nun wie ein verständliches, vernehmliches Geflüster vor, und die langen, gespenstischen Pappeln schienen mit ihren weitgestreckten Schatten hinter ihm dreinzulangen.

So kam er sichtbar verstört in der Herberge an. Da lag der Schlafende noch auf der Schwelle und fuhr erschrocken auf, als Florio an ihm vorüberstreifte. Florio aber schlug schnell die Tür hinter sich zu und atmete erst tief auf, als er oben sein Zimmer betrat. Hier ging er noch lange auf und nieder, ehe er sich beruhigte. Dann warf er sich aufs Bett und schlummerte endlich unter den seltsamsten Träumen ein.

 

Am folgenden Morgen saßen Florio und Fortunato unter den hohen, von der Morgensonne durchfunkelten Bäumen vor der Herberge miteinander beim Frühstücke. Florio sah blässer als gewöhnlich und angenehm überwacht aus. – «Der Morgen», sagte Fortunato lustig, «ist ein recht kerngesunder, wildschöner Gesell, wie er so von den höchsten Bergen in die schlafende Welt hinunterjauchzt und von den Blumen und Bäumen die Tränen schüttelt und wogt und lärmt und singt. Der macht eben nicht sonderlich viel aus den sanften Empfindungen, sondern greift kühl an alle Glieder und lacht einem lange ins Gesicht, wenn man so preßhaft und noch ganz wie in Mondschein getaucht vor ihn hinaustritt.» – Florio schämte sich nun, dem Sänger, wie er sich anfangs vorgenommen, etwas von dem schönen Venusbilde zu sagen, und schwieg betreten still. Sein Spaziergang in der Nacht war aber von dem Diener an der Haustür bemerkt und wahrscheinlich verraten worden, und Fortunato fuhr lachend fort: «Nun, wenn Ihrs nicht glaubt, versucht es nur einmal und stellt Euch jetzt hierher und sagt zum Exempel: O schöne, holde Seele, o Mondschein, du Blütenstaub zärtlicher Herzen usw., ob das nicht recht zum Lachen wäre! Und doch wette ich, habt Ihr diese Nacht dergleichen oft gesagt und gewiß ordentlich ernsthaft dabei ausgesehen.»

Florio hatte sich Fortunato ehedem immer so still und sanftmütig vorgestellt, nun verwundete ihn recht innerlichst die kecke Lustigkeit des geliebten Sängers. Er sagte hastig, und die Tränen traten ihm dabei in die seelenvollen Augen: «Ihr sprecht da sicherlich anders, als Euch selber zumute ist, und das solltet Ihr nimmermehr tun. Aber ich lasse mich von Euch nicht irremachen, es gibt noch sanfte und hohe Empfindungen, die wohl schamhaft sind, aber sich nicht zu schämen brauchen, und ein stilles Glück, das sich vor dem lauten Tag verschließt und nur dem Sternenhimmel den Heiligen Kelch öffnet wie eine Blume, in der ein Engel wohnt.» Fortunato sah den Jüngling verwundert an, dann rief er aus: «Nun wahrhaftig, Ihr seid recht ordentlich verliebt!»

Man hatte unterdes Fortunato, der spazierenreiten wollte, sein Pferd vorgeführt. Freundlich streichelte er den gebogenen Hals des zierlich aufgeputzten Rößleins, das mit fröhlicher Ungeduld den Rasen stampfte. Dann wandte er sich noch einmal zu Florio und reichte ihm gutmütig lächelnd die Hand. «Es tut mir doch leid», sagte er, «es gibt gar zu viele sanfte, gute, besonders verliebte junge Leute, die ordentlich versessen sind auf Unglücklichsein. Laßt das, die Melancholie, den Mondschein und alle den Plunder; und gehts auch manchmal wirklich schlimm, nur frisch heraus in Gottes freien Morgen und da draußen sich recht abgeschüttelt, im Gebet aus Herzensgrund – und es müßte wahrlich mit dem Bösen zugehen, wenn Ihr nicht so recht durch und durch fröhlich und stark werdet!» – Und hiermit schwang er sich schnell auf sein Pferd und ritt zwischen den Weinbergen und blühenden Gärten in das farbige, schallende Land hinein, selber so bunt und freudig anzuschauen wie der Morgen vor ihm.

Florio sah ihm lange nach, bis die Glanzeswogen über dem fernen Meere zusammenschlugen. Dann ging er hastig unter den Bäumen auf und nieder. Ein tiefes, unbestimmtes Verlangen war von den Erscheinungen der Nacht in seiner Seele zurückgeblieben. Dagegen hatte ihn Fortunato durch seine Reden seltsam verstört und verwirrt. Er wußte nun selbst nicht mehr, was er wollte, gleich einem Nachtwandler, der plötzlich bei seinem Namen gerufen wird. Sinnend blieb er oftmals vor der wunderreichen Aussicht in das Land hinab stehen, als wollte er das freudig kräftige Walten da draußen um Auskunft fragen. Aber der Morgen spielte nur einzelne Zauberlichter wie durch die Bäume über ihm in sein träumerisch funkelndes Herz hinein, das noch in anderer Macht stand. Denn drinnen zogen die Sterne noch immerfort ihre magischen Kreise, zwischen denen das wunderschöne Marmorbild mit neuer, unwiderstehlicher Gewalt heraufsah.

So beschloß er denn endlich, den Weiher wieder aufzusuchen, und schlug rasch denselben Pfad ein, den er in der Nacht gewandelt.

Wie sah aber dort nun alles so anders aus! Fröhliche Menschen durchirrten geschäftig die Weinberge, Gärten und Alleen, Kinder spielten ruhig auf dem sonnigen Rasen vor den Hütten, die ihn in der Nacht unter den traumhaften Bäumen oft gleich eingeschlafenen Sphinxen erschreckt hatten, der Mond stand fern und verblaßt am klaren Himmel, unzählige Vögel sangen lustig im Walde durcheinander. Er konnte gar nicht begreifen, wie ihn damals hier so seltsame Furcht überfallen konnte.

Bald bemerkte er indes, daß er in Gedanken den rechten Weg verfehlt. Er betrachtete aufmerksam alle Plätze und ging zweifelhaft bald zurück, bald wieder vorwärts, aber vergeblich; je emsiger er suchte, je unbekannter und ganz anders kam ihm alles vor.

Lange war er so umhergeirrt. Die Vögel schwiegen schon, der Kreis der Hügel wurde nach und nach immer stiller, die Strahlen der Mittagssonne schillerten sengend über der ganzen Gegend draußen, die wie unter einem Schleier von Schwüle zu schlummern und zu träumen schien. Da kam er unerwartet an ein Tor von Eisengittern, zwischen dessen zierlich vergoldeten Stäben hindurch man in einen weiten, prächtigen Lustgarten hineingehen konnte. Ein Strom von Kühle und Duft wehte den Ermüdeten erquickend daraus an. Das Tor war nicht verschlossen, er öffnete es leise und trat hinein.

Hohe Buchenhallen empfingen ihn da mit ihren feierlichen Schatten, zwischen denen goldene Vögel wie abgewehte Blüten hin und wieder flatterten, während große, seltsame Blumen, wie sie Florio niemals gesehen, traumhaft mit ihren gelben und roten Glocken in dem leisen Winde hin und her schwankten. Unzählige Springbrunnen plätscherten, mit vergoldeten Kugeln spielend, einförmig in der großen Einsamkeit. Zwischen den Bäumen hindurch sah man in der Ferne einen prächtigen Palast mit hohen, schlanken Säulen hereinschimmern. Kein Mensch war ringsum zu sehen, tiefe Stille herrschte überall. Nur hin und wieder erwachte manchmal eine Nachtigall und sang wie im Schlummer fast schluchzend. Florio betrachtete verwundert Bäume, Brunnen und Blumen, denn es war ihm, als sei das alles lange versunken, und über ihm ginge der Strom der Tage mit leichten, klaren Wellen, und unten läge nur der Garten gebunden und verzaubert und träumte von dem vergangenen Leben.

Er war noch nicht weit vorgedrungen, als er Lautenklänge vernahm, bald stärker, bald wieder in dem Rauschen der Springbrunnen leise verhallend. Lauschend blieb er stehen, die Töne kamen immer näher und näher, da trat plötzlich in dem stillen Bogengange eine hohe, schlanke Dame von wundersamer Schönheit zwischen den Bäumen hervor, langsam wandelnd und ohne aufzublicken. Sie trug eine prächtige, mit goldenem Bildwerke gezierte Laute im Arme, auf der sie, wie in tiefe Gedanken versunken, einzelne Akkorde griff. Ihr langes goldenes Haar fiel in reichen Locken über die fast bloßen, blendendweißen Achseln bis auf den Rücken hinab; die langen, weiten Ärmel, wie vom Blütenschnee gewoben, wurden von zierlichen goldenen Spangen gehalten; den schönen Leib umschloß ein himmelblaues Gewand, ringsum an den Enden mit buntglühenden, wunderbar ineinander verschlungenen Blumen gestickt. Ein heller Sonnenblick durch eine Öffnung des Bogenganges schweifte soeben scharf beleuchtend über die blühende Gestalt. Florio fuhr innerlich zusammen – es waren unverkennbar die Züge, die Gestalt des schönen Venusbildes, das er heute nacht am Weiher gesehen. – Sie aber sang, ohne den Fremden zu bemerken:

Was weckst du, Frühling, mich von neuem wieder?
Daß all die alten Wünsche auferstehen,
Geht übers Land ein wunderbares Wehen;
Das schauert mir so lieblich durch die Glieder.

Die schöne Mutter grüßen tausend Lieder,
Die, wieder jung, im Brautkranz süß zu sehen;
Der Wald will sprechen, rauschend Ströme gehen,
Najaden tauchen singend auf und nieder.

Die Rose seh ich gehn aus grüner Klause,
Und, wie so buhlerisch die Lüfte fächeln,
Errötend in die laue Luft sich dehnen.

So mich auch ruft ihr aus dem stillen Hause –
Und schmerzlich nun muß ich im Frühling lächeln,
Versinkend zwischen Duft und Klang vor Sehnen.

So singend wandelte sie fort, bald in dem Grünen verschwindend, bald wieder erscheinend, immer ferner und ferner, bis sie sich endlich in der Gegend des Palastes ganz verlor. Nun war es auf einmal wieder still, nur die Bäume und Wasserkünste rauschten wie vorher. Florio stand in blühende Träume versunken, es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung des Lebens wieder vergessen und verloren, als ginge sie nun vor Wehmut zwischen dem Quellenrauschen unter und riefe ihn unaufhörlich, ihr zu folgen. – Tiefbewegt eilte er weiter in den Garten hinein auf die Gegend zu, wo sie verschwunden war. Da kam er unter uralten Bäumen an ein verfallenes Mauerwerk, an dem noch hin und wieder schöne Bildereien halb kenntlich waren. Unter der Mauer auf zerschlagenen Marmorsteinen und Säulenknäufen, zwischen denen hohes Gras und Blumen üppig hervorschossen, lag ein schlafender Mann ausgestreckt. Erstaunt erkannte Florio den Ritter Donati. Aber seine Mienen schienen im Schlafe sonderbar verändert, er sah fast wie ein Toter aus. Ein heimlicher Schauer überlief Florio bei diesem Anblicke. Er rüttelte den Schlafenden heftig. Donati schlug langsam die Augen auf, und sein erster Blick war so fremd, stier und wild, daß sich Florio ordentlich vor ihm entsetzte. Dabei murmelte er noch zwischen Schlaf und Wachen einige dunkle Worte, die Florio nicht verstand. Als er sich endlich völlig ermuntert hatte, sprang er rasch auf und sah Florio, wie es schien, mit großem Erstaunen an. «Wo bin ich», rief dieser hastig, «wer ist die edle Herrin, die in diesem schönen Garten wohnt?» – «Wie seid Ihr», fragte dagegen Donati sehr ernst, «in diesen Garten gekommen?» Florio erzählte kurz den Hergang, worüber der Ritter in ein tiefes Nachdenken versank. Der Jüngling wiederholte darauf dringend seine vorigen Fragen, und Donati sagte zerstreut: «Die Dame ist eine Verwandte von mir, reich und gewaltig, ihr Besitztum ist weit im Lande verbreitet – ihr findet sie bald da, bald dort – auch in der Stadt Lucca ist sie zuweilen.» – Florio fielen die hingeworfenen Worte seltsam aufs Herz, denn es wurde ihm nur immer deutlicher, was ihn vorher nur vorübergehend angeflogen, nämlich, daß er die Dame schon einmal in früherer Jugend irgendwo gesehen, doch konnte er sich durchaus nicht klar besinnen. – Sie waren unterdes rasch fortgehend unvermerkt an das vergoldete Gittertor des Gartens gekommen. Es war nicht dasselbe, durch welches Florio vorhin eingetreten. Verwundert sah er sich in der unbekannten Gegend um; weit über die Felder weg lagen die Türme der Stadt im heiteren Sonnenglanze. Am Gitter stand Donatis Pferd angebunden und scharrte schnaubend den Boden.

Schüchtern äußerte nun Florio den Wunsch, die schöne Herrin des Gartens künftig einmal wiederzusehen. Donati, der bis dahin noch immer in sich versunken war, schien sich erst hier plötzlich zu besinnen. «Die Dame», sagte er mit der gewohnten umsichtigen Höflichkeit, «wird sich freuen, Euch kennenzulernen. Heute jedoch würden wir sie stören, und auch mich rufen dringende Geschäfte nach Hause. Vielleicht kann ich Euch morgen abholen.» Und hierauf nahm er in wohlgesetzten Reden Abschied von dem Jüngling, bestieg sein Roß und war bald zwischen den Hügeln verschwunden.

Florio sah ihm lange nach, dann eilte er wie ein Trunkener der Stadt zu. Dort hielt die Schwüle noch alle lebendigen Wesen in den Häusern, hinter den dunkelkühlen Jalousien. Alle Gassen und Plätze waren leer, Fortunato auch noch nicht zurückgekehrt. Dem Glücklichen wurde es hier zu enge in trauriger Einsamkeit. Er bestieg schnell sein Pferd und ritt noch einmal ins Freie hinaus.

«Morgen, morgen!» schallte es in einem fort durch seine Seele. Ihm war es unbeschreiblich wohl. Das schöne Marmorbild war ja lebend geworden und von seinem Steine in den Frühling hinuntergestiegen, der stille Weiher plötzlich verwandelt zur unermeßlichen Landschaft, die Sterne darin zu Blumen und der ganze Frühling ein Bild der Schönen. – Und so durchschweifte er lange die schönen Täler um Lucca, den prächtigen Landhäusern, Kaskaden und Grotten wechselnd vorüber, bis die Wellen des Abendrotes über dem Fröhlichen zusammenschlugen.

Die Sterne standen schon klar am Himmel, als er langsam durch die stillen Gassen nach seiner Herberge zog. Auf einem der einsamen Plätze stand ein großes, schönes Haus, vom Monde hell erleuchtet. Ein Fenster war oben geöffnet, an dem er zwischen künstlich gezogenen Blumen hindurch zwei weibliche Gestalten bemerkte, die in ein lebhaftes Gespräch vertieft schienen. Mit Verwunderung hörte er mehreremal deutlich seinen Namen nennen. Auch glaubte er in den einzelnen abgerissenen Worten, welche die Luft herüberwehte, die Stimme der wunderbaren Sängerin wieder zu erkennen. Doch konnte er vor den im Mondesglanze zitternden Blättern und Blüten nichts genau unterscheiden. Er hielt an, um mehr zu vernehmen. Da bemerkten ihn die beiden Damen, und es wurde auf einmal still droben.

Unbefriedigt ritt Florio weiter, aber wie er soeben um die Straßenecke bog, sah er, daß sich die eine von den Damen, noch einmal ihm nachblickend, zwischen den Blumen hinauslehnte und dann schnell das Fenster schloß.

 

Am folgenden Morgen, als Florio soeben seine Traumblüten abgeschüttelt und vergnügt aus dem Fenster über die in der Morgensonne funkelnden Türme und Kuppeln der Stadt hinaussah, trat unerwartet der Ritter Donati in das Zimmer. Er war ganz schwarz gekleidet und sah heute ungewöhnlich verstört, hastig und beinahe wild aus. Florio erschrak ordentlich vor Freude, als er ihn erblickte, denn er gedachte sogleich der schönen Frau. «Kann ich sie sehen?» rief er ihm schnell entgegen. Donati schüttelte verneinend mit dem Kopfe und sagte, traurig vor sich auf den Boden hingehend: «Heute ist Sonntag.» – Dann fuhr er rasch fort, sich sogleich wieder ermahnend: «Aber zur Jagd wollt ich Euch abholen.» – «Zur Jagd?» erwiderte Florio höchst verwundert, «heute am heiligen Tage?» – «Nun wahrhaftig», fiel ihm der Ritter mit einem ingrimmigen, abscheulichen Lachen ins Wort, «Ihr wollt doch nicht etwa mit der Buhlerin unterm Arme zur Kirche wandeln und im Winkel auf dem Fußschemel knien und andächtig Gott helf! sagen, wenn die Frau Base niest.» – «Ich weiß nicht, wie Ihr das meint», sagte Florio, «und Ihr mögt immer über mich lachen, aber ich könnte heut nicht jagen. Wie da draußen alle Arbeit rastet und Wälder und Felder so geschmückt aussehen zu Gottes Ehre, als zögen Engel durch das Himmelblau über sie hinweg – so still, so feierlich und gnadenreich ist diese Zeit!» – Donati stand in Gedanken am Fenster, und Florio glaubte zu bemerken, daß er heimlich schauderte, wie er so in die Sonntagsstille der Felder hinaussah.

Unterdes hatte sich der Glockenklang von den Türmen der Stadt erhoben und ging wie ein Beten durch die klare Luft. Da schien Donati erschrocken, er griff nach seinem Hute und drang beinahe ängstlich in Florio, ihn zu begleiten, der es aber beharrlich verweigerte. «Fort, hinaus!» – rief endlich der Ritter halblaut und wie aus tiefster geklemmter Brust herauf, drückte dem erstaunten Jüngling die Hand und stürzte aus dem Hause fort.

Florio wurde recht heimatlich zumute, als darauf der frische, klare Sänger Fortunato, wie ein Bote des Friedens, zu ihm ins Zimmer trat. Er brachte eine Einladung auf morgen abend nach einem Landhause vor der Stadt. «Macht Euch nur gefaßt», setzte er hinzu, «Ihr werdet dort eine alte Bekannte treffen!» Florio erschrak ordentlich und fragte hastig: «Wen?» Aber Fortunato lehnte lustig alle Erklärung ab und entfernte sich bald. Sollte es die schöne Sängerin sein? – dachte Florio still bei sich, und sein Herz schlug heftig.

Er begab sich dann in die Kirche, aber er konnte nicht beten, er war zu fröhlich zerstreut. Müßig schlenderte er durch die Gassen. Da sah alles so rein und festlich aus, schön geputzte Herren und Damen zogen fröhlich und schimmernd nach den Kirchen. Aber, ach! die Schönste war nicht unter ihnen! – Ihm fiel dabei sein Abenteuer beim gestrigen Heimzuge ein. Er suchte die Gasse auf und fand bald das große schöne Haus wieder; aber sonderbar, die Tür war geschlossen, alle Fenster fest zu, es schien niemand darin zu wohnen.

Vergeblich schweifte er den ganzen folgenden Tag in der Gegend umher, um nähere Auskunft über seine unbekannte Geliebte zu erhalten oder sie, womöglich, gar wiederzusehen. Ihr Palast sowie der Garten, den er in jener Mittagsstunde zufällig gefunden, war wie versunken, auch Donati ließ sich nicht erblicken. Ungeduldig schlug daher sein Herz vor Freude und Erwartung, als er endlich am Abend der Einladung zufolge mit Fortunato, der fortwährend den Geheimnisvollen spielte, zum Tore hinaus dem Landhause zu ritt.

Es war schon völlig dunkel, als sie draußen ankamen. Mitten in einem Garten, wie es schien, lag eine zierliche Villa mit schlanken Säulen, über denen sich von der Zinne ein zweiter Garten von Orangen und vielerlei Blumen duftig erhob. Große Kastanienbäume standen umher und streckten kühn und seltsam beleuchtet ihre Riesenarme zwischen den aus den Fenstern dringenden Scheinen in die Nacht hinaus. Der Herr vom Hause, ein feiner, fröhlicher Mann von mittleren Jahren, den aber Florio früher jemals gesehen zu haben sich nicht erinnerte, empfing den Sänger und seinen Freund herzlich an der Schwelle des Hauses und führte sie die breiten Stufen hinan in den Saal.

Eine fröhliche Tanzmusik scholl ihnen dort entgegen, eine große Gesellschaft bewegte sich bunt und zierlich durcheinander im Glanze unzähliger Lichter, die gleich Sternenkreisen in kristallenen Leuchtern über dem lustigen Schwarme schwebten. Einige tanzten, andere ergötzten sich in lebhaftem Gespräch, viele waren maskiert und gaben unwillkürlich durch ihre wunderliche Erscheinung dem anmutigen Spiele oft plötzlich eine tiefe, fast schauerliche Bedeutung.

Florio stand noch still geblendet, selber wie ein anmutiges Bild, zwischen den schönen schweifenden Bildern. Da trat ein zierliches Mädchen an ihn heran, in griechischem Gewande leicht geschürzt, die schönen Haare in künstliche Kränze geflochten. Eine Larve verbarg ihr halbes Gesicht und ließ die untere Hälfte nur desto rosiger und reizender sehen. Sie verneigte sich flüchtig, überreichte ihm eine Rose und war schnell wieder in dem Schwarme verloren.

In demselben Augenblicke bemerkte er auch, daß der Herr vom Hause dicht bei ihm stand, ihn prüfend ansah, aber schnell wegblickte, als Florio sich umwandte.

Verwundert durchstrich nun der letztere die rauschende Menge. Was er heimlich gehofft, fand er nirgends, und er machte sich beinahe Vorwürfe, dem fröhlichen Fortunato so leichtsinnig auf dieses Meer von Lust gefolgt zu sein, das ihn nun immer weiter von jener einsamen, hohen Gestalt zu verschlagen schien. Sorglos umspülten indes die losen Wellen schmeichlerisch neckend den Gedankenvollen und tauschten ihm unmerklich die Gedanken aus. Wohl kommt die Tanzmusik, wenn sie auch nicht unser Innerstes erschüttert und umkehrt, recht wie ein Frühling leise und gewaltig über uns, die Töne tasten zauberisch wie die ersten Sommerblicke nach der Tiefe und wecken alle die Lieder, die unten gebunden schliefen, und Quellen und Blumen und uralte Erinnerungen und das ganze eingefrorene, schwere, stockende Leben wie ein leichter, klarer Strom, auf dem das Herz mit rauschenden Wimpeln den lange aufgegebenen Wünschen fröhlich wieder zufährt. So hatte die allgemeine Lust auch Florio gar bald angesteckt, ihm war recht leicht zumute, als müßten sich alle Rätsel, die so schwül auf ihm lasteten, lösen.

Neugierig suchte er nun die niedliche Griechin wieder auf. Er fand sie in einem lebhaften Gespräche mit andern Masken, aber er bemerkte wohl, daß auch ihre Augen mitten im Gespräch suchend abseits schweiften und ihn schon von ferne wahrgenommen hatten. Er forderte sie zum Tanze. Sie verneigte sich freundlich, aber ihre bewegliche Lebhaftigkeit schien wie gebrochen, als er ihre Hand berührte und festhielt. Sie folgte ihm still und mit gesenktem Köpfchen, man wußte nicht, ob schelmisch oder traurig. Die Musik begann, und er konnte keinen Blick verwenden von der reizenden Gauklerin, die ihn gleich den Zaubergestalten auf den alten, fabelhaften Schildereien umschwebte. «Du kennst mich», flüsterte sie kaum hörbar ihm zu, als sich einmal im Tanze ihre Lippen flüchtig beinahe berührten.

Der Tanz war endlich aus, die Musik hielt plötzlich inne; da glaubte Florio seine schöne Tänzerin am andern Ende des Saales noch einmal wiederzusehen. Es war dieselbe Tracht, dieselben Farben des Gewandes, derselbe Haarschmuck. Das schöne Bild schien unverwandt auf ihn herzusehen und stand fortwährend still im Schwarme der nun überall zerstreuten Tänzer, wie ein heiteres Gestirn zwischen dem leichten, fliegenden Gewölk bald untergeht, bald lieblich wieder erscheint. Die zierliche Griechin schien die Erscheinung nicht zu bemerken oder doch nicht zu beachten, sondern verließ, ohne ein Wort zu sagen, mit einem leisen, flüchtigen Händedruck eilig ihren Tänzer.

Der Saal war unterdes ziemlich leer geworden. Alles schwärmte in den Garten hinab, um sich in der lauen Luft zu ergehen, auch jenes seltsame Doppelbild war verschwunden. Florio folgte dem Zuge und schlenderte gedankenvoll durch die hohen Bogengänge. Die vielen Lichter warfen einen zauberischen Schein zwischen das zitternde Laub. Die hin und her schweifenden Masken mit ihren veränderten, grellen Stimmen und wunderbarem Aufzuge nahmen sich hier in der ungewissen Beleuchtung noch viel seltsamer und fast gespenstisch aus.

Er war eben, unwillkürlich einen einsamen Pfad einschlagend, ein wenig von der Gesellschaft abgekommen, als er eine liebliche Stimme zwischen den Gebüschen singen hörte:

Über die beglänzten Gipfel
Fernher kommt es wie ein Grüßen,
Flüsternd neigen sich die Wipfel,
Als ob sie sich wollten küssen.

Ist er doch so schön und milde!
Stimmen gehen durch die Nacht,
Singen heimlich von dem Bilde –
Ach, ich bin so froh verwacht!

Plaudert nicht so laut, ihr Quellen!
Wissen darf es nicht der Morgen,
In der Mondnacht linde Wellen
Senk ich stille Glück und Sorgen.

Florio folgte dem Gesange und kam auf einen offenen, runden Rasenplatz, in dessen Mitte ein Springbrunnen lustig mit den Funken des Mondlichts spielte. Die Griechin saß, wie eine schöne Naiade, auf dem steinernen Becken. Sie hatte die Larve abgenommen und spielte gedankenvoll mit einer Pose in dem schimmernden Wasserspiegel. Schmeichlerisch schweifte der Mondschein über den blendendweißen Nacken auf und nieder, ihr Gesicht konnte er nicht sehen, denn sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. – Als sie die Zweige hinter sich rauschen hörte, sprang das schöne Bildchen rasch auf, steckte die Larve vor und floh, schnell wie ein aufgescheuchtes Reh, wieder zur Gesellschaft zurück.

Florio mischte sich nun auch wieder in die bunten Reihen der Spazierengehenden. Manch zierliches Liebeswort schallte da leise durch die laue Luft, der Mondschein hatte mit seinen unsichtbaren Fäden alle die Bilder wie in ein goldenes Liebesnetz verstrickt, in das nur die Masken mit ihren ungeselligen Parodien manche komische Lücke gerissen. Besonders hatte Fortunato sich diesen Abend mehreremal verkleidet und trieb fortwährend seltsam wechselnd sinnreichen Spuk, immer neu und unerkannt und oft sich selber überraschend durch die Kühnheit und tiefe Bedeutsamkeit seines Spieles, so daß er manchmal plötzlich still wurde vor Wehmut, wenn die andern sich halbtot lachen wollten.

Die schöne Griechin ließ sich indes nirgends sehen, sie schien es absichtlich zu vermeiden, dem Florio wieder zu begegnen.

Dagegen hatte ihn der Herr vom Hause recht in Beschlag genommen. Künstlich und weit ausholend befragte ihn derselbe weitläufig um sein früheres Leben, seine Reisen und seinen künftigen Lebensplan. Florio konnte dabei gar nicht vertraulich werden, denn Pietro, so hieß jener, sah fortwährend so beobachtend aus, als läge hinter allen den feinen Redensarten irgendein besonderer Anschlag auf der Lauer. Vergebens sann er hin und her, dem Grunde dieser zudringlichen Neugier auf die Spur zu kommen.

Er hatte sich soeben wieder von ihm losgemacht, als er, um den Ausgang einer Allee herumbiegend, mehreren Masken begegnete, unter denen er unerwartet die Griechin wieder erblickte. Die Masken sprachen viel und seltsam durcheinander, die eine Stimme schien ihm bekannt, doch konnte er sich nicht deutlich besinnen. Bald darauf verlor sich eine Gestalt nach der andern, bis er sich am Ende, ehe er sich dessen recht versah, allein mit dem Mädchen befand. Sie blieb zögernd stehen und sah ihn einige Augenblicke schweigend an. Die Larve war fort, aber ein kurzer, blütenweißer Schleier, mit allerlei wunderlichen, goldgestickten Figuren verziert, verdeckte das Gesichtchen. Er wunderte sich, daß die Scheue nun so allein bei ihm aushielt.

«Ihr habt mich in meinem Gesange belauscht», sagte sie endlich freundlich. Es waren die ersten lauten Worte, die er von ihr vernahm. Der melodische Klang ihrer Stimme drang ihm durch die Seele, es war, als rührte sie erinnernd an alles Liebe, Schöne und Fröhliche, was er im Leben erfahren. Er entschuldigte seine Kühnheit und sprach verwirrt von der Einsamkeit, die ihn verlockt, seiner Zerstreuung, dem Rauschen der Wasserkunst. Einige Stimmen näherten sich unterdes dem Platze. Das Mädchen blickte scheu um sich und ging rasch tiefer in die Nacht hinein. Sie schien es gern zu sehen, daß Florio ihr folgte.

Kühn und vertraulicher bat er sie nun, sich nicht länger zu verbergen oder doch ihren Namen zu sagen, damit ihre liebliche Erscheinung unter den tausend verwirrenden Bildern des Tages ihm nicht wieder verloren ginge. «Laßt das», erwiderte sie träumerisch, «nehmt die Blumen des Lebens fröhlich, wie sie der Augenblick gibt, und forscht nicht nach den Wurzeln im Grunde, denn unten ist es freudlos und still.» Florio sah sie erstaunt an; er begriff nicht, wie solche rätselhafte Worte in den Mund des heitern Mädchens kamen. Das Mondlicht fiel eben wechselnd zwischen den Bäumen auf ihre Gestalt. Da kam es ihm auch vor, als sei sie nun größer, schlanker und edler, als vorhin beim Tanze und am Springbrunnen.

Sie waren indes bis an den Ausgang des Gartens gekommen. Keine Lampe brannte mehr hier, nur manchmal hörte man noch eine Stimme in der Ferne verhallend. Draußen ruhte der weite Kreis der Gegend still und feierlich im prächtigen Mondschein. Auf einer Wiese, die vor ihnen lag, bemerkte Florio mehrere Pferde und Menschen, in dem Dämmerlichte halbkenntlich durcheinander wirrend.

Hier blieb seine Begleiterin plötzlich stehen. «Es wird mich erfreuen», sagte sie, «Euch einmal in meinem Hause zu sehen. Unser Freund wird Euch hingeleiten. – Lebt wohl!» – Bei diesen Worten schlug sie den Schleier zurück, und Florio fuhr erschrocken zusammen. – Es war die wunderbare Schöne, deren Gesang er in jenem mittagschwülen Garten belauscht. – Aber ihr Gesicht, das der Mond hell beschien, kam ihm bleich und regungslos vor, fast wie damals das Marmorbild am Weiher.

Er sah nun, wie sie über die Wiese dahinging, von mehreren reichgeschmückten Dienern empfangen wurde und in einem schnell umgeworfenen, schimmernden Jagdkleide einen schneeweißen Zelter bestieg. Wie festgebannt von Staunen, Freude und einem heimlichen Grauen, das ihn innerlichst überschlich, blieb er stehen, bis Pferde, Reiter und die ganze seltsame Erscheinung in die Nacht verschwunden war.

Ein Rufen aus dem Garten weckte ihn endlich aus seinen Träumen. Er erkannte Fortunatos Stimme und eilte, den Freund zu erreichen, der ihn schon längst vermißt und vergebens aufgesucht hatte. Dieser wurde seiner kaum gewahr, als er ihm schon entgegensang:

Still in Luft
Es gebart,
Aus dem Duft
Hebt sichs zart,
Liebchen ruft,
Liebster schweift
Durch die Luft;
Sternwärts greift,
Seufzt und ruft,
Herz wird bang,
Matt wird Duft,
Zeit wird lang –
Mondscheinduft,
Luft in Luft
Bleibt Liebe und Liebste,
wie sie gewesen!

«Aber wo seid Ihr denn auch so lange herumgeschwebt?» schloß er endlich lachend. – Um keinen Preis hätte Florio sein Geheimnis verraten können. «Lange?» erwiderte er nur, selber erstaunt. Denn in der Tat war der Garten unterdes ganz leer geworden, alle Beleuchtung fast erloschen, nur wenige Lampen flackerten noch ungewiß wie Irrlichter im Winde hin und her.

Fortunato drang nicht weiter in den Jüngling, und schweigend stiegen sie in dem stillgewordenen Hause die Stufen hinan. «Ich löse nun mein Wort», sagte Fortunato, indem sie auf der Terrasse über dem Dache der Villa anlangten, wo noch eine kleine Gesellschaft unter dem heiter gestirnten Himmel versammelt war. Florio erkannte sogleich mehrere Gesichter, die er an jenem ersten, fröhlichen Abende bei den Zelten gesehen. Mitten unter ihnen erblickte er auch seine schöne Nachbarin wieder. Aber der fröhliche Blumenkranz fehlte heute in den Haaren, ohne Band, ohne Schmuck wallten die schönen Locken um das Köpfchen und den zierlichen Hals. Er stand fast betroffen still bei dem Anblick. Die Erinnerung an jenen Abend überflog ihn mit einer seltsam wehmütigen Gewalt. Es war ihm, als sei das schon lange her, so ganz anders war alles seitdem geworden. Das Fräulein wurde Bianka genannt und ihm als Pietros Nichte vorgestellt. Sie schien ganz verschüchtert, als er sich ihr näherte, und wagte es kaum, zu ihm aufzublicken. Er äußerte ihr seine Verwunderung, sie diesen Abend hindurch nicht gesehen zu haben. «Ihr habt mich öfter gesehen», sagte sie leise, und er glaubte dieses Flüstern wiederzuerkennen. Währenddes wurde sie die Rose an seiner Brust gewahr, welche er von der Griechin erhalten, und schlug errötend die Augen nieder. Florio merkte es wohl, ihm fiel dabei ein, wie er nach dem Tanze die Griechin doppelt gesehen. Mein Gott! dachte er verwirrt bei sich, wer war denn das?

«Es ist gar seltsam», unterbrach sie ablenkend das Stillschweigen, «so plötzlich aus der lauten Lust in die weite Nacht hinauszutreten. Seht nur, die Wolken gehen oft so schreckhaft wechselnd über den Himmel, daß man wahnsinnig werden müßte, wenn man lange hineinsähe; bald wie ungeheure Mondgebirge mit schwindligen Abgründen und schrecklichen Zacken, ordentlich wie Gesichter, bald wieder wie Drachen, oft plötzlich lange Hälse ausstreckend, und drunter schießt der Fluß heimlich wie eine goldne Schlange durch das Dunkel, das weiße Haus da drüben sieht aus wie ein stilles Marmorbild.» – «Wo?» fuhr Florio bei diesem Worte heftig erschreckt aus seinen Gedanken auf. – Das Mädchen sah ihn verwundert an, und beide schwiegen einige Augenblicke still. – «Ihr werdet Lucca verlassen?» sagte sie endlich zögernd und leise, als fürchtete sie sich vor einer Antwort. – «Nein», erwiderte Florio zerstreut, «doch, ja, ja, bald, recht sehr bald!» – Sie schien noch etwas sagen zu wollen, wandte aber plötzlich, die Worte zurückdrängend, ihr Gesicht ab in die Dunkelheit.

Er konnte endlich den Zwang nicht länger aushalten. Sein Herz war so voll und gepreßt und doch so überselig. Er nahm schnell Abschied, eilte hinab und ritt ohne Fortunato und alle Begleitung in die Stadt zurück.

Das Fenster in seinem Zimmer stand offen, er blickte flüchtig noch einmal hinaus. Die Gegend draußen lag unkenntlich und still wie eine wunderbar verschränkte Hieroglyphe im zauberischen Mondschein. Er schloß das Fenster fast erschrocken und warf sich auf sein Ruhebett hin, wo er wie ein Fieberkranker in die wunderlichsten Träume versank.

Bianka aber saß noch lange auf der Terrasse oben. Alle andern hatten sich zur Ruhe begeben, hin und wieder erwachte schon manche Lerche mit ungewissem Liede hoch durch die stille Luft schweifend; die Wipfel der Bäume fingen an, sich unten zu rühren, falbe Morgenlichter flogen wechselnd über ihr erwachtes, von den freigelassenen Locken nachlässig umwalltes Gesicht. – Man sagt, daß einem Mädchen, wenn sie in einem aus neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einschläft, ihr künftiger Bräutigam im Traume erscheine. So eingeschlummert hatte Bianka nach jenem Abend bei den Zelten Florio im Traume gesehen. – Nun war alles Lüge, er war ja so zerstreut, so kalt und fremd. – Sie zerpflückte die trügerischen Blumen, die sie bis jetzt wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte sie die Stirn an das kalte Geländer und weinte aus Herzensgrunde.

Mehrere Tage waren seitdem vergangen, da befand sich Florio eines Nachmittags bei Donati auf seinem Landhause vor der Stadt. An einem mit Früchten und kühlem Wein besetzten Tische verbrachten sie die schwülen Stunden unter anmutigen Gesprächen, bis die Sonne schon tief hinabgesunken war. Währenddes ließ Donati seinen Diener auf der Gitarre spielen, der ihr gar liebliche Töne zu entlocken wußte. Die großen, weiten Fenster standen dabei offen, durch welche die lauen Abendlüfte den Duft vielfacher Blumen, mit denen das Fenster besetzt war, hineinwehten. Draußen lag die Stadt im farbigen Duft zwischen den Gärten und Weinbergen, von denen ein fröhliches Schallen durch die Fenster heraufkam. Florio war innerlichst vergnügt, denn er gedachte im stillen immerfort der schönen Frau.

Währenddes ließen sich draußen Waldhörner aus der Ferne vernehmen. Bald näher, bald weit, gaben sie einander unablässig anmutige Antwort von den grünen Bergen. Donati trat ans Fenster. «Das ist die Dame», sagte er, «die ihr in dem schönen Garten gesehen habt, sie kehrt soeben von der Jagd nach ihrem Schlosse zurück.» Florio blickte hinaus. Da sah er das Fräulein auf einem schönen Zelter unten über den grünen Anger ziehen. Ein Falke, mit einer goldenen Schnur an ihrem Gürtel befestigt, saß auf ihrer Hand, ein Edelstein an ihrer Brust warf in der Abendsonne lange grünlich-goldene Scheine über die Wiese hin. Sie nickte freundlich zu ihm herauf.

«Das Fräulein ist nur selten zu Hause», sagte Donati, «wenn es Euch gefällig wäre, so könnten wir sie noch heute besuchen.» Florio fuhr bei diesen Worten freudig aus dem träumerischen Schauen, in das er versunken stand, er hätte dem Ritter um den Hals fallen mögen. – Und bald saßen beide draußen zu Pferde.

Sie waren noch nicht lange geritten, als sich der Palast mit seiner heitern Säulenpracht vor ihnen erhob, ringsum von dem schönen Garten wie von einem fröhlichen Blumenkranz umgeben. Von Zeit zu Zeit schwangen sich Wasserstrahlen von den vielen Springbrunnen wie jauchzend bis über die Wipfel der Gebüsche, hell im Abendgolde funkelnd. – Florio verwunderte sich, wie er bisher niemals den Garten wiederfinden konnte. Sein Herz schlug laut vor Entzücken und Erwartung, als sie endlich bei dem Schlosse anlangten.

Mehrere Diener eilten herbei, ihnen die Pferde abzunehmen. Das Schloß selbst war ganz von Marmor, und seltsam, fast wie ein heidnischer Tempel erbaut. Das schöne Ebenmaß aller Teile, die wie jugendliche Gedanken hochaufstrebenden Säulen, die künstlichen Verzierungen, sämtliche Geschichten aus einer fröhlichen, lange versunkenen Welt darstellend, die schönen, marmornen Götterbilder endlich, die überall in den Nischen umherstanden, alles erfreute die Seele mit einer unbeschreiblichen Heiterkeit. Sie betraten nun die weite Halle, die durch das ganze Schloß hindurchging. Zwischen den luftigen Säulen glänzte und wehte ihnen überall der Garten duftig entgegen.

Auf den breiten, glattpolierten Stufen, die in den Garten hinabführten, trafen sie endlich auch die schöne Herrin des Palastes, die sie mit großer Anmut willkommen hieß. Sie ruhte, halb liegend, auf einem Ruhebett von köstlichen Stoffen. Das Jagdkleid hatte sie abgelegt, ein himmelblaues Gewand, von einem wunderbar zierlichen Gürtel zusammengehalten, umschloß die schönen Glieder. Ein Mädchen, neben ihr kniend, hielt ihr einen reichverzierten Spiegel vor, während mehrere andere beschäftigt waren, ihre anmutige Gebieterin mit Rosen zu schmücken. Zu ihren Füßen war ein Kreis von Jungfrauen auf dem Rasen gelagert, die sangen mit abwechselnden Stimmen zur Laute, bald hinreißend, bald leise klagend, wie Nachtigallen in warmen Sommernächten einander Antwort geben.

In dem Garten selbst sah man überall ein erfrischendes Wehen und Regen. Viele fremde Herren und Damen wandelten da zwischen den Rosengebüschen und Wasserkünsten in artigen Gesprächen auf und nieder. Reichgeschmückte Edelknaben reichten Wein und mit Blumen verdeckte Orangen und Früchte in silbernen Schalen umher. Weiter in der Ferne, wie die Lautenklänge und die Abendstrahlen über die Blumenfelder dahinglitten, erhoben sich hin und her schöne Mädchen, wie aus Mittagsträumen erwachend, aus den Blumen, schüttelten die dunkeln Locken aus der Stirn, wuschen sich die Augen in den klaren Springbrunnen und mischten sich dann auch in den fröhlichen Schwarm.

Florios Blicke schweiften wie geblendet über die bunten Bilder, immer mit neuer Trunkenheit wieder zu der schönen Herrin des Schlosses zurückkehrend. Diese ließ sich in ihrem kleinen, anmutigen Geschäft nicht stören. Bald etwas an ihrem dunkeln, duftenden Lockengeflecht verbessernd, bald wieder im Spiegel sich betrachtend, sprach sie dabei fortwährend zu dem Jüngling, mit gleichgültigen Dingen in zierlichen Worten holdselig spielend. Zuweilen wandte sie sich plötzlich um und blickte ihn unter den Rosenkränzen so unbeschreiblich lieblich an, daß es ihm durch die innerste Seele ging.

Die Nacht hatte indes schon angefangen, zwischen die fliegenden Abendlichter hinein zu dunkeln, das lustige Schallen im Garten wurde nach und nach zum leisen Liebesgeflüster, der Mondschein legte sich zauberisch über die schönen Bilder. Da erhob sich die Dame von ihrem blumigen Sitze und faßte Florio freundlich bei der Hand, um ihn in das Innere ihres Schlosses zu führen, von dem er bewundernd gesprochen. Viele von den andern folgten ihnen nach. Sie gingen einige Stufen auf und nieder, die Gesellschaft zerstreute sich inzwischen lustig, lachend und scherzend durch die vielfachen Säulengänge, auch Donati war im Schwarme verloren, und bald befand sich Florio mit der Dame allein in einem der prächtigsten Gemächer des Schlosses.

Die schöne Führerin ließ sich hier auf mehrere am Boden liegende, seidene Kissen nieder. Sie warf dabei, zierlich wechselnd, ihren weiten, blütenweißen Schleier in die mannigfaltigsten Richtungen, immer schönere Formen bald enthüllend, bald lose verbergend. Florio betrachtete sie mit flammenden Augen. Da begann auf einmal draußen in dem Garten ein wunderschöner Gesang. Es war ein altes, frommes Lied, das er in seiner Kindheit oft gehört und seitdem über den wechselnden Bildern der Reise fast vergessen hatte. Er wurde ganz zerstreut, denn es kam ihm zugleich vor, als wäre es Fortunatos Stimme. – «Kennt Ihr den Sänger?» fragte er rasch die Dame. Diese schien ordentlich erschrocken und verneinte es verwirrt. Dann saß sie lange im stummen Nachsinnen da.

Florio hatte unterdes Zeit und Freiheit, die wunderlichen Verzierungen des Gemaches genau zu betrachten. Es war nur matt durch einige Kerzen erleuchtet, die von zwei ungeheuren, aus der Wand hervorragenden Armen gehalten wurden. Hohe ausländische Blumen, die in künstlichen Krügen umherstanden, verbreiteten einen berauschenden Duft. Gegenüber stand eine Reihe marmorner Bildsäulen, über deren reizende Formen die schwankenden Lichter lüstern auf und nieder schweiften. Die übrigen Wände füllten köstliche Tapeten mit in Seide gewirkten lebensgroßen Historien von ausnehmender Frische.

Mit Verwunderung glaubte Florio, in allen den Damen, die er in diesen letzteren Schildereien erblickte, die schöne Herrin des Hauses deutlich wiederzuerkennen. Bald erschien sie, den Falken auf der Hand, wie er sie vorhin gesehen hatte, mit einem jungen Ritter auf die Jagd reitend, bald war sie in einem prächtigen Rosengarten vorgestellt, wie ein anderer schöner Edelknabe auf den Knien zu ihren Füßen lag.

Da flog es ihn plötzlich wie von den Klängen des Liedes draußen an, daß er zu Hause in früher Kindheit oftmals ein solches Bild gesehen, eine wunderschöne Dame in derselben Kleidung, einen Ritter zu ihren Füßen, hinten einen weiten Garten mit vielen Springbrunnen und künstlich geschnittenen Alleen, gerade wie vorhin der Garten draußen erschienen. Auch Abbildungen von Lucca und anderen berühmten Städten erinnerte er sich dort gesehen zu haben.

Er erzählte es nicht ohne tiefe Bewegung der Dame. «Damals», sagte er, in Erinnerung verloren, «wenn ich so an schwülen Nachmittagen in dem einsamen Lusthause unseres Gartens vor den alten Bildern stand und die wunderlichen Türme der Städte, die Brücken und Alleen betrachtete, wie da prächtige Karossen fuhren und stattliche Kavaliers einherritten, die Damen in den Wagen begrüßend – da dachte ich nicht, daß das alles einmal lebendig werden würde um mich herum. Mein Vater trat dabei oft zu mir und erzählte mir manch lustiges Abenteuer, das ihm auf seinen jugendlichen Heeresfahrten in der und jener von den abgemalten Städten begegnet. Dann pflegte er gewöhnlich lange Zeit nachdenklich in dem stillen Garten auf und ab zu gehen. – Ich aber warf mich in das tiefste Gras und sah stundenlang zu, wie Wolken über die schwüle Gegend wegzogen. Die Gräser und Blumen schwankten leise hin und her über mir, als wollten sie seltsame Träume weben, die Bienen summten dazwischen so sommerhaft und in einem fort – ach! das ist alles wie ein Meer von Stille, in dem das Herz vor Wehmut untergehen möchte!» – «Laßt nur das!» sagte hier die Dame wie in Zerstreuung, «ein jeder glaubt mich schon einmal gesehen zu haben, denn mein Bild dämmert und blüht wohl in allen Jugendträumen mit herauf.» Sie streichelte dabei beschwichtigend dem schönen Jüngling die braunen Locken aus der klaren Stirn. Florio aber stand auf, sein Herz war zu voll und tief bewegt, er trat ans offne Fenster. Da rauschten die Bäume, hin und her schlug eine Nachtigall, in der Ferne blitzte es zuweilen. Über den stillen Garten weg zog immerfort der Gesang wie ein klarer, kühler Strom, aus dem die alten Jugendträume herauftauchten. Die Gewalt dieser Töne hatte seine ganze Seele in tiefe Gedanken versenkt, er kam sich auf einmal hier so fremd und wie aus sich selber verirrt vor. Selbst die letzten Worte der Dame, die er sich nicht recht zu deuten wußte, beängstigten ihn sonderbar – da sagte er leise aus tiefstem Grunde der Seele: «Herr Gott, laß mich nicht verloren gehen in der Welt!» Kaum hatte er die Worte innerlichst ausgesprochen, als sich draußen ein trüber Wind, wie von dem herannahenden Gewitter, erhob und ihn verwirrend anwehte. Zu gleicher Zeit bemerkte er an dem Fenstergesimse Gras und einzelne Büschel von Kräutern, wie auf altem Gemäuer. Eine Schlange fuhr zischend daraus hervor und stürzte mit dem grünlich-goldenen Schweife sich ringelnd in den Abgrund hinunter.

Erschrocken verließ Florio das Fenster und kehrte zu der Dame zurück. Diese saß unbeweglich still, als lauschte sie. Dann stand sie rasch auf, ging ans Fenster und sprach mit anmutiger Stimme scheltend in die Nacht hinaus. Florio konnte aber nichts verstehen, denn der Sturm riß die Worte gleich mit sich fort. – Das Gewitter schien indes immer näher zu kommen, der Wind, zwischen dem noch immerfort einzelne Töne des Gesanges herzzerreißend heraufflogen, strich pfeifend durch das ganze Haus und drohte die wild hin und her flackernden Kerzen zu verlöschen. Ein langer Blitz erleuchtete soeben das dämmernde Gemach. Da fuhr Florio plötzlich einige Schritte zurück, denn es war ihm, als stünde die Dame starr mit geschlossenen Augen und ganz weißem Antlitz und Armen vor ihm. Mit dem flüchtigen Blitzesscheine jedoch verschwand auch das schreckliche Gesicht wieder, wie es entstanden. Die alte Dämmerung füllte wieder das Gemach, die Dame sah ihn wieder lächelnd an wie vorhin, aber stillschweigend und wehmütig, wie mit schwerverhaltenen Tränen.

Florio hatte indes, im Schreck zurücktaumelnd, eines von den steinernen Bildern, die an der Wand herumstanden, angestoßen. In demselben Augenblicke begann dasselbe sich zu rühren, die Regung teilte sich schnell den andern mit, und bald erhoben sich alle die Bilder mit furchtbarem Schweigen von ihrem Gestelle. Florio zog seinen Degen und warf einen ungewissen Blick auf die Dame. Als er aber bemerkte, daß dieselbe bei den indes immer gewaltiger verschwellenden Tönen des Gesanges im Garten immer bleicher und bleicher wurde, gleich einer versinkenden Abendröte, worin endlich auch die lieblich spielenden Augensterne unterzugehen schienen, da erfaßte ihn ein tödliches Grauen. Denn auch die hohen Blumen in den Gefäßen fingen an, sich wie buntgefleckte bäumende Schlangen gräßlich durcheinander zu winden, alle Ritter auf den Wandtapeten sahen auf einmal aus wie er und lachten ihn hämisch an; die beiden Arme, welche die Kerzen hielten, rangen und reckten sich immer länger, als wolle ein ungeheurer Mann aus der Wand sich hervorarbeiten, der Saal füllte sich mehr und mehr, die Flammen des Blitzes warfen gräßliche Scheine zwischen die Gestalten, durch deren Gewimmel Florio die steinernen Bilder mit solcher Gewalt auf sich losdringen sah, daß ihm die Haare zu Berge standen. Das Grausen überwältigte alle seine Sinne, er stürzte verworren aus dem Zimmer durch die öden widerhallenden Gemächer und Säulengänge hinab.

Unten im Garten lag seitwärts der stille Weiher, den er in jener ersten Nacht gesehen, mit dem marmornen Venusbilde. – Der Sänger Fortunato, so kam es ihm vor, fuhr abgewendet und hoch aufrecht stehend im Kahne mitten auf dem Weiher, noch einzelne Akkorde in seine Gitarre greifend. – Florio aber hielt auch diese Erscheinung für ein verwirrendes Blendwerk der Nacht und eilte fort und fort, ohne sich umzusehen, bis Weiher, Garten und Palast weit hinter ihm versunken waren. Die Stadt ruhte, hell vom Monde beschienen, vor ihm. Fernab am Horizonte verhallte nur ein leichtes Gewitter, es war eine prächtig klare Sommernacht.

Schon flogen einzelne Lichtstreifen über den Morgenhimmel, als er vor den Toren ankam. Er suchte dort heftig Donatis Wohnung auf, ihn wegen der Begebenheiten dieser Nacht zur Rede zu stellen. Das Landhaus lag auf einem der höchsten Plätze mit der Aussicht über die Stadt und die ganze umliegende Gegend. Er fand daher die anmutige Stelle bald wieder. Aber anstatt der zierlichen Villa, in der er gestern gewesen, stand nur eine niedere Hütte da, ganz von Weinlaub überrankt und von einem kleinen Gärtchen umschlossen. Tauben, in den ersten Morgenstrahlen spiegelnd, gingen girrend auf dem Dache auf und nieder; ein tiefer, heiterer Friede herrschte überall. Ein Mann mit dem Spaten auf der Achsel kam soeben aus dem Hause und sang:

Vergangen ist die finstre Nacht,
Des Bösen Trug und Zaubermacht,
Zur Arbeit weckt der lichte Tag;
Frisch auf, wer Gott noch loben mag!

Er brach sein Lied plötzlich ab, als er den Fremden so bleich und mit verworrenem Haar daherfliegen sah. – Ganz verwirrt fragte Florio nach Donati. Der Gärtner aber kannte den Namen nicht und schien den Fragenden für wahnsinnig zu halten. Seine Tochter dehnte sich auf der Schwelle in die kühle Morgenluft hinauf und sah den Fremden frisch und morgenklar mit den großen, verwunderten Augen an. – «Mein Gott! wo bin ich denn so lange gewesen!» sagte Florio halb leise in sich und floh eilig zurück durch das Tor und die noch leeren Gassen in die Herberge.

Hier verschloß er sich in sein Zimmer und versank ganz und gar in ein hinstarrendes Nachsinnen. Die unbeschreibliche Schönheit der Dame, wie sie so langsam vor ihm verblich und die anmutigen Augen untergingen, hatte in seinem tiefsten Herzen eine solche unendliche Wehmut zurückgelassen, daß er sich unwiderstehlich sehnte, hier zu sterben.

In solchem unseligen Brüten und Träumen blieb er den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht hindurch.

 

Die früheste Morgendämmerung fand ihn schon zu Pferde vor den Toren der Stadt. Das unermüdliche Zureden seines getreuen Dieners hatte ihn endlich zu dem Entschlusse bewogen, diese Gegend gänzlich zu verlassen. Langsam und in sich gekehrt zog er nun die schöne Straße, die von Lucca in das Land hinausführte, zwischen den dunkelnden Bäumen, in denen die Vögel noch schliefen, dahin. Da gesellten sich nicht gar fern von der Stadt noch drei andere Reiter zu ihm. Nicht ohne heimlichen Schauer erkannte er in dem einen den Sänger Fortunato. Der andere war Fräulein Biankas Oheim, in dessen Landhause er an jenem verhängnisvollen Abende getanzt. Er wurde von einem Knaben begleitet, der stillschweigend und ohne viel aufzublicken neben ihm herritt. Alle drei hatten sich vorgenommen, miteinander das schöne Italien zu durchschweifen, und luden Florio freundlich ein, mit ihnen zu reisen. Er aber verneigte sich schweigend, weder einwilligend noch verneinend, und nahm fortwährend an allen ihren Gesprächen nur geringen Anteil.

Die Morgenröte erhob sich indes immer höher und kühler über der wunderschönen Landschaft vor ihnen. Da sagte der heitre Pietro zu Fortunato: «Seht nur, wie seltsam das Zwielicht über dem Gestein der alten Ruine auf dem Berge dort spielt! Wie oft bin ich, schon als Knabe, mit Erstaunen, Neugier und heimlicher Scheu dort herumgeklettert! Ihr seid so vieler Sagen kundig, könnt Ihr uns nicht Auskunft geben von dem Ursprung und Verfall dieses Schlosses, von dem so wunderliche Gerüchte im Lande gehen?» – Florio warf einen Blick nach dem Berge. In einer großen Einsamkeit lag da altes, verfallenes Gemäuer umher, schöne, halb in die Erde versunkene Säulen und künstlich gehauene Steine, alles von einer üppig blühenden Wildnis grünverschlungener Ranken, Hecken und hohen Unkrauts überdeckt. Ein Weiher befand sich daneben, über dem sich ein zum Teil zertrümmertes Marmorbild erhob, hell vom Morgen angeglüht. Es war offenbar dieselbe Gegend, dieselbe Stelle, wo er den schönen Garten und die Dame gesehen hatte. – Er schauerte innerlichst zusammen bei dem Anblicke. – Fortunato aber sagte: «Ich weiß ein altes Lied darauf, wenn Ihr damit fürlieb nehmen wollt.» – Und hiermit sang er, ohne sich lange zu besinnen, mit seiner klaren, fröhlichen Stimme in die heitere Morgenluft hinaus:

Von kühnen Wunderbildern
Ein großer Trümmerhauf.
In reizendem Verwildern
Ein blühnder Garten drauf.

Versunknes Reich zu Füßen,
Vom Himmel fern und nah
Aus andrem Reich ein Grüßen –
Das ist Italia!

Wenn Frühlingslüfte wehen
Hold überm grünen Plan,
Ein leises Auferstehen
Hebt in den Tälern an.

Da will sichs unten rühren
Im stillen Göttergrab,
Der Mensch kanns schauernd spüren
Tief in die Brust hinab.

Verwirrend in den Bäumen
Gehn Stimmen hin und her,
Ein sehnsuchtsvolles Träumen
Weht übers blaue Meer.

Und unterm duftgen Schleier,
So oft der Lenz erwacht,
Webt in geheimer Feier
Die alte Zaubermacht.

Frau Venus hört das Locken,
Der Vögel heitern Chor,
Und richtet froh erschrocken
Aus Blumen sich empor.

Sie sucht die alten Stellen,
Das luftge Säulenhaus,
Schaut lächelnd in die Wellen
Der Frühlingsluft hinaus.

Doch öd sind nun die Stellen,
Stumm liegt ihr Säulenhaus,
Gras wächst da auf den Schwellen,
Der Wind zieht ein und aus.

Wo sind nun die Gespielen?
Diana schläft im Wald,
Neptunus ruht im kühlen
Meerschloß, das einsam hallt.

Zuweilen nur Sirenen
Noch tauchen aus dem Grund,
Und tun in irren Tönen
Die tiefe Wehmut kund. –

Sie selbst muß sinnend stehen
So bleich im Frühlingsschein,
Die Augen untergehen,
Der schöne Leib wird Stein.

Denn über Land und Wogen
Erscheint, so still und mild,
Hoch auf dem Regenbogen
Ein ander Frauenbild.

Ein Kindlein in den Armen
Die Wunderbare hält,
Und himmlisches Erbarmen
Durchdringt die ganze Welt.

Da in den lichten Räumen
Erwacht das Menschenkind,
Und schüttelt böses Träumen
Von seinem Haupt geschwind.

Und, wie die Lerche singend,
Aus schwülen Zaubers Kluft
Erhebt die Seele ringend
Sich in die Morgenluft.

Alle waren still geworden über dem Liede. – «Jene Ruine», sagte endlich Pietro, «wäre also ein ehemaliger Tempel der Venus, wenn ich Euch sonst recht verstanden?» – «Allerdings», erwiderte Fortunato, «soviel man an der Anordnung des Ganzen und den noch übriggebliebenen Verzierungen abnehmen kam. Auch sagt man, der Geist der schönen Heidengöttin habe keine Ruhe gefunden. Aus der erschrecklichen Stille des Grabes heißt sie das Andenken an die irdische Lust jeden Frühling immer wieder in die grüne Einsamkeit ihres verfallenen Hauses heraufsteigen und durch teuflisches Blendwerk die alte Verführung üben an jungen, sorglosen Gemütern, die dann, vom Leben abgeschieden und doch auch nicht aufgenommen in den Frieden der Toten, zwischen wilder Lust und schrecklicher Reue, an Leib und Seele verloren, umherirren und in der entsetzlichsten Täuschung sich selber verzehren. Gar häufig will man auf demselben Platze Anfechtungen von Gespenstern verspürt haben, wo sich bald eine wunderschöne Dame, bald mehrere ansehnliche Kavaliere sehen lassen und die Vorübergehenden in einem dem Auge vorgestellten erdichteten Garten und Palast führen.» – «Seid Ihr jemals droben gewesen?» fragte hier Florio rasch, aus seinen Gedanken erwachend. – «Erst vorgestern abends», entgegnete Fortunato. – «Und habt ihr nichts Erschreckliches gesehen?» – «Nichts», sagte der Sänger, «als den stillen Weiher und die weißen rätselhaften Steine im Mondlicht umher und den weiten unendlichen Sternenhimmel darüber. Ich sang ein altes, frommes Lied, eines von jenen ursprünglichen Liedern, die wie Erinnerungen und Nachklänge aus einer heimatlichen Welt durch das Paradiesgärtlein unsrer Kindheit ziehen und ein rechtes Wahrzeichen sind, an dem sich alle Poetischen später in dem älter gewordenen Leben immer wiedererkennen. Glaubt mir, ein redlicher Dichter kann viel wagen, denn die Kunst, die ohne Stolz und Frevel, bespricht und bändigt die wilden Erdengeister, die aus der Tiefe nach uns langen.»

Alle schwiegen, die Sonne ging soeben auf vor ihnen und warf ihre funkelnden Lichter über die Erde. Da schüttelte Florio sich an allen Gliedern, sprengte rasch eine Strecke den anderen voraus und sang mit heller Stimme:

Hier bin ich, Herr! Gegrüßt das Licht,
Das durch die stille Schwüle
Der müden Brust gewaltig bricht
Mit seiner strengen Kühle.

Nun bin ich frei! Ich taumle noch
Und kann mich noch nicht fassen –
O Vater, du erkennst mich doch,
Und wirst nicht von mir lassen!

Es kommt nach allen heftigen Gemütsbewegungen, die unser ganzes Wesen durchschüttern, eine stillklare Heiterkeit über die Seele, gleich wie die Felder nach einem Gewitter frischer grünen und aufatmen. So fühlte sich auch Florio nun innerlichst erquickt; er blickte wieder recht mutig um sich und erwartete beruhigt die Gefährten, die langsam im Grünen nachgezogen kamen.

Der zierliche Knabe, welcher Pietro begleitete, hatte unterdes auch, wie Blumen vor den ersten Morgenstrahlen, das Köpfchen erhoben. – Da erkannte Florio mit Erstaunen Fräulein Bianka. Er erschrak, wie sie so bleich aussah gegen jenen Abend, da er sie zum ersten Mal unter den Zelten in reizendem Mutwillen gesehen. Die Arme war mitten in ihren sorglosen Kinderspielen von der Gewalt der ersten Liebe überrascht worden. Und als dann der heißgeliebte Florio, den dunkeln Mächten folgend, so fremd wurde und sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie ihn endlich ganz verloren geben mußte, da versank sie in eine tiefe Schwermut, deren Geheimnis sie niemand anzuvertrauen wagte. Der kluge Pietro wußte es aber wohl und hatte beschlossen, seine Nichte weit fortzuführen und sie in fremden Gegenden und in einem andern Himmelsstrich, wo nicht zu heilen, doch zu zerstreuen und zu erhalten. Um ungehinderter reisen zu können und zugleich alles Vergangene gleichsam von sich abzustreifen, hatte sie Knabentracht anlegen müssen.

Mit Wohlgefallen ruhten Florios Blicke auf der lieblichen Gestalt. Eine seltsame Verblendung hatte bisher seine Augen wie mit einem Zaubernebel umfangen. Nun erstaunte er ordentlich, wie schön sie war! Er sprach vielerlei gerührt und mit tiefer Innigkeit zu ihr. Da ritt sie, ganz überrascht von dem unverhofften Glück und in freudiger Demut, als verdiene sie solche Gnade nicht, mit niedergeschlagenen Augen schweigend neben ihm her. Nur manchmal blickte sie unter den langen schwarzen Augenwimpern nach ihm hinauf, die ganze klare Seele lag in dem Blick, als wollte sie bittend sagen: «Täusche mich nicht wieder!»

Sie waren unterdes auf einer luftigen Höhe angelangt; hinter ihnen versank die Stadt Lucca mit ihren dunkeln Türmen in dem schimmernden Duft. Da sagte Florio, zu Bianka gewendet: «Ich bin wie neugeboren, es ist mir, als würde noch alles gut werden, seit ich Euch wiedergefunden. Ich möchte niemals wieder scheiden, wenn Ihr es vergönnt.»

Bianka blickte ihn statt aller Antwort selber wie fragend mit ungewisser, noch halb zurückgehaltener Freude an und sah recht wie ein heiteres Engelsbild auf dem tiefblauen Grunde des Morgenhimmels aus. Der Morgen schien ihnen, in langen, goldenen Strahlen über die Fläche schießend, gerade entgegen. Die Bäume standen hell angeglüht, unzählige Lerchen sangen schwirrend in der klaren Luft. Und so zogen die Glücklichen fröhlich durch die überglänzten Auen in das blühende Mailand hinunter.

Das grosse Welttheater

Joseph von Eichendorff

Das grosse Welttheater

In der Nachdichtung von

Der Meister

Das Gesetz der Gnade

Die Welt

Der König

Der Weise

Die Schönheit

Der Reiche

Der Landmann

Der Bettler

Ein Kind

Eine Stimme

Der Meister (erscheint mit Sternenmantel und Strahlenkrone).
Anmutige Konturen
Der aus der Tiefe dämmernden Naturen,
Die zwischen Licht und Nächten
Des Himmels Abglanz sich erobern möchten
Und die Gestirne überfunkeln,
Mit ihren schönen Blumen, die verdunkeln,
Eh´ sie noch kaum erglühten,
Ein ird’scher Himmel schnell verwehter Blüten,
Kampfplatz der Elemente,
Ihr luft- und flutumspülten Berggelände,
Wo durch der Lüfte Wellen
Der Vögel Barken bunte Segel schwellen,
Der Fische stumm´ Gewimmel
Glückselig schwebt in meeresblauem Himmel,
Wo zuckende Wetterstrahlen
Mit Zornesfeuer ernste Warnung malen
Und auf den waldumkränzten Bergeszinnen,
Als Herrn des Reiches, Tier‘ und Menschen sinnen;
Du rastlos Ungeheuer
Aus Erde, Wasser, Luft und Feuer,
In ew’gen Wandelungen
Des Universums Werkstatt kühn entrungen,
Ein Wunder, wie kein zweites noch die Himmel kennen
Und um mit einem Worte dich zu nennen:
Du, Welt! die, wie das Lied vom Phönix singet,
Stets aus der eignen Asche sich verjünget!

(Die Welt erscheint.)

Die Welt. Wer heißt, zum Leben
Dem rauhen Kern des Balls, der mich umgeben,
Mit so gewalt’gem Rufe mich entsteigen?
Wer, mich mir selbst entreißend, bricht mein Schweigen?
Der Meister. Dein hoher Herr und Meister.
Gestalt und Form mit sichrer Hand umkreist er,
Ein Hauch von seinem Munde
Enthebt dich hier des Urstoffs finsterm Grunde.

Die Welt. Und wozu riefst du mich auf dies Gefilde?

Der Meister. Es schafft der Bildner sinnend sein Gebilde,
Die eigenen Gedanken
Lebendig dran ins Licht emporzuranken.
Aus eigner Macht bereiten
Will ich ein Fest mir, denn zu allen Zeiten,
Um meine Kraft und Herrlichkeit zu preisen,
Wird die Natur sich festlich mir erweisen;
Und da, vor allen Festen,
An würd’gem Schauspiel sich am allerbesten
Die Geister kräftigen und heben
Und nur ein Spiel ja alles Menschenleben,
So mag auf deinen Auen
Der Himmel auch ein Schauspiel heute schauen,
Das, bin ich Herr hier eben,
Notwendig von den Meinen wird gegeben.
So hab‘ ich denn aus diesen
Die Menschen, als die tüchtigsten, erkiesen,
Die in gemeßnen Weisen
Auf den vierfach geschiednen Erdenkreisen
Des Welttheaters wacker spielen sollen;
Ich selbst verteil‘ die Rollen
Nach eines jeglichen Natur und Richtung.
Doch daß des Festes Dichtung,
Wie sich’s gebühret, auch mit allen Frachten
Der Szenerie und mit dem Schmuck der Trachten
Ergötzlich blende,
So rüste du verschwendrisch und behende
Die holden Scheine,
Daß jeder Wirkliches zu schauen meine.
Und nun ans Werk! Derweil ich dirigiere,
Sei du die Bühne und der Mensch agiere.

Die Welt. Mein erhabner Herr und Meister,
Dessen Winke, dessen Rufe
Alles ehrerbietig lauscht,
Meiner Bühne weite Runde
Öffn‘ ich denn, auf daß die Menschen
Sich im Schauspiel drauf versuchen,
Und ein jeder, was die Rolle
Fordert, finde hier nach Wunsche.
Blindes Werkzeug deiner Rechte,
Führ‘ ich aus nur, was du schufest,
Meine Tat ist dein Gedanke,
Mein das Werk zwar, dein das Wunder.
Erstlich nun – da’s überall
Angemessen wird befunden,
Von der Bühne nichts zu sehen,
Bis der erste Laut erklungen –
Lass‘ ich einen grauen Vorhang
Übers Ganze niederfluten,
Wo chaotisch alle Dinge
Noch verworren und verschlungen.
Doch das soll nicht lange dauern;
Wenn die Nebel sich geschwungen,
Werden rasch, um zu verscheuchen
Des Theaters Dämmerungen
(Denn kein Festtag ohne Licht!)
Himmelskronen dann entzünden:
Hier des Tages heil’ge Fackel
Und des mitternächt’gen Dunkels
Hehre Leuchte dort, umflimmert
Von viel tausend lichten Funken,
Die vom Diadem der Nacht
Die Geschicke niederfunkeln.
Gleich im Anbeginn des Schauspiels,
Wo die schlichte und unschuld’ge
Weltintrige der Natur
Durch den ersten Akt geschlungen,
Soll empor ein Garten tauchen.
Mit den zierlichsten Konturen,
Wunderbaren Perspektiven,
Daß man staune, wie’s gelungen
Der Natur, so mächt’ges Bild
Zu entwerfen ohne Studien.
Kaum noch aus den ros’gen Knospen
Äugelnd, sollen zarte Blumen
Da zum erstenmal den Morgen
Schüchtern grüßen und verwundert,
Und aus dunklem Laub der Bäume
Lockend goldne Früchte lugen,
Wenn vielleicht nicht schon die Schlange
Neidisch sie mit Gift besudelt;
Tausend Bächlein da zerschlagen
Ihr Kristall in jähem Sturze,
Daß Aurora um sie weine
Und von Tränen perl’n die Fluren;
Und daß um so leuchtender
Dieser Menschenhimmel funkle,
Denke ich in wüste Heiden
Rings zu fassen seine Runde.
Berge zieh‘ ich, wo Gebirge,
Täler tief, wo Niederungen
zu dem Bilde passend scheinen,
Und wo schon in Aquädukte
Selber sich die Erde klüftet,
Lass‘ ich schlau durch diese Furten
Abgefangne Meeresarme
Weit durchs Land als Ströme funkeln.
Zeigen auch die ersten Szenen
Nirgends eines Bauwerks Spuren,
Soll man doch bald Wunder sehn,
Wie ich in ein paar Minuten
Staaten gründe, Städte baue
Und die Höhen krön‘ mit Burgen;
Und wenn endlich, überwüchsig,
Der Gebirge Felsenwuchten
Alles zu erdrücken drohen
Und die Lüfte zu verdunkeln,
So verwandl‘ ich rasch die Bühne,
Daß, vom Sturm aus tiefstem Grunde
Aufgewühlt, ein Ozean
Alle Gipfel überflute
Und im unermeßnen Leer
Zwischen grauer Wolken Zuge
Nur ein einsam Schiff erscheine,
Das durch alle Schrecken furchtlos
Auf noch nie befahrner Bahn
Sichre stille Gleise furchet,
Und Geflügel, Tier und Menschen
Rettend birgt in seinem Rumpfe.
Doch wenn drauf der Friedensbogen
Über Meer und Schiff geschwungen,
Mit den milden Himmelsfarben,
Blau und violett und purpurn,
Durch das Grauen niederstrahlt:
Bricht des Elementes Wut sich,
Und erschrocken beugt die Woge
Dem Gesetz sich ihres Ursprungs
Vor der Felsenstirn der Erde,
Die nun aus dem Grab der Fluten
Wiederum ihr Antlitz hebt,
Wenn auch bleich, verweint und stumm noch,
Ungesäumt nun folgt der zweite
Aufzug nach des ersten Schlusse:
Der vom Moses – und hier muß ich
Meinen Fleiß zu mehren suchen,
Denn, um dorthin zu gelangen,
Kommen eilig trocknen Fußes
Aus Ägypten angerückt
Durch das rote Meer die Juden.
Dort, wenn so die Flut sich teilt,
Soll die Sonne sich verwundern,
Was ich ihr für Klüfte zeige,
Die sonst tief im Wasser ruhten.
Doch schon mit zwei Feuersäulen
Leuchtet sie voran dem Zuge,
Denn durch Wüsten geht der Weg,
Zum verheißenen Genüsse,
Und um das Gesetz zu holen,
Hat den Moses, raschen Fluges,
Jetzt auf einen mächt’gen Berg
Ein Gewölk emporgeschwungen.
Aber dieser zweite Akt
Bricht in Schrecken aus zum Schlusse:
Wie im Todesschlummer dämmernd,
Wird die Sonne sich verdunkeln,
Und in tiefen Fieberschauern
Wird man da die Himmelskugel
Irre wanken sehn und weichen
Alle Kreis‘ aus ihren Fugen,
Berge bersten und die Mauern
Taumeln, wie von Wahnsinn trunken,
Bis der ganze morsche Bau
Rings in Trümmer ist gesunken.
Drauf beginnt der dritte Akt,
Der von Ahnungen durchklungen,
Daß hier Höheres im Spiel:
Das Gesetz des neuen Bundes.
Eitel Streben, zu ergründen
Dieses Wunder aller Wunder!
Also wird man in drei Akte
Nach den dreierlei Statuten
Einst die Weltenalter teilen
Von Jahrhundert zu Jahrhundert,
Bis zuletzt die ganze Bühne
Mit all ihrem reichen Prunke –
Daß auch Feuerwerk nicht fehle
Bei dem Fest – im Blitzeszucken
Unversehns von einem grimmen
Feuermeere wird verschlungen.
Hier versagt mir meine Stimme,
Und mein bleicher Mund verstummt,
Denn, schon es zu ahnen, schaudr‘ ich,
Es zu denken, sprengt die Brust mir,
Und ich bebe, auszusprechen
All das unermeßne Unglück.
Oh, daß dieser Tag noch lange
Weilte in der Zeiten Grunde
Und ihn nie die Völker schauten,
Die noch ruhn im Schoß der Zukunft!
Nun, in den drei Akten sehen
Wohl die Menschen manches Wunder,
Und nicht einem soll da fehlen,
Was fürs Schauspiel ihm von Nutzen.
Und da ich nun das Theater
Ausgerüstet ganz nach Wunsche,
Wirst du selbst wohl, was das Spiel
Anbetrifft, wie ich vermute,
Alles schon im Sinne haben,
Denn in deinem Sinn verbunden
Sind die Menschen, eh‘ sie sind,
Schon versichert ihres Ruhmes.
Doch daß jeglicher imstande,
Auf der Bühne, deinem Rufe
Folgend, auf- und abzutreten,
Habe ich zwei Türen hurtig
Eingerichtet: hier die Wiege,
Dort das Grab im Hintergrunde.
Und nicht minder auch gedacht‘ ich
Des Kostüms und nöt’gen Putzes,
Wie die Rollen ihn erheischen.
Denn bereit halt ich zur Stunde
Für den, der den König gibt,
Lorbeerkränze und den Purpur,
Für den tapfern Feldhauptmann
Waffen, Ansehn und Triumphe,
Dem, der den Minister spielt,
Geb‘ ich Bildung, Bücher, Schulen,
Geistlich Regiment dem Mönche,
Dem Verbrecher manchen Unglimpf,
Ehr‘ und Pracht dem Edelmann,
Privilegien den Kommunen.
Auch den Landmann, der um eines
Toren Schuld in Angst und Kummer
Muß den harten Boden bauen,
Rüst‘ ich aus mit Hack‘ und Pfluge.
Doch vor allen dann des Schauspiels
Dame zier‘ ich mit dem Schmucke
Höchster Schönheit, diesem süßen
Gifte für so viel Unschuld’ge;
Nur den Bettler lass‘ ich laufen,
Weil das seines Parts Natur so.
Keiner soll sich da beklagen,
Daß er nicht bereit gefunden,
Was er für sein Rollenfach
Irgend nur an Schmuck bedurfte.
Macht er dennoch seine Sache
Schlecht dann, so ist’s meine Schuld nicht,
Sondern seine. Und da nun
Schon gerüstet all der Plunder,
So kommt, Sterbliche, herbei,
Um euch einzeln auszuputzen;
Auf dem großen Welttheater
Zeige jeder seine Kunst nun! (Geht ab.)

Der Meister. All ihr, noch im Nichts verloren,
Ruf euch dennoch auf zum Licht,
Denn vor meinem Angesicht
Seid ihrs eh‘ ihr noch geboren;
Heiß‘ zu jenen Blumenfloren,
Hört ihr mich auch nicht, euch eilen,
Wo der Zedern schlanke Säulen,
Palm und Lorbeer eurer warten –
Um an alle in dem Garten
Nun die Rollen zu verteilen.

(Es erscheinen: der Reiche, der König, der Landmann, der Bettler, die Schönheit, der Weise und ein Kind.)

Der König. Meister, siehe hier die Deinen!
Nicht geboren erst zu werden
Braucht ja dein Geschöpf auf Erden,
Um vor dir, Herr, zu erscheinen.
Noch beschwingt die Seele keinen
Ohne Leben, ohne Sinnen,
Trüb, gestaltlos wir zerrinnen
Wie der Rauch, des Windes Raub;
Hauch‘ beseelend an den Staub,
Daß wir unser Spiel beginnen!

Die Schönheit. Deines Denkens Schattenrisse
Sind wir, die nicht schaun, nicht leben,
Falb im unentschiednen Schweben
Nichts von Gut und Bösem wissen.
Drum, wenn aus der Welt Kulissen
Wir hervor hier treten sollen,
So verteile nun die Rollen,
Denn es ziemt uns allzumal
Nimmer in dem Stück die Wahl,
Welchen Part wir spielen wollen.

Der Landmann. Herrscher über dieses Land,
Den ich heut erst kennen lerne,
Deinem Winke folg‘ ich gerne,
Als das Machwerk deiner Hand.
Und da dir gar wohl bekannt
(Denn nichts birgt sich Gottes Blicke),
Welcher Part sich für mich schicke:
Kann ich, sollt‘ ich steckenbleiben,
Nicht dem Part die Schuld zuschreiben,
Sondern meinem Ungeschicke.

Der Meister. Wollte ich die unruhvollen,
Menschen um die Wahl befragen,
Auch nicht einem wohl behagen
Möchten dann des Leidens Rollen.
Alle würden herrschen wollen
Über alle frank und frei,
Und es fiele keinem bei,
Daß auf dieser Bühnenwelt,
Was er für das Leben hält,
Eben nur ein Schauspiel sei.
Doch ich, Autor dieser Märe,
Weiß, was jeder leisten kann,
Und so nehm‘ denn jedermann,
Welchen Part ich ihm beschere.
Spiel‘ den König du.

(Die Rollen verteilend.)

Der König. O Ehre!

Der Meister. Du, die Dame, leucht‘ als Sonne
Ird’scher Schönheit.

Die Schönheit. Welche Wonne!

Der Meister. Du den reichen Kavalier.

Der Reiche. Oh, so ward das Glückslos mir,
Wolkenlos zu schaun die Sonne!

Der Meister. Und des Landmanns Part sei dein.

Der Landmann. Ist ein Dienst das oder Würde?

Der Meister. Eine arbeitsel’ge Bürde.

Der Landmann. Werd‘ ein schlechter Werkmann sein.
Nein, ich bitt Euch, Herre mein,
Stamm‘ ich gleich von Adam her,
Macht mir’s doch nicht gar so schwer!
Zwar ein Landgut wär‘ mir lieb,
Doch ein rechter Tagedieb
Steckt in mir, irr‘ ich nicht sehr;
Denn nach meinem Naturelle,
Und so neu in solchen Dingen,
Werd‘ ich schlecht den Spaten schwingen,
Oft mich ausruhn auf der Schwelle.
Wär‘ hier Nein an rechter Stelle,
Gleich wär‘ ich damit zur Hand,
Aber vor so feinem Grand‘,
Fürcht‘ ich, nützt mir’s gar nicht viel,
Und so bleib ich in dem Spiel
Wohl der schlechtste Komödiant.
Doch Ihr habt Erfahrenheit,
Die den Hut mißt nach dem Kopfe,
Also auch mir armem Tropfe
Meine Dummheit wohl verzeiht.
Gebt ja jedem Schaf sein Kleid;
Was sollt‘ ich da lamentieren!
Dadurch laßt Ihr mich ja spüren:
»Mensch, du sollst nichts übertreiben«,
Und so, um bei Kraft zu bleiben,
Will ich hübsch gemach agieren.

Der Meister. Weisheit hab‘ ich dir erkoren.

Der Weise. Hohe Gunst erweist du mir.

Der Meister. Den armsel’gen Bettler dir.

Der Bettler. Gibst du mich so ganz verloren?

Der Meister (zu dem Kinde). Und du stirbst, eh‘ du geboren.

Das Kind. Da ist meine Müh‘ gar klein.

Der Meister. Weislich richt‘ ich’s also ein,
Daß, wer lebt, mitspielend strebe,
Und ich selbst sein Fach ihm gebe –
Denn so frommt es eurem Sinn.

Der Bettler. Könnte ich mein Los vermeiden,
Ach, wie gerne gäb‘ ich’s hin,
Denk‘ ich recht in meinem Sinn
Meiner Rolle bittre Leiden.
Doch ich kann hier nichts entscheiden,
Wenn ich mich auch des erfrechte.
Aber du erwäg‘ das Rechte,
Nicht, was nimmer dir zu sagen
Darf der arme Bettler wagen,
Nein, was er dir sagen möchte.
Weshalb ward der Armut Pflicht
Mir zuteil in der Komödie?
Diese nur für mich Tragödie
Und für alle andern nicht?
Warum ich ein armer Wicht?
Weshalb, da für meinen Part
Mir dieselbe Seele ward
Wie dem Könige beschieden,
Unsre Rollen nun hienieden
Von so ganz verschiedner Art?
Hättest du zu anderm Streben
Mich aus anderm Stoff gebaut,
Wen’ger Seele mir vertraut,
Wen’ger Sinne mir gegeben:
Nun, so tröstet‘ ich mich eben,
Daß hier andre Gründe walten.
Doch so scheint’s ein strenges Schalten,
Ja verzeih‘, erscheint es hart,
Daß er, der nicht besser ward,
Beßre Rolle soll erhalten.

Der Meister. Wisse, diese Bühne ziert
Minder nicht, wer ohne Fehle,
Schlicht und recht aus voller Seele
Mit dem Bettelstab agiert,
Als wer Kron‘ und Zepter führt;
Und wenn einst der Vorhang fällt,
Werden beide gleichgestellt.
Halt‘ dich wacker und vergesse
Nimmer, daß ich dir bemesse,
Gleich dein Kön’ge, dein Entgelt.
Wähne nicht, ob noch so wild
Dir das kurze Leben grolle,
Daß darum des Königs Rolle,
Hast du deine ausgefüllt,
Meinem Recht nach höher gut;
Voller Lohn wird nach Gebühr
Einst euch beiden, ihm wie dir.
Jede Rolle kann dich heben,
Denn das ganze Menschenleben
Ist ja nur ein Schauspiel hier.
Und ist dann das Spiel geschlossen,
Speist an meiner Seit‘ zu Nacht,
Wer’s am besten hat gemacht
Und getreu und unverdrossen
Seiner Rolle Geist erschlossen.
Dort mach‘ ich euch beide gleich.

Die Schönheit. Doch wie heißt in deinem Reich
Nun das Stück, zu dem wir kamen?
Sag‘ uns, Herr, erst seinen Namen.

Der Meister. »Tue recht – Gott über euch.«

Der König. Not tut’s, daß wir nichts versehn
In so wunderbarem Stücke.

Der Reiche. Darum, daß es besser glücke,
Laßt uns an die Probe gehn.

Der Weise. Ei, wie könnte dies geschehn,
Da wir, eh‘ das Stück beginnt,
Alle seelenlos noch sind,
Ohne Licht und ohne Leben?

Der Bettler. Doch wie läßt ein Stück sich geben
Aus dem Stegreif so geschwind?

Der Landmann. Recht hat der da mit der Krücke
(Denn das hab‘ ich schon erlauert,
Daß, wer bettelt und wer bauert,
Sich wie Hans zur Grete schicke).
Seht, selbst eins der alten Stücke,
Noch so oft schon aufgeführt,
Wird’s nicht wiederum probiert,
Fällt’s nicht aus zu sonderm Lobe;
Wie nun, wenn man ohne Probe
Gar ein neues hier agiert?

Der Meister. Ruhm wird sich das Spiel erwerben,
Nehmt ihr immerdar in acht,
Daß der Himmel richtend wacht,
Daß ihr wurdet, um zu sterben.

Die Schönheit. Und doch fürcht‘ ich’s zu verderben,
Da wir alle noch nicht wissen,
Wenn wir nahn und abgehn müssen.

Der Meister. Auch dies bleibe euch verhüllt.
»Werden, sterben« zeigt im Bild
Euch der Ein- und Ausgang an.
Haltet nur in allen Wirren
Abzutreten euch bereit,
So ich rufe, kommt die Zeit.

Der Bettler. Doch wenn wir vielleicht uns irren,
Geist und Sinne sich verwirren?

Der Meister. Für die sämtlichen Genossen
Habe ich ein Buch erschlossen,
Dem, des Sinne sich verdüstern,
Draus einhelfend zuzuflüstern;
Dem Gemeinen wie dem Großen,
Allen dieses Buch bedeutet,
Was zu tun zu jeder Frist.
Also klagt nicht! Frei nun ist
Euer Wille und bereitet
Steht die Bühne. So durchschreitet
Denn vom Aufgang nun sogleich
Bis zum Niedergang das Reich
Eures ird’schen Seins.

Der Weise. Was stehen
Wir noch zögernd?

Alle. Laßt uns gehen,
Recht zu tun. Gott über euch!

(Indem sie abgehen wollen, kommt ihnen die Welt entgegen.)

Die Welt. Kommt! Ihr findet alles drinnen.
Schmückt euch nur aufs allerbeste
Zu dem Schein- und Schauspielfeste,
Daß es würdig mag beginnen.

Der König. Nach der Krone steht mein Sinnen.

Die Welt. Warum Kron‘ und Lorbeer dir?

Der König. Weil dies meiner Rolle Zier.

Die Welt. Nun, so nimm den Schmuck dahin.

(Sie reicht ihm Krone und Purpur. Der König geht ab.)

Die Schönheit. Volle Kränze von Jasmin,
Nelken, Rosen reiche mir!
Blitz auf Blitz, durch alle Zweige,
Laß die Frühlingslichter spielen,
Laß die Blumenaugen zielen
Aus des Maiens buntem Reiche,
Daß, besiegt, vor Neid erbleiche,
Wenn sie mich erblickt, die Sonne,
Und die Blume, die zum Bronne
Ihres Lichts die Blicke sendet,
Sei fortan nach mir gewendet,
Sonnenblume mir die Sonne.

Die Welt. Ei, wie gar so eitelsinnig
Trittst du, Kecke, in die Welt!

Die Schönheit. Darauf ist mein Part gestellt.

Die Welt. Und der ist?

Die Schönheit. Die Schönheit bin ich.

Die Welt. Oh, so töne, Lenz, herzinnig,
Funkeln soll’s und Blüten schnein!
Strahl‘ im Frühlingswiderschein!

(Sie gibt ihr einen Blumenstrauß.)

Die Schönheit. Farbentrunken will ich schreiten,
Blumen sollen Tepp’che breiten,
Spiegel mir die Quellen sein. (Ab.)

Der Reiche. Gebet Pracht und Reichtum mir,
Mir, was ihr bewahrt an Schätzen!
Mich behaglich zu ergötzen
Auf der Welt, erschein‘ ich hier.

Die Welt. Ja, mein Innres will ich dir
Auftun, all Geklüft zertrümmern!
Die da in der Tiefe schimmern:
Gold und Silber, das ich karg
Seit Jahrhunderten dort barg,
Soll nach Wunsche dich umflimmern.

Der Reiche. Schwindelnd immer höher streben –
Ob des Glückes, das mir ward! (Ab.)

Der Weise. Ich erfleh‘ für meinen Part
Ein Stück Erde, drauf zu leben.

Die Welt. Welcher Part ist dir gegeben?

Der Weise. Weisheit und die Lernbegier.

Die Welt. Steht’s um dich so geistlich hier,
Nun, so bet‘ und faste sehr.
(Sie reicht ihm Kutte und Geißel.)

Der Weise. Weise wär‘ ich nimmermehr,
Nahm‘ ich anderes von dir. (Ab.)

Die Welt. (zum Kinde).
Wie? und du magst nichts begehren? .
Ohne Wünsche trittst du auf ?

Das Kind. Ach, zu meinem Lebenslauf
Kann ich deiner ganz entbehren.
Ungeboren heimzukehren,
Brauch‘ ich so viel Zeit nur eben,
Um aus dunklem Kerkerleben,
Aus der Nacht in Nacht zu wandern;
Und ein Grab, wie allen ändern,
Mußt du mir zuletzt doch geben. (Ab.)

Die Welt. Was willst du denn, grober Knolle?

Der Landmann. Was ich gern dir selbst verehrte.

Die Welt. Ei, zeig‘, was man dir bescherte.

Der Landmann. Ei, was schert dich meine Rolle?

Die Welt. Das schmeckt ziemlich nach der Scholle;
Wett‘ ich doch, daß dieser Derbe
Sich als Knecht sein Brot erwerbe.

Der Landmann. Traun, du hast mein Glück erraten.

Die Welt. Nun, so nimm denn diesen Spaten.

(Sie reicht ihm denselben.)

Der Landmann. Das ist Adams saubres Erbe.
Ja, Herr Adam konnt’s wohl wissen,
Der so hochgelahrt doch war,
Daß sein Weib seit manchem Jahr
Des Geschwätzes sich beflissen;
Ich hätt‘ nicht mit drein gebissen:
Mocht‘ sie schwatzen Tag und Nacht!
Doch der Fant hat wohl gedacht:
»Ach, sie fleht so flehentlich!«
Und so hat er denn wie ich
Seine Rolle schlecht gemacht. (Ab.)

Der Bettler. Da ich, was die Welt beglücke,
Andern dich verteilen sehe,
Nun, so gib denn mir das Wehe,
Gib mir Leiden, Mißgeschicke.
Von dem überreichen Glücke
Will ich ja der Kronen keine,
Nicht des Frühlings bunte Scheine,
Silber nicht noch Gold für mich,
Nur um Lumpen bitt‘ ich dich.

Die Welt. Welche Rolle ist die deine?

Der Bettler. Meine Rolle ist die Trauer,
Ist der Jammer, ist der Schrecken,
Mitleid hier, dort Graun erwecken,
Vor den Türen auf der Lauer,
Zähneklappern, Fieberschauer,
Zwischen Furcht und Unglück schweben,
Lästig allen, die mich laben,
Immer was zu bitten haben,
Nimmer andern was zu geben.
’s ist der Schimpf und das Verachten,
Schande, bittres Herzeleid,
Ekler Schmutz, die Niedrigkeit,
Stets nur nach der Notdurft trachten
Und vor Elend doch verschmachten,
Nie am eignen Herd erwärmen,
Ohne Trost im tiefsten Harme,
Hunger, Durst bis in den Tod,
Es ist die gemeine Not –
Denn das alles ward dem Armen.

Die Welt. Für dich hab‘ ich nichts zur Hand!
Wem des Bettlers Rolle fällt,
Der empfängt nichts von der Welt,
Ja, selbst noch dein Stück Gewand
Nehm‘ ich dir. So nun ins Land
Wandre nackt und bloß hinaus,
Denn ich kenn‘ mein Amt im Haus.

Der Bettler. Arge Welt, wie bist du trüglich!
Schmückst den Glücklichen vergnüglich,
Und den Bettler ziehst du aus! (Ab.)

Die Welt. Mannigfalt’ge Stände dort
Seh‘ ich nun zur Bühne schreiten:
Einen König, seiner weiten
Reiche hochbeglückten Hort,
Schönheit, deren Zauberwort
Alle Sinne hält gefangen,
Mächt’ge, die in Weltruhm prangen,
Bettler, singend ihre Lieder,
Bauern, fromme Ordensbrüder,
All, auf höheres Verlangen,
Sind, das Schauspiel darzustellen,
Vor den Schranken schon erschienen;
Ich geb‘ das Theater ihnen,
Kostümiere die Gesellen
Und misch‘ Glücks- mit Unglücksfällen.
Tritt nun, heil’ger Meister, ein;
Schau‘ der Menschen Lust und Pein!
Erde, öffne deine Bühne,
Denn des Erdenfrühlings Grüne
Soll des Spieles Schauplatz sein!

(Musik. Es eröffnen sich zwei Bühnen übereinander; auf der obern erblickt man einen von Glorien umgebenen Thron, auf welchem der Meister sitzt; die untere Bühne hat zwei Türen, von denen die eine mit einer Wiege, die andere mit einem Sarge bezeichnet ist.)

Der Meister. Da ich für des Himmels Höhen
Dieses Schauspiel mir ersonnen,
Will ich vor dem Thron der Wonnen,
Um den ew’ge Sonnen gehen‘,
Nach den Meinen prüfend sehen.
Die ihr wandelt auf und ab
Von der Wiege nach dem Grab,
Menschen, innerlich erwacht,
Nehmt nun euer Tun in acht,
Denn der Meister schaut herab.

Der Weise (erscheint mit einer Laute und singt).
Mond, Sonne, Sterne, des Herren Ehre,
Laßt durch die Himmel tönen,
Stimmet ein, ihr schönen
Blumen, der Erde Charaktere!
Lobsinge du, Licht, das alles weckt,
Du funkelnder Tau, der Flamme Sprühen,
Eisiger Winter und Sommerglühen,
Und was da unten der Vorhang deckt,
Denn wo die Höhen sich lichten,
Wird er ob Gutem und Bösem richten. (Ab.)

Der Meister. Schönres ist mir nie erklungen,
Als aus treuer Menschenbrust
Dieser Hymne ernste Lust,
Die, von Daniel einst gesungen,
Seines Königs Zorn bezwungen.
Die Welt. Wer wird den Prolog nun geben?
Doch aus Himmelshöhen eben
Seh‘ ich, auf des Meisters Wort,
Das Gesetz der Gnade dort
Leisen Flugs herniederschweben
Nach der Erde Gipfeln hin.

Das Gesetz (mit einem Buche in der Hand auf einer Höhe erscheinend).
Hört! Ich, das Gesetz der Gnade,
Alle zu dem Schauspiel lade;
Allen bin ich Helferin,
Die da irren; Kern und Sinn
Eures Spiels in diesem Reich
Faßt in eines Spruchs Bereich
Dieses Buch. Da steht geschrieben:
Sollst wie dich den Nächsten lieben,
Tue recht, Gott über euch!

Die Welt. Der Prolog war gar nicht dumm;
Sie hilft aus nun, geht’s wo krumm.
Beifall klatschen möcht‘ ich hier,
Denn die Gnade sprach zu mir,
Als des Festes Publikum.
Aber still, denn jetzt beginnt es,
Sieh, da treten sie schon ein.

(Die Schönheit und der Weise kommen aus der Tür der Wiege.)

Die Schönheit. Komme mit mir, laß uns schweifen
Durch des Gartens Blütenreich,
Der die süße Lust der Sonne
Und die Heimat ist des Mai,
Denn beim holden Kusse beider
Nur erschließt er, strahlentrunken,
Seinen Widerschein der Sonne
Und den Blumenschmelz dem Mai.

Der Weise. Weißt ja, daß ich’s nimmer liebe,
Ob es Winter oder Mai,
Die willkommne Haft zu brechen
Meiner stillen Einsamkeit.

Die Schönheit. Soll denn, was die andern freut,
Dir nur rauh und strenge sein?
Hat der Tag nicht seine Wonne?
Warum, sprich, hat Gott gestreut
Blumen über die Gefilde,
Wenn wir in der schönen Zeit
Ihren würz’gen Duft nicht atmen?
Wozu hieß er weit und breit
Vöglein mit dem süße Schalle
Buntbeschwingte Zithern sein,
Ziehn sie ungehört vorüber?
Wozu Perl‘ und Edelstein,
Wenn wir nicht mit edlem Stolze
Sie zu würd’gem Schmuck uns reihn?
Warum gab der Herr die Früchte,
Wenn der goldbeladne Zweig
Dir vergebens süße Labung
Aus dem dunkeln Laube reicht?
Warum endlich schuf er Himmel,
Berge, Tal und Sonnenschein,
Mag kein Aug‘ sich dran ergötzen?
Ja, mit vollem Recht erscheint
Undankbar, wer sich an Gottes
Schönen Wundern nicht erfreut.

Der Weise. Freun sich, um sich zu bewundern,
Und ihm Dank dafür zu weihn,
Ist ein wohlerlaubtes Tun,
Aber irrig, so du meinst,
Es sei rings umher erstanden
Der Geschöpfe Herrlichkeit,
Nur zur Lust dir, ohne ihres
Schöpfers eingedenk zu sein.
Nein, ich bleib‘ in meiner Klause
Frommer Abgeschiedenheit,
Drin mein Leben zu versenken;
Drum ward Weisheit mir zuteil.

Die Schönheit. Und mir, um gesehn zu werden
Und zu sehn, der Schönheit Preis.

(Sie scheiden voneinander.)

Die Welt. Schönheit und die Weisheit blieben
Nur gar kurze Zeit vereint.

Die Schönheit. Flechtet Netze, meine Locken!
Fange, meine Lieb‘, fang ein.
Was gleichgültig schweift auf Erden,
Und die Herzen kalt wie Eis.

Die Welt. Eine von den beiden Rollen
Scheint mir hier verfehlt zu sein.

Der Weise. Wie am mächtigsten beflügl‘ ich
Meinen Geist?

Die Schönheit. Wie richt‘ ich’s ein,
Meiner Schönheit froh zu werden?

Das Gesetz. Tue recht – Gott über euch!

Die Welt. Der Souffleur läßt sich vernehmen –
Schönheit hört’s nicht, geht vorbei.

(Der Reiche tritt auf.)

Der Reiche. Da verschwenderisch der Himmel
Macht und Gut mir heut verleiht,
Sei’s dem fröhlichen Ergötzen
Auch verschwenderisch geweiht.
Nichts sei meinem Wunsch zu hoch,
Was mir wünschenswert erscheint,
Meinen Tisch schmück‘, was da fliegt
Oder durch die Wälder schweift.
Meine Heimat schlag‘ ich auf
In Frau Venus‘ heiterm Reich.
Süßes Ruhen, stolz Behagen,
Leichtsinn, Lust und goldner Wein
Sollen all mein Sein beherrschen!

(Der Landmann kommt.)

Der Landmann. Wer sah härtres Los als meins?
Ich zerkratze der den Busen,
Die mir ihre Brust gereicht,
Um alltäglich meine Nahrung
Mütterlich mir zu verleihn.
Ja, ich, der Regent des Pfluges,
Bin’s, der ihre Stirn zerreißt
Und für ihr freigebig Wesen
Manchen Hieb und Streich ihr beut.
Axt und Beil sind meine Waffen,
Und allzeit zum Kampf bereit,
Schlage ich mich durch mit Sichel,
Sense in der Erntezeit.
Etwas Wassersucht verspür‘ ich
Jährlich im April und Mai,
Aber ohne Wasser würd‘ ich
Nur noch wassersücht’ger sein.
Braucht man irgendeine Steuer
– Die Aussteuer dieser Zeit –
Gleich wird frisch drauflosgesteuert
Auf das arme Bäuerlein.
Aber wart‘ nur, muß ich schwitzen,
Nun, so soll auch meinen Schweiß
Mir mein Kunde wohl bezahlen,
Denn ich stelle selbst den Preis.
Was bekümmert mich die Taxe
Und was der und jener meint?
Seine Schuld ist’s, wer da kauft,
Hält er nicht die Taxe ein.
Regnet’s diesen Mai nicht – und ich
Bitte Gott um Trockenheit –,
Ei, so weiß ich, daß mein Weizen
Um ein paar Dukaten steigt,
Und so werd‘ ich Rübezahl
Bald der ganzen Gegend sein,
Alles wird mich fürchten, ehren.
Doch, so aufgebläht und reich,
Was dann fang‘ ich weiter an?

Das Gesetz. Tue recht – Gott über euch!

Die Welt. Hörst du den Souffleur nicht flüstern?

Der Landmann. Bin ein wenig taub zur Zeit.

Die Welt. Der besteht auf seinem Kopfe.

Der Landmann. Nein, ich steh‘ auf meinem Bein.

(Der Bettler tritt auf.)

Der Bettler. Wer von allen, die da leben,
Sah wohl jemals größre Pein,
Als die meine ist? Mein bestes
Ruhelager ist der Stein,
Und ob auch der ganze weite
Himmel meine Decke sei,
Bleiben doch mir Schlafgesellen
Sonnenglut und kalter Reif,
Durst und Hunger meine Wecker.
Wolle Gott Geduld verleihn!

Der Reiche. Was beginn‘ ich, meine Pracht
Recht zu zeigen?

Der Bettler. All die Pein
Zu ertragen, wie beginn‘ ich’s?

Das Gesetz. Tue recht – Gott über euch!

Der Bettler. O wie trostreich diese Stimme!

Der Reiche. Recht langweilig fällt sie ein!

Der Weise. Da – der König kommt zum Garten.

Der Reiche. Wie mein stolzer Sinn sich sträubt,
Sich vor irgendwem zu beugen!

Die Schönheit. Ich stell‘ mich ihm vor, vielleicht
Glückt es, daß vor meiner Schönheit
Sich besiegt der Hohe neigt.

Der Landmann. Und ich geh‘, denn sieht er mich,
Kommt ihm das Gelüsten gleich,
Mich von neuem zu beschatzen.
Solche Gunst ist stets mein Teil.

(Der König tritt auf.)

Der König. Allzu enge und beschränkt
Für mein schrankenloses Reich
Sind die Marken all der Gauen,
Die dies niedre Rund begreift.
Über allem, was die Sonne
Anblitzt und das Meer umkreist,
Steh‘ ich als Gebieter da.
Über alle herrsch‘ ich frei,
Und es werfen die Vasallen
Nieder sich, geh‘ ich vorbei.
Was bedarf ich noch hienieden?

Das Gesetz. Recht zu tun – Gott über euch!

Die Welt. Traun, der kommt mit seinem Spruche
Überall zur rechten Zeit!

Der Bettler. Doppelt unglückselig bei des
Fremden Glückes Widerschein
Steh‘ ich hier in meinem Elend.
Dort sonnt in der Herrlichkeit
Seiner Hoheit sich der König
Und bedenkt nicht, daß ich sein
Nicht entbehren kann. Die Dame,
Ganz versenkt in Eitelkeit,
Ahnt kaum, daß es in der Welt
Kummer gibt und herbe Pein.
Auch der Mönch, der dem Gebete
Alle seine Stunden weiht,
Dient er Gott auch recht, so dient er
Ihm doch mit Bequemlichkeit.
Selbst der vielgeplagte Landmann,
Kehrt er müd vom Felde heim,
Findet, wenn auch nicht verschwendrisch,
Dennoch seinen Tisch bereit,
Und der Reiche schwelgt in allem
Während in der Welt allein
Ich an allem Mangel leide.
Und so nah‘ ich allen heut,
Denn sie können ohne mich,
Ohne sie kann ich nicht sein.
Zu der Schönheit fass‘ ich jetzt
Mir ein Herz – Barmherzigkeit!
Eine Gabe!

Die Schönheit (ohne ihn zu beachten).
Sprecht, ihr Quellen,
Die ihr meine Spiegel seid,
Welcher Schmuck ziert mich am schönsten?
Steht mir diese Locke fein?

Der Bettler. Seht Ihr mich nicht?

Die Welt. Tor! Gewahrst nicht,
Daß dein Hoffen eitel sei?
Wie mag, wer sich selbst vergessen,
Andrer eingedenk noch sein?

Der Bettler (zum Reichen).
Ach, aus Eurem Überflusse
Schenkt mir eine Kleinigkeit.

Der Reiche. Gibt’s nicht Türen, dran zu klopfen?
Dringt man bis zu mir herein?
Dort im Vorhaus an der Schwelle
Harret man und bittet leis,
Fällt nicht mit der Tür ins Haus.

Der Bettler. Seid nicht hart, erbarmt Euch mein!

Der Reiche. Fort da, unverschämter Bettler!

Der Bettler. Wer zur Lust so vielerlei
Wegwirft, hätte der für mich
Nicht auch etwas übrig?

Der Reiche. Nein.

Die Welt. ’s ist ein Geizhals und der Arme
Aus dem Gleichnis, wie mir scheint.

Der Bettler. Da er nicht die Not begreift,
Wag‘ ich’s, mich in meinem Leid
An den König selbst zu wenden.
Herr, gedenk in Milde mein!

Der König. Meinen Großalmosenier
Setzt‘ ich zu dem Zwecke ein.

Die Welt. Mit Ministern schanzt der König
Klüglich sein Gewissen ein.

Der Bettler (zum Landmann).
Guter Landmann, da für jedes
Körnlein, das Ihr ausgestreut,
Euch das Zehn- und Hundertfache
Gottes Segen hat erteilt,
Oh, so helft mir in dem Elend!

Der Landmann. Freund, hat es mir Gott erteilt,
Hieß es erst auch wacker pflügen,
Und es kostet meinen Schweiß.
Saget, schämt Ihr Euch denn gar nicht?
So ein Kerl, stark und breit,
Und zu betteln! Dienst genommen,
Nicht so faul durchs Land geschweift!
Und gibt’s einmal schmale Bissen,
Nun, zum Henker! nehmt das Beil,
Euer Brot Euch zu verdienen!

Der Bettler. Aber in dem Schauspiel heut
Ward mir ja des Armen Rolle,
Nicht des Landmanns Part zuteil.

Der Landmann. Mit der Rolle gab der Meister
Euch doch nimmer das Geheiß,
Nur als Vagabund zu betteln,
Denn die Arbeit und der Schweiß
Paßt recht zu des Armen Rolle.

Der Bettler. Ach, um Gott’s Barmherzigkeit,
Bruder, Ihr seid gar zu strenge.

Der Landmann. Und Ihr gar zu betteldreist.

Der Bettler (zum Weisen).
Reicht mir eine milde Gabe!

Der Weise (ihm Brot gebend).
Nehmt – verzeiht die Kleinigkeit.

Der Bettler. Ja, barmherzig Brot zu spenden
Ziemt vor allen andern Euch,
Da ja stets das Brot des Lebens
Uns der heil’ge Glaube reicht.

Der Weise. Weh!

Der König. Was gibt es?

Der Bettler. Wohl im Wandern
Irgendeines Trübsals Stein
Hat den Glaubenshort verwundet.

Der König (dem Weisen die Hand reichend).
Wo er wankt, steh‘ ich ihm bei.

Der Weise. Wohlgetan war’s, denn kein andrer
Kann so kräft’gen Arm ihm leihn.

Der Meister. Manchen Fehl‘ könnt‘ ich verbessern,
Der sich meinem Blick hier beut,
Doch dazu gab ich dem Menschen
Starken Willen und das Reich
Über seine Leidenschaften,
Auf daß jeder tüchtig sei,
Durch sein Tun sich selbst zu adeln;
Und so lass‘ ich alle frei
Heute ihre Rollen spielen.
Doch, wie bunt die Wirrung sei,
Im Zusammenspiel beacht‘ ich
Jeglichen für sich allein,
Allen das Gesetz verkündend:

Das Gesetz. Tue recht – Gott über euch!
Wiederholt schon jedem einzeln
Sowie allen im Verein
Sagt‘ ich’s, und so wird ihr Irrtum
Künftig ihre Schuld auch sein:
Sollst gleich dir den Nächsten lieben,
Tue recht, Gott über euch!

Der König. Da uns all zu einem Schauspiel
Dieses Leben hat vereint,
Freundlich auch dieselben Pfade
Allen Wanderern gemein,
So laßt durch Gespräch den Weg uns
Kürzen in Vertraulichkeit.

Die Schönheit. ’s gäb ja nimmer eine Welt
Ohne die Geselligkeit.

Der Reiche. So bring‘ jeder ein Geschichtchen.

Der Weise. Zu weitschichtig möcht‘ das sein.
Besser scheint’s, daß jeder sage,
Was er still im Herzen meint.

Der König. Bedenk‘ ich meines Reiches Hochgewalten,
Steh‘ ich vor Glanz in Staunen oft verloren,
Ob der geheimnisvollen Macht der Horen,
So wunderbaren Wechsel zu entfalten.
Für mich die Felsenschlösser Wache halten,
Vasallin ward die Schönheit mir geboren,
Und was da niedrig, was zu Pracht erkoren:
Triumphe sind es für des Schicksals Walten.
Soll’s, so ein vielgestaltet Ungeheuer,
Das so viel Köpfe mir entgegenbäumet,
Mit sichrer Hand zu bänd’gen mir gelingen:
Oh, so gib, Himmel, mir der Weisheit Feuer!
Denn eitel Menschenkraft vergeblich träumet,
Ein Joch so vielen Nacken aufzuzwingen.

Die Welt. Gleich wie Salomon erfleht er
Sich des Herrschers Wissenschaft.

Eine Stimme (singt von der Grabespforte her).
König dieses schwanken Reiches,
Lasse, laß den stolzen Wahn,
Denn schon dunkelt rings die Bühne,
Deine Rolle ist vollbracht.

Der König. Daß verklungen meine Rolle,
Eine Stimme zu mir sang –
O wie mir das Herz sich wendet
Bei dem schauerlichen Klang!
Ist’s zu Ende nun, so muß ich
Weichen, doch wo tret‘ ich ab?
Dorthin zu der ersten Türe,
Wo ich meine Wiege sah,
Ist der Pfad verwehrt, ich kann
Nicht zurück mehr; o wie hart,
Keinen einz’gen Schritt zur Wiege
Lenken dürfen! Nach dem Grab
Zielen alle – Kehrt der Strom,
Der als Meeresarm entsprang,
Doch zum Meer zurück, die Quelle,
Die sich frisch dem Strom entschwang,
Wird einst wieder Strom, das Bächlein,
Das sich aus der Quelle schlang,
Wieder Quell – und nur der Mensch,
Der im Kern des Seins erwacht,
Kehrt zur Kluft, um – er allein –
Nicht zu sein mehr, was er war?
Doch da ausgespielt die Rolle,
Meister, der uns überwacht,
So verzeihe, wo ich fehlte –
Sieh‘, bereuend steh‘ ich da.

(Er entfernt sich durch die Grabespforte, durch welche auch die andern späterhin abgehen.)

Die Welt. Gut beschloß er seine Rolle,
Da er um Vergebung bat.

Die Schönheit. Seht, inmitten der Vasallen,
In der Blüte seiner Pracht
Sank der König.

Der Landmann. Sinkt im Mai
Regen nur auf meine Saat,
Wird mit Brot und ohne König
Leichter noch das Jahr vollbracht.

Der Weise. Und doch – ’s ist ein großer Schmerz.

Die Schönheit. Und Verwirrung mannigfach.
Was nun ohne ihn beginnen?

Der Reiche. Laßt uns plaudern vor wie nach.
Sag‘ nun du uns, was du denkest?

Die Schönheit. Nun, ich habe mir gedacht –

Die Welt. Wie sich Lebende schnell trösten
Über des Geschiednen Grab!

Der Landmann. Ja, zumal wenn der Verstorbne
Ihnen viel verlassen hat.

Die Schönheit. Bedenk‘ ich meiner Schönheit duftig Schweben,
Neid‘ ich den König nicht um seine Prachten.
Als herrlicher muß ich den Thron betrachten,
Auf den mich meiner Schönheit Zauber heben.
Denn herrscht der König über schwanke Leben
Und über Seelen ich, die nie vernachten,
So kann ich höher wohl mein Reich erachten
Dem über Ew’ges ward die Macht gegeben.
Es haben »eine kleine Welt« die Weisen
Den Mann genannt; nun wohl, beherrsch‘ ich diesen,
Und herrscht ein Himmel überm Weltgewimmel:
So darf mein göttergleiches Los ich preisen,
Denn wenn die Männer eine Welt umschließen,
So ist fortan das Weib ein kleiner Himmel.

Die Welt. Sie gedenket nicht der Mahnung
Des Ezechiel, der da sagt,
Daß der Schönheit Reiz durch Hochmut
Ward verkehrt in Mißgestalt.

Gesang der Stimme (draußen).
Du, der Menschen holde Schönheit,
Blume, allzufrüh erwacht,
Welke, denn in deinen Morgen
Dämmert schon herein die Nacht!

Die Schönheit. Daß die Schönheit untergehe,
Sagt ein trauriger Gesang.
Geh nicht unter, geh nicht unter,
Kehr‘ zu deinem ersten Glanz!
Aber weh mir! Keine Rose,
Weiße, rote, blüht im Land,
Die nicht bei der Lüfte Kosen,
In der Sonne Liebesstrahl
Bleichend ihren Schmuck verstreute;
Alle sinken Blatt auf Blatt,
Keine, keine legt das Brautkleid
Ihrer Knospe wieder an!
Doch was kümmert mich’s, daß Blumen,
Der Aurora leichter Kranz,
Welken müssen, wenn die Sonne
Mit dem Scheidekuß versank?
Ist wohl meinem Los vergleichbar
Irgendeiner Blume Pracht,
Die stets nur aus halbem Sein
Ins Nichtsein hinüberrankt?
Nein, nein! Höh’re Blume bin ich,
Von so großer Dauerkraft,
Daß die Sonne nicht mein Ende
Schaut, die mich entstehen sah.
Ewig so, wie kann ich enden?
Stimme, sprich, red‘ ich nicht wahr?

Die Stimme. Ewig blühst du in der Seele,
Sterblich in des Leibes Haft.

Die Schönheit. Daß ich solcher Unterscheidung,
Ach, kein Wort entgegnen kann! –
Dorther von der Wiege kam ich,
Dorthin muß ich nun zum Grab. –
Wie betrübt’s mich, daß ich besser
Meine Rolle nicht gemacht! (Sie geht ab.)

Die Welt. Gut beschloß sie ihre Rolle,
Da ihr Herz in Reue brach.

Der Reiche. Mitten aus der Lust, den Spielen,
Unter süßer Lauten Klang
Schwand die Schönheit.

Der Landmann. Blieb nur Schinken
Und ein Schlückchen Wein im Schrank
Uns zum Osterfest noch, wenig
Frag‘ ich nach der Schönheit dann.

Der Weise. Dennoch – groß ist diese Trauer.

Der Bettler. Und tief Mitleid uns erfaßt;
Was nun sollen wir beginnen?

Der Reiche. Ei, wir plaudern vor wie nach.

Der Landmann. Denk‘ ich mir, wie ich mich quäle,
Grab‘ und hau‘ vor Angst und Treue,
Wie ich keine Hitze scheue
Und auf jeden Nachtfrost schmäle:
Und seh‘ dann so träg die Seele,
Schimpf‘ ich oft sie lau und matt,
Daß für Korn und Frucht und Blatt
Sie stets Lob und Dank will sagen
Nur dem Acker, der’s getragen,
Und nicht Gott, von dem er’s hat.

Die Welt. Schon naht sich der Dankbarkeit,
Wer als Schuldner sich erkannt.

Der Bettler. Zu dem Landmann neigt mein Herz sich,
Obgleich er vorher mich schalt.

Die Stimme. Landmann, deiner Not und Mühen
Vorbestimmtes Ziel ist da.
Andern Acker wirst du bauen –
Wo? ist Gott allein bekannt.

Der Landmann. Stimme, wenn von solchem Spruche
Jemals noch Berufung galt,
Mit Vergunst, so appellier‘ ich
An die höhere Instanz.
Warum grade jetzt schon sterben?
Paßt doch bessern Zeitpunkt ab!
Soll ich mindstens einst nicht sehen
Meine weggeworfne Saat?
Daß ich ein nichtsnutz’ger Bauer,
Sagt ich ja voraus; das sagt
Auch mein Weinberg, der mit Disteln
Und den schönsten Blumen prangt,
Denn so hoch floriert das Unkraut,
Daß, wer just nicht gar zu nah,
Sich den Kopf zerbricht, ob’s Weizen
Oder Rebe, was er sah.
Wuchert Nachbars Korn zum Staunen
Unverschämt und riesenhaft,
Hält sich meins zum Zwerggeschlechte,
Das kaum aus dem Grase ragt.
Wer das hört, könnt‘ freilich meinen,
Wenn das Feld so fahl und kahl,
Schlüg‘ ja, wie bestellt, mein letztes .
Stündlein. Ja, warum nicht gar!
Denn besteht schon, wer den Erben
Volle Scheunen hat vermacht,
Nicht ganz gut vor seinen Vätern,
Wie nun gar mit leerer Hand?
Doch jetzt gilt’s nicht lange fackeln,
Da die Todesstimme sprach
Und zugleich mit offnem Rachen
Schon das Grab dort nach mir schnappt.
Fehlte ich in meiner Rolle,
Ficht mich nur der Kummer an,
Daß ob meiner wen’gen Reue
Mich nicht größrer Kummer plagt. (Ab.)

Die Welt. Anfangs hielt ich ihn für dümmlich,
Doch jetzt zeigt er durch die Tat,
Daß mein rasches Urteil irrte –
Gut beschloß der Ackersmann.

Der Reiche. Von den Spaten und den Pflügen,
Müde aus des Staubes Qualm
Ist der Landmann nun geschieden.

Der Bettler. Und wir schaun voll Sorgen nach.

Der Weise. Welcher Kummer!

Der Bettler. Welch Bedrängnis!

Der Weise. O Betrübter –

Der Bettler. Unglückstag!

Der Weise. Was nun ohne ihn beginnen?

Der Reiche. Weiter plaudern vor wie nach.
Nach dem Beispiel all der andern
Sag‘ auch ich, was ich gedacht:
Wer sah ohne Schreck dies Leben,
Einer zarten Blume gleich,
Sich im Morgentau erheben
Und im Abendrot schon bleich?
Muß es denn so schnell entschweben,
Nun, so spart vergebne Not
Und genießt, was man euch bot!
Laßt den Bauch zum Gott uns machen,
Heut noch essen, trinken, lachen,
Denn wer weiß, wer morgen tot!

Die Welt. Das ist ja ein saubres Sprüchlein,
Recht nach Heidensinn und Art,
Wie schon Isaias sagte.

Der Weise. Wer kommt jetzt?

Der Bettler. Ich folge nach.
Fluch dem Tag, da ich erwacht,
Um die harte Welt zu sehen,
Und verflucht die falsche Nacht,
Wo ich zu so herben Wehen
Ward gezeugt! Umschlinge sacht
Trüber Nebel Berg und Tale,
Daß der Sonne reines Licht
Nimmermehr sie rosig male
Und kein Strahl die totenfahle,
Schwere Wolkenwucht durchbricht.
Ew’ge Nacht deck‘ alle Dinge
Grauenvoll mit dunkler Schwinge,
Und daß durch die Wolkenrisse
Nie ein Blick zum Himmel dringe,
Balle sie die Finsternisse,
Lösche aus der Funken Pracht,
Die des nächt’gen Wandrers Wonne,
Und der Tag sei ohne Sonne,
Sternenlos die öde Nacht!
Herr! Nicht darum so verloren
Siehst du mich in wildem Schmerz,
Weil zur Armut ich erkoren,
Nein, nur das bricht mir das Herz,
Daß in Sünden ich geboren.

Die Welt. Ha, der spiegelte recht täuschend
Der Verzweiflung Wesen ab!
Denn auch Hiob einst verfluchte
Ebenso der Sünde Schmach.

Die Stimme. Streng bemessen ist das Glück,
Streng bemessen ist die Qual;
Von den Qualen, von dem Glücke
Gebt nun beide Rechenschaft!

Der Reiche. Weh mir!

Der Bettler. Welche frohe Kunde!

Der Reiche. Wie, bei dieses Rufes Klang
Bebst du nicht zusammen?

Der Bettler. Ja.

Der Reiche. Und bist nicht auf Flucht bedacht?

Der Bettler. Nein, denn diese Schauer rieseln
Jeglichem durch Bein und Mark,
Fühlt der schwache Mann voll Zagen
Die Gerichte Gottes nahn.
Doch wo alle Flucht vergebens,
Wenn sogar die heil’ge Pfalz,
Nicht den König und die Schönheit,
Nicht die eigne Glorie barg:
Wohin sollt‘ die Armut fliehen?
Nein, viel tausend-, tausendmal
Dank‘ ich ihm, daß er nun endet
Mit dem Leben meine Schmach.

Der Reiche. So ganz ohne Herzeleid
Trittst du von der Bühne ab?

Der Bettler. Da ich hier nichts Liebes lasse,
Geh‘ ich willig diesen Pfad.

Der Reiche. Und ich wie geschleift vom Henker,
Denn mein Herz bleibt bei dem Schatz.

Der Bettler. Welche Freude!

Der Reiche. Welche Trauer!

Der Bettler. Welche Tröstung!

Der Reiche. Welche Qual!

Der Bettler. Welch Vergnügen!

Der Reiche. Welche Schmerzen!

Der Bettler. Welches Glück!

Der Reiche. O harter Fall!

(Beide gehen ab.)

Die Welt. Wie so anders ist des Reichen
Und des Bettlers Todesbahn!

Der Weise. Auch sie scheiden – auf der Bühne
Steh nur ich allein noch da.

Die Welt. Unter allen hält die Kirche
Stets am längsten bei mir Stand.

Der Weise. Nicht die hehre Kirche bin ich;
Sie besteht, ich muß hinab,
Denn nur einer ihrer Diener
War ich hier aus eigner Wahl.
Doch dem Ruf der Todesstimme
Eilt‘ ich sehnsüchtig voran,
All mein Tun und Sein versenkend
Lebend schon ins stille Grab.
Und so schließ‘ ich heut das Schauspiel,
Morgen spielt der andre Akt,
Und ihr, bessert euch für morgen,
Die ihr heut uns irren saht!

(Der Vorhang der unteren Erdenbühne fällt.)

Der Meister. Straf‘ und Lohn verhieß ich jedem,
Wer da schlecht, wer gut bestand;
Kommt nun allzumal herbei,
Lohn und Strafe zu empfahn!

(Die Himmelsbühne schließt sich ebenfalls.)

Die Welt. Kurz war das Schauspiel; aber wann verwehen
Nicht rasch des Lebens Spiele, kaum erklungen,
Wo alles nur ein Kommen ist und Gehen,
Das keinen überrascht, der’s recht durchdrungen?
Verödet schon seh‘ ich die Bühne stehen;
Zu ihrem Urstoff, dem sie sich entrungen,
Kehrt nun die Form, die jeder angenommen;
Staub scheiden sie, da sie als Staub gekommen.
Von allen jetzt, vom Kön’ge bis zum Bauer,
Fordr‘ ich zurück, was sie von mir erbeutet
An eitlem Tand für dieses Schauspiels Dauer,
Daß jeder scheine, was sein Part bedeutet.
An diese Tür stell‘ ich mich auf die Lauer,
Und wer da meine Schwelle überschreitet,
Leg‘ ab, was er an Schmuck mir hat entnommen,
Denn Staub sei wieder, wer als Staub gekommen.

(Der König tritt auf.)

Du, der zuerst aus diesem Tor gezogen,
Sprich, welche Rolle hattest du empfangen?

Der König. Du fragst? Vergißt die Welt so schnell des Hohen?

Die Welt. Die Welt wirft hinter sich, was da vergangen.

Der König. Mir untertan war, was der Sonne Lohen,
Wann sie aufatmet an Aurora’s Wangen,
Bis träum’risch sie ins Schattenreich gesunken,
Vergoldend übersprüht mit Feuerfunken.
Ich war’s, dem die Gewalt man anvertraute,
Der andre sonnt‘ mit seines Ruhmes Lichte,
Der Siegesbogen erbt‘ und neue baute,
Der mit den Völkern einst ging ins Gerichte,
Der sinnend nach den höchsten Gütern schaute,
Der mit dem Schwerte schrieb die Weltgeschichte
Und über sich den Thronenhimmel glänzen
Von Purpur sah, von Kron‘ und Lorbeerkränzen.

Die Welt. So löse denn, verlaß, wirf hin die Krone,
Leg‘ ab die Majestät, vom stolzen Schlosse
Verbannt, vergessen, wie zu herbem Hohne,
Scheid‘ nackt und bloß aus dieses Lebens Posse!
Der Purpur, den du rühmst in hohem Tone,
Bald hüllt sich drein ein anderer Genosse,
Nichts nimmst du mit von allem, was da glänze,
Mir bleiben Purpur, Kron‘ und Lorbeerkränze.

(Sie entkleidet ihn.)

Der König. Hast du nicht selber mir den Schmuck verliehen?
Warum nun nimmst du, was du kaum gespendet?

Die Welt. Weil’s nicht verliehn dir wurde, nur geliehen
Für kurze Frist, bis du dein Spiel beendet.
Laß nun für andre deine Reiche blühen
Und alle Herrlichkeit, die dich geblendet.

Der König. Wer möcht‘ fortan an deine Macht noch glauben,
Vermagst du nichts zu geben, nur zu rauben!
Was nun vor andern hab‘ ich zum Gewinn,
Daß ich das Zepter auf der Welt geführet?

Die Welt. Lohn oder Zücht’gung wird dir zum Gewinne
Von deinem Herrn, der weiß, was dir gebühret.
Ich frage nicht, ob du nach seinem Sinne
Den König wacker oder schlecht agieret,
Mich kümmert nur der Schmuck, den du entnommen,
Denn du mußt von mir gehn, wie du gekommen.

(Die Schönheit tritt auf.)

Was spieltest du?

Die Schönheit. Das Zauberspiel der Blicke.

Die Welt. Was gab ich dir?

Die Schönheit. Der Schönheit süß’stes Prangen.

Die Welt. Wo hast du sie?

Die Schönheit. Sie blieb im Grab zurücke.

Die Welt. Es schauert die Natur in leisem Bangen,
Sieht sie die Schönheit von so schwankem Glücke,
Daß sie, eh‘ sie noch heimkehrt, schon vergangen;
Und wie ich auch nach ihr zurück mich sehne,
Verloren ist, so dir wie mir, die Schöne.
Der König mußt‘ sein Reich mir wiedergeben
Und alles Hohe seinen Glanz mir lassen,
Nur Schönheit wendet sich, verhaucht ihr Leben,
Sieht ihre Herrin sterbend sie erblassen.
Schau in den Spiegel hier!

Die Schönheit. Ich seh’s mit Beben.

Die Welt. Wo hast du deiner Reize Schmuck gelassen,
Die ich dir einst geliehen? Gib sie mir wieder!

Die Schönheit. Sank alles, alles dort im Grabe nieder.
Dort ließ ich den Jasmin und die Korallen,
Dort sah ich Mund und Wangen leis erbleichen,
Dort, Blatt um Blatt, die Rosen, Nelken fallen,
Dort graue Nacht den Frühling überschleichen,
Dort trübten sich die spiegelnden Kristallen,
Dort brachen meines Zaubers Stab und Zeichen,
Dort gingen unter meiner Augen Schimmer,
Dort blieb von aller Schönheit nicht ein Trümmer.

(Der Landmann tritt auf.)

Die Welt. Ha, Bauer, was warst du?

Der Landmann. Nun Bauer, eben
Weil ich’s sein mußte. Aber bleib‘ nur sitzen,
Der Bauer beißt nicht. Ja, den Titel geben
Die Fante uns, für die im Feld wir schwitzen,
Ich bin’s, den manche, die bei Hofe leben,
Vornehm gesegenen mit schlechten Witzen,
Ich bin’s – und daß ich’s bin, soll mich nicht plagen –,
Zu dem Ihr: »Du« und »Er« beliebt zu sagen.

Die Welt. Gib her, was ich dir lieh.

Der Landmann. Du, mir geliehen?

Die Welt. Ein Spaten war’s.

Der Landmann. Das lohnt auch noch zu schwatzen!

Die Welt. Gleichviel! Darfst nicht damit von dannen ziehen.

Der Landmann. Nun, da möcht‘ einem doch die Galle platzen!
Seht die vertrackte Welt! Erst ab mich mühen,
Mit Not das bißchen Brot zusammenkratzen,
Und jetzt, da wir hier auseinander rennen,
Nicht so ein lumpig Grabscheit mir zu gönnen!

(Der Reiche und der Bettler treten auf.)

Die Welt. Wer naht?

Der Reiche. Wer nimmer möchte von dir scheiden.

Der Bettler. Und wer von dir zu scheiden stets verlangte.

Die Welt. Wie kommt es, daß zur selben Zeit euch beiden
Zu lassen mich und nicht zu lassen bangte?

Der Bettler. Weil ich viel bittre Armut mußte leiden.

Der Reiche. Und ich mit Schätzen übermächtig prangte.

Die Welt. Her, dein Geschmeid!
(Sie nimmt ihm seinen Staat.)

Der Bettler. Schau, wie ich sicher baute!
Hab‘ nichts, das mir, der Welt zu lassen, graute.

(Das Kind kommt.)

Die Welt. Auch dich sah ich doch zum Theater streben,
Warum erschienst du niemals in dem Stücke?

Das Kind. Du nahmst in einem Grabe mir das Leben,
Im Grab lass‘ ich, was du mir gabst, zurücke.

(Der Weise tritt ein.)

Die Welt. Was hatt‘ ich dir zum Schmucke mitgegeben?
Sprich, was erbatst du an des Lebens Brücke?

Der Weise. Ein härnes Kleid, das ich demütig trüge,
Die Geißel, das Gebet und inn’re Gnüge.

Die Welt. So gib mir’s wieder nun, man soll nicht wähnen,
Daß einer nur sein Ehrenpfand vertrage.

Der Weise. Ich wollte, das Gebet, die Lust der Tränen
Verblieb der Welt bis an das End‘ der Tage;
Doch scheiden sie mit mir, auf daß dich Sehnen
Dir selbst entschwing‘ mit kühnerm Flügelschlage.
Versuch’s, ob du’s vermagst, sie zu erfassen.

Die Welt. Kann nicht, muß dir die guten Werke lassen,
Das einzige, das ihr der Welt entrungen.

Der König. O wer doch nimmer nach Gewalt getrachtet!

Die Schönheit.
Und nimmer nach der Schönheit Huldigungen!

Der Reiche. O hätt‘ ich nie mit Schätzen mich befrachtet!

Der Landmann. O wer den Spaten rüst’ger doch geschwungen!

Der Bettler. O wer in größern Nöten noch geschmachtet!

Die Welt. Zu spät! Was schauert ihr? Im Sterben
Mag sich nicht Palmen mehr der Mensch erwerben.
Und da ich ausgelöscht der Schönheit Züge
Und, was gewaltig war, gestürzt nun habe,
Da ich verstört des Hochmuts eitle Flüge,
Das Zepter gleichgemacht dem Bettelstabe:
So gehet vom Theater denn der Lüge
Ein in das Reich der Wahrheit aus dem Grabe!

Der König. Wie anders, als da ich jetzt wiederkehre,
Empfingst du damals uns!

Die Welt. Merk‘ dir die Lehre:
Naht sich Fortuna, lächelnd zu beglücken,
Schau, wie devot der Mensch sich vor ihr schmiege!
Doch kehrt sie einmal spröde ihm den Rücken,
Ballt drohend er die Fäuste wie zum Kriege.
Die offne Wiege, zärtlich fast erdrücken
Möcht‘ sie den Menschen, doch dieselbe Wiege,
Einst umgekehrt, wird dich als Sarg umfassen.
Wieg‘, Sarg bin ich beim Willkomm und Entlassen.

Der Bettler. Da die Welt hier so tyrannisch
Uns aus ihrer Mitte forttreibt,
Laßt uns zu dem Gastmahl gehen,
Das zu unsers Spieles Lohne
Uns der Meister hat verheißen.

Der König (zum Bettler).
Höhnst du also meine Hoheit,
Daß du’s wagst voranzugehn?
Hast du gar so schnell verloren
All Erinnern, plumper Bettler,
Daß du als mein Knecht geboren?

Der Bettler. Deine Rolle ist zu Ende.
In des Grabes Garderobe
Sind wir all einander gleich;
Was du warst, kann wenig frommen.

Der Reiche. Wie! Vergißt du, daß du gestern
Mich noch bettelnd angesprochen?

Der Bettler. Und vergißt du, daß du mir
Nichts gegeben?

Die Schönheit. Schon enthoben
Wähnst du dich der schuld’gen Achtung,
Die man hohen Damen zollet?

Der Weise. Alle gleichen wir einander
Hier an dieser stillen Pforte,
Im armsel’gen Grabeskittel
Gilt nicht mehr gering noch vornehm.

Der Reiche (zum Landmann).
Fort doch, aus dem Wege, Bauer!

Der Landmann. Laß nun endlich deine Possen!
Tot ist tot, und nur noch Schatten
Bist du deiner frühern Sonne.

Der Reiche. Weiß nicht, vor des Meisters Anblick
Will mir fast der Atem stocken.

Der Bettler. Meister Himmels und der Erde!
Die nach deinem Machtgebote
Dieses kurzen Menschenlebens
Schauspiel vorgestellt, sie kommen
Alle nun zum großen Gastmahl,
Das du ihnen einst versprochen.
Laß das Lichtgewölk sich teilen
Vor dem Glanze deines Thrones!

(Musik. Wahrenddeß erschließt sich noch einmal die Himmelsbühne und zeigt einen Tisch mit Kelch und Hostie, an welchem der Meister sitzt.)

Der Meister. Schon harrt euer dieser Tisch
Und das Brot, vor dem erschrocken
Sich die Hölle beugt und alle
Himmel in Beschaun verloren.
An der Zeit ist’s, zu verkünden,
Wer jetzt mit mir tafeln soll,
Denn aus meiner Nähe müssen
Scheiden nun, die ihre Rollen
Dort verfehlt, auf daß besel’gend
Sie Erkenntnis überkomme
All des Heiles, das ich ihnen
So barmherzig dargeboten.
Sei der Bettler und der Mönch
Denn zum Ehrentisch erhoben;
Essen sie auch nicht dies Brot,
Da sie schon der Welt entnommen,
Ist’s doch Labsal, anzubeten
Das Mysterium der Wonne.

Der Bettler (zu der obern Bühne aufsteigend).
Ich Glücksel’ger! o wer härtre
Not doch über sich genommen,
Da, was ich um Gott erlitten,
Nun mein Haupt umglänzt als Glorie!

Der Weise (ebenso).
O ich hochbeglückter Büßer,
Dem so hehres Los erobert
Seine herbe Strenge! Selig,
Wer da Tränen hat vergossen
Und als Sünder sich bekannt!

Der König. Mitten in dem Glanz der Hoheit
Fleht‘ ich, Herr, nicht um Erbarmen?
Warum hast du mich verworfen?

Der Meister. Schönheit und Gewalt, hochmütig
Hatten sie sich überhoben,
Doch bereut auch. Beide seien,
– Jedoch später – aufgenommen.
Ebenso gescheh‘ dem Landmann. (Zum Bettler.)
Wenn er dir nichts geben mochte,
War’s nicht Herzenshärtigkeit,
Seine Absicht war zu loben,
Nur verblümt auf seine Art,
Als er damals dich gescholten,
Um dir durch dich selbst zu helfen.

Der Landmann. Ja, das war es, was ich wollte,
Denn ich haßt‘ die Vagabunden.

Der Meister (zu der Schönheit, dem Könige und dem Landmann).
So gewärtigt künft’gen Lohnes,
Da ihr, eure Schuld bereuend,
Um Barmherzigkeit geworben!
Im Fegfeuer nun ihr drei
Harret büßend, bis gekommen
Eure Zeit.

Der Weise. O heil’ger Meister!
Da ich wankt‘, die Hand geboten
Hat der König mir; die meine
Biet‘ ich jetzt in seiner Not ihm.

(Er reicht dem Könige die Hand und hebt ihn empor.)

Der Meister. Und ich kürze seine Buße,
Da die Kirche ihn empfohlen.
Fliegt, Jahrhunderte, dahin!
Überwunden hat sein Hoffen.

Der Landmann. Regneten doch auf mich nieder
So viel Bullen für Verstorbne
Und so hageldicht, daß eine
In der Luft die andre stoße!
Denn des heil’gen Vaters Briefe,
Die aus Rom zu Hilfe kommen,
Machen wunderbar die Riegel
Dieses düstern Kerkers loser.

Das Kind (zum Meister).
Fehlt‘ ich nicht in meiner Rolle,
Warum wird mir nichts zum Lohne,
Hoher Herr?

Der Meister. Weil allzu wenig
Du gerungen. Nicht belohnen
Noch bestrafen kann ich dich;
Schuldlos, doch in Schuld geboren,
Bleibt dir Lohn und Strafe fremd.

Das Kind. Tiefe Nacht hält mich umschlossen;
Wie im Traume steh‘ ich blind
Ohne Schmerz und ohne Wonne.

Der Reiche. Seh‘ ich König dort und Schönheit,
Bloß weil Weltruhm sie verlockte,
Trotz der Tränen, die sie weinten,
So im Innersten erschrocken
Und den Bauer unter Seufzen,
Daß es Steine rühren sollte,
Ungewiß und bebend zaudern,
Hier emporzuschaun zu Gottes
Furchtbar strengem Angesicht –
Wie wagt‘ ich den Blick nach oben?
Doch ich muß – wo flöh‘ ich hin,
Da kein Winkel bleibt verborgen
Vor dem schrecklichen Gericht?
Meister!

Der Meister. Unglücksel’ger, stockt dir
Nicht die Stimme bei dem Namen?
Hättst du nie ihn ausgesprochen!
Denn hier aus der Zahl der Meinen
Bist fortan du ausgestoßen.
Steig‘ zu der verlornen Nacht
Nieder nun, wo deine stolzen
Lüste dich in Ewigkeit
Zwischen Furcht und Qualen foltern.

Der Reiche. Wehe! An mein Schattenbild
Festgeschmiedet, glutumlodert,
Stürz‘ ich nieder – stürzt mir nach!
Unter eurem starren Bogen,
Um mich vor mir selbst zu bergen,
Deckt, begrabt mich, Felskolosse!

Der Weise. Ew’ge, ew’ge Seligkeit!

Die Schönheit. Einst wird sie auch mir erschlossen!

Der Landmann. Schönheit, so mit bloßen Wünschen
Sollst du mir zuvor nicht kommen!

Das Kind. Keine Seligkeit für mich!

Der Reiche. Und für mich fortan kein Hoffen!

Der Meister. Die vier letzten Dinge hat hier
Euer Auge wahrgenommen.
Doch weil eines von den vieren
Schließlich muß zu Ende kommen
Nach dem Wesen dieser Dinge,
So sei zur geheimnisvollen
Tafelrunde nun die Schönheit
Und der Landmann aufgenommen,
Da sie schmerzensreich die Stufen
Schon der Seligen erklommen.

Der Reiche. O des Neides!

Der König. Welch ein Sieg!

Die Schönheit (oben anlangend). Welche Freude!

Der Landmann (ebenso). Ha, Viktoria!

Der Reiche. Welche Schmerzen!

Der Weise. Welcher Trost!

Der Bettler. Welche Labung!

Der Reiche. O, verloren!

Das Kind. Schmerz und Wonne überall,
Nur für mich nicht Schmerz noch Wonne!

Der Meister. Da des Himmels Engelscharen,
In der Hölle die Dämonen
Und die Menschen auf der Welt
All‘ sich beugen vor dem Brote,
Sollen durch die Himmel, Hölle
Und die Welt zu seinem Lobe
Süße Stimmen widerhallen
Rings in unermeßnem Chore.

(Musikklänge; man hört in der Ferne das »Tantum ergo« singen.)

Die Welt. Und da dieses ganze Leben
Eben nur ein Schauspiel vorstellt,
Oh, so werde dem wie jenem
Nachsicht hier wie dort zum Lohne!