Sankt Gallus

Schon in frühen Zeiten drang das Christentum in das rhätische Gebirge. Ein britischer Königssohn, Ludius mit Namen, soll übers Meer gekommen sein und diesem Lande zuerst das Evangelium gepredigt haben. Nach ihm heißt heute noch ein Gebirgspfad zwischen Graubünden und der Herrschaft Vaduz6 der Ludiensteig.

Nach ihm kamen die Apostel Rhätiens und Helvetiens7 , Sankt Gallus, ein Königssohn aus Schottland, und seine Gefährten Mangold und Siegbert, samt dem heiligen Columban an den Bodensee, zerstörten die Götzenbilder und brachen das Heidentum. Sie wohnten als fromme Einsiedler in Hütten, heilten Kranke und predigten das Evangelium. Ein allemannischer Herzog, Gunzo, wohnte in Überlingen8 ; dem war die Tochter schwer erkrankt. Der heilige Gallus heilte sie, und dafür schenkte Gunzo ihm und seinen Gefährten ein großes Waldgebirge zum Eigentum, in welchem sie sich nun besser anbauten. Aus diesem ersten Anbau ist die hernachmals so berühmte und herrliche Abtei Sankt Gallen geworden, die einer Stadt und einer ganzen Landschaft den Namen gegeben. Aber St. Gallus blieb nicht beständig in seiner Einsiedelei. Als die Abtei St. Gallen begründet war, stieg er an der Sitter9 entlang höher empor und erbaute sich an einem geeigneten Ort eine neue Zelle, um das Hirtenvolk zu bekehren. Diese nannte das Volk des Abten Zelle; daraus ist der Name Appenzell entstanden.

Das Hirtenvolk nahm auch willig das Christentum an. Als aber später die mächtige Abtei es in seiner Freiheit bedrohte, erhob es sich zum Kampfe. Der Abt von St. Gallen suchte Hilfe bei Österreich. Es saß aber droben auf der festen Burg Werdenberg10 ein edler Grafensohn, Rudolf von Werdenberg, der hielt zu den Hirten des Appenzeller Gebietes und führte sie zum Kampfe gegen St. Gallen. Am Stoß11 geschah eine heftige Schlacht. Lange schwankte der Sieg. Plötzlich aber kam über den Berg herüber eine große Schar Kriegsvolk den Hirten zu Hilfe. Als die Feinde der Appenzeller diese erblickten, flohen sie eilend vom Schlachtfeld. Die Hilfsvölker aber, die sich gezeigt und durch ihren Anblick schon von weitem den Feind hinweggeschreckt hatten, waren keineswegs Kriegsmänner, sondern – der Hirten Weiber und Töchter in männlicher Tracht gewesen. Seitdem blieb das Ländlein Appenzell mitten im St. Galler Lande ein eigenfreies und regierte sich selbst.

  1. Fürstentum Liechtenstein
  2. lateinische Bezeichnung für die Schweiz
  3. am Bodensee
  4. Nebenfluß der Thur
  5. am linken Rheinufer
  6. in Appenzell-Außerrhoden

Der wilde Jäger

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Der Wild- und Rheingrafen einer war ein gewaltiger Jäger, aber nicht wie Nimrod vor dem Herrn, sondern so recht vor dem Teufel. Einen Tag und alle Tage ging es hinaus in die Forste, mit wildem, wüstem Gefolge. Werktag und Feiertag, das war dem Grafen alles gleich. In die Kirche ging er nicht; nur Jagen war seine Freude.

Da geschah es eines Sonntagmorgens, daß der Wild- und Rheingraf abermals vom hohen Stein mit dem Gefolge seiner Jagdknechte und Rüden herab zu Tale zog, durch Felder und Saaten, nichts achtend, junge Saat und reife Ähren in den Boden niederstampfend. Es währte nicht lange, so brachten die Hunde einen großen weißen Hirsch auf, dessen Spur sie nun mit lautem Kliffen und Klaffen folgten. Die Hifthörner klangen, und die Hetzpeitschen knallten, daß es nur so sauste und brauste, immer dem Hirsch nach.

In allen Tälern riefen die Kirchenglocken zu Gebet und Amt; der Wildgraf hörte es gar nicht. Ein Bäuerlein, in dessen Feld der fliehende Hirsch sich zu bergen suchte, sah den Troß auf sein Feld losjagen. Er fiel auf die Knie und flehte, seines Ackers, des einzigen, welchen er besitze, doch gnädiglich zu schonen. Der Wild- und Rheingraf aber überritt den Bauern und stürmte mit dem ganzen Jagdtroß über den Acker hin. Der fliehende Hirsch mischte sich nun unter eine weidende Herde, da Sicherheit zu suchen. Der Hirt sah die wilde Jagd herannahen und flehte um Barmherzigkeit für das ihm anvertraute Vieh. Der Wild- und Rheingraf aber knallte ihm mit der Peitsche um die Ohren und schrie: »Hui hatz! Hui hatz!« Da fiel die blutgierige Meute mit wütenden Bissen den Hirten an und riß ihn nieder und biß die Rinder tot und jagte den Hirsch weiter. Dieser gewann einen Wald, dessen friedliche Sonntagsstille jetzt gellend laut der Zug des wilden Jägers durchtobte.

Im Walde stand eine Einsiedlerklause, und in diese floh jetzt der auf den Tod gehetzte Hirsch. Der Wild- und Rheingraf stürmte mit seinem Troß gegen die Klause an. Der Klausner, ein Greis mit schneeweißem Bart, trat heraus und hob warnend die Hand. »Nicht weiter!« rief er mit starker Stimme; »hier ist das Asyl37 der Kreatur38 !« – »In der Hölle ist dein Asyl, du alter Hund!« schnaubte der Wild- und Rheingraf den Klausner an und hob die Peitsche hoch gegen ihn auf. Aber die aufgehobene Rechte fiel nicht mehr zum Schlage nieder. – Nacht ward es plötzlich; der Klausner und die Hütte, der Hirsch und die Hunde, die Jäger und die Knechte – alles schwand, und des Wild- und Rheingrafen keuchendes Roß brach zusammen. Und da zuckte ein Blitz, und da fuhr des Teufels Faust riesengroß aus der Erde und drehte dem wilden Jäger den Hals um, und eine Stimme donnerte: »Jage fort, bis an der Welt Ende!«

Und also geschieht es, wie viele Sagen melden, daß von Zeit zu Zeit die wilde Jagd durch die Lüfte und über Felder und Wälder fährt mit gräßlichem Geschrei, mit dem Kliffen und Klaffen der Hunde, mit gespenstischem Wild, und der wilde Jäger selbst als Wild gehetzt vom wilden Heere der Hölle.

  1. vgl. die Ballade von Bürger u. Bl. 13
  2. Zufluchtsort
  3. Geschöpf

Die Weingötter am Rhein

Zu Bacharach am Rhein, wo nach altem deutschen Reimspruch der besten Weine einer wächst, soll vor Zeiten ein Altar des Bacchus, des Weingottes, gestanden haben, und des Ortes Name soll von diesem Altar: Bacchi ara39 herrühren. Diesen Altarstein nannten die Winzer auch den Elterstein. Dort ist ein Fels im Rhein, der wird nur bei großem Wassermangel und heißem, dürrem Sommerwetter sichtbar. Er gilt stets für eine dem Weinjahr günstige Prophezeiung; denn es geht ein Sprüchlein, das lautet: »Kleiner Rhein gibt guten Wein.« Viele meinen, daß dieser Fels der Altar des Bacchus sei. Und wenn der Elterstein sich zeigt, so putzen die Schiffsleute eine Strohpuppe als Bacchus auf und befestigen sie auf dem Stein.

Zu Kaub, nahe der alten Burg Pfalzgrafenstein, mitten im Rheinstrom, lebt noch eine Sage von einem wunderlichen Heiligen, Theonest, dessen Name wie eine Verstümmelung des griechischen Wortes Dionysos (Bacchus) klingt. Dieser Theonest soll aber nicht ein heidnischer Weingott gewesen sein, sondern ein christlicher Märtyrer, der in Mainz bis auf den Tod gequält wurde und dem es gelang, in einer Weinkufe statt Nachens auf dem Rheinstrom zu entkommen und sich abwärts tragen zu lassen. Je weiter Theonest fuhr, um so wohler wurde ihm zumute, und bei Kaub landete er in seiner Kufe an, predigte das Christentum und pflanzte Weinreben, und zwar solche mit süßen Trauben, die kelterte er zuerst in seiner Kufe. Davon erhielt der Ort, den er hier am Strome gründete, den Namen Kaub, und in das Stadtsiegel nahmen hernach dankbar die Kauber das Bild des heiligen Theonest, in seiner Kufe sitzend, als ihr Stadtwappen auf. Auch ist Kaub hernachmals ein wichtiger Ort geworden durch Rheinzoll und Stromreederei40 .

  1. d. h. des Bacchus Altar
  2. Schiffsbau

Lurlei

Rheinsagen

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Wo das Stromtal des Rheins unterhalb Kaub am engsten sich zusammendrängt, starren schroff und steil zu beiden Seiten echoreiche Felsenwände von Schiefergestein schwarz und unheimlich hoch empor. Schneller fließt dort die Stromflut, lauter brausen die Wogen, prallen ab am Fels und bilden schäumende Wirbel. Nicht geheuer ist es in dieser Schlucht; die schöne Nixe des Rheins, die gefährliche Lurlei oder Lorelei, ist in den Felsen gebannt. Doch erscheint sie oft den Schiffern, strählt mit goldenem Kamme ihr langes, flachsenes Haar und singt dazu ein süß betörendes Lied. Mancher, der davon sich locken ließ und den Fels erklimmen wollte, fand seinen Tod in den Wellenwirbeln. Rheinab, rheinauf ist keine Sage so in aller Mund, als die von der Lurlei; aber sie gleicht dem Echo der Uferfelsen, das sich mannigfach rollend bricht und wiederholt. Viele Dichter haben sie ausgeschmückt – fast bis zur Unkenntlichkeit.

Lurlei ist die Rhein-Undine42 . Wer sie sieht oder wer ihr Lied hört, dem wird das Herz aus dem Busen gezogen. Hoch oben auf ihres Felsens höchster Spitze steht sie, im weißen Kleide, mit fliegendem Schleier, mit wehendem Haar, mit winkenden Armen. Keiner aber kommt ihr nahe, wenn auch einer den Felsgipfel erstiege. Sie weicht vor ihm, sie schwebt zurück, sie lockt ihn durch ihre zaubervolle Schönheit bis an des Abgrunds jähen Rand. Er sieht nur sie, er glaubt sie vor sich auf festem Boden, schreitet vor und stürzt zerschmettert in die Tiefe.

  1. Eine ausführlichere Fassung dieser bekannten Sage findet sich in Bl. 13.
  2. Nixe

Die Brüder

Rheinsagen

Auf den nachbarlichen Burgen Sterrenberg und Liebenstein am Rhein wohnten zwei Brüder, die waren sehr reich und hatten die Burgen stattlich von ihres Vaters Erbe erbaut. Als ihre Mutter starb, wurden sie noch reicher. Beide hatten aber eine Schwester, die war blind, mit der sollten nun die Brüder der Mutter Erbe teilen. Sie teilten aber, da man das Geld in Scheffeln maß, daß jedes ein volles Maß nach dem andern nahm, und die blinde Schwester fühlte bei jedem, daß eins so voll war wie das andere. Die arglistigen Brüder drehten aber jedesmal, wenn es ans Maß der Schwester ging, das Maß um und deckten nur den von schmalem Rand umgebenen Boden mit Geld zu; die Blinde fühlte oben darauf und war zufrieden, daß sie ein volles Maß empfing, wie sie nicht anders glaubte. Sie war aber gottlos betrogen. Dennoch war mit ihrem Gelde Gottes Segen, und sie konnte reiche Andachten stiften in drei Klöstern, zu Bornhofen, zu Kiedrich und zur Not Gottes.

Aber mit dem Gelde der Brüder war der Unsegen für und für. Ihre Habe verringerte sich, ihre Herden starben, ihre Felder verwüstete der Hagel, ihre Burgen begannen zu verfallen, und sie wurden aus Freunden Feinde und bauten zwischen ihren nahe gelegenen Burgen eine dicke Mauer als Scheidewand, deren Reste noch heute zu sehen sind. Als all ihr Erbe zu Ende gegangen war, versöhnten sich die feindlichen Brüder und wurden wieder Freunde, aber auch ohne Glück und Segen. Beide bestellten einander zu einem gemeinschaftlichen Jagdritt; wer zuerst munter sei, solle den andern Bruder frühmorgens durch einen Pfeilschuß an den Fensterladen wecken. Der Zufall wollte, daß beide gleichzeitig erwachten und im gleichen Augenblick die Laden aufstießen und schossen, und daß der Pfeil jedes von ihnen dem andern ins Herz fuhr. Das war der Lohn ihrer untreuen Tat an ihrer blinden Schwester.

Triers Alter

Trier und Solothurn sollen die ältesten Städte in Europa sein; 1300 Jahre vor Christus habe Trier schon gestanden, wie alte Rheinverse aussagen. Ja, Trier war lange die zweitgrößte Stadt in der alten Welt, Rom die größte. Die Alten nannten es das reiche Trier – und dies schon zur Römerzeit. Zur Zeit des Mittelalters war Trier des Christentums Wiege, das deutsche Rom. Triers frühe Blüte brachen zuerst die Gallier durch eine dreimalige Verheerung und schufen aus der Stadt einen großen Totenhof.

Das schönste unter den vielen Baudenkmälern uralter Zeit ist der Dom zu Trier. Lange zeigte man in ihm ein Horn, das die Einwohner die Teufelskralle nannten, und sie erzählten, der Erbauer des Doms habe allein nicht zustande kommen können und den Teufel zu Hilfe gerufen und diesen überlistet. Da habe der Teufel in seiner Wut die Altäre umreißen wollen; es sei ihm aber nicht gelungen, und er habe noch dazu eine Kralle lassen müssen.

Im Dom zu Trier wird auch der ungenähte heilige Rock aufbewahrt, den Christus der Herr getragen haben soll und um den die Kriegsknechte gewürfelt, weil er zu schön war, als daß sie ihn hätten zerschneiden mögen. Es ist ein Mannsrock mit langen Ärmeln, aus zartem Linnenstoff, aus feinen Fäden buntfarbig gewirkt. Die heilige Helena war es, welche diesen Rock mit einem Stücke des heiligen Kreuzes und einem Nagel, mit welchem Christus an das Kreuz geheftet war, nach Trier schenkte. Dieser Rock genießt der andächtigsten Verehrung von vielen Millionen Gläubigen, die an seiner Echtheit nicht zweifeln, obschon an vielen Orten ein ähnlicher Rock für echt gezeigt wird.

Sankt Arnulfs Ring

Von besonders hohem Alter ist zu Trier die Moselbrücke, ein dauerbares Gebäu von Steinen ungeheurer und ungewöhnlicher Größe, jedenfalls ein Bauwerk aus der Römerzeit; der Kaiser Nero soll schon über die Brücke gezogen sein, um alles Land bis Köln zu erobern. Wo sich die Bogen der Brücke miteinander schließen, stehen Säulen, welche über die Brustwehr der Brücke emporragen, darauf sollen heidnische Götterbilder gestanden haben.

Einst fühlte der heilige Arnulf zu Trier sein Gewissen belastet. Und da er von ohngefähr über die Moselbrücke ging, sah er in des Wassers Tiefe nieder, zog einen kostbaren Ring vom Finger und warf ihn voll Vertrauen auf Gottes Allmacht und Barmherzigkeit hinab in die Mosel und rief: »Wenn ich hoffen darf, daß meine Sünden mir verziehen werden, so werde ich diesen Ring wiederbekommen.«

Es vergingen wenige Jahre, und der heilige Arnulf wurde unterdes Bischof zu Metz. Da lieferte eines Tages ein Fischer einen großen Fisch in die bischöfliche Küche, und da der Koch ihn zubereitete für die Tafel seines Herrn, fand er voller Verwunderung im Eingeweide des Fisches einen schönen Ring und brachte ihn zum Bischof. Da sah dieser, daß es sein Ring war, den der Fisch, ihn wohl für Speise haltend, beim Fallen hinabgeschlungen und einige Jahre bei sich behalten hatte. Und Sankt Arnulf pries Gott in Demut für dieses Gnadenzeichen und tat sich aller sündigen Gedanken ab, um dieser Gnade sich wert zu erzeigen.

Die Wiesenjungfrau

Auf einer grünen Wiese bei Auerbach an der Bergstraße hütete ein Hirtenbub seines Vaters Kühe, stand müßig und dachte an gar nichts. Da fühlte er auf einmal einen sanften Backenstreich von einer weichen Hand, und wie er sich erschrocken umdrehte, stand eine wunderschöne Jungfrau vor ihm da, ganz schleierweiß, und tat den Mund auf, ihn anzureden. Aber der Bub brüllte vor Schreck, als wenn er am Spieße stäke, und rannte davon, nach Auerbach zu.

Nach einiger Zeit hütete der Bub abermals auf jener Wiese und stand träumend in der heißen Mittagsstunde am Waldesrain. Da raschelte es am sonnigen Rain, als schlüpfe eine Eidechse ins Dorngebüsch. Der Knabe blickte hin; da sah er eine kleine Schlange, die trug in ihrem Mund eine blaue Blume und sprach: »Guter, erlöse mich! erlöse mich! Mit dieser Blume öffnest du droben im alten Schloß Auerbach die verfallenen Keller und die Fässer voll Gold, und alles ist dein! Nimm die Blume! Nimm die Blume!« Aber dem Buben wurde es ganz unheimlich und graulich; er hatte all sein Lebetage noch keine Schlange sprechen hören – und lief von dannen, als wenn der wilde Jäger hinter ihm drein wäre.

Als der Spätherbst kam, hütete der Bube zufällig wieder an derselben Stelle, und da empfing er wieder einen sanften Backenstreich und sah im Umdrehen wieder die weiße Jungfrau, welche ihn flehend ansprach: »Erlöse mich! erlöse mich! Ich will dich reich und glücklich machen. Du allein kannst es, nur du allein. Ich bin verwünscht, zu harren und zu wandeln, und kann nicht eher zur Seligkeit eingehen, bis aus einem Kirschkern, den ein Vöglein auf diese Wiese fallen läßt, ein Kirschbaum groß und stark gewachsen ist, der Baum abgehauen und aus ihm eine Wiege gemacht ist. Nur das erste Kind, das in solcher Wiege geschaukelt worden ist, kann mich dadurch erlösen, daß es mit der blauen Blume, die ich hier halte, hinauf zur Burg geht und dort die unterirdischen Schätze hebt. Du bist das Kind, das in solcher Wiege gewiegt worden ist.«

Als der Bube diese Rede hörte, zitterte er, und es lief ihm eiskalt über den Nacken; denn er hatte kein Herz, und wenn der Mensch kein Herz hat, ist er ein Tropf. Und er kreuzigte und segnete sich und schüttelte mit dem Kopfe. »Wehe mir! Wehe!« rief da die Jungfrau. »So muß ich wieder hundert Jahre harren und wandeln. Wehe dir, daß du kein Herz hast; so sollst du auch keins finden!« Und sie tat einen lauten Schmerzensschrei und verschwand.

Der Bube aber ging von diesem Tage an still und bleich umher und hat nicht lange gelebt.

Des Rodensteiners Auszug

Im Odenwalde oder nahe dabei stehen zwei Trümmerburgen, die heißen der Rodenstein und der Schnellerts, zwei Stunden voneinander entfernt.

Die Herren von Rodenstein waren ein mächtiges Rittergeschlecht. Einer derselben war ein gewaltiger Kriegs- und Jagdfreund. Kampf und Jagd war sein Vergnügen, bis er auf einem Turnier zu Heidelberg auch die Minne kennenlernte und ein schönes Weib gewann. Doch lange hielt er es nicht aus im friedsamen Minneleben auf seiner Burg: eine nachbarliche Fehde lockte ihn zu blutiger Teilnahme. Vergebens warnte ihn sein Weib, das durch schwere Träume geängstigt worden; sie bat und flehte, sie doch nicht zu verlassen. Er zog dennoch von dannen und achtete ihres Flehens nicht. Sie aber war so sehr erschüttert, daß sie eines toten Sohnes genas und – starb.

Der Ritter war, um dem Feinde näher zu sein, auf seine Burg Schnellerts gezogen. Dort erschien ihm im Nachtgrauen der Geist seines Weibes und sprach eine Verwünschung über ihn aus. »Rodenstein!« sprach sie, »du hast nicht meiner, nicht deiner geschont. Der Krieg ging dir über die Liebe. So sei fortan ein Bote des Krieges bis an den Jüngsten Tag!«

Bald darauf begann der Kampf. Der Rodensteiner fiel und ward auf Burg Schnellerts begraben. Ruhelos muß seit der Zeit sein Geist ausziehen und dem Lande ein Unheilsbote werden. Wenn ein Krieg auszubrechen droht, erhebt er sich schon ein halbes Jahr zuvor, begleitet von Troß und Hausgesinde, mit lautem Jagdlärm und Pferdegewieher und Hörner- und Trompetenblasen. Das haben viele Hunderte gehört. Man kennt sogar im Dorfe Oberkainsbach einen Bauernhof, durch den er hindurchbraust mit seinem Zuge, dann durch Brensbach und Fränkisch-Krumbach und endlich hinauf zum Rodenstein. Dort weilt das Geisterheer bis zum nahenden Frieden; dann zieht es, doch minder lärmend, nach dem Schnellerts zurück.

Das Rad im Mainzer Wappen

Erzbischof Willegis von Mainz war ein gelehrter und frommer Mann und von Herzen demütig. Er war aber von niederer und geringer Herkunft; sein Vater war ein armer Rademacher. Das machte ihm Neid bei den adeligen Domherren; die malten ihm heimlich Räder an die Türen und Wände seines Bischofhofes und spotteten: »Das ist unsers Bischofs Ahnenwappen.« Willegis aber, der fromme Mann, nahm sich des mit nichten als eines Spottes an. Er ließ über seiner Bettstatt ein hölzernes Pflugrad aufhängen und in seine Gemächer weiße Räder in rote Wappenfelder malen und dazu einen Reim setzen, der lautete:

»Willegis, Willegis,
denk, woher du kommen sis!«

Und nachher haben dem frommen Willegis zum Gedächtnis alle nach ihm kommenden Erzbischöfe dieses Rad als Wappenzeichen beibehalten, und Stadt und Bistum Mainz haben es angenommen und beibehalten bis auf den heutigen Tag.