Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Sonne und Schatten.

Vor dreißig Jahren lag Marseille eines Tages im glühenden Sonnenbrand da.

Eine helleuchtende Sonne an einem sengend heißen Augusttag war im südlichen Frankreich damals keine größere Seltenheit als zu jeder andern Zeit, vor- und nachher. Alles in und um Marseille starrte zu der glühenden Sonne empor, die wiederum auf Marseille und seine Umgebung herabstarrte, bis zuletzt alles weit und breit ein starrendes Aussehen annahm. Die starrend weißen Häuser, starrend weißen Wände, starrend weißen Straßen, starrend weißen dürren Landwege und die starrenden Hügel, deren Grün die Sonne versengt – machten auf den Fremden den quälendsten Eindruck. Das einzige, was nicht dieses unbeweglich starre und grelle Aussehen hatte, waren die Weinranken, die unter der Last ihrer Trauben herabhingen und bisweilen ein wenig glitzerten, wenn die heiße Luft ihre schlaffen Blätter flüchtig bewegte.

Kein Wind kräuselte das trübe Wasser im Hafen oder die schöne weite See draußen. Die Grenzlinie zwischen den beiden Farben Schwarz und Blau zeigte den Punkt, den die reine See nicht überschreiten wollte. Aber sie lag so ruhig da wie der häßliche Pfuhl, mit dem sie sich nimmer vermischte. Boote ohne Zeltdach waren zu heiß, um sie zu berühren. Die Anker der Schiffe bedeckten sich mit Bläschen. Die steinernen Quader der Kais waren seit Monaten weder bei Tage noch bei Nacht kühl geworden. Hindus, Russen, Chinesen, Spanier, Portugiesen, Engländer, Franzosen, Genuesen, Neapolitaner, Venezianer, Griechen, Türken, kurz Abkömmlinge von allen Erbauern Babels, die handelshalber nach Marseille gekommen, suchten einer wie der andere den Schatten und bargen sich in irgendeinem Winkel vor einer See, die zu grell blau war, um lange ihren Anblick ertragen zu können, und vor einem glühroten Himmel, in dem ein großes, flammendes Feuerjuwel funkelte.

Der über alles verbreitete grelle Glanz tat den Augen weh. An der fernen Linie der italienischen Küste milderte sich diese Glut etwas durch leichte Nebelwölkchen, die langsam aus dem Dunst des Meeres aufstiegen. Sonst trug alles den Stempel starrer Sonnenhitze. Aus der Ferne starrten die tiefbestaubten Straßen von den Hügelabhängen, von den Hohlwegen, von der endlosen Ebene dem Wanderer entgegen. Weit in der Ferne ließen die staubigen Weingelände bei den Landhäusern am Weg und die ausgedorrten Bäume in den müden Alleen im grellen Licht von Erd‘ und Himmel die Blätter hängen. Gesenkten Hauptes gingen die Pferde mit ihren schläfrigen Glöckchen an den langen Reihen von Karren einher, die sie landeinwärts zogen. Auch die müd‘ zurückgelehnten Fuhrleute ließen die Köpfe hängen, wenn sie wachten, was selten der Fall war. Die Schnitter im Felde beugten sich gleichfalls unter der Last und Hitze. Alles, was lebte und webte, drückte die Sonnenglut zu Boden, nur nicht die Eidechse, die hurtig über die rauhen, steinernen Mauern hinhuschte, und die Heuschrecke, die ihr trocken heiseres Gezirp, das wie eine Rassel klang, im Felde ertönen ließ. Der Staub selbst war von der Hitze braun gesengt, und in der Atmosphäre war ein Zittern, als ob die Luft sogar nach Luft schnappte.

Läden, Jalousien, Vorhänge, Markisen waren alle geschlossen oder herabgelassen, um das blendende und heiße Sonnenlicht abzuhalten. Wo sich eine Ritze oder ein Schlüsselloch zeigte, schoß es wie ein weißglühender Pfeil hinein. Die Kirchen waren noch am meisten davon verschont. Trat man aus dem Zwielicht von Pfeilern und Bögen, die träumerisch von blinzelnden Lampen beleuchtet und träumerisch mit häßlichen alten Schatten von Schlummernden, Spuckenden und Bettelnden angefüllt waren, so war es, als ob man sich in einen glühenden Strom stürzte und nur mit Lebensgefahr nach dem nächsten Streifen Schatten schwimmen könnte. Das Volk lungerte dort umher, wo nur irgendein Schatten vorhanden war. Gespräch und Gebell waren beinahe verstummt; nur dann und wann hörte man in der Ferne das Geläute disharmonischer Glocken und den Lärm schlechter Trommeln –, so lag Marseille – eine deutlich zu riechende und zu fühlende Tatsache – alltäglich im glühenden Sonnenbrand da.

Es gab zu jener Zeit in Marseille ein elendes Gefängnis. In einem seiner Gemächer, die so abstoßend finster waren, daß selbst die zudringliche Sonne nur hineinzublinzeln wagte und ihnen den Abfall von Lichtreflexen überließ, den sie erhaschen konnten, saßen zwei Männer. Außer diesen befanden sich darin eine vielbekerbte und verunstaltete Bank, die sich nicht von der Wand bewegen ließ und in die ein Damenspielbrett roh eingeschnitzt war, ein Damenspiel aus alten Knöpfen und Knöcheln, ein Domino, zwei Matten und zwei bis drei Weinflaschen. Das war alles, was der Kerker enthielt, mit Ausnahme von Ratten und anderem unsichtbaren Geziefer, nebst dem sichtbaren Geziefer, den beiden Männern.

Das Gefängnis erhielt sein dürftiges Licht durch ein eisernes Gitter, das wie ein ziemlich großes Fenster aussah und durch das man es immer von der dunklen Treppe aus übersehen konnte, auf die das Gitter hinausging. An diesem Gitter befand sich eine breite, starke, steinerne Bank, da wo jenes drei oder vier Fuß über dem Boden in die Mauer eingelassen war. Auf dieser Bank lungerte einer der beiden Männer halb sitzend, halb liegend, die Knie an sich gezogen und Füße und Schultern an die gegenüberliegenden Seiten der Nische gestemmt. Das Gitter war weit genug, um ihm zu erlauben, seinen Arm bis zum Ellbogen hindurchzustecken; und er tat dies auch, um sich bequemer zu stützen.

Alles ringsum trug das Gepräge des Gefängnisses. Die gefangene Luft, das gefangene Licht, die gefangenen Dünste, die gefangenen Männer – alles war durch die Gefangenschaft verdorben. Wie die Gefangenen bleich und hager, so war das Eisen rostig, der Stein schleimig, das Holz faul, die Luft dumpf, das Licht matt. Wie ein Brunnen, ein Keller, eine Gruft ahnte das Gefängnis nichts von dem Glanz, der draußen über alles ergossen war, und würde selbst mitten auf einer der Gewürzinseln des Indischen Ozeans seine verdorbene Atmosphäre unberührt behalten haben.

Der Mann, der in der Nische am Gitter lag, fror sogar. Er zog mit ungeduldiger Bewegung der einen Schulter seinen großen Mantel fester um sich und murmelte: »Zum Teufel mit diesem Straßenräuber von Sonne, der nicht auch hier hereinscheinen will.«

Er wartete auf das Essen und schielte mit dem Ausdruck eines wilden Tieres in ähnlicher Lage seitwärts durch das Gitter, um mehr von der Treppe zu sehen. Aber seine zu nahe aneinanderstehenden Augen blickten nicht so stolz wie die des Königs der Tiere und waren mehr scharf als glänzend, – spitze Waffen mit geringer Fläche, die sie leicht verraten könnten. Sie besaßen weder Tiefe noch Lebhaftigkeit des Ausdrucks: sie blitzten, öffneten und schlossen sich. Was diese Funktionen betrifft, so hätte, abgesehen von ihrem Nutzen für ihn, ein Uhrmacher ein paar bessere machen können. Er hatte eine gebogene Nase, die in ihrer Art schön war, aber zu hoch zwischen seinen Augen stand, gerade wie diese zu nahe aneinander lagen. Im übrigen war er von großem und breitem Körperbau, hatte dünne Lippen, soweit sie sein dicker Bart sehen ließ, und straffes, zottiges Haar, dessen Farbe schwer zu unterscheiden war, nur eine rötliche Mischung konnte man erkennen. Die Hand, mit der er das Gitter festhielt (auf dem Rücken ganz mit häßlichen, kaum geheilten Schrammen bedeckt), war ungewöhnlich klein und fleischig und wäre ohne den Gefängnisschmutz auch ungewöhnlich weiß gewesen.

Der andere Mann kauerte auf dem steinernen Fußboden und war in einen braunen Mantel gehüllt.

»Steht auf, Ferkel!« brummte der erstere. »Schlaft nicht, wenn ich hungrig bin.«

»Es ist alles einerlei, Herr«, sagte das Ferkel unterwürfig und nicht ohne freundliche Miene, »ich kann wachen, wenn ich will, und kann schlafen, wenn ich will, es ist alles einerlei.«

Während er das sagte, stand er auf, schüttelte sich, kratzte sich, band seinen braunen Mantel mittels des Ärmels leicht um seinen Hals (er hatte ihn zuvor als Decke benutzt) und setzte sich gähnend, den Rücken an die Wand gegenüber dem Gitter gelehnt, auf den Fußboden. »Sagt, wie spät ist es?« brummte der erste.

»Die Mittagsglocke schlägt – in vierzig Minuten.«

Bei der kleinen Pause sah er sich im Gefängnis um, als wollte er sich seiner Sache vergewissern.

»Ihr seid eine Uhr. Wie könnt Ihr das nur immer wissen?«

»Wie soll ich’s sagen? Ich weiß immer, was die Uhr ist und wo ich bin. Ich wurde bei Nacht hier eingebracht und zwar auf einem Boot, aber ich weiß, wo ich bin. Seht hier den Hafen von Marseille.« Auf dem Boden kniend, zeichnete er nämlich die Karte mit seinem gebräunten Zeigefinger. »Toulon (wo die Galeeren sind). Spanien hier drüben. Algier dort oben. Hier nach der Linken liegt Nizza. Am Bogen weiter fort Genua. Mole und Hafen von Genua. Die Quarantäne. Dort die Stadt: terrassenförmige Gärten von blühender Belladonna gerötet. Hier Porto Fino. Seewärts gesteuert nach Livorno, weiter nach Civitavecchia. Und so fort bis – hm! da ist kein Platz mehr für Neapel«; er war inzwischen bis zur Mauer gekommen, »aber es tut nichts; es ist eben da drinnen.«

Er blieb auf seinen Knien liegen und sah seinen Mitgefangenen mit einem für einen Gefangenen ziemlich muntern Blicke an. Es war ein sonnverbrannter, rühriger, geschmeidiger, kleiner Mann von gedrungenem Körperbau. Er trug Ohrringe in seinen braunen Ohren, hatte weiße Zähne, die sein wunderliches braunes Gesicht etwas erhellten, tiefschwarzes Haar, das von seinem braunen Hals büschelartig herabhing, und ein zerlumptes rotes Hemd ließ die braune Brust vorn sehen. Weite Seemannshosen, bescheidene Schuhe, eine lange, rote Mütze, eine rote Binde um seine Hüften und ein Messer darin bildeten die Vervollständigung seines Anzugs.

»Seht, ob ich wohl von Neapel mich zurückfinde, wie ich dahin gelangte. Seht, hier, Herr, Civitavecchia, Livorno, Porto Fino, Genua, der Meerbusen, dann Nizza (das dort drinnen liegt), Marseille – Ihr und ich. Die Wohnung des Gefängniswärters und seine Schlüssel sind da, wo ich den Daumen hinsetze, und hier an meinem Handgelenk bewahren sie das Nationalrasiermesser – die Guillotine in ihrem Kasten auf.«

Der andere spuckte plötzlich auf den Boden und brummte etwas in seinen Hals hinein.

In diesem Augenblick brummte aber auch ein Schloß unten etwas in seinen Hals hinein, und eine Tür rasselte. Langsame Tritte kamen die Treppe herauf, das Geplauder einer sanften kleinen Stimme mischte sich in ihr Geräusch, und der Gefängniswärter erschien mit seiner Tochter, die drei bis vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arm, während er in der Hand einen Korb trug.

»Wie geht es heute morgen in der Welt zu, meine Herren? Meine Kleine da, wie Sie sehen, hat mich begleitet, um sich mal die Vögel ihres Vaters zu betrachten. Na! sieh sie dir an! Sieh dir die Vögel an!«

Er betrachtete selbst die Vögel mit scharfem Blick, während er das Kind an das Gitter emporhielt. Namentlich warf er ein Auge auf den kleinen Vogel, dessen Rührigkeit ihm Mißtrauen einzuflößen schien. »Ich habe Euer Essen gebracht, Signor Johann Baptist«, sagte er (sie sprachen alle französisch, aber der kleine Mann war ein Italiener), »und wenn ich Euch empfehlen dürfte, nicht zu spielen –«

»Ihr empfehlt’s dem Herrn nicht!« sagte Johann Baptist und zeigte lachend die Zähne.

»O, der Herr gewinnt«, entgegnete der Gefängniswärter mit einem flüchtigen, nicht besonders freundlichen Blick auf den andern, »und Sie verlieren. Das ist ganz etwas anderes. Sie bekommen dadurch rauhes Brot und sauren Wein, während er Lyoner Wurst, Kalbsbraten mit würziger Farce, weißes Brot, Strachino und guten Wein gewinnt. Sieh dir die Vögel an, liebe Kleine!«

»Die armen Vögel!« sagte das Kind.

Das hübsche kleine Gesicht, von göttlichem Mitleid bewegt, glich, wie es so bange durch das Gitter sah, einer Engelserscheinung in dem Gefängnis. Johann Baptist stand auf und trat zu ihm, als ob es eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte. Der andere Vogel blieb sitzen, nur warf er zuweilen einen ungeduldigen Blick nach dem Korbe.

»Halt!« sagte der Gefängniswärter, indem er seine kleine Tochter auf den äußersten Sims des Gitterfensters stellte, »sie soll die Vögel füttern. Dieses Gerstenbrot ist für Signor Johann Baptist. Wir müssen es entzweibrechen, um es durch das Gitter zu bringen. So, der Vogel ist zahm, er küßt dir die Hand. Diese Wurst in einem Traubenblatt ist für Monsieur Rigaud: ferner dieses Kalbfleisch in würziger Farce ist für Monsieur Rigaud; – ferner diese drei kleinen weißen Brote sind für Monsieur Rigaud; – ferner dieser Käse, der Wein – und endlich der Tabak – alles für Monsieur Rigaud. Glücklicher Vogel!«

Das Kind steckte alle diese Sachen durch das Gitter in die sanfte, weiche, wohlgeformte Hand, aber nicht ohne einen Schauer; denn mehr als einmal zog es seine Händchen zurück und sah den Mann mit ihrem schönen Gesichtchen, in dem sich Furcht und Angst mischten, fragend an. Dagegen legte es mit einem gewissen Vertrauen das Stück schlechten Brotes in die dicken, schmierigen und knorrigen Hände Johann Baptists (der kaum soviel Nägel an seinen acht Fingern und zwei Daumen hatte, wie Monsieur Rigaud an einem einzigen); und als er des Kindes Hand küßte, strich sie ihm sogar schmeichelnd über das Gesicht. Monsieur Rigaud, gleichgültig gegen eine solche Auszeichnung, gewann den Vater für sich, indem er der Tochter zulachte und zunickte, sooft sie ihm etwas gab, und sobald er alle die Speisen an geeigneten Plätzen um sich her aufgestellt, begann er mit Appetit zu essen.

Wenn Monsieur Rigaud lachte, trat eine Veränderung in seinem Gesicht ein, die mehr merkwürdig als einnehmend war. Sein Schnurrbart bäumte sich unter seiner Nase, und seine Nase zog sich auf höchst unheimliche und schauerliche Weise über seinen Schnurrbart herab.

»So!« sagte der Gefängniswärter, indem er den Korb umkehrte, daß die Brosamen herausfielen; »ich habe alles Geld ausgegeben, was ich empfing: hier ist die Rechnung, und damit wäre die Sache abgemacht. Monsieur Rigaud, wie ich gestern erwartete, will der Präsident heute nachmittag um zwei Uhr das Vergnügen Ihrer Gegenwart genießen.« »Um mich zu verhören«, sagte Rigaud, indem er, das Messer in der Hand und ein Stück Fleisch im Munde, einen Augenblick innehielt.

»Ganz recht. Um Sie zu verhören.«

«Nichts Neues für mich?« fragte Johann Baptist, der zufrieden sein Brot zu kauen begonnen.

Der Gefängniswärter zuckte die Achseln.

»Heilige Jungfrau! Soll ich denn mein ganzes Leben lang hier liegen, Vater?« »Was weiß ich?« rief der Gefängniswärter, indem er sich mit südlicher Lebendigkeit nach ihm umwandte und mit beiden Händen und allen Fingern gestikulierte, als ob er ihm drohen wollte, er werde ihn in Stücke zerreißen. »Mein Freund, wie ist es möglich, daß ich Euch sagen könnte, wie lange Ihr noch hier liegen werdet? Was weiß ich, Johann Baptist Cavaletto? Tod und Leben! Es gibt bisweilen Gefangene hier, die es nicht so verteufelt eilig mit dem Verhör haben.«

Er schien bei dieser Bemerkung auf Monsieur Rigaud hinzuschielen. Aber Monsieur hatte bereits wieder sein Mahl in Angriff genommen, wenn auch nicht mehr mit so gutem Appetit wie zuvor.

»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« sagte der Gefängniswärter, nahm sein artiges Kind auf den Arm und sagte ihm die Worte mit einem Kusse vor.

»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« wiederholte das hübsche Kind.

Sein unschuldiges Gesichtchen sah so freundlich über die Schulter des Alten, während dieser mit ihm wegging und das Lied aus dem Kinderspiele sang:

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine!
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

daß Johann Baptist es für eine Ehrensache hielt, durch das Gitter in gleichem Rhythmus und Ton, wenn auch mit etwas rauher Stimme, darauf zu antworten:

»Die Blüte aller Ritterschaft,
Compagnon de la Majolaine!
Die Blüte aller Ritterschaft,
Immer froh!«

Und dieser Gesang begleitete sie so lange über die steinerne Treppe hinab, daß der Gefängniswärter zuletzt stehenbleiben mußte, damit sein Töchterchen das Lied aushören konnte. Dann verschwand der Kopf des Kindes und der Kopf des Gefängniswärters, aber die kleine Stimme setzte das Lied fort, bis die Tür ins Schloß fiel.

Monsieur Rigaud, dem Johann Baptist in die Quere kam, ehe das Echo verstummt war (selbst dieses schien in dem Gefängnis schwächer und langsamer), erinnerte ihn mit einem Fußtritt, daß er besser tun würde, seinen alten dunklen Platz wieder einzunehmen. Der kleine Mann setzte sich mit einer Gleichgültigkeit auf den Boden, die deutlich zu erkennen gab, daß er auf Stein zu sitzen gewohnt war: und drei Stücke des rauhen Brotes vor sich hinlegend und über ein viertes herfallend, begann er sich zufrieden einen Weg durch diesen Vorrat zu bahnen, als ob mit ihnen aufzuräumen eine Art Spiel wäre.

Vielleicht schielte er nach der Lyoner Wurst, vielleicht sah er nach dem Kalbfleisch mit der würzigen Farce, aber sie blieben nicht lange sichtbar und konnten ihm den Mund auch nicht lange wässerig machen. Monsieur Rigaud erledigte sie gründlich trotz Präsident und Tribunal, leckte dann seine Finger, so rein er konnte, und wischte diese zuletzt mit dem Weinlaub ab. Als er mitten im Trinken aufhörte, um seinen Mitgefangenen zu betrachten, bäumte sich sein Schnurrbart und seine Nase senkte sich herab.

»Wie schmeckt das Brot?«

»Ich finde es ein wenig trocken, aber ich habe meine alte Tunke hier«, entgegnete Johann Baptist, indem er sein Messer in die Höhe hielt.

»Inwiefern Tunke?«

»Ich kann mein Brot so schneiden – wie eine Melone. Oder so – wie eine Omelette. Oder so – wie einen gebratenen Fisch. Oder so – wie eine Lyoner Wurst«, sagte Johann Baptist, die verschiedenen Schnitte an dem Brot demonstrierend, das er in der Hand hielt, und ruhig kauend, was er im Munde hatte.

»Hier!« rief Monsieur Rigaud. »Da trinkt. Leert die Flasche!«

Es war kein großes Geschenk; denn es war ungemein wenig Wein übrig. Aber Signor Cavaletto sprang auf die Füße und nahm dankbar die Flasche, die er umgestürzt an den Mund setzte worauf er laut zu schmatzen begann.

»Stelle die Flasche mit dem übrigen beiseite«, sagte Rigaud.

Der kleine Mann gehorchte seinen Befehlen und stand mit einem angezündeten Schwefelhölzchen bereit; denn der andere rollte seinen Tabak mit Hilfe von Papierstreifen, die dabei gelegen, zu Zigaretten.

»Hier! Da habt Ihr eine.«

»Tausend Dank, Herr!« Johann Baptist sagte diese Worte in seiner Muttersprache und mit der lebhaften gewinnenden Weise, die seinen Landsleuten eigen. Monsieur Rigaud stand auf, zündete eine Zigarette an, steckte den Rest seines Vorrats in eine Brusttasche und streckte sich der Länge nach auf eine Bank. Cavaletto setzte sich auf den Boden, indem er in jeder Hand einen von seinen Knieknöcheln hielt und ruhig fortrauchte. Rigauds Augen schienen von irgend etwas in der unmittelbaren Nähe des Punktes auf dem Boden, wo der Daumen früher geruht, unangenehm berührt zu werden. Sie sahen so stier nach dieser Richtung, daß der Italiener mehr als einmal verwundert seinen Blicken auf dem Boden hin und her folgte, um zu sehen, was das bedeuten sollte.

»Ein höllisches Loch fürwahr!« sagte Monsieur Rigaud, eine lange Pause abbrechend. »Seht mal dieses Tageslicht! Tag? Das Licht von gestern vor acht Tagen, das Licht von vor sechs Wochen, das Licht von vor sechs Jahren. So matt und farblos!«

Es kam durch eine viereckige trichterförmige Öffnung, die sich an einem Fenster in der Treppenmauer befand und durch das man weder den Himmel noch sonst etwas sehen konnte.

»Cavaletto«, sagte Monsieur Rigaud und wandte plötzlich seinen Blick von jener Öffnung ab, auf die sie beide unwillkürlich ihre Augen gerichtet, »Sie kennen mich als Kavalier.«

»Gewiß, gewiß!«

»Wie lange sind wir jetzt hier?«

»Ich morgen um Mitternacht elf Wochen. Sie heute nachmittag um fünf Uhr neun Wochen und drei Tage.«

»Habe ich je hier etwas getan? Je den Besen berührt, oder die Matten ausgebreitet, oder sie aufgerollt, oder das Damespiel geholt, oder die Dominosteine gesammelt, oder Hand an irgendeine Arbeit gelegt?«

»Nie.«

»Habt Ihr je auch nur erwartet, ich könnte mich zu irgendeiner Art von Arbeit herablassen?“

Johann Baptist antwortete mit jenem eigentümlichen Schütteln des verkehrten rechten Zeigefingers, das die ausdrucksvollste Verneinung der italienischen Sprache ist.

»Nein! Ihr wußtet vom ersten Augenblick, als Ihr mich hier sähet, daß ich ein Kavalier bin?«

»Altro!« entgegnete Johann Baptist, indem er seine Augen schloß und den Kopf heftig schüttelte.

Dieses Wort, das je nach der Betonung der Genuesen eine Bejahung, eine Verneinung, eine Bestätigung, einen Einwand, einen Spott, ein Kompliment, einen Scherz und fünfzig andere Dinge bedeuten kann, war im gegenwärtigen Augenblick bezeichnender als jedes geschriebene Wort und mit dem deutschen »Selbstverständlich!« gleichbedeutend.

»Haha! Ihr habt recht! Ich bin ein Kavalier! Und als Kavalier will ich leben und als Kavalier will ich sterben. Ich bin in Scherz und Ernst ein Kavalier. Ich werde es zeigen, wo ich stehe und gehe, so wahr ich selig werden will.« Er änderte seine Lage in eine sitzende und rief mit triumphierender Miene:

»Hier bin ich. Seht mich an! Aus dem Würfelbecher des Schicksals in die Gesellschaft eines bloßen Schmugglers geschleudert; – eingeschlossen mit einem armen kleinen Schmuggler, dessen Papiere nicht in Ordnung, und den die Polizei packte, weil er sein Boot (als Mittel, über die Grenze zu kommen) andern kleinen Leuten zur Verfügung stellte, deren Papiere nicht besser sind; und dieser Mensch erkennt meine Stellung an, selbst bei dieser Beleuchtung und an diesem Ort. Gut! Beim Himmel, ich gewinne, wie das Spiel auch fällt.«

Wiederum bäumte sich der Schnurrbart, und die Nase senkte sich.

»Was ist jetzt die Uhr?« fragte er mit einer trocken-heißen Blässe auf den Wangen, zu der der scherzende Ton wenig paßte.

»Eine kleine halbe Stunde nach Mittag.«

»Gut! Der Präsident wird bald einen Kavalier vor sich haben. Wohlan! Soll ich Euch sagen, wessen ich beschuldigt bin? Ich müßte es jetzt tun, sonst wäre es zu spät, denn ich komme nicht mehr hierher zurück. Entweder werde ich freigesprochen oder ich muß mich zum Rasieren vorbereiten. Ihr wißt, wo sie das Rasiermesser verborgen halten?«

Signor Cavaletto nahm seine Zigarre aus dem Munde und zeigte sich für den Augenblick verdrießlicher, als man hätte erwarten sollen.

»Ich bin ein« – Monsieur Rigaud stand auf, um es zu sagen – »ich bin ein Kavalier und Kosmopolit. Ich gehöre keinem Lande an. Mein Vater war Schweizer – aus dem Waadtland. Meine Mutter war Französin dem Blute, Engländerin der Geburt nach. Ich selbst bin in Belgien geboren. Ich bin ein Weltbürger.«

Seine theatralische Haltung, wie er so dastand, den einen Arm an der Hüfte in den Falten seines Mantels, und seine Art, den Mitgefangenen unbeachtet zu lassen, während er seine Worte an die gegenüberstehende Mauer richtete, schienen weit eher zu erkennen zu geben, daß er seine Rolle für den Präsidenten studierte, dessen Verhör er sich demnächst unterziehen sollte, als daß er sich die Mühe nehme, eine so unbedeutende Persönlichkeit wie Johann Baptist Cavaletto über den Stand der Dinge aufzuklären.

»Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Ich habe die Welt gesehen. Ich habe hier gelebt und dort gelebt und überall wie ein Kavalier gelebt. Ich bin von aller Welt als Kavalier behandelt und geehrt worden. Wenn Sie mich dadurch benachteiligen wollen, daß Sie herausbringen, ich habe durch meinen Esprit mir den Lebensunterhalt erworben – so frage ich, wodurch leben denn Ihre Advokaten – Ihre Staatsmänner – Ihre Intriganten – Ihre Börsenmänner?«

Er hielt seine kleine weiche Hand ständig in Bereitschaft, als wenn sie ein Zeuge seiner Vornehmheit wäre, der ihm oft schon gute Dienste geleistet.

»Vor zwei Jahren kam ich nach Marseille. Ich gebe zu, daß ich arm war; ich war krank gewesen. Wenn Ihre Anwälte, Ihre Staatsmänner, Ihre Intriganten, Ihre Börsenmänner krank werden und nicht vorher Geld zusammengescharrt haben, so werden auch sie arm. Ich mietete mich im goldenen Kreuz ein – damals im Besitz des Herrn Henri Barronneau –, der wenigstens sechsundfünfzig Jahr alt und noch dazu von sehr schwacher Gesundheit war. Ich hatte vier Monate in dem Hause gewohnt, als Herr Henri Barronneau das Unglück hatte zu sterben: jedenfalls kein seltenes Unglück! Es geschieht häufig, sehr häufig, ohne mein Zutun.«

Da Johann Baptist seine Zigarette bis an die Finger geraucht, hatte Monsieur Rigaud die Großmut, ihm eine zweite zu geben. Er zündete die letztere an der Asche der ersteren an und rauchte fort, indem er seitwärts nach seinem Mitgefangenen blickte, der, nur mit seiner Sache beschäftigt, ihn kaum ansah.

»Monsieur Barronneau hinterließ eine Witwe. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Sie galt für schön und (was oft ein ganz anderer Fall) war schön. Ich blieb im goldenen Kreuz wohnen. Ich heiratete Madame Barronneau. Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, ob diese Verbindung glücklich war. Hier stehe ich mit der Schmach des Gefängnisses auf mir; es ist jedoch möglich, daß sie mich besser für sie taugend gefunden als ihren früheren Mann.

Er hatte, obenhin betrachtet, das Aussehen eines schönen Mannes – war es aber in Wirklichkeit nicht; und trug das oberflächliche Gepräge eines vornehmen Mannes – was er gleichfalls nicht war. Es war bloße Prahlerei und Anmaßung. Aber darin wie in manchen andern Dingen ersetzt die polternde Behauptung den Beweis – und das in der halben Welt!

Sei dem, wie ihm wolle, Madame Barronneau fand an mir Gefallen. Das wird mir hoffentlich nicht zum Nachteil gereichen?“

Sein Auge fiel zufällig bei dieser Frage auf Johann Baptist, der verneinend den Kopf schüttelte und unzählige Male mit seinem bündigen altro, altro, altro diese Ansicht bekräftigte.

»Nun kamen die Schwierigkeiten unserer gegenseitigen Stellung. Ich bin stolz. Ich sage nichts zur Verteidigung des Stolzes, aber ich bin stolz. Auch liegt es in meinem Charakter, zu herrschen. Ich kann nicht gehorchen; ich muß herrschen. Unglücklicherweise ruhte das Vermögen von Madame Rigaud in ihren Händen. Das war die wahnsinnige Verfügung ihres verstorbenen Mannes. Noch unglücklichererweise hatte sie Verwandte. Wenn die Verwandten einer Frau sich gegen einen Gatten ins Mittel legen, der ein Kavalier, der stolz ist und der herrschen muß, so sind die Folgen für den Frieden immer sehr gefährlich. Madame Rigaud war unglücklicherweise etwas gewöhnlich. Ich suchte ihren Formen einen feinen Schliff zu geben und ihren Ton im allgemeinen etwas zu verbessern; sie nahm (auch darin von ihren Verwandten unterstützt) meine Bemühungen übel auf. Es entstanden Streitigkeiten zwischen uns; die Nachbarn bekamen durch die verleumderischen Zungen der Verwandten von Madame Rigaud übertriebene Kunde davon. Man sagte, ich behandle Madame Rigaud grausam. Man wollte gesehen haben, wie ich ihr ins Gesicht geschlagen – nichts weiter. Ich habe eine leichte Hand, und wenn man mich Madame Rigaud in dieser Weise zurechtweisen sah, so konnte es ihr wenigstens nicht sehr weh tun: denn es geschah ja nur auf scherzhafte Art.«

Wenn die scherzhafte Art des Herrn Rigaud in seinem Lächeln bei diesen Worten einen entsprechenden Ausdruck fand, so würden die Verwandten von Madame Rigaud ohne Zweifel es weit vorgezogen haben, wenn er die unglückliche Frau ernsthaft zurechtgewiesen.

»Ich bin feinfühlig und mutig. Ich will es nicht für ein Verdienst ausgeben, feinfühlig und mutig zu sein, aber es ist mal mein Charakter. Wären die männlichen Verwandten von Madame Rigaud offen gegen mich aufgetreten, würde ich gewußt haben, was mit ihnen anzufangen ist. Sie merkten das und setzten ihre Wühlereien im stillen fort, dadurch gerieten Madame Rigaud und ich häufig in die unglückseligste Kollision. Selbst wenn ich einer kleinen Summe Geldes zu meinen persönlichen Ausgaben bedurfte, konnte ich sie nicht ohne Streit bekommen – und das ich, ein Mann, in dessen Charakter es liegt, zu herrschen? Eines Abends gingen Madame Rigaud und ich freundschaftlich – ich darf sagen wie Liebende – auf einem über die See hinaushängenden Felsenweg spazieren. Ein Unstern ließ Madame Rigaud das Gespräch auf ihre Verwandten bringen. Ich sprach verständig mit ihr über diesen Gegenstand, machte ihr Vorhaltungen über den Mangel an Pflichtgefühl und Hingebung, den sie dadurch an den Tag lege, daß sie sich von der eifersüchtigen Gesinnung ihrer Verwandten gegen den Gatten beeinflussen lasse. Madame Rigaud antwortete etwas derb, ich nicht minder. Madame Rigaud wurde warm, ich wurde gleichfalls warm und reizte sie. Ich gestehe es zu. Offenheit ist eine Seite meines Charakters. Endlich warf sich Madame Rigaud in einem Anfall von Wut, den ich ewig beklagen werde, mit leidenschaftlichem Geschrei auf mich, ohne Zweifel dasselbe Geschrei, das man in der Ferne gehört, zerriß meine Kleider, zerraufte mein Haar, zerkratzte mir die Hände, stampfte mit den Füßen, daß der Staub hoch aufflog, und sprang zuletzt über den Felsen hinab, wo sie sich an den Riffen unten zerschmetterte. Das ist die Kette von Ereignissen, durch die die Bosheit mich zuerst dazu gebracht, von Madame Rigaud das Aufgeben ihrer Rechte gebieterisch zu verlangen und, als sie darein zu willigen sich standhaft weigerte, handgemein mit ihr zu werden – sie zu ermorden!«

Er trat an den Fenstervorsprung, wo das Weinlaub noch herumlag, nahm zwei oder drei Blätter und wischte, mit dem Rücken gegen das Licht gekehrt, sich die Hände daran ab.

»Nun«, fragte er nach einer Pause, »habt Ihr auf alles das nichts zu sagen?«

»Es ist schändlich«, entgegnete der kleine Mann, der aufgestanden war und sein Messer an dem Schuh wetzte, während er sich mit einem Arm gegen die Wand stemmte. »Was soll das?«

Johann Baptist wetzte schweigend weiter.

»Glaubt Ihr, daß ich die Sachlage nicht streng nach der Wahrheit dargestellt?«

»Altro!« entgegnete Johann Baptist. Das Wort war diesmal eine Rechtfertigung und sollte soviel bedeuten als: »O, durchaus nicht.«

»Was denn?«

»Präsident und Tribunal haben gewöhnlich ihre vorgefaßte Meinung.«

»Wohlan!« rief der andere, nicht ohne Unruhe und mit einem Fluch den Zipfel seines Mantels über die Schulter werfend, »so mögen sie ihr Schlimmstes tun!«

»Das werden sie sicher auch«, murmelte Johann Baptist vor sich hin, während er sich bückte, um sein Messer in die Binde zu stecken.

Man sprach von keiner Seite mehr, obgleich beide auf und ab zu gehen begannen und sich natürlich bei jedem Umdrehen begegnen mußten. Monsieur Rigaud blieb bisweilen einen Augenblick stehen, als ob er seine Sache in ein neues Licht stellen oder eine gereizte Entgegnung machen wollte. Da aber Signor Cavaletto seinen Spaziergang in einem wunderlich aussehenden stoßweisen Trott gemächlich fortsetzte und die Augen beständig zu Boden senkte, so blieb es auf der andern Seite bei der Absicht.

Kurz darauf veranlaßte das Klirren eines Schlüssels im Schlosse, daß die beiden stehenblieben. Man hörte ein Geräusch von Stimmen und Tritten. Die Tür rasselte auf; die Stimmen und die Tritte kamen näher, und der Gefängniswärter stieg in Begleitung von einer Wache Soldaten die Treppe herauf.

»Nun, Monsieur Rigaud«, sagte er, indem er mit den Schlüsseln in der Hand vor dem Gitter stehenblieb, »haben Sie die Güte herauszukommen.«

»Ich soll, wie ich sehe, in feierlichem Zuge abgeholt werden?«

»Wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete der Gefängniswärter, »so dürften Sie in vielen Stücken Ihren Kerker verlassen, daß es schwer wäre, sie wieder zusammenzulesen. Draußen steht eine Volksmasse, Monsieur Rigaud, die Ihnen nicht besonders gewogen zu sein scheint.« Mit diesen Worten verschwand er und schloß und riegelte eine kleine Tür in der Ecke des Kerkers auf. »Nun kommen Sie«, sagte er, während er öffnete und eintrat.

Es gibt keine Art von Weiß zwischen allen Farben unter der Sonne, die im entferntesten Ähnlichkeit mit dem Weiß von Monsieur Rigauds Gesicht in diesem Augenblick gehabt. So gibt es auch entfernt keinen Ausdruck im menschlichen Antlitz, der diesem Ausdruck ähnlich gewesen, in dessen kleinstem Zug man das furchterfüllte Herz pochen sah. Man vergleicht beide gewöhnlich mit dem Tod. Aber der Unterschied ist so groß, wie die tiefe Kluft zwischen dem ausgerungenen Kampf und dem Streit in seiner verzweifeltsten Wut. Er zündete eine zweite Zigarette an der seines Mitgefangenen an, steckte sie zwischen die verbissenen Zähne, bedeckte den Kopf mit einem weichen, über die Augen hängenden Hut, warf den Zipfel seines Mantels wieder über die Schulter und trat auf die Seitengalerie hinaus, zu der die Tür führte, ohne weitere Notiz von Signor Cavaletto zu nehmen. Was den kleinen Mann selbst betrifft, so war sein ganzes Bestreben nur darauf gerichtet, der Tür nahe zu kommen und hinauszusehen. Ganz wie ein wildes Tier sich der geöffneten Tür seines Käfigs nähern und gierig nach der Freiheit draußen blicken würde, so verbrachte er die wenigen Augenblicke mit lauerndem Hinausschauen, bis die Tür sich vor ihm schloß.

Die Soldaten kommandierte ein Offizier, ein stämmiger, dienstgeübter und ungemein ruhiger Mann, der mit dem gezogenen Degen in der Hand eine Zigarre rauchte. Er befahl in kurzem Ton, daß Monsieur Rigaud in der Mitte der Soldaten gehe, stellte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an ihre Spitze, kommandierte »Marsch!«, und nun ging’s klirrend die Treppe hinunter. Die Tür fiel ins Schloß – der Schlüssel wurde umgedreht –, aber ein Strahl ungewohnten Lichtes und ein Hauch ungewohnter Luft schien den Kerker durchzogen zu haben und sich in den dünnen Rauchwölkchen der Zigarre zu verflüchtigen.

Der einsam zurückgelassene Gefangene war wie ein Tier niederer Art – wie ein ungeduldiger Affe oder ein gereizter Bär der kleineren Gattung – auf die Fensterbank des Gefängnisses gesprungen, um keinen Blick auf den Scheidenden zu verlieren. Wie er noch so dastand, das Gitter mit beiden Händen haltend, drang ein Aufruhr an sein Ohr. Heulen, Schreien, Fluchen, Drohungen, Verwünschungen, alles durcheinander gemischt, obgleich man (wie bei einem Sturm) nichts als ein wildes Brausen hören konnte.

Durch seine Gier, mehr zu erfahren, einem eingesperrten wilden Tier noch ähnlicher gemacht, sprang der Gefangene rasch herunter, lief in dem Kerker herum, faßte das Gitter und suchte daran zu rütteln; sprang dann wieder herunter, lief hin und her und horchte und ruhte nicht eher, bis das Geräusch, sich immer mehr entfernend, endlich erstarb. Wie manchem besseren Gefangenen ist sein edles Herz auf diese Weise gebrochen. Niemand dachte daran; nicht einmal die Geliebten ihrer Seele hatten volle Kunde davon; während große Könige und Statthalter, die sie gefangen hielten, heiter im Sonnenlichte umherfuhren und das Volk sich schmeichelnd um sie drängte. Diese großen Herren dagegen starben, ein erhabenes Beispiel, mit herrlichen Reden in ihrem Bette, und die höfliche Geschichte, die noch knechtischer als ihre Werkzeuge, balsamiert sie ein!

Johann Baptist, der nun imstande war, sich den geeignetsten Ort im Umkreis der vier Mauern zur Ausübung seines Talents, zu schlafen, wann er wollte, auszuwählen, legte sich, mit dem Gesicht auf den gekreuzten Armen ruhend, auf die Bank nieder und schlummerte ein, – in seiner Unterwürfigkeit, seinem leichten Blute, seinem guten Humor, seiner rasch wechselnden Leidenschaft, seiner Zufriedenheit mit hartem Brot und harten Steinen, seinem leichten Schlaf, seinem Aufbrausen und seinen Zornausbrüchen ein echter Sohn des Landes, das ihn geboren.

Das grelle Licht wurde endlich trübe, die Sonne ging in roter, grüner, goldener Pracht unter, die Sterne traten am Himmel hervor, und die Leuchtkäfer äfften sie in der niederen Atmosphäre nach, wie die Menschen in ihrer Schwäche die Güte einer bessern Klasse von Geschöpfen nachahmen. Die langen staubigen Wege und die endlosen Ebenen lagen ruhig da – und auf dem Meer herrschte so tiefe Stille, daß es kaum von der Stunde flüsterte, wo es seine Toten wieder herausgeben wird.

Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Der Vater des Marschallgefängnisses in zwei bis drei Beziehungen.

Die Brüder William und Frederick Dorrit boten, wenn sie im Gefängnishofe auf und ab gingen – natürlich auf der aristokratischen oder Brunnenseite, denn der Vater machte es zu einer Standesache, die Sonntagmorgen, Christfeiertage und andere festliche Anlässe ausgenommen, mit seinen Spaziergängen unter seinen Kindern auf der Armenseite sparsam zu sein, eine Observanz, in der er sehr pünktlich war, und bei welchen Gelegenheiten er seine Hände auf die Häupter seiner Kinder legte und diese jungen Zahlungsunfähigen mit einem Wohlwollen segnete, das höchst erbaulich war, – die Brüder, wenn sie so miteinander im Gefängnishofe auf und ab gingen, boten einen interessanten Anblick: Frederick, der Freie, war so demütig, gebeugt, zusammengeschrumpft und schlaff, William, der Gefangene, so vornehm, herablassend und wohlwollend selbstbewußt, daß die Brüder, wenn auch in keiner andern Hinsicht, in dieser allein schon ein merkwürdiges Schauspiel boten.

Sie gingen an dem Abend jener sonntäglichen Begegnung Klein-Dorrits mit ihrem Liebhaber auf der Iron Bridge auf dem Hofe miteinander auf und nieder. Die Staatsgeschäfte waren für diesen Tag erledigt, dem Empfangzimmer war vielfache Ehre zuteil geworden, mehrere Vorstellungen hatten stattgefunden; die drei Schillinge und sechs Pence, die zufällig auf dem Tische liegengeblieben, waren zufällig auf zwölf Schillinge angewachsen, und der Vater des Marschallgefängnisses erquickte sich an einer Zigarre. Wie er so auf und nieder ging, seinen Schritt nachgiebig zu dem Schlürfen seines Bruders verlangsamend, nicht stolz auf sein Übergewicht, sondern billig gegen dieses arme Geschöpf, nachsichtig gegen ihn und Geduld mit seinen Schwächen in jedem Paff Rauch ausatmend, der aus seinen Lippen ging und über die mit Eisenspitzen versehene Mauer emporzusteigen suchte – war er eine merkwürdige Erscheinung.

Sein Bruder Frederick mit dem matten Auge, der gelähmten Hand, der gebeugten Gestalt und dem tappenden Geiste schlürfte unterwürfig neben ihm her und nahm seine Gönnerschaft hin wie jedes andere Ereignis der labyrinthischen Welt, in der er verlorengegangen war. Er hielt wie gewöhnlich ein zerknittertes Stück bräunliches Papier in der Hand, aus dem er ab und zu eine kleine Prise Schnupftabak nahm. Hatte er diese mit Mühe herausgebracht, so sah er seinen Bruder nicht ohne Bewunderung an, legte die Hände auf den Rücken und schlürfte neben ihm her, bis er wieder eine Prise nahm oder stillestand, um sich umzusehen, – da er vielleicht plötzlich seine Klarinette vermißte.

Die Besucher des Gefängnisses verloren sich, als die Schatten der Nacht herabsanken, aber der Hof war noch immer hübsch voll, da die Gefangenen zumeist ihre Freunde bis zu dem Pförtnerstübchen begleiteten. Während die Brüder auf dem Hofe spazierten, 22? sah Wilhelm der Gefangene nach rechts und links, um Grüße zu empfangen, erwiderte sie, indem er freundlich seine Mütze lüftete, mit verbindlicher Miene seinen Bruder anhielt, daß er nicht auf die Leute hinaufhumpelte oder gegen die Wand gestoßen würde. Die Gefangenen, im ganzen genommen, waren nicht leicht für Eindrücke empfänglich, aber auch sie schienen je nach ihrer verschiedenen Art sich zu verwundern, die beiden Brüder so eigenartig verschieden zu sehen.

»Du bist heute abend etwas still, Frederick«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses. »Hast du etwas?«

»Ob ich etwas habe?« Er sah ihn einen Augenblick an, dann ließ er wieder Kopf und Augen sinken. »Nein, William, nein, ich habe nichts.«

»Wenn man nur imstande wäre, dich etwas aufzurütteln, Frederick –«

»Ach, ach!« sagte der alte Mann rasch. »Ich kann mal nicht anders sein. Ich kann’s nicht. Sprich nicht so. Das ist alles vorbei.«

Der Vater des Marschallgefängnisses sah einen vorübergehenden Kollegen, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, an, als wollte er sagen: »Ein schwacher, alter Mann, das; aber er ist mein Bruder, Herr, mein Bruder, und die Stimme der Natur ist mächtig!« und zog seinen Bruder an dem fadenscheinigen Ärmel von dem Schwengel der Pumpe, an den er zu stoßen im Begriff war, weg. Nichts hätte zur Vollendung seines Charakters als brüderlicher Führer, Philosoph und Freund gefehlt, wenn er nur seinen Bruder vom Ruin weggesteuert hätte, statt daß er ihn hineinführte.

»Ich denke, William«, sagte der Gegenstand seiner liebevollen Teilnahme, »ich bin müde und will nach Hause und zu Bett gehen.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte der Bruder. »Ich will dich nicht zurückhalten; opfere deine Neigungen nicht mir.«

»Späte Stunden und heiße Luft und vermutlich die Jahre«, sagte Frederick, »machen mich schwach.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses, »glaubst du auch vorsichtig genug zu sein? Hältst du deine Gewohnheiten für so präzis und methodisch wie – soll ich sagen – wie die meinen? Ohne wieder auf die kleine Sonderbarkeit zurückzukommen, die ich eben erwähnte, zweifle ich doch, daß du dir genug Bewegung in der freien Luft machst, Frederick. Dieser Platz steht dir ja immer zur Verfügung. Warum machst du nicht regelmäßig Gebrauch davon?«

»Ha!« seufzte der andere. »Ja, ja, ja, ja!»

»Das nützt nichts, ja, ja zu sagen, mein lieber Frederick», fuhr der Vater des Marschallgefängnisses in seiner milden Weisheit fort, »wenn du nicht in Übereinstimmung damit handelst. Betrachte mich, Frederick. Ich bin eine Art von Beispiel. Zeit und Not haben mich gelehrt, was zu tun. Zu bestimmten Stunden des Tages wirst du mich auf dem Spaziergang, in meinem Zimmer, im Pförtnerstübchen, bei der Zeitung, Gesellschaft empfangen, essen und trinken sehen. Ich habe Amy während vieler Jahre eingeprägt, daß ich mein Essen (zum Beispiel) pünktlich haben muß. Amy ist in dem Gefühl der Wichtigkeit dieser Anordnungen aufgewachsen, und du weißt, was für ein gutes Mädchen sie ist.«

Der Bruder seufzte bloß wieder, während er träumend und langsam fortschlotterte: »Ha! Ja, ja, ja ja!«

»Mein lieber Junge«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses, indem er die Hand auf seine Schulter legte und ihn sanft mitzog – sanft, wegen seiner Schwäche, die arme, gute Seele; »du sagtest das vorhin schon, und es will nicht viel heißen, Frederick, selbst wenn es viel ausdrücken soll. Ich möchte dich aufrütteln können, mein guter Frederick; du solltest aufgerüttelt werden.«

»Ja, William, ja. Ohne Zweifel«, versetzte der andere, indem er seine matten Augen erhob. »Aber ich bin nicht wie du.«

Der Vater des Marschallgefängnisses sagte mit einem Achselzucken bescheidener Selbstherabsetzung: »O, du könntest wie ich sein, Frederick; du könntest es sein, wenn du wolltest!« und unterließ es in der Großmut, die ihm seine Stärke einflößte, seinen gefallenen Bruder weiter zu drängen.«

Es war an den Ecken und Enden, wie gewöhnlich an den Sonntagabenden, ein fortwährendes Abschiednehmen; hier und dort in der Dunkelheit weinte eine arme Mutter, Frau oder ein Mädchen mit einem neuen Kollegen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo der Vater selbst in dem Schatten dieses Hofes geweint, als sein eigenes, armes Weib weinte. Aber es waren viele Jahre indes verflossen: und nun war er wie ein Passagier an Bord eines Schiffes auf weiter Fahrt, der sich von der Seekrankheit erholt und sich über die Schwäche der jüngeren Reisenden ärgert, die im letzten Hafen an Bord genommen wurden. Er hatte Lust gehabt, diesen Leuten Vorstellungen zu machen und ihnen seine Meinung zu sagen, daß Leute, die es nicht ohne Weinen tun können, hier nichts zu schaffen hätten. In seinem Benehmen, wenn auch nicht in Worten, gab er stets sein Mißfallen an diesen Unterbrechungen der allgemeinen Harmonie zu erkennen. Und man verstand ihn so gut, daß die Delinquenten sich immer davonmachten, wenn sie seiner gewahr wurden.

An diesem Sonntagabend begleitete er seinen Bruder mit dem Ausdruck der Duldung und Milde bis an das Tor; er war in sanfter Stimmung und gütig genug aufgelegt, um über die Tränen hinwegzusehen. In dem flackernden Gaslicht des Pförtnerstübchens sonnten sich mehrere Gefangene: einige von Besuchen Abschied nehmend, andere, die keine Besuche hatten, dem häufigen Umdrehen des Schlüssels zusehend und unter sich oder mit Mr. Chivery plaudernd. Das Eintreten des Vaters machte natürlich Aufsehen: und Mr. Chivery, mit seinem Schlüssel an den Hut greifend (wenn auch sehr kurz), sprach die Hoffnung aus, daß er sich erträglich wohl befinde. »Danke, Chivery, ganz wohl. Und Sie?« Mr. Chivery sagte leise murmelnd: »Oh! ihm gehe es ganz gut!« Was seine gewöhnliche Art war, wie er auf Fragen nach seinem Befinden antwortete, wenn er etwas mürrisch war.

»Ich hatte heute einen Besuch vom jungen John, Chivery. Er sah sehr geschniegelt aus, ich versichere Sie.«

Das hatte Mr. Chivery auch gehört. Mr. Chivery mußte jedoch gestehen, daß es sein Wunsch wäre, der Junge gäbe nicht so viel Geld dafür aus. Denn was brächte es ihm ein? Es bringe ihn nur in Kummer und Sorgen. Und das könne er überall umsonst haben.

»Was meinen Sie damit, Chivery?« fragte der wohlwollende Vater.

»Nichts Schlimmes«, versetzte Mr. Chivery. »Schon gut. Will Mr. Frederick schon fort?«

»Ja, Chivery, mein Bruder will nach Hause und zu Bett gehen. Er ist müde und nicht ganz wohl, nimm dich in acht, Frederick, nimm dich in acht. Gute Nacht, mein lieber Frederick!«

Seinem Bruder die Hand schüttelnd und seinen fetten Hut vor der Gesellschaft im Pförtnerstübchen leicht rückend, schob Frederick langsam zur Tür hinaus, die Mr. Chivery ihm öffnete. Der Vater des Marschallgefängnisses zeigte die liebenswürdige Besorgtheit eines höheren Wesens, daß ihm doch ja kein Unfall zustoßen möchte. »Haben Sie die Güte, die Tür einen Augenblick offen zu lassen, Chivery, damit ich ihn durch den Gang und die Treppe hinabgehen sehen kann. Nimm dich in acht, Frederick! (Er ist sehr schwach.) Vergiß die Stufen nicht. (Er ist so zerstreut.) Gib acht, wie du hinüberkommst, Frederick. (Ich möchte wirklich nicht wissen, welch weiten Weg er zu machen hat, er kann so leicht überrannt werden).«

Mit diesen Worten und mit einem Gesicht, in dem sich eine Menge banger Zweifel und ängstlicher Besorgnisse aussprachen, wandte er den Blick auf die im Pförtnerstübchen versammelte Gesellschaft, indem er so offen zu verstehen gab, daß sein Bruder zu bemitleiden, weil er nicht hinter Schloß und Riegel sei, daß die versammelten Kollegen im Kreise sich eine Bemerkung in dieser Richtung nicht verschweigen konnten.

Aber er stimmte ihnen nicht unbedingt bei, im Gegenteil, er sagte: Nein, Gentlemen, nein; sie sollten ihn nicht mißverstehen. Sein Bruder sei allerdings sehr gebrochen, und es würde für ihn (den Vater des Marschallgefängnisses) weit angenehmer sein, zu wissen, daß er innerhalb der Mauern in Sicherheit wäre. Aber man dürfe nicht vergessen, daß, wenn jemand es viele Jahre hier aushalten können soll, eine gewisse Verbindung von Eigenschaften – er sage nicht hohe Eigenschaften, aber Eigenschaften – moralische Eigenschaften nötig seien. Und habe sein Bruder diese eigentümliche Verbindung von Eigenschaften? »Gentlemen, er ist ein ausgezeichneter Mann, ein edler, feinfühlender und achtungswerter Mann mit der Einfachheit eines Kindes; aber würde er, obgleich für die meisten andern Orte untauglich, für diesen Ort passen? Nein«; er sage ihnen im Vertrauen, nein! Und er sagte: »Der Himmel verhüte, daß Frederick je in einem andern Charakter als in seinem jetzigen freiwilligen hier wäre! Gentlemen, wer in dieses Kollegium kommt, um hier lange zu bleiben, müßte einen starken Charakter haben, um sich in so vieles zu finden und aus so vielem wieder herauszufinden.« Sei sein geliebter Bruder dieser Mann? Nein. Sie sähen ihn, wie dem nun auch sei, gebeugt. Das Unglück habe ihn gebeugt, er habe nicht Schnellkraft genug, nicht Elastizität genug, um lange Zeit an einem solchen Orte zu sein und seine Selbstachtung zu bewahren und sich bewußt zu bleiben, daß er ein Gentleman sei. Frederick habe (wenn er den Ausdruck gebrauchen dürfe) nicht Kraft genug, in jeder zarten kleinen Aufmerksamkeit und – und – jedem Ehrengeschenk, das er unter solchen Umständen empfinge, die Güte der menschlichen Natur, den feinen Geist, der die Kollegen als eine Körperschaft belebe, und zu gleicher Zeit keine Herabwürdigung für sich und keine Herabsetzung seiner Ansprüche als Gentleman zu sehen. »Gentleman, Gott mit Euch!«

So lautete die Homilie, mit der er die Gesellschaft im Pförtnerstübchen erbaute und ihr die Sache deutete, ehe er in den schmutzigen Hof zurückging, um in seiner eigenen schäbigen Würde an dem Kollegen in dem Schlafrock, der keinen Rock hatte, und dem Kollegen in den Matrosenpantoffeln, der keine Schuhe hatte, und dem stolzen Obsthändler-Kollegen mit den kurzen baumwollenen Hosen, der keine Sorgen hatte, und dem mageren Schreiber von Kollegen in seinem knopflosen, schwarzen Rock, der keine Hoffnung hatte, vorüber sich nach seiner eigenen, armen, schäbigen Treppe, in sein eigenes, armes, schäbiges Zimmer zu begeben.

Dort war der Tisch für sein Nachtessen gedeckt, und sein alter, grauer Schlafrock lag auf der Stuhllehne am Feuer. Seine Tochter steckte ihr kleines Gebetbuch in ihre Tasche – hatte sie doch um Gnade für alle Gefangenen gebetet! – und stand auf, um ihn zu begrüßen.

Ob der Oheim schon heimgegangen? fragte sie ihn, als sie seinen Rock wechselte und ihm seine schwarze Samtmütze gab. Ja, der Oheim sei heimgegangen. Ob dem Vater der Spaziergang gut bekommen? – »Nein, nicht besonders, Amy: nicht besonders.« – Nein? Ob er sich nicht ganz wohl fühle?

Während sie so hinter ihm stand, liebevoll über den Stuhl herabgebeugt, sah er mit niedergeschlagenen Blicken in das Feuer. Eine Unbehaglichkeit beschlich ihn, wie ein Anflug von Scham; und als er sprach, wie es später der Fall war, geschah es in unzusammen hängender und verlegener Weise.

»Etwas, ich – hm! – ich weiß nicht was, ist dem Chivery begegnet. Er ist heute abend nicht – hm! – nicht ganz so höflich und aufmerksam wie sonst. Es ist – hm! – eine Kleinigkeit, aber es macht mich irre, mein liebes Kind. Es ist unmöglich zu vergessen«, fügte er hinzu, indem er die Hände beständig umeinander drehte und sie starr ansah, »daß – hm! – ich bei einem Leben, wie das meine, unglücklicherweise von Menschen wie diese den ganzen Tag wegen einer Kleinigkeit abhängig bin.«

Ihr Arm ruhte auf seiner Schulter, aber sie sah ihm nicht ins Gesicht, während er sprach. Sie beugte ihren Kopf und sah anderswohin.

»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, Amy, was Chivery beleidigt hat. Er ist im allgemeinen so – so ungemein aufmerksam und respektvoll. Und heute abend war er sehr – sehr kurz angebunden mit mir. Waren noch andere Leute da! Bei Gott im Himmel, wenn ich die Unterstützung und Achtung Chiverys und seiner Mitangestellten verlieren sollte, so möchte ich lieber sterben.«

Während er sprach, öffnete und schloß er seine Hände wie Klappen und war sich die ganze Zeit des Anflugs von Schamgefühl so bewußt, daß er vor seiner eigenen Kenntnis dessen, worauf er hindeutete, zurückbebte.

»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, was schuld daran. Ich weiß wirklich nicht, was die Ursache ist. Da war einmal ein gewisser Jackson hier, ein Schließer namens Jackson (ich glaube nicht, daß du dich seiner erinnern kannst, meine Liebe, du warst noch sehr jung), und – hm! – der hatte einen – Bruder, und dieser – jüngere Bruder machte der – nicht der Tochter – der Schwester eines von uns, eines ziemlich angesehenen Mitgefangenen, den Hof – das heißt – er betete sie an, betete sie aus ganzer Seele an; ich darf das wohl sagen. Sein Name war Kapitän Martin; er befragte mich über die Sache, ob etwa seine Tochter – Schwester – den Bruder des Schließers beleidigen würde, wenn sie gegen den andern Bruder zu – hm! – zu offen wäre. Kapitän Martin war ein Gentleman und ein Mann von Ehre, und ich bat ihn, mir zuerst seine – seine eigene Ansicht zu sagen. Kapitän Martin (der große Achtung in der Armee genoß) sagte ohne Zögern, es scheine ihm, daß seine – hm! – Schwester nicht verpflichtet sei, den jungen Mann zu deutlich zu verstehen, und daß sie ihn – ich weiß nicht mehr genau, wie Kapitän Martins Ausdruck lautete – ich glaube, er sagte, um ihres Vaters – wollte sagen Bruders – willen Hinhalten dürfe. Ich weiß nicht mehr recht, wie ich auf diese Geschichte gekommen bin. Ich glaube, es geschah, weil ich nicht weiß, wie ich mir Chiverys Benehmen erklären soll; aber wie die beiden Sachen zusammenhängen, sehe ich nicht ein.«

Seine Stimme erstarb, als ob sie die Pein, ihn zu hören, nicht ertragen könnte, und Amys Hand war nach und nach bis an seine Lippen gekommen. Für einen Augenblick trat Totenstille und tiefes Schweigen ein; er saß zusammengesunken in seinem Stuhl, und sie hielt den Arm um seinen Hals geschlungen und den Kopf auf seine Schulter herabgebeugt.

Sein Nachtessen kochte in einem Pfännchen über dem Feuer, und als Amy sich bewegte, geschah es, um es für ihn auf den Tisch zu setzen. Er nahm seinen gewöhnlichen Sitz, sie den ihren ein, und er begann sein Mahl. Sie sahen einander noch nicht an. Nach und nach wurde er ungeduldig, indem er Messer und Gabel geräuschvoll niederlegte, die Sachen laut aufnahm, auf sein Brot biß, als ob er beleidigt wäre, und auf ähnliche Weise andeutete, daß er verdrießlich sei. Endlich stieß er seinen Teller von sich und sprach laut und mit der seltsamsten Ungereimtheit:

»Was liegt daran, ob ich esse oder sterbe? Was liegt daran, ob ein vergeudetes Leben, wie das meine, jetzt oder die nächste Woche oder das nächste Jahr ein Ende nimmt? Was bin ich irgend jemand wert? Ein armer Gefangener, genährt von Almosen und Abhub; ein garstiger, widerwärtiger Tropf!«

»Vater, Vater!« Sie stand auf, rutschte auf den Knien zu ihm hin und streckte die Hände empor.

»Amy«, fuhr er mit gepreßter Stimme im heftigsten Zittern und sie so wild anblickend, als wäre er wahnsinnig geworden, fort: »Ich sage dir, wenn du mich sehen könntest, wie deine Mutter mich sah, du würdest nicht glauben, daß das der Mensch sei, den du nur durch das Gitter dieses Gefängnisses gesehen. Ich war jung, ich war feingebildet, ich war hübsch, ich war unabhängig – bei Gott, Kind, ich war es –, und die Leute suchten mich und beneideten mich. Beneideten mich!«

»Lieber Vater!« Sie suchte den zitternden Arm, der die Luft durchkreuzte, herabzuziehen, aber er widerstand und stieß ihre Hand zurück.

»Wenn ich nur ein Bild von mir aus jenen Tagen hätte, und wäre es auch noch so schlecht geraten, du würdest stolz darauf sein. Aber ich habe nichts dergleichen. Ich sollte eine Warnung sein. Kein Mann«, rief er und sah ganz verstört um sich, »sollte versäumen, wenigstens diese Kleinigkeit aus den Zeiten seines Glückes und der Achtung zu bewahren. Seine Kinder sollten diesen Schlüssel zu dem, was er war, haben. Wenn mein Gesicht nach meinem Tode nicht jenes lang verschwundene Aussehen wiedererhält – man sagt, ich weiß es nicht, das soll vorkommen –, so werden mich meine Kinder nie gesehen haben.«

»Vater, Vater!«

»O verachte mich, verachte mich! Sieh weg von mir, höre nicht auf mich, tue mir Einhalt, erröte um mich, weine um mich. Selbst du, Amy! Tue es, tue es! Ich tue es gegen mich selbst. Ich bin unempfindlich, ich bin zu tief gesunken, um mich sehr darob zu grämen.«

»Lieber Vater, geliebter Vater, Liebling meines Herzens!« Sie hing sich mit ihren Armen an ihn und vermochte ihn, daß er sich in seinen Stuhl setzte; dann ergriff sie den erhobenen Arm und suchte ihn um ihren Hals zu legen.

»Laß ihn hier liegen, Vater. Sieh mich an, Vater, küsse mich, Vater! Denke nur einen kleinen Augenblick an mich!«

Er fuhr aber in derselben wirren Weise fort, obgleich sein Ton nach und nach in ein trauriges Weinen überging.

»Und doch genieße ich einigen Respekt hier. Ich habe mich einigermaßen aufrechterhalten. Ich bin nicht ganz niedergebeugt. Geh hinaus und frage: wer ist die Hauptperson an diesem Ort? Und sie werden dir antworten, es ist dein Vater. Geh hinaus und frage: mit wem hat man nie seinen Spaß getrieben, und wer ist immer mit einer gewissen Zartheit behandelt worden? Sie werden sagen: dein Vater. Geh hinaus und frage: welches Leichenbegängnis (es wird hier stattfinden, ich weiß, es kann nirgend anderswo sein) mehr von sich sprechen machen und vielleicht größern Schmerz hervorrufen wird als irgendeines, das je zu jenem Tor hinausging? Sie werden sagen: das von deinem Vater. Gut denn. Amy! Amy! Ist dein Vater so allgemein verachtet? Kann ihn nichts retten? Wirst du ihn an nichts als seinen Ruin und sein Elend zu erinnern haben? Wirst du imstande sein, keine Liebe für ihn zu bewahren, wenn er, der arme Verstoßene, dahingegangen?«

Er brach in Tränen halb nebelhaften Mitleids mit sich selbst aus, und indem er zuletzt gestattete, daß sie ihn umarmte und sich um ihn mühte, ließ er sein weißes Haupt an ihrer Wange ruhen und weinte über sein Elend. Plötzlich änderte er den Gegenstand seiner Klagen, schlang seine Hände um sie, als sie ihn umarmte, und rief: Oh, Amy, mein mutterloses, verlorenes Kind! Oh, die schönen Tage, da er sie noch für ihn arbeiten und sich mühen gesehen! Dann kehrte er wieder zu sich zurück und sagte ihr in weichem Tone, wie weit mehr sie ihn geliebt, wenn sie ihn in seiner früheren Stellung gekannt, und wie er sie an einen Gentleman verheiratet hätte, der auf sie als seine Tochter stolz gewesen, und wie (wobei er wieder weinte) sie an seiner väterlichen Seite zum ersten Male mit ihrem eigenen Pferde ausgeritten wäre, und wie die Menge (wobei er im Grunde die Leute meinte, die ihm die zwölf Schillinge gegeben, die er in der Tasche hatte) ehrfurchtsvoll auf den staubigen Wegen nebenher gegangen sein würde.

So, bald prahlend, halb verzweifelnd, stets jedoch ein Gefangener, mit dem Gefängnismoder an sich und dem Gefängnisschmutz in sich, enthüllte er seinen herabgekommenen Zustand seinem liebevollen Kinde. Niemand sonst sah ihn so in allen Einzelheiten seiner Erniedrigung. Wenig kümmerte es die Kollegen, die in ihren Zimmern über seine letzte Anrede im Pförtnerstübchen lachten, was für ein ernstes Gemälde sie in ihrer dunklen Marschallgefängnisgalerie an jenem Sonntagabend hatten. Im klassischen Altertum lebte vielleicht einst eine Tochter, die ihrem Vater in seinem Gefängnisse reichte, was ihre Mutter ihr gereicht. Klein-Dorrit, obgleich von dem unheroischen modernen Stamm und eine bloße Engländerin, tat weit mehr, indem sie ihres Vaters zerstörtes Herz an ihrer unschuldigen Brust ausruhen ließ und eine Quelle der Liebe und Treue ihm zuführte, die niemals vertrocknete oder abnahm während all dieser Hungerjahre.

Sie beruhigte ihn; bat ihn um Verzeihung, wenn sie ungehorsam gewesen oder geschienen; sagte ihm, der Himmel weiß es, daß sie ihn nicht mehr ehren könnte, wenn er der Liebling des Glückes wäre und die ganze Welt ihm ihre Achtung zollte. Als seine Tränen getrocknet waren und er in seiner Gerührtheit nicht mehr weinte und von jenem Anfall von Scham befreit war und seine gewöhnliche Haltung wiedergewonnen, wärmte sie den Rest seines Abendessens noch einmal und freute sich, während sie neben ihm saß, daß er aß und trank. Denn jetzt saß er in seiner schwarzen Samtmütze und seinem alten, grauen Schlafrock wieder erhaben da und würde sich gegen jeden Kollegen, der hereingekommen, um sich seinen Rat zu erbitten, wie ein großer moralischer Lord Chesterfield oder Sittenzeremonienmeister des Marschallgefängnisses benommen haben.

Um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen, sprach sie mit ihm von seiner Garderobe; und er geruhte zu sagen, ja, diese Hemden, die sie ihm vorschlage, seien ganz annehmbar, denn die, die er habe, seien abgetragen und hätten, als fertig gekauft, nie getaugt. Da er gesprächig wurde und in gute Laune kam, richtete er ihre Aufmerksamkeit auf seinen Rock, der hinter der Tür hing, indem er bemerkte, daß der Vater des Ortes seinen Kindern, die ohnedies nachlässig gekleidet zu gehen geneigt seien, ein schlimmes Beispiel geben würde, wenn er mit offenen Ellbogen unter ihnen umherginge. Er scherzte sogar über die Absätze seiner Schuhe; wurde jedoch bezüglich seiner Krawatte ernst und bat sie, wenn sie es ermöglichen könnte, ihm eine neue zu kaufen.

Während er seine Zigarre im Frieden rauchte, machte sie sein Bett und brachte das kleine Zimmer für seine Nachtruhe in Ordnung. Da er bei der vorgerückten Stunde und infolge seiner Aufregung sehr müde war, erhob er sich aus seinem Stuhl, um sie zu segnen und ihr gute Nacht zu wünschen. Er hatte die ganze Zeit nicht einmal an ihr Kleid und ihre Schuhe oder irgend etwas, dessen sie sonst bedurfte, gedacht. Niemand auf Erden, außer sie selbst, konnte so gleichgültig gegen ihre Bedürfnisse sein.

Er küßte sie mehrmals mit den Worten: »Gott segne dich, mein liebes Kind. Gute Nacht, meine Liebe!«

Aber ihr edles Herz war so tief verwundet durch das, was sie von ihm gesehen, daß sie ihn nicht allein lassen wollte, damit er nicht wieder jammere und verzweifle. »Lieber Vater, ich bin nicht müde; ich will wiederkommen, wenn du im Bett bist, und mich zu dir setzen.«

Er fragte sie mit einem gewissen Ausdruck des Schutzes, ob sie sich einsam fühle?

»Ja, Vater.«

»Dann komme jedenfalls wieder, mein liebes Kind.«

»Ich werde sehr ruhig sein, Vater.«

»Denke nicht an mich, mein liebes Kind«, sagte er, indem er ihr seine freundliche Erlaubnis aus vollem Herzen gab. »Komme jedenfalls wieder.«

Er schien zu schlummern, als sie zurückkam, und sie schürte das herabgebrannte Feuer leise zusammen, damit sie ihn nicht aufwecke. Aber er hörte sie und fragte, wer es sei.

»Nur Amy, Vater.«

»Amy, mein Kind, komm hierher. Ich muß dir ein Wort sagen.«

Er erhob sich etwas in seinem niederen Bett, während sie neben ihm kniete, um ihr Gesicht in seine Nähe zu bringen, und legte seine Hand zwischen die ihren. Oh! Beide, der Privatvater und der Vater des Marschallgefängnisses, waren in diesem Augenblick lebendig in ihm.

»Mein liebes Kind, du hattest hier ein Leben voll Mühseligkeit. Keine Spielgenossen, keine Erholungen, manche Entbehrungen, fürchte ich.«

»Denke nicht daran, Vater. Ich tu‘ es auch nicht.«

»Du kennst meine Lage, Amy. Ich war nicht imstande, viel für dich zu tun; aber was ich zu tun imstande war, habe ich getan.«

»Ja, mein lieber Vater«, bestätigte sie, ihn küssend. »Ich weiß, ich weiß.«

»Ich bin im dreiundzwanzigsten Jahre hier«, sagte er, mit einem Ausdruck in seinem Ton, der nicht so sehr ein Seufzer als vielmehr ein ununterdrückbares Gefühl des Eigenlobes, der augenblickliche Ausbruch edlen Selbstbewußtseins war. »Alles, was ich für meine Kinder tun konnte, habe ich getan. Amy, meine Liebe, du bist bei weitem die, die ich von allen drei am meisten liebe; ich trug dich vor allen in meinem Herzen, und was ich für dich getan, mein liebes Kind, habe ich gern und ohne Murren getan.«

Nur die Weisheit, die den Schlüssel zu allen Herzen und Geheimnissen hat, kann genau wissen, wie weit ein Mann, und besonders ein Mann, der so herabgekommen wie dieser, sich selbst belügen kann. Genug für den Augenblick, daß er mit nassen Wimpern, heiter, in majestätischer Weise sich niederlegte, nachdem er sein herabgekommenes Leben als eine Art Erbteil auf das liebevolle Kind übertragen, auf das sein Elend so schwer gefallen und dessen Liebe ihn allein so weit gerettet, daß er war, was er war.

Das Kind hatte keine Zweifel, richtete keine Fragen an sich selbst, denn es war nur zu zufrieden, ihn mit einem Glanz um sein Haupt zu sehen. »Armer, lieber, guter Vater, bester, teuerster Vater«, waren die einzigen Worte, die sie für ihn hatte, als sie ihn in den Schlaf bringen wollte.

Sie verließ ihn die ganze Rächt nicht mehr. Als ob sie ihm ein Unrecht getan, das ihre Zärtlichkeit kaum wieder gutmachen könnte, saß sie bei ihm, während er schlief, und küßte ihn bisweilen mit zurückgehaltenem Atem und flüsterte einen liebkosenden Namen. Bisweilen ging sie zur Seite, um nicht das herabgebrannte Feuer aufzufangen, und hätte gern gewußt, wenn sie ihn beobachtete und das Licht auf sein schlafendes Gesicht fiel, ob er wohl so ausgesehen, als er glücklich und in guten Umständen gewesen; da er sie so sehr gerührt, als er sich einbildete, daß er noch einmal in jener schrecklichen Zeit so aussehen würde. Bei dem Gedanken an jene Zeit kniete sie wieder neben seinem Bett nieder und betete: »Oh, erhalte sein Leben! Oh, erhalte ihn mir! Oh, sieh herab auf meinen teuren, lang duldenden, unglücklichen, viel veränderten, teuren, teuren Vater!«

Erst als der Morgen kam, ihn zu schützen und zu ermutigen, gab sie ihm einen letzten Kuß und verließ das kleine Zimmer. Als sie sich die Treppen und über den leeren Hof hinabgestohlen und nach ihrer eigenen hohen Dachstube hinaufgekrochen, konnte man die rauchlosen Häusergiebel und die fernen Landhügel über der Mauer in dem klaren Morgenlicht unterscheiden. Als sie sanft das Fenster öffnete und nach Osten über den Gefängnishof hinblickte, waren die Spitzen auf den Mauern rot gefärbt und bildeten plötzlich ein purpurnes Muster auf der Sonne, als sie am Himmel emporflammte. Die Eisenspitzen hatten nie so scharf und grausam ausgesehen, noch die Riegel so schwer, noch der Gefängnisraum so düster und eng. Sie dachte an den Sonnenaufgang über rauschenden Strömen, an den Sonnenaufgang über großen Wäldern, wo die Vögel erwachten und die Bäume flüsterten; und sie sah hinab in das lebendige Grab, über dem die Sonne aufgegangen, das Grab, in dem ihr Vater seit dreiundzwanzig Jahren lebte, und sagte mit einem Ausbruch von Kummer und Mitleid: »Nein, nein, ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen!«

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Die Gesellschaft.

Wenn der junge John Chivery die Neigung und das Talent besessen, eine Satire mit Familienstolz zu schreiben, er hätte, um ein treffendes Beispiel zu finden, nicht nötig gehabt, aus der Familie seiner Geliebten hinauszugehen. Er hätte solche reichlich in dem hochfahrenden Bruder und der feinen Schwester gefunden, die so tiefgetaucht in gemeine Erfahrungen und so hochmütig auf ihren Familiennamen waren; so bereit, von dem Ärmsten zu betteln und zu borgen, von jedermanns Brot zu essen, jedermanns Geld zu vergeuden, aus jedermanns Glas zu trinken und es nachher zu zerbrechen. Wenn er die schmutzigen Tatsachen ihres Lebens geschildert und sie gezeichnet, wie sie beständig die Erscheinung des Gespenstes ihres Familienadels beschworen, um ihre Wohltäter zu schrecken, – der junge John wäre ein Satiriker vom reinsten Wasser geworden.

Tip hatte seiner Freiheit eine hoffnungsvolle Richtung gegeben, indem er Billardmarkör wurde. Er hatte sich so wenig darum gekümmert, wie und durch wen er befreit worden, daß Clennam kaum nötig gehabt, sich die Mühe zu geben, das Gedächtnis von Mr. Plornish in dieser Richtung zu beschweren. Wer auch immer ihm das Geschenk gemacht, er nahm es bereitwilligst an, ließ ihm dafür sein Kompliment machen, und damit war die Sache abgetan. So leichten Kaufs aus dem Gefängnis befreit, wurde er Billardmarkör und zog nun zuweilen in einem grünen Newmarketrock (aus zweiter Hand), mit einem glänzenden Kragen und blanken Knöpfen (neu), in die kleine Kegelbahn und trank das Bier der Kollegen.

Ein fester, stabiler Punkt in dem lockern Wesen dieses Charakters war, daß er seine Schwester Amy achtete und bewunderte. Dieses Gefühl hatte ihn zwar nie veranlaßt, ihr auch nur einen verdrießlichen Moment zu ersparen oder sich irgendeinen Zwang anzutun und sich irgendeine Mühe aufzuerlegen; aber mit diesem Marschallgefängnisfleck auf seiner Liebe, liebte er sie. Derselbe starke Marschallgefängnisgeruch ließ sich in der Art erkennen, wie er deutlich sah, daß sie ihr Leben für ihren Vater opferte und dabei gar nicht daran dachte, daß sie irgend etwas für ihn getan.

Wann dieser lebhafte junge Mann und seine Schwester begonnen, das Familienehrenskelett systematisch zusammenzusetzen, um die Kollegen zu schrecken, kann diese Erzählung nicht genau angeben. Wahrscheinlich ungefähr zu der Zeit, als sie auf Kosten der Wohltätigkeit des Kollegiums zu Mittag zu essen begannen. Soviel ist sicher, daß, je reduzierter und bedürftiger sie waren, desto pomphafter das Skelett aus seinem Grabe stieg und daß, wenn irgend etwas besonders Schäbiges im Anzug war, das Skelett immer mit dem geisterhaftesten Glanz zum Vorschein kam.

Es war für Klein-Dorrit an jenem Montagmorgen spät geworden, denn ihr Vater schlief lange, und dann war sein Frühstück zu bereiten und sein Zimmer herzurichten. Sie war jedoch heute nicht zum Nähen bestellt und blieb deshalb bei ihm, bis sie mit Maggys Hilfe alles in Ordnung gebracht und ihn seinen Morgenspaziergang (von ungefähr zwanzig Schritt) nach dem Kaffeehaus hatte antreten sehen, wo er die Zeitungen las. Dann nahm sie ihren Hut und ging aus; sie wäre gern viel früher ausgegangen. Es trat wie gewöhnlich eine Unterbrechung in dem Geplauder des Pförtnerstübchens ein, als sie durch dasselbe ging, und ein Gefangener, der am Samstagabend hereingekommen war, wurde von dem Ellbogen eines schon länger Sitzenden angestoßen: »Sehen Sie! Das ist sie!«

Sie wollte ihre Schwester besuchen; als sie jedoch nach Mr. Cripples‘ Haus kam, hörte sie, daß ihre Schwester und ihr Onkel in das Theater gegangen waren, wo sie engagiert waren. Nachdem sie einen Augenblick über diese Wahrscheinlichkeit nachgesonnen und sich entschlossen, ihnen in diesem Falle zu folgen, begab sie sich raschen Schrittes nach dem Theater, das diesseits des Flusses und nicht weit entfernt war.

Klein-Dorrit war der Theaterwege so unkundig wie der Goldminenwege, und als sie nach einer Art geheimer Tür gewiesen wurde, die so seltsam aussah, als stünde sie die ganze Nacht offen, und sich vor sich selbst zu schämen und sich in einem Gang zu verbergen schien, zögerte sie, sich zu nähern, da sie überdies noch weiter durch den Anblick von einem halben Dutzend kahl rasierter Herren zurückgeschreckt wurde, die die Hüte seltsam aufhatten und, wie sie so um die Tür her lungerten, den Gefangenen des Marshalsea gar nicht unähnlich waren. Als sie sich, durch diese Ähnlichkeit ermutigt, um Auskunft wegen Miß Dorrit an sie wandte, machten sie ihr Platz, und sie trat in einen dunklen Gang – der einer großen mürrischen Lampe glich, die ausgegangen zu sein schien –, wo sie in der Entfernung Musik und das Geräusch von tanzenden Füßen hören konnte. Ein Mann, der so sehr der frischen Luft entbehrte, daß er mit einem blauen Moder überlaufen war, bewachte diesen dunklen Ort von einem Loch in einer Ecke aus wie eine Spinne; und er sagte ihr, daß er die erste Dame oder den ersten Herrn, die hier vorüberkämen, zu Miß Dorrit schicken wolle. Die erste Dame, die hier vorüberkam, trug eine Musikrolle, die halb in ihrem Muff versteckt war, halb heraussah und in so gänzlich zerknittertem Zustande war, daß man ihr ohne Zweifel eine Freundlichkeit erwiesen, wenn man sie ausgebügelt hätte. Da die Dame jedoch sehr gutmütig war, sagte sie: »Kommen Sie mit mir: ich werde Miß Dorrit gleich für Sie gefunden haben«, und so ging Miß Dorrits Schwester mit ihr, und sie kamen mit jedem Schritt in der Dunkelheit dem Klang der Musik und dem Geräusch der tanzenden Füße immer näher.

Endlich kamen sie in einen Nebel von Staub, wo eine Menge Menschen sich durcheinander tummelten und ein solcher Wirrwarr sonderbarer Gestalten von Balken, Bretterverschlägen, Backsteinmauern, Stricken und Walzen war und solch eine Mischung von Gaslicht und Tageslicht herrschte, daß sie auf die verkehrte Seite des Weltmusters gekommen zu sein schienen. Klein-Dorrit, die sich wieder allein sah und jeden Augenblick von jemandem gestoßen wurde, war ganz verwirrt, als sie die Stimme ihrer Schwester hörte.

»Ei du mein Gott, Amy, was führt dich hierher?«

»Ich wollte dich sprechen, liebe Fanny; und da ich morgen den ganzen Tag aus bin und wußte, daß du heute den ganzen Tag beschäftigt sein würdest, so dacht‘ ich –«

»Aber die Idee, Amy, daß du hierherkommst! Ich hätte mir’s nicht einfallen lassen!« Während ihre Schwester dies in keinem sehr herzlichen Willkommenston sagte, führte sie sie nach einem freieren Platze, wo verschiedene vergoldete Stühle und Tische durcheinander gehäuft waren und wo eine Anzahl junger Damen plaudernd auf allem saßen, was sie gerade finden konnten. All diese Damen hätten das Ausbügeln brauchen können, und alle hatten eine eigentümliche Art, überall herumzusehen, während sie plauderten.

Gerade als die Schwestern an diesen Platz kamen, bog ein Junge in einer schottischen Mütze seinen Kopf um einen Balken zur Linken und sagte: »Weniger laut, meine Damen!« und verschwand. Gleich darauf sah ein lustiger Herr mit einer Masse langer, schwarzer Haare um einen Balken zur Rechten und sagte: »Weniger laut, liebe Kinder!« und verschwand gleichfalls.

»Dich unter meinen Kollegen hier zu sehen, Amy, ist wahrhaftig, was ich mir zuletzt hätte einfallen lassen«, sagte ihre Schwester. »Wie kamst du denn nur hierher?«

»Ich weiß nicht. Die Dame, die dir sagte, daß ich hier sei, war so gut, mich hereinzuführen.«

»Ja, ihr kleinen, stillen Geschöpfe, ihr könnt überall durchkommen, glaube ich. Mir wär’s nicht gelungen, Amy, obgleich ich weit mehr von der Welt weiß.«

Es war die Gewohnheit der Familie, es als ein Familiengesetz zu betrachten, daß Amy ein einfaches, häusliches Geschöpf, aber ohne die großen und klugen Erfahrungen der übrigen sei. Diese Familienfiktion bestimmte die Ansicht der Familie von ihren Diensten. Nicht zuviel aus ihnen zu machen, war die Taktik.

»Nun, und was ist dir eingefallen, Amy? Natürlich ist dir etwas durch den Kopf gegangen, was mich betrifft?« sagte Fanny. Sie sprach, als ob ihre Schwester, die zwei bis drei Jahre jünger war als sie, ihre in Vorurteilen befangene Großmutter wäre.

»Es ist nicht viel; aber seit du mir von der Dame gesagt, die dir das Armband gab, Fanny –«

Der Junge steckte seinen Kopf um eine Kulisse zur Linken und sagte: »Passen Sie auf, meine Damen!« und verschwand. Der lustige Herr mit dem schwarzen Haar steckte alsbald auch den Kopf hinter die Kulisse zur Rechten und sagte: »Passen Sie auf, meine Kinder!« und verschwand gleichfalls.

Alle die jungen Damen standen auf und begannen ihre Röcke hinten auszuschütteln.

»Nun, Amy«, sagte Fanny, indem sie dem Beispiel der übrigen folgte, »was wolltest du sagen?«

»Seit du mir erzählt, eine Dame habe dir das Armband gegeben, das du mir gezeigt, Fanny, bin ich nicht mehr ganz ruhig deinetwegen und möchte wirklich etwas mehr wissen, wenn du mir mehr anvertrauen willst.«

»Jetzt, meine Damen!« sagte der Junge mit der schottischen Mütze. »Jetzt, meine Kinder!« sagte der Herr mit dem schwarzen Haar. In einem Augenblick waren sie alle verschwunden, und man hörte wieder die Musik und die tanzenden Füße.

Durch diese Unterbrechungen ganz schwindlig gemacht, setzte sich Klein-Dorrit auf einen goldenen Stuhl. Ihre Schwester und die übrigen blieben lange fort; und während ihrer Abwesenheit rief eine Stimme (es schien die des Herrn mit dem schwarzen Haar zu sein) beständig durch die Musik: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts! – Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts! – Takt halten, Kinder! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts!« Zuletzt schwieg die Stimme, und sie kamen alle wieder, mehr oder weniger außer Atem, sich in ihre Schals hüllend und sich für die Straße zurechtmachend. »Warte ein wenig, Amy, und lasse sie vorher weggehen«, flüsterte Fanny. Sie waren bald allein; es geschah in der Zwischenzeit nichts Wichtiges, als daß der Junge um seine alte Kulisse sah und sagte: »Alle pünktlich morgen um elf Uhr, meine Damen!« und daß der Herr mit dem schwarzen Haar um seine alte Kulisse sah und sagte: »Alle pünktlich morgen um elf Uhr, meine Kinder!« – Jeder tat es nach seiner gewöhnlichen Art.

Als sie allein waren, wurde etwas weggewälzt oder auf andere Weise aus dem Weg geschafft, und es war ein großer, leerer Brunnen vor ihnen, in dessen Tiefen Fanny hinabsah und rief: »Nun, Onkel!« Als Klein-Dorrits Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren, gewahrte sie die Umrisse desselben in der Tiefe des Loches in einer dunklen Ecke. Er hielt sein Instrument in der zerrissenen Kapsel unter dem Arm.

Der alte Mann sah aus, als ob die entfernten, hohen Galeriefenster mit ihrem kleinen Streifen Himmel die Höhe seiner bessern Tage gewesen, von der er herabgestiegen, bis er zuletzt in diesen Abgrund gesunken. Er war seit vielen Jahren wöchentlich sechs Abende an diesem Ort; man hatte jedoch nie beobachtet, daß er seine Blicke über die Noten erhoben, und man war der festen Überzeugung, daß er nie ein Stück gesehen. Es ging sogar die Sage an diesem Ort, daß er die populärsten Helden und Heldinnen nicht mal von Ansehen kenne, und daß der Komiker um einer Wette willen ihn fünfzig Abende lang auf das beste persifliert, ohne daß er auch nur das geringste davon gemerkt. Die Zimmerleute behaupteten im Scherze, er sei tot, ohne daß er es wisse, und die Besucher des Parterres glaubten, er bringe sein ganzes Leben, Tag und Nacht und Sonntag und alle Zeit, im Orchester zu. Sie hatten ihm mehrmals Prisen über die Brustlehne hinüber angeboten, und er hatte diese Aufmerksamkeit immer mit einem momentanen Erwachen erwidert, in dem das blasse Phantom des Gentlemans zur Erscheinung kam; über dies hinaus hatte er niemals irgendwelchen Anteil an dem, was vorging, soweit es nicht in der für die Klarinette ausgeschriebenen Stimme stand; im Privatleben, wo es keine Klarinettstimme gab, nahm er überhaupt keinen Anteil an etwas. Einige sagten, er sei arm, andere, er sei ein reicher Geizhals, er aber sagte nichts, hob niemals seinen gebückten Kopf und änderte auch seinen schlürfenden Gang nicht, indem er seinen unelastischen Fuß vom Boden etwa aufgehoben. Obgleich er in diesem Augenblick erwartete, daß ihn seine Nichte rufen werde, hörte er doch nicht, bis sie drei- oder viermal gesprochen; auch war er nicht im geringsten überrascht, als er zwei Nichten statt einer fand, sondern sagte nur mit seinem tremulierenden Tone: »Ich komme, ich komme!« und kroch durch einen unterirdischen Gang, der einen Kellergeruch verbreitete, herauf.

»So, Amy«, sagte ihre Schwester, als die drei zusammen fortgingen, an der Tür, die ein so verschämtes Bewußtsein ihrer Verschiedenheit von andern Türen hatte, während der Onkel unwillkürlich Amys Arm als denjenigen nahm, auf den man sich stützen konnte; »so, Amy, du möchtest also mehr von mir wissen?«

Sie war hübsch und selbstbewußt und ziemlich aufgeblasen; und die Herablassung, mit der sie das Übergewicht ihrer Reize und ihrer Welterfahrung beiseite setzte und sich mit ihrer Schwester beinahe auf eine Stufe stellte, hatte viel von dem Wesen der Familie an sich.

»Fanny, ich interessiere mich für alles, was dich betrifft, und bin auch dabei beteiligt.«

»Allerdings, allerdings, und du bist die beste Amy. Wenn ich je etwas hoch hinaus will, so wirst du sicher einsehen, was es heißt, meine Stellung einzunehmen und das Bewußtsein zu besitzen, über sie erhaben zu sein. Ich würde mich nicht darum kümmern«, sagte die Tochter des Vaters des Marschallgefängnisses, »wenn die andern nicht so gemein wären. Keine von ihnen ist wie wir in der Welt heruntergekommen. Sie stehen alle auf ihrer Höhe. Gemeines Volk.«

Klein-Dorrit sah die Sprecherin freundlich an, unterbrach sie jedoch nicht. Fanny nahm ihr Taschentuch heraus und wischte sich ziemlich ärgerlich die Augen. »Du weißt, ich bin nicht geboren worden, Amy, wo du geboren wurdest, und vielleicht macht das einen Unterschied. Mein liebes Kind, wenn wir den Onkel los sind, werde ich dir alles sagen. Wir wollen ihn bei der Garküche absetzen, wo er zu Mittag speist.«

Sie gingen mit ihm weiter, bis sie an ein schmutziges Ladenfenster in einer schmutzigen Straße kamen, das durch den Dampf der heißen Fleischspeisen, Gemüse und Puddings beinahe undurchsichtig geworden. Aber man sah doch noch einen Schein von gebratenem Schweinsschlegel, der in einer metallenen Schüssel voll Fettbrühe vor lauter Salbei und Zwiebel Tränen weinte, einen Schein von einem fetten Roastbeef und blasigem Yorkshirepudding, der heiß in einem ähnlichen Gefäße glänzte, einen Schein von einem gefüllten Kalbsfilet, das hastig angeschnitten worden, von einem Schinken, der durch den Schritt, in dem er dem Garwerden entgegenging, transpirierte, von einem flachen Gefäß mit gebratenen Kartoffeln, die durch ihre eigene Üppigkeit zusammenhielten, von einem oder zwei Bündeln gekochter Küchenkräuter und andern substanziellen Delikatessen. Drinnen waren einige hölzerne Abteilungen, hinter denen solche Kunden, die es bequemer fanden, ihr Essen im Magen, statt in den Händen mitzunehmen, ihre Einkäufe in der Stille einpackten. Fanny öffnete, während sie die Sachen übersah, ihren Ridikül, brachte aus diesem Behälter einen Schilling hervor und gab ihn dem Onkel. Der Onkel, der sich das Erhaltene einen Augenblick ansah, ahnte, was es sei, und verschwand langsam mit den Worten: »Mittagessen? Hm? Ja, ja, ja!« in dem Nebel.

»Jetzt, Amy«, sagte ihre Schwester, »komm‘ mit mir, wenn du nicht zu müde bist, um nach Harley Street, Cavendish Square zu gehen.«

Die Miene, mit der sie diese vornehme Adresse nannte, und die Art, wie sie ihren neuen Hut zurückwarf, der mehr durchsichtig als nützlich war, ließ ihre Schwester staunen; sie sprach jedoch ihre Bereitwilligkeit aus, nach Harley Street zu gehen, und sie richteten ihre Schritte dahin. Als sie an diesen großartigen Bestimmungsort gekommen waren, bezeichnete Fanny das schönste Haus und fragte, nachdem sie an die Tür gepocht, nach Mrs. Merdle. Der Bediente, der die Tür öffnete, obwohl er Puder auf dem Kopfe hatte und zwei andere gleichfalls gepuderte Bediente ihm den Rücken deckten, bestätigte nicht nur, daß Mrs. Merdle zu Hause sei, sondern bat Fanny, einzutreten. Fanny trat ein und nahm ihre Schwester mit sich; sie gingen die Treppe hinauf, Puder vorn und Puder hinten, und wurden in ein halbrundes, geräumiges Empfangszimmer, eins von den vielen Empfangszimmern geführt, wo sich ein Papagei außen an einem goldenen Käfig befand, der sich mit seinem Schnabel, die schaligen Füße in der Luft, daran festhielt und sich in allerlei seltsame Stellungen brachte, bei denen immer der Rücken unten war. Diese Eigentümlichkeit hat man auch bei Vögeln von ganz anderem Gefieder bemerkt, die an goldenen Drahtstäben hinaufklettern.

Das Zimmer war prachtvoller als alles, was Klein-Dorrit sich je vorgestellt hatte, und würde jedem glänzend und kostbar erschienen sein. Sie sah ihre Schwester erstaunt an und würde eine Frage an sie gerichtet haben, wenn Fanny nicht mit warnender Stirn nach einer Portiere gedeutet, die in ein anderes Zimmer führte. Der Vorhang bewegte sich im nächsten Augenblick, und eine Dame, die ihn mit reich beringter Hand auseinanderhob, ließ ihn wieder hinter sich fallen, als sie eingetreten war. Die Dame war nicht jung und frisch von der Hand der Natur, aber war jung und frisch von der Hand ihrer Kammerjungfer. Sie hatte große, gefühllose, schöne Augen und dunkles, gefühlloses, schönes Haar und einen breiten, gefühllosen, schönen Busen und war in allen diesen Einzelheiten aufs effektvollste herausstaffiert. Sei es nun, daß sie sich erkältet oder weil es ihr gut stand, sie trug eine reiche, weiße Binde über ihren Kopf und unter ihrem Kinn zusammengebunden. Und wenn es je ein gefühlloses, schönes Kinn gab, das aussah, als ob es gewiß nie in vertraulichem Umgang von der Hand eines Mannes geliebkost worden, war es das Kinn, das durch diesen Spitzenzaum so fest und scharf aufgezäunt war.

»Mrs. Merdle«, sagte Fanny. »Meine Schwester, Ma’am.«

»Ich freue mich, Ihre Schwester zu sehen, Miß Dorrit. Ich erinnere mich nicht, daß Sie eine Schwester haben.«

»Ich habe es Ihnen noch nicht gesagt«, erwiderte Fanny.

»Ah!« Mrs. Merdle krümmte den kleinen Finger ihrer linken Hand, als wollte sie damit sagen: »Ich habe sie ertappt. Ich wußte es wohl, daß Sie’s nicht sagten!« All ihre Gesten verrichtete gewöhnlich ihre linke Hand, weil ihre Hände kein Paar waren; die linke war weit die weißere und vollere von den beiden. Dann fügte sie hinzu: »Setzen Sie sich« und ließ sich selbst mit einer gewissen Üppigkeit in einem Nest von scharlachroten und goldenen Kissen auf einer Ottomane in der Nähe des Papageis nieder.

»Gleichfalls beim Theater« sagte Mrs. Merdle und betrachtete Klein-Dorrit durch das Augenglas.

Fanny antwortete: »Nein.«

»Nein«, sagte Mrs. Merdle, ihr Augenglas fallen lassend, »hat kein theatralisches Aussehen. Sehr angenehm, aber nicht theatralisch.«

»Meine Schwester, Ma’am«, sagte Fanny, in deren Ton eine eigentümliche Mischung von Ehrerbietung und Kühnheit war, »hat mich gebeten, ihr zu sagen, wie sich’s unter Schwestern geziemt, auf welche Art ich zu der Ehre Ihrer Bekanntschaft kam. Und da ich mich verpflichtet hatte, Sie wieder zu besuchen, so glaubte ich mir die Freiheit nehmen zu dürfen, sie mitzubringen, damit Sie’s ihr vielleicht selbst sagen. Ich wünsche, daß sie es weiß, und vielleicht sagen Sie es ihr.«

»Denken Sie, in Ihrer Schwester Alter –-« warnte Mrs. Merdle.

»Sie ist weit älter, als sie aussieht«, sagte Fanny, »beinahe so alt wie ich.«

»Die Gesellschaft«, sagte Mrs. Merdle mit einer zweiten Krümmung des kleinen Fingers, »ist so schwierig, jungen Leuten zu erklären (sie ist wirklich den meisten Menschen schwer zu erklären), daß ich froh bin, das zu hören. Ich wünschte, die Gesellschaft wäre nicht so willkürlich, so anspruchsvoll, – Vogel, sei ruhig!«

Der Papagei hatte einen sehr grellen Schrei ausgestoßen, als wenn er Gesellschaft hieße und sein Recht zu den Ansprüchen behauptete.

»Aber«, fuhr Mrs. Merdle fort, »wir müssen sie nehmen, wie wir sie finden. Wir wissen wohl, sie ist hohl und konventionell, weltlich und sehr anstößig, aber wenn wir nicht Wilde an den tropischen Meeren sind (ich wäre mit Vergnügen eine solche Wilde – ein entzückendes Leben und herrliches Klima, wie man mir sagt –), so müssen wir sie berücksichtigen. Es ist das allgemeine Los. Mr. Merdle ist ein Kaufmann mit großen Verbindungen, seine Geschäfte werden im großartigsten Maßstab betrieben, sein Reichtum und sein Einfluß sind sehr bedeutend, aber selbst er – Vogel, sei still!«

Der Papagei hatte wieder geschrien, und er vollendete die Phrase so ausdrucksvoll, daß Mrs. Merdle nicht nötig hatte, sie zu beendigen.

»Da Ihre Schwester bittet, ich möchte unsere persönliche Bekanntschaft näher erklären«, begann sie wieder und wandte sich an Klein-Dorrit, »indem ich die Umstände erzähle, die sehr zu Ihrem Vorteil sprechen, so kann ich allerdings nicht umhin, ihrem Wunsche zu entsprechen. Ich habe einen Sohn (ich wurde das erstemal außerordentlich früh verheiratet) von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren.«

Fanny biß die Lippen aufeinander, und ihre Augen sahen halb triumphierend auf ihre Schwester.

»Einen Sohn von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Er ist ein wenig lustig, etwas, woran die Gesellschaft bei jungen Männern gewöhnt ist, und gefühlvoll. Vielleicht hat er dieses Unglück geerbt. Ich bin selbst sehr gefühlvoller Natur. Ein außerordentlich weiches Geschöpf. Ich bin gleich gerührt.«

Sie sagte dies und alles andere so kalt wie eine Frau von Schnee; auch schien sie die Anwesenheit der Schwestern, wenige Augenblicke ausgenommen, ganz zu vergessen und ihre Worte an eine Abstraktion von Gesellschaft zu richten. Um dieser Abstraktion willen ordnete sie zuweilen ihr Kleid oder gab sich eine andre Stellung auf der Ottomane.

»Wie gesagt, er ist sehr gefühlvoll. Im Naturzustande wäre das, glaube ich, kein Unglück, aber wir sind nicht mehr im Naturzustande. Es ist das ohne Zweifel sehr zu bedauern, namentlich meinerseits, da ich ein Naturkind bin, wenn ich es nur zeigen könnte, aber so ist es nun einmal. Die Gesellschaft unterdrückt und beherrscht uns – Vogel, sei ruhig!«

Der Vogel war in ein heftiges Gelächter ausgebrochen, nachdem er mehrere Stäbe seines Käfigs mit seinem krummen Schnabel verdreht und mit seiner schwarzen Zunge beleckt hatte.

»Es ist völlig unnötig, einer Person von Ihrer Einsicht, Ihrer Erfahrung und Feinfühligkeit«, sagte Mrs. Merdle, aus ihrem Neste aus Scharlach und Gold – und setzte dabei ihr Glas wieder an die Augen, um ihr Gedächtnis aufzufrischen, mit wem sie spräche – »es ist unnötig, Ihnen zu sagen, daß das Theater bisweilen einen zaubrischen Reiz für junge Leute von solchem Charakter hat. Wenn ich Theater sage, so meine ich die Personen weiblichen Geschlechts dabei. Als ich deshalb hörte, mein Sohn sei von einer Tänzerin bezaubert, so wußte ich, was das in der Gesellschaft gewöhnlich zu bedeuten habe, und verließ mich darauf, daß es eine Tänzerin bei der Oper sei, wo junge Leute, die sich in der Gesellschaft bewegen, sich gewöhnlich bezaubern lassen.«

Sie ließ die weißen Hände übereinander laufen und beobachtete nun die Schwestern; und die Ringe an ihren Fingern knarrten mit einem scharfen Ton aneinander.

»Wie Ihre Schwester Ihnen sagen kann, als ich fand, welches Theater es sei, war ich sehr erstaunt und unangenehm berührt. Als ich jedoch fand, daß Ihre Schwester die Avancen meines Sohnes (ich muß hinzufügen, in höchst unerwarteter Weise) zurückwies und ihn dadurch soweit trieb, ihr die Heirat anzutragen, war ich aufs tiefste bestürzt und in Sorgen.«

Sie streifte an der Außenlinie ihrer linken Augenbraue hin und brachte sie in Ordnung.

»In einem zerstörten Zustand, den nur eine Mutter – die sich in der Gesellschaft bewegt – begreifen kann, beschloß ich, selbst nach dem Theater zu gehen und der Tänzerin meine Gemütsverfassung auseinanderzusetzen. Ich stellte mich selbst Ihrer Schwester vor. Ich fand sie zu meinem Erstaunen in vielen Beziehungen von meinen Erwartungen verschieden, und gewiß in keiner mehr, als darin, daß ich – wie soll ich’s nur ausdrücken? – auf ihrer Seite gleichfalls Familienprätensionen fand.« Mrs. Merdle lächelte.

»Ich sagte Ihnen, Ma’am«, warf Fanny mit erhöhter Röte ein, »daß, obgleich Sie mich in dieser Lage fanden, ich so hoch über den übrigen stehe, daß ich meine Familie für so gut wie die Ihrige ansähe; und daß ich einen Bruder hätte, der, wenn er die Umstände kennte, derselben Ansicht sein und in einer solchen Verbindung keine besondere Ehre sehen würde.«

»Miß Dorrit«, sagte Mrs. Merdle, nachdem sie sie frostig durch ihr Glas angesehen, »das ist’s, was ich, auf Ihre Bitte hin, soeben Ihrer Schwester zu erzählen im Begriffe war. Sehr verbunden, daß Sie sich so genau erinnern und mir zuvorkommen. Ich nahm augenblicklich«, fuhr sie an Klein-Dorrit gewandt fort, »(denn ich folge meinen momentanen Eingebungen) ein Armband von meinem Arm und bat Ihre Schwester, es ihr anlegen zu dürfen, zum Zeichen der Freude, die ich empfand, die Sache soweit auf einen gemeinschaftlichen Fuß bringen zu können.« (Das war vollkommen wahr, da die Dame einen billigen, aber prächtig aussehenden Artikel auf ihrem Wege nach dem Theater in der Absicht der Bestechung gekauft hatte.)

»Und ich sagte Ihnen, Mrs. Merdle, daß wir unglücklich sein könnten, aber nicht gemein.«

»Ich glaube, das waren die Worte, Miß Dorrit«, bestätigte Mrs. Merdle.

»Und ich sagte Ihnen, Mrs. Merdle«, fuhr Fanny fort, »daß, wenn Sie mir von der überlegenen Stellung Ihres Sohnes, der sich in der Gesellschaft bewege, sprächen, es wohl möglich sei, daß Sie sich in Ihren Vermutungen über meine Abkunft täuschten; und daß meines Vaters Stellung, selbst in der Gesellschaft, in der er sich jetzt bewege (welche das war, war mir am besten bekannt), eine sehr hohe und allgemein anerkannte sei.«

»Ganz recht«, fügte Mrs. Merdle hinzu. »Ein außerordentlich bewundernswertes Gedächtnis.«

»Ich danke Ihnen, Ma’am. Vielleicht werden Sie so freundlich sein, meiner Schwester das übrige zu sagen.«

»Es ist sehr wenig mehr zu erzählen«, sagte Mrs. Merdle, mit einem Blicke über die Breite ihres Busens, die wesentlich für sie zu sein schien, um Raum genug für ihre Gefühllosigkeit zu haben, »aber es dient zur Ehre Ihrer Schwester. Ich setzte Ihrer Schwester den Stand der Dinge offen auseinander; die Unmöglichkeit, daß die Gesellschaft, in der wir uns bewegten, die Gesellschaft anerkenne, in der sie sich bewegte, – obgleich sie ohne Zweifel ganz reizend sei; den ungeheuren Nachteil, in den sie infolgedessen die Familie bringe, von der sie eine so hohe Meinung habe, auf die wir aber mit Verachtung herabzusehen gezwungen sein würden, und von der wir, gesellschaftlich gesprochen, uns mit Abscheu zurückziehen müßten. Kurz, ich appellierte an den lobenswerten Stolz ihrer Schwester.«

»Lassen Sie meine Schwester gefälligst wissen, Mrs. Merdle«, schmollte Fanny, indem sie ihren durchsichtigen Hut heftig zurückwarf, »daß ich bereits die Ehre hatte, Ihrem Sohn zu sagen, ich wünschte auch nicht das geringste mit ihm zu tun zu haben.«

»Jawohl, Miß Dorrit«, pflichtete Mrs. Merdle bei, »vielleicht hätte ich das schon früher bemerken sollen. Wenn ich nicht daran dachte, geschah es, weil die Befürchtungen, die ich damals hegte, er möchte bei seinem Entschlusse beharren, und Sie möchten ihm etwas zu sagen haben, mir wieder lebhaft vor die Seele traten. Ich erwähnte auch gegenüber Ihrer Schwester – ich wende mich wieder an die nicht dem Theater angehörende Miß Dorrit –, daß mein Sohn im Fall einer solchen Heirat nichts haben würde und ein absoluter Bettler wäre. (Ich erwähne das nur als ein Faktum, das einen Teil der Erzählung bildet, und nicht, als vermutete ich, es habe Einfluß auf Ihre Schwester gehabt, es sei denn in der klugen und rechtmäßigen Weise, in der wir, wie unser künstliches System nun einmal ist, alle durch solche Betrachtungen beeinflußt werden.) Endlich nach einigen stolzen und selbstbewußten Worten von seiten Ihrer Schwester kamen wir zu der vollständigen Überzeugung, daß keine Gefahr vorhanden, und Ihre Schwester war so gütig, mir zu gestatten, sie mit einem oder zwei Beweisen meiner Wertschätzung bei meiner Schneiderin einzuführen.«

Klein-Dorrit sah betrübt aus und blickte Fanny mit besorgter Miene an.

»Auch war sie so gütig«, sagte Mrs. Merdle, »mir das Vergnügen eines erneuerten Besuches, das ich gegenwärtig habe, zu versprechen und mir die Gewißheit zu geben, daß wir auf dem besten Fuße scheiden. Bei dieser Gelegenheit«, fügte Mrs. Merdle hinzu, verließ ihr Nest und legte etwas in Fannys Hand, »wird mir Miß Dorrit gestatten, ihr in meiner blöden Weise Lebewohl zu sagen.«

Die Schwestern erhoben sich zu gleicher Zeit und standen alle bei dem Käfig des Papageis, als er an einer Handvoll Biskuits zog, die er wegwarf, worauf er sie mit den prachtvollen Schwingungen seines Körpers, ohne daß er die Füße dabei bewegte, zu verspotten schien und sich plötzlich von unterst zu oberst kehrte und sich über die ganze Außenseite des goldnen Käfigs mit Hilfe seines scharfen Schnabels und seiner schwarzen Zunge hinschleppte.

»Adieu, Miß Dorrit, meine besten Wünsche begleiten Sie«, sagte Mrs. Merdle. »Wenn wir nur zu einem tausendjährigen Reiche oder etwas der Art kommen könnten, ich meinesteils hätte das Vergnügen, eine Anzahl anziehender und talentierter Persönlichkeiten zu kennen, deren Umgang ich mir nur im Augenblick versagen muß. Ein ursprünglicherer Zustand der Gesellschaft wäre mir ungemein lieb. Es gab ein Gedicht, als ich noch Unterricht nahm, das begann: ›Ein Kanadier, der noch Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte.‹ Wenn einige tausend Personen, die sich in der Gesellschaft bewegen, nur Kanadier werden wollten, ich würde augenblicklich meinen Namen unterschreiben; aber da wir uns in der Gesellschaft bewegen, können wir unglücklicherweise keine Kanadier sein – guten Morgen!«

Sie gingen die Treppe hinab, Puder vorn und Puder hinten, die ältere Schwester stolz, die jüngere demütig, und sahen sich bald in der ungepuderten Harley Street, Cavendish Square.

»Nun«, sagte Fanny, als sie eine Zeitlang gegangen waren, ohne zu sprechen. »Hast du mir nichts zu sagen, Amy?«

»Oh, ich weiß nicht, was ich sagen soll!« antwortete sie, ganz unglücklich. »Du liebtest diesen jungen Mann doch nicht, Fanny?«

»Ihn lieben? Er ist beinahe blödsinnig.«

»Ich bedaure – sei nicht böse, aber da du mich fragst, was ich zu sagen habe, ich bedaure wirklich, Fanny, daß du dir von dieser Dame etwas schenken ließest.«

»Du kleine Närrin!« versetzte die Schwester und schüttelte sie mit einem heftigen Stoße, den sie ihrem Arme gab. »Hast du denn keinen Stolz? Aber, das ist’s ja eben. Du besitzt keine Selbstachtung. Du hast keinen Stolz, wie er sich für uns ziemt. Gerade, wie du gestattest, daß dir ein verächtlicher, kleiner Chivery nachläuft«, fügte sie mit der zornigsten Emphase hinzu, »so würdest du es leiden, daß man auf deine Familie tritt, und dich nicht mucksen.«

»Sage das nicht, liebe Fanny. Ich tue, was ich für sie tun kann.«

»Du tust, was du für sie tun kannst!« wiederholte Fanny, dicht neben ihr einherschreitend. »Würdest du eine Frau wie diese, die du, wenn du die geringste Erfahrung hättest, gleich als so falsch und insolent erkennen würdest, wie es ein Weib nur sein kann, – würdest du sie ihren Fuß auf deine Familie setzen lassen und ihr dafür danken?«

»Nein, Fanny, gewiß nicht.«

»Dann laß sie dafür büßen, du armes, kleines Ding. Was kannst du ihr sonst antun? Laß sie dafür büßen, du törichtes Kind, und bringe deine Familie mit dem Gelde in Kredit!«

Sie sprachen auf dem ganzen Wege nach dem Hause, wo Fanny und ihr Onkel wohnten, kein Wort mehr. Als sie dort ankamen, fanden sie den alten Mann, wie er sein Instrument in einer Ecke des Zimmers auf die traurigste Weise mißhandelte. Fanny hatte ein umständliches Mahl aus Hammelkotelettes, Porter und Tee zu bereiten und behauptete mit Unwillen, es selbst bereiten zu müssen, während ihre Schwester alles in der Stille machte. Als Fanny sich zuletzt niedersetzte, um zu essen und zu trinken, stieß sie das Tischgerät weg und war über ihr Essen ärgerlich, fast ganz, wie es ihr Vater am vergangenen Abend gewesen.

»Wenn du mich verachtest«, sagte sie, in heftige Tränen ausbrechend, »weil ich eine Tänzerin bin, warum führtest du mich auf den Weg, daß ich eine solche wurde? Es war deine Sache. Du möchtest, daß ich mich so tief vor dieser Mrs. Merdle beuge als der Boden, daß ich sie reden ließe, was ihr zu sagen beliebte, und uns alle verachten – und mir das ins Gesicht sagen. Weil ich eine Tänzerin bin!«

»Oh, Fanny!«

»Und auch Tip, der arme Junge. Sie darf ihn heruntersetzen, ohne daß man ihr es wehrt, – vermutlich weil er in einer Amtsstube und in den Docks und an verschiedenen andern Plätzen war. Das war ja deine Anordnung, Amy. Du solltest wenigstens erlauben, daß man ihn verteidigt.«

Der Onkel blies die ganze Zeit in der Ecke auf eine jämmerliche Weise die Klarinette fort, indem er sie bisweilen für einen Augenblick einen Zoll von seinem Munde wegnahm, während er mit dem unbestimmten Gefühl, als habe jemand gesprochen, sie anstarrte.

»Und dein Vater, dein armer Vater, Amy? Weil er nicht frei ist, um sich selbst zu zeigen und für sich zu sprechen, würdest du solches Volk ihn ungestraft beleidigen lassen. Wenn du nicht für dich selbst fühlst, weil du in die Arbeit gehst, so solltest du wenigstens für ihn fühlen, dächte ich, da du weißt, was er so lange ausgestanden.«

Die arme Klein-Dorrit fühlte die Ungerechtigkeit dieses Vorwurfs ziemlich bitter. Die Erinnerung an die vergangene Nacht drückte ihr noch einen anderen Widerhaken ins Herz. Sie antwortete nichts, sondern wandte ihren Stuhl vom Tisch nach dem Feuer zu. Nachdem der Onkel wieder eine Pause gemacht, blies er immer von neuem eine traurige Melodie.

Fanny verfuhr ärgerlich mit ihrem Tee und ihren Brotschnitten, solange ihre Leidenschaft dauerte, und behauptete dann, sie sei das unglücklichste Mädchen von der Welt und wünschte, sie wäre tot. Dann ging ihr Weinen in Mitleid über, und sie trat auf ihre Schwester zu und schlang ihren Arm um sie. Klein-Dorrit suchte sie davon zurückzuhalten, daß sie etwas sagte, aber sie antwortete, sie wolle und müsse! Darauf sagte sie wieder und wieder: »Ich bitte dich um Verzeihung, Amy«, und »Vergib mir, Amy«, beinahe so leidenschaftlich, als sie gesagt, was sie bedauerte.

»Aber wirklich, Amy«, fuhr sie fort, als sie in schwesterlicher Eintracht beieinander saßen, »ich glaube und hoffe, du würdest die Sache anders angesehen haben, wenn du etwas mehr von der Gesellschaft gesehen.«

»Vielleicht, Fanny«, sagte die freundliche Klein-Dorrit.

»Du siehst, während du in stiller und zurückgezogener Häuslichkeit aufwuchsest, Amy«, fuhr ihre Schwester fort, die nach und nach begann, sie in Schutz zu nehmen, »war ich draußen, habe mich in der Gesellschaft bewegt und bin stolz und hochmütig geworden – mehr, als ich vielleicht sollte.«

Klein-Dorrit antwortete: »Ja, oh ja!«

»Und während du an das Essen oder die Wäsche dachtest, habe ich vielleicht an die Familie gedacht. Nun, ist dem nicht so, Amy?«

Klein-Dorrit nickte mit einem freundlicheren Gesichte als Herzen »Ja«.

»Besonders, da wir wissen«, sagte Fanny, »daß ein Ton an dem Ort herrscht, dem du so treu warst, der ihm eigentümlich ist und der ihn so wesentlich von andern Erscheinungen der Gesellschaft unterscheidet. Küsse mich noch einmal, liebe Amy, und wir wollen erkennen, daß wir beide recht haben mögen, und daß du ein ruhiges, häusliches, zurückgezogenes, gutes Mädchen bist.«

Die Klarinette hatte während dieses Gesprächs höchst pathetisch lamentiert, wurde jedoch durch Fannys Ankündigung, daß es Zeit zu gehen sei, kurz beiseite gelegt; sie bewerkstelligte dies dadurch, daß sie die Noten zusammenschlug und dem Onkel die Klarinette aus dem Munde nahm.

Klein-Dorrit schied an der Tür von ihnen und eilte nach dem Marschallgefängnis zurück. Es wurde dort früher dunkel als anderwärts, und der Eintritt an diesem Abend glich dem Eintritt in einen tiefen Laufgraben. Der Schatten der Mauer lag auf allem, und nicht am wenigsten auf der Gestalt in dem alten, grauen Schlafrock und der schwarzen Samtmütze, als sie sich nach ihr beim Eintritt in das dunkle Zimmer umwandte.

»Warum nicht auch auf mir!« dachte Klein-Dorrit, indem sie die Tür noch in der Hand hielt. »Es war nicht unvernünftig von Fanny!«

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Frei.

Ein düsterer Spätherbstabend senkte sich über die Saone herab. Der Strom spiegelte wie ein schmutziger Spiegel an einem dunkeln Platz die Wolken mit mattem Glanz wider. Die niederen Ufer hingen rechts und links über den Fluß herein, als ob sie halb neugierig wären, halb sich fürchteten, ihr dunkles Bild im Schatten zu sehen. Die flache Umgebung von Chalons, eine große traurige Ebene, die nur hier und dort von einer Reihe Pappelbäume unterbrochen wurde, stemmte sich gegen den zornigen Sonnenuntergang. An den Ufern der Saone war es feucht, drückend, einsam; und die Schatten der Nacht verdunkelten sich mehr und mehr.

Ein Mann, der langsam auf dem Wege nach Chalons einherging, war das einzige sichtbare Wesen in der Landschaft. So einsam und von aller Welt gemieden mochte Kain ausgesehen haben. Mit einem alten Ranzen aus Schaffell auf dem Rücken und einem rauhen, geschälten, im Walde geschnittenen Stock in der Hand, staubig, mit wunden Füßen, die Schuhe und Gamaschen ausgetreten, Haar und Bart ungekämmt; den Mantel, den er auf der Schulter hängen hatte, und die Kleider, die er trug, durchnäßt, schmerzvoll und mühsam einherhinkend, machte er den Eindruck, als ob die Wolken vor ihm flöhen, als ob das Ächzen des Windes und das Schauern des Grases gegen ihn gerichtet wären, als ob das dumpfe, geheimnisvolle Rauschen des Wassers gegen ihn murrte, als ob die fiebernde Herbstnacht durch ihn beunruhigt würde. Er blickte finster und doch zugleich scheu bald dahin, bald dorthin. Bisweilen blieb er stehen, drehte sich um und sah nach allen Seiten. Dann hinkte er mühselig weiter und murmelte vor sich hin:

»Zum Teufel mit dieser Ebene, die kein Ende hat! Zum Teufel mit diesen Steinen, die wie Messer in die Sohle schneiden! Zum Teufel mit dieser unheimlichen Finsternis, die mich frostig einhüllt! Ich hasse euch!«

Und er würde mit dem scheelen Blick, den er um sich warf, seinen Groll auf alles geschleudert haben, wenn es möglich gewesen wäre. Er arbeitete sich etwas weiter und blieb dann, in die Ferne blickend, wieder stehen.

»Ich bin hungrig, durstig, müde. Und ihr Schwächlinge dort unten, wo die Lichter brennen, eßt und trinkt und wärmt euch am Kamin! Ich wünschte, ich dürfte eure Stadt plündern, ich wollt‘ euch dafür zahlen lassen, Kinderchen!«

Aber die Zähne, die er der Stadt wies, und die Hand, die er gegen die Stadt ballte, brachten die Stadt nicht näher, und der Mann war noch hungriger und durstiger und müder, als seine Füße auf ihrem scharfen Pflaster standen und er sich rings umsah.

Da war das Hotel mit seiner Einfahrt und seinem üppigen Küchengeruch; dort das Kaffeehaus mit seinen glänzenden Fenstern und dem Geklapper des Dominospiels; hier der Färber mit seinen Streifen roten Tuchs an den Türpfosten; dort der Silberschmied mit seinen Ohrringen und seinem Altarschmuck; hier der Tabakhändler, aus dessen Laden eine lebhafte Schar Soldaten mit der Pfeife im Mund herauskam, dort endlich die schlechten Gerüche der Stadt, der Regen, der Unrat in den Rinnsteinen und die matten Lampen, die über die Straße hingen; die hohe Reisekutsche, ihr Berg von Gepäck und ihre sechs grauen Pferde mit den aufgebundenen Schwänzen, die von dem Wagenbureau auslaufen sollte. Aber kein kleines Wirtshaus für einen geldverlegenen Wanderer war zu sehen, und er mußte deshalb abseits gehen, wo die Kohlblätter um Stadtbrunnen aufgehäuft lagen, aus dem die Frauen noch immer Schöpfwasser holten. Dort in einer Hintergasse fand er eine Schenke: den »Tagesanbruch«. Die verhängten Fenster umwölkten den »Tagesanbruch«, aber er schien hell und warm zu sein und versprach in leserlicher Inschrift mit passendem bildlichen Zierat, der in Queues und Kugeln bestand, daß man im »Tagesanbruch« Billard spielen könne; daß man ferner Speisen, Getränke und Wohnung finde, man möge zu Pferd oder zu Fuß kommen, und daß man gute Weine, Liköre und Branntwein antreffe. Der Mann drückte die Türklinke des »Tagesanbruchs« und hinkte hinein.

Er griff an seinen verwaschenen, schlottrigen Hut, als er in das Zimmer trat, in dem einige Männer saßen. Zwei von ihnen spielten an einem der kleinen Tische Domino; drei bis vier saßen um den Ofen und plauderten, während sie rauchten; der Billardtisch stand in diesem Augenblick verlassen; die Wirtin vom »Tagesanbruch« saß, mit Nähen beschäftigt, hinter ihrem kleinen Schanktisch unter ihren von Tabakwolken umgebenen Sirupflaschen, Kuchenkörben und der bleiernen Abtropfstellage für die Gläser.

Er ging auf einen unbesetzten kleinen Tisch in einer Ecke des Zimmers hinter dem Ofen zu und legte seinen Ranzen und seinen Mantel auf den Boden. Als er sich wieder aus der gebeugten Stellung erhob und aufsah, stand die Wirtin neben ihm.

»Kann man hier übernachten, Madame?«

»Gewiß«, antwortete die Wirtin mit hoher, singender, heiterer Stimme.

»Gut. Man kann wohl auch essen – soupieren – oder wie Sie das nennen wollen?«

»Gewiß!« sagte die Wirtin wie zuvor.

»So eilen Sie sich gefälligst, Madame. Etwas zu essen, so rasch Sie können; und etwas Wein. Ich bin ganz erschöpft.«

»Es ist sehr schlechtes Wetter, Monsieur«, sagte die Wirtin.

»Verfluchtes Wetter.«

»Und ein sehr langer Weg.«

»Ein verfluchter Weg.«

Seine heisere Stimme versagte ihm, und er stützte den Kopf in die Hände, bis ihm eine Flasche Wein vom Schanktisch gebracht wurde. Nachdem er seinen kleinen Becher zweimal gefüllt und geleert und ein Stück von dem großen Brot abgebrochen, das nebst Tischtuch, Serviette, Suppenteller, Salz, Pfeffer und Öl vor ihn gelegt wurde, lehnte er seinen Rücken an die Ecke der Wand, machte ein Lager aus der Bank, auf der er saß, und begann an der Brotkruste zu kauen, bis sein Mahl bereitet sein würde.

Es war in dem Gespräch an dem Ofen jene momentane Unterbrechung und jene gegenseitige momentane Unaufmerksamkeit und Zerstreuung eingetreten, die von der Ankunft eines Fremden in solcher Gesellschaft unzertrennlich ist. Sie war aber bereits wieder im Abzug, und die Männer hatten ihre Blicke wieder von ihm abgewandt und ihr Gespräch fortgesetzt.

»Das ist der wahre und wahrhaftige Grund«, sagte einer von ihnen, eine Geschichte, die er erzählte, zu Ende bringend, »das ist der Grund, weshalb, wie sie sagten, man den Teufel losgelassen.« Der Sprecher war der lange Schweizer, der zur Kirche gehörte, und er brachte etwas von der Autorität der Kirche in das Gespräch, namentlich da vom Teufel die Rede war.

Die Wirtin hatte sich, nachdem sie ihrem Gatten, der als Koch im »Tagesanbruch« fungierte, die nötigen Winke wegen der Bewirtung des neuen Gastes gegeben, zu ihrer Näherei hinter den Schanktisch zurückgezogen. Sie war eine lebhafte und hübsche, muntere kleine Frau mit einer großen Haube und dicken Strümpfen; sie nahm an dem Gespräch indirekt durch häufiges Lachen und Kopfnicken teil, sah jedoch keinen Augenblick von der Arbeit auf.

»Ach, mein Gott!« sagte sie. »Als das Boot von Lyon kam und die Nachricht brachte, daß der Teufel in Marseille wirklich frei sei, nahmen das leichtgläubige Leute für bare Münze. Aber ich? Nein, ich nicht.«

»Madame, Sie haben immer recht«, versetzte der lange Schweizer. »Ohne Zweifel waren Sie sehr aufgebracht über jenen Mann, Madame?«

»Ach ja!« rief die Wirtin, die Blicke von ihrer Arbeit erhebend und die Augen weit öffnend, während sie den Kopf auf die eine Seite warf. »Ganz natürlich.«

»Es war ein schlechtes Subjekt.«

»Es war ein elender Schuft«, sagte die Wirtin, »und hätte die Strafe wohl verdient, der er zu entgehen das Glück hatte. Es ist schlimm, sehr schlimm.«

»Halten Sie, Madame. Lassen Sie sehen«, versetzte der Schweizer, seine Zigarre wie beweisführend zwischen den Lippen drehend. »Es ist vielleicht sein unglückliches Schicksal. Er ist vielleicht ein Kind der Umstände. Es ist immerhin möglich, daß er Gutes an sich hat und hatte, wenn man’s nur herauszufinden wüßte. Die philosophische Menschenliebe lehrt –«

Der Rest der kleinen Gruppe um den Ofen murmelte einen Einwurf gegen diesen Beginn einer drohenden Abhandlung. Auch die zwei Dominospieler sahen von ihrem Spiel auf, als wollten sie schon gegen das einfache Erwähnen des Wortes philosophische Menschenliebe innerhalb der vier Mauern des »Tagesanbruchs« protestieren.

»Halten Sie ein mit Ihrer Menschenliebe«, rief die lächelnde Wirtin und nickte noch mehr mit dem Kopf als je. »Hören Sie. Ich bin eine Frau, ich. Ich weiß nichts von philosophischer Menschenliebe. Aber ich weiß, was ich gesehen und was ich auf dieser Welt, in der ich lebe, von Angesicht zu Angesicht geschaut. Und ich sage Ihnen nur so viel, mein Freund, daß es Leute gibt (Männer und Frauen, unglücklicherweise), die gar nichts Gutes in sich haben – gar nichts. Daß es Leute gibt, die man ohne weiteres verabscheuen muß. Daß es Leute gibt, die man als Feinde des Menschengeschlechts ansehen muß. Daß es Leute gibt, die kein menschlich Herz haben und die man wie wilde Tiere ausrotten und aus dem Wege räumen muß. Es sind, wie ich hoffen will, ihrer nur wenige; aber ich habe gesehen (und zwar in dieser Welt, wo ich mich selbst befinde, und selbst in dem kleinen »Tagesanbruch«), daß es solche Leute gibt. Und ich zweifle nicht, daß dieser Mann – wie sie ihn nennen mögen, ich vergesse seinen Namen – zu dieser Rasse gehört.«

Die lebhaften Worte der Wirtin wurden im »Tagesanbruch« mit größerem Beifall aufgenommen, als sie solchen wohl bei gewissen liebenswürdigern Verteidigern dieser Klasse, die sie so rücksichtslos verdammte, näher bei Großbritannien, gefunden hätten.

»Wahrhaftig, wenn Ihre philosophische Menschenliebe«, sagte die Wirtin, indem sie ihre Arbeit niederlegte und ihrem Mann, der in der Schenktür erschien, die Suppe abnahm, »irgend jemanden in die Hand solcher Leute liefert, indem sie sich nachsichtig gegen sie zeigt, sei’s in Worten, sei’s in Taten, oder in beidem, so lassen Sie den ›Tagesanbruch‹ damit ungeschoren; denn sie ist nicht einen Pfifferling wert.«

Als sie die Suppe vor den Gast stellte, der seine Lage in eine sitzende änderte, sah er ihr offen ins Gesicht. Sein Schnurrbart sträubte sich unter der Nase, während diese über den Schnurrbart sich senkte.

»Nun«, sagte der frühere Sprecher, »lassen Sie uns auf unsren früheren Gegenstand zurückkommen. Abgesehen von alledem, meine Herren, die Leute in Marseille sagten, der Teufel sei frei, weil er vor Gericht freigesprochen worden. So ging wenigstens das Gerücht, und das war es, was ich meinte; nichts weiter.«

»Wie heißt er?« sagte die Wirtin. »Biraud, nicht wahr?«

»Rigaud, Madame«, versetzte der Schweizer.

»Rigaud? Richtig!«

Auf die Suppe des Reisenden folgte ein Gericht Fleisch und dann eine Schüssel Gemüse. Er aß alles, was ihm vorgesetzt wurde, leerte seine Flasche Wein, verlangte ein Glas Rum und rauchte seine Zigarre bei einer Tasse Kaffee. Als er gestärkt war, wurde er keck und behandelte die Gesellschaft im »Tagesanbruch« bei einem Gespräch, an dem er teilnahm, als ob er in einer weit bessern Lage wäre, als seine Erscheinung kundgab, sehr von oben herab.

Die Gesellschaft mochte andre Beschäftigungen haben oder seine übermütige Behandlung fühlen, kurz, sie zerstreute sich nach und nach, und da sie von keiner andern Gesellschaft ersetzt wurde, so ließ sie ihren neuen Patron im unbeschränkten Besitz des »Tagesanbruchs«. Der Wirt hatte in der Küche zu tun; die Wirtin arbeitete ruhig weiter, und der gestärkte Reisende saß rauchend am Ofen, indem er seine zerlumpten Füße wärmte.

»Verzeihen Sie, Madame, – dieser Biraud –«

»Rigaud, Monsieur.«

»Rigaud, verzeihen Sie noch einmal, – hat sich Ihre Ungunst zugezogen. Wie kommt das?«

Die Wirtin, der er im einen Moment als ein hübscher, im andern Moment als ein häßlicher Mann erschienen, bemerkte, daß seine Nase sich herabsenkte und der Schnurrbart sich sträubte: sie entschied sich deshalb für die letztere Ansicht. Rigaud sei ein Verbrecher, sagte sie, der seine Frau umgebracht.

»Ah, ja. Bei meinem Leben, das ist allerdings ein Verbrecher. Aber woher wissen Sie das?«

»Alle Welt weiß es.«

»Ach was! Und dennoch entkam er der Gerechtigkeit?«

»Monsieur, das Gesetz konnte keine überführenden Beweise aufbringen. So sagt das Gesetz. Nichtsdestoweniger weiß es die ganze Welt. Die Leute wissen es so gut, daß man ihn in Stücke reißen wollte.«

»Da alle Leute mit ihren Frauen in bestem Einverständnis leben?« sagte der Gast. »Haha!«

Die Wirtin vom »Tagesanbruch« sah ihn wieder an und war nun ihrer letzten Ansicht beinahe gewiß. Er hatte jedoch eine schöne Hand und drehte sie mit großer Absichtlichkeit hin und her. Sie begann wieder zu der Ansicht umzukehren, daß er doch nicht so übel aussehe.

»Erwähnten Sie – oder die Herren, die vorhin da waren – nicht, was aus ihm geworden?«

Die Wirtin schüttelte den Kopf. Es war der erste Ruhepunkt des Gesprächs, bei dem ihr lebhafter Eifer mit dem Nicken innehielt, das ihre Worte bislang begleitet hatte. Es sei im »Tagesanbruch« aus den Zeitungen erzählt worden, daß man ihn zu seiner eignen Sicherheit gefangen gehalten. Jedenfalls sei er nun aber seiner Strafe entgangen, und das sei um so schlimmer.

Seine Zigarre zu Ende rauchend, betrachtete sie der Gast, wie sie so dasaß, den Kopf über die Arbeit gebeugt, mit einem Ausdruck, der ihre Zweifel hätte lösen können und sie zu einer endlichen Entscheidung über sein hübsches oder häßliches Aussehen bringen müssen, wenn sie ihn angesehen. Als sie aufblickte, war der Ausdruck verschwunden. Er strich mit der Hand über seinen rauhen Bart.

»Darf ich bitten, daß Sie mir das Bett zeigen lassen, Madame?«

»Recht gerne, Monsieur. Holla, Mann!« Ihr Mann werde ihn hinaufbegleiten. Es sei ein – Reisender oben, der sehr früh zu Bett gegangen, da er sehr ermüdet gewesen; aber es sei ein großes Zimmer mit zwei Betten und Raum genug für zwanzig. Dies setzte ihm die Wirtin vom »Tagesanbruch« mit ihrer zirpenden Stimme auseinander, während sie von Zeit zu Zeit: »Holla, Mann!« zur Seitentür hinausrief.

Der Gatte antwortete endlich: »Meinst du mich, Frau?« und erschien in seiner Kochmütze. Er leuchtete dem Reisenden eine steile und schmale Treppe hinauf; der Fremde trug seinen Mantel und seinen Ranzen selbst und wünschte der Wirtin mit einer höflichen Anspielung auf das Vergnügen, sie morgen wiederzusehen, gute Nacht. Es war ein großes Zimmer, mit einem rauhen, splitterigen Boden, ungetünchtem Sparrenwerk an der Decke und zwei Betten an den entgegengesetzten Wänden. Hier stellte der Wirt das Licht, das er trug, nieder, und mit einem Seitenblick auf seinen über den Ranzen Gebeugten gab er ihm die Weisung: »Das Bett rechts!« und verließ ihn. Der Wirt, war er nun ein guter oder schlechter Menschenkenner, war fest überzeugt, daß der Gast ein schlimmer Bursche sei.

Der Gast sah verächtlich auf das reinliche, aber grobe Bett, das für ihn zugerichtet war, und sich auf den Rohrstuhl neben dem Bett niederlassend, nahm er sein Geld aus der Tasche und zählte es auf seine Hand. »Man muß doch essen«, murmelte er vor sich hin, »aber beim Himmel, morgen muß ich auf Kosten eines andern speisen!«

Als er so überlegend dasaß und mechanisch sein Geld in seiner Hand wog, schlug der tiefe Atem des Reisenden im andern Bett so gleichmäßig an sein Ohr, daß er unwillkürlich seine Augen nach dieser Richtung hinlenkte. Der Mann war warm zugedeckt und hatte den weißen Vorhang vor seinem Kopf zugezogen, so daß man ihn nur hören und nicht sehen konnte. Da das tiefe gleichmäßige Atmen ruhig fortging, während der andre seine zerrissenen Schuhe und Gamaschen auszog, und immer noch fortdauerte, als er seinen Rock und seine Halsbinde abgelegt, wurde endlich seine Neugierde heftig erregt, und er fühlte sich bewogen, des Schläfers Gesicht zu betrachten.

Der Reisende schlich sich deshalb etwas näher und noch ein wenig näher und noch ein wenig näher zu dem Bett des Schlafenden, bis er dicht vor ihm stand. Auch dann konnte er sein Gesicht noch nicht sehen, denn jener hatte das Bettuch darüber gezogen. Da das gleichmäßige Atmen noch fortdauerte, legte er seine weiche weiße Hand (sie machte einen ungemein verräterischen Eindruck, als er sie langsam erhob) an das Leintuch und zog es leicht weg.

»Tod und Teufel!« murmelte er und ließ das Leintuch fallen, »das ist Cavaletto!«

Der kleine Italiener, der schon zuvor vielleicht durch das Heranschleichen eines Mannes an sein Bett im Schlaf gestört worden, hielt plötzlich mit seinem regelmäßigen Atemholen inne und öffnete mit einem langen, tiefen Atemzug die Augen. Anfangs waren sie nicht wach, wenn auch offen. Er sah einige Sekunden seinem ehemaligen Mitgefangenen ruhig ins Gesicht und sprang dann plötzlich mit einem Schrei der Überraschung und des Schreckens aus dem Bette.

»St! Was gibt’s! Seid ruhig! Ich bin’s. Ihr kennt mich?« rief der andere mit gedämpfter Stimme.

Aber Johann Baptist, der die Augen weit aufriß, zu allen Heiligen rief, sich zitternd in eine Ecke zurückzog, in seine Hosen fuhr und seinen Rock mit den beiden Ärmeln um den Hals knüpfte, gab den unverkennbaren Wunsch zu erkennen, daß er weit lieber durch die Tür entwischen, als die Bekanntschaft erneuern wollte. Sein ehemaliger Mitgefangener sprang jedoch, als er dies sah, auf die Tür zu und stemmte seine Schultern dagegen.

»Cavaletto! Erwacht, Junge! Reibt Euch die Augen aus und seht mich an. Nicht den Namen, den Ihr ehmals gebrauchtet – nennt mich nicht so –, sondern Lagnier, heißt mich Lagnier.«

Johann Baptist, der seine Augen soweit als möglich aufriß, machte mehrmals jene nationale Geste des verkehrten Schüttelns des rechten Zeigefingers in der Luft, als wollte er im voraus alles von sich abweisen, was der andre sein ganzes Leben lang noch vorbringen könnte.

»Cavaletto! Gebt mir Eure Hand. Ihr kennt Lagnier, den Kavalier. Gebt einem Kavalier die Hand!«

Johann Baptist, der sich unter den alten Ton herablassender Autorität beugte und noch nicht ganz fest auf seinen Beinen stand, trat näher und legte seine Hand in die seines Gönners. Monsieur Lagnier lächelte: er drückte die Hand des Mitgefangenen, warf sie dann hoch und ließ sie los.

»So sind Sie also –« stotterte Cavaletto.

»Nicht rasiert? Nein. Seht!« rief Lagnier und drehte den Kopf nach allen Seiten. »So fest wie der Eure.«

Johann Baptist sah sich mit einem leichten Schauer im Zimmer um, als wollte er sich besinnen, wo er sei. Sein Gönner ergriff diese Gelegenheit, um den Schlüssel in der Tür umzudrehen, und setzte sich dann auf sein Bett.

»Seht«, sagte er und hielt seine Schuhe und Gamaschen in die Höhe. »Das ist doch ein armseliger Staat für einen Kavalier, das müßt Ihr zugestehen. Tut nichts. Ihr werdet sehen, wie bald das geflickt ist. Kommt, setzt Euch nieder. Nehmt Euren alten Platz wieder ein.«

Johann Baptist, der nichts weniger als beruhigt schien, setzte sich auf den Boden neben dem Bett und hielt die Augen während der ganzen Zeit auf seinen Gönner gerichtet.

»So ist’s recht!« rief Lagnier. »Jetzt könnten wir wieder in dem alten höllischen Loche sein, hm? Wie lange seid Ihr schon heraus?«

»Zwei Tage nach Ihnen, Herr.«

»Wie kommt Ihr hierher?«

»Ich wurde gewarnt, nicht in Marseille zu bleiben; deshalb verließ ich die Stadt unverweilt, und seit der Zeit treibe ich mich umher. Ich war in allen Winkeln und Ecken, in Avignon, Pont Esprit, Lyon; auf der Rhone und Saone.« Während er sprach, zeichnete er mit seiner sonnverbrannten Hand die Orte auf den Boden.

»Und wohin wollt Ihr gehen?«

»Gehen, mein Herr?«

Johann Baptist schien dieser Antwort ausweichen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie. »Beim Bacchus!« sagte er endlich, als ob er zum Geständnis gezwungen würde, »ich hatte schon den Gedanken, nach Paris und vielleicht nach England zu gehen.«

»Cavaletto. Im Vertrauen, ich habe auch die Absicht, nach Paris und vielleicht nach England zu gehen. Wir wollen zusammen gehen.«

Der kleine Mann nickte mit dem Kopfe und zeigte die Zähne, schien aber doch nicht ganz überzeugt, daß das ein ausnehmend wünschenswertes Arrangement sei.

»Wir gehen zusammen«, wiederholte Lagnier. »Ihr werdet sehen, wie bald ich’s dahin gebracht, daß man mich als Kavalier anerkennt, und Ihr sollt davon Euren Nutzen haben. Ist die Sache angenommen? Sind wir eins?«

»O, gewiß, gewiß!« sagte der kleine Mann.

»Dann sollt Ihr auch wissen, ehe ich mich schlafen lege – und zwar in sechs Worten, denn ich bedarf des Schlafes –, wie ich so plötzlich vor Euch erscheine, ich, Lagnier. Merkt Euch das, nicht der andre.«

»Altro! Altro! Nicht Ri–“ Ehe Johann Baptist das Wort ausgesprochen, hatte sein Kamerad ihm die Hand unter das Kinn gesetzt und den Mund heftig zugestoßen.

»Tod und Teufel! Was macht Ihr? Wollt Ihr, daß ich zertreten und gesteinigt werde? Wollt Ihr zertreten und gesteinigt werden? Ihr würdet’s ganz sicher. Ihr dürft nicht glauben, daß sie nur mich fassen und meinen Mitgefangenen laufen lassen würden. Glaubt das ja nicht.«

Als er die Kinnlade seines Freundes losließ, lag in seinem Gesicht ein Ausdruck, aus dem der Freund schloß, daß, wenn es wirklich im Verlauf der Dinge zu einem Steinigen und Zertreten käme, Monsieur Lagnier ihn so deutlich bezeichnen würde, daß er sicher seinen Teil davon abkriegte. Er erinnerte sich, was für ein weltgewandter Herr Monsieur Lagnier war, und wie wenig Umstände er machte.

»Ich bin ein Mann«, sagte Monsieur Lagnier, »den die Gesellschaft tief verletzt hat, seitdem wir uns zuletzt sahen. Ihr wißt, daß ich eine zartfühlende und tapfere Natur bin und daß es in meinem Charakter liegt, zu herrschen! Wie hat die Gesellschaft diese Eigenschaften in mir respektiert? Man hat mir durch die Straßen nachgeschrien. Man mußte mich in den Straßen gegen die Leute und vornehmlich gegen die Frauen schützen, die mit allen Waffen, die sie zur Hand bekommen konnten, auf mich losstürzten. Ich lag der Sicherheit wegen im Gefängnis, man hielt es geheim, wo ich eingesperrt war, damit man mich nicht heraushole und mir mit hundert Hieben den Garaus mache. Ich wurde in stockfinsterer Nacht aus Marseille geschafft und, in Stroh verpackt, viele Meilen weit weggeführt. Es war für mich nicht ratsam, meinem Hause zu nahen; und mit einem Bettelpfennig in der Tasche wanderte ich seit jener Zeit durch Sturm und Wetter, bis meine Füße aufgerissen waren – seht sie an! Das sind die Demütigungen, die mir von der Gesellschaft zuteil wurden, mir, der, wie Ihr wißt, die soeben erwähnten Eigenschaften besitzt. Aber die Gesellschaft soll es büßen!«

Alles dies sagte er seinem Gefährten ins Ohr und beständig die Hand vor den Lippen.

»Selbst hier«, fuhr er in gleicher Weise fort, »selbst in dieser geringen Schenke verfolgt mich die Gesellschaft. Die Madame verlästert mich, und ihre Gäste verlästern mich. Mich, einen Mann mit Manieren und Vorzügen, vor denen sie zu Kreuz kriechen sollten. Aber die Beleidigungen, die die Gesellschaft auf mich gehäuft, sind in dieser Brust wohlbewahrt.«

Auf all dies sagte Johann Baptist, der aufmerksam auf die gedämpfte heisere Stimme lauschte, von Zeit zu Zeit: »Gewiß! Gewiß!« und schüttelte dabei den Kopf und schloß die Augen, als ob es sich hier um die klarste Klage gegen die Gesellschaft handelte, die die vollkommenste Unschuld nur aufbringen könnte.

»Stellt meine Schuhe dahin«, fuhr Lagnier fort. »Hängt meinen Mantel zum Trocknen dort auf. Nehmt meinen Hut.« Er gehorchte jedem Befehl, sowie er gegeben war. »Und das ist das Bett, in das mich die Gesellschaft verbannt. Nicht wahr? Hm? Sehr gut.«

Als er sich der Länge nach darauf ausgestreckt, ein zerrissenes Halstuch um seinen gottlosen Kopf gebunden und nur seinen gottlosen Kopf außerhalb der Decke zeigte, wurde Johann Baptist an das erinnert, was beinahe geschehen wäre, um dem Schnurrbart alles weitere Sträuben und der Nase alles weitere Sichsenken ein Ende zu machen.

»Aus dem Würfelbecher des Schicksals wieder in Eure Gesellschaft geschleudert? Beim Himmel! Es kommt Euch zugute. Ihr profitiert dadurch. Ich werde einer langen Ruhe bedürfen. Laßt mich bis zum Morgen schlafen.«

Johann Baptist erwiderte, er solle so lange schlafen, wie er wolle, und löschte, ihm eine gute Nacht wünschend, das Licht aus. Man hätte erwarten sollen, daß die nächste Handlung des Italieners sein würde, sich zu entkleiden, aber er tat gerade das Gegenteil und zog sich von Kopf bis zu Fuß an, die Schuhe ausgenommen. Als er dies getan, legte er sich zu Bett, den Mantel noch immer fest um die Schulter gezogen, und warf die Decke über sich, um so die Nacht zuzubringen.

Als er aufwachte, betrachtete sich bereits der Pate des Tagesanbruchs, der wirkliche Tagesanbruch, sein Patchen. Er stand auf, nahm seine Schuhe in die Hand, drehte mit großer Vorsicht den Schlüssel im Schlosse um und schlich die Treppe hinab. Nichts war dort auf als der Geruch von Kaffee, Wein, Tabak und Sirup; und Madames kleiner Schanktisch sah ziemlich gespenstisch aus. Aber er hatte Madame seine Rechnung am Abend zuvor bezahlt und brauchte niemanden – brauchte nichts, als in seine Schuhe zu schlüpfen und seinen Ranzen überzuwerfen, die Tür zu öffnen und sich auf und davon machen.

Es gelang ihm auch wirklich. Er hörte kein Geräusch und keine Stimme, als er die Tür öffnete; kein gottloser Kopf, in ein zerrissenes Halstuch gewickelt, sah zum Fenster oben heraus. Als die Sonne ihre ganze Scheibe über die flache Linie des Horizontes erhob und aus der langen finstern Durchsicht des gebahnten Weges mit seiner traurigen Allee von kleinen Bäumen Feuer schlug, bewegte sich ein schwarzer Punkt den Weg entlang und trat bisweilen in die funkelnden Pfützen von Regenwasser, daß es in die Höhe spritzte –, und dieser schwarze Punkt war Johann Baptist Cavaletto, der seinem Gönner davonlief.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Der Hof zum blutenden Herzen.

In London selbst, wenn auch auf dem alten Landweg nach einer bedeutenden Vorstadt, wo in den Tagen William Shakespeares, des Schriftstellers und Schauspielers, königliche Jagdsitze sich befanden, jetzt aber nur noch Raum für das Jagdvergnügen von Menschenjägern ist, lag der Hof zum blutenden Herzen. Ein Ort, der sich in seinem Aussehen und seinen Verhältnissen sehr verändert, aber immer noch das Gepräge seiner früheren Größe nicht ganz verloren hat. Zwei bis drei mächtige Reihen Schornsteine und einige große dunkle Räume, die man nicht mit Wänden durchzogen und deren alte Proportionen man nicht durch Zerteilung unkenntlich gemacht, gaben dem Hof einen gewissen Charakter. Er wurde von alten Leuten bewohnt, die ihren Ruhesitz unter seinem verschwundenen Glanze aufschlugen, wie die Araber der Wüste ihre Zelte unter den herabgefallenen Quadern der Pyramiden; es war jedoch bei den Familien in dem Hofe das behagliche Gefühl vorherrschend, daß er einen Charakter hatte.

Als ob die künftige Stadt sich bereits in dem Boden selbst, auf dem dieser Hof stand, blähte, hatte sich um den besagten Hof die Erde so hoch aufgeworfen, daß man über eine Treppe dahin gelangte, die einen Teil des ursprünglichen Zugangs bildete, während man aus demselben durch einen niederen Torweg in ein Labyrinth von häßlichen Straßen kam. Diese führten nach allen Seiten, bis man endlich über mancherlei Krümmungen wieder in die Ebene gelangte. Auf einer Seite des Hofes, über dem Torweg, befand sich die Werkstätte von Daniel Doyce, die oft so schwer wie ein blutendes Herz aus Eisen von dem Geklirr von Metall auf Metall erdröhnte.

Die Meinungen des Hofes waren bezüglich der Herkunft seines Namens geteilt. Die Praktischeren unter den Bewohnern blieben bei der Sage eines Mordes. Die empfindsameren, phantasiereicheren Insassen, mit Einschluß des zarten Geschlechts, hielten sich an die Legende von einer jungen Dame, die in früheren Zeiten von einem grausamen Vater in ihrem Zimmer eingekerkert wurde, weil sie ihrem treuen Geliebten treu blieb und sich weigerte, den Gemahl, den er ihr gewählt, zu heiraten. Die Legende erzählte, wie die junge Dame an ihrem Fenster oben hinter den Gittern oftmals gesehen wurde, ein Lied vom verlorenen Geliebten singend, dessen Refrain lautete: »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, bis sie endlich starb. Die mörderische Partei warf dagegen ein, daß dieser Refrain notorisch die Erfindung einer Stickerin, einer alten Jungfer und romantischen Person, sei, die noch im Hofe wohne. Aber, sofern alle Lieblingssagen mit den Neigungen in Verbindung stehen und weit mehr Menschen sich verlieben als Morde begehen, – was, so schlecht wir auch sind, hoffentlich bis zum Ende der Welt die göttliche Fügung sein wird, unter der wir leben – so behielt die Geschichte vom »Blutend Herz, blutend Herz, mußt verbluten«, weitaus die Oberhand. Keine Partei wollte auf die Altertumsforscher hören, die gelehrte Vorlesungen in der Nachbarschaft hielten und zeigten, daß das »Blutende Herz« das heraldische Abzeichen der alten Familie sei, der das Besitztum früher gehört. Und wenn man bedenkt, daß das Stundenglas, das sie von Jahr zu Jahr umdrehten, mit dem irdischsten und gemeinsten Sand gefüllt war, so hatten die Bewohner des Hofes zum blutenden Herzen Grund genug, sich dagegen zu verwahren, daß man sie des einzigen, kleinen goldenen Korns von Poesie berauben wollte, das darin glänzte.

Daniel Doyce, Mr. Meagles und Clennam stiegen über die Treppe in den Hof. Sie durchschritten ihn und gingen zwischen den offnen Türen zu beiden Seiten vorbei, die reichlich mit mageren Kindern besetzt waren, die dicke Kinder hüteten. Dann kamen sie an das entgegengesetzte Ende, den Torweg. Hier blieb Arthur Clennam stehen, um sich nach der Wohnung des Gipsers Plornish umzusehen, dessen Namen nach echter Londoner Sitte Daniel Doyce bis zu dieser Stunde nie gesehen noch gehört.

Und doch war er so leicht zu sehen, wie Klein-Dorrit gesagt: über einem mit Kalk beworfenen Torweg in der Ecke, in der Plornish eine Leiter und einige Töpfe stehen hatte. Das letzte Haus im Hof zum blutenden Herzen, das sie als seine Wohnung beschrieben, war ein großes, an verschiedene Bewohner vermietetes Gebäude. Aber Plornish deutete auf höchst sinnreiche Art an, daß er im Parterre wohne, indem er eine Hand unter seinen Namen gemalt hatte, deren Zeigefinger (an dem der Künstler einen Ring und einen schön geformten Nagel angebracht) alle Frager nach diesem Zimmer wies.

Von seinen Begleitern sich trennend, nachdem er eine zweite Zusammenkunft mit Mr. Meagles verabredet, ging Mr. Clennam allein nach dem Eingang und klopfte mit dem Finger an das Parterrezimmer. Es wurde alsbald von einer Frau geöffnet, die ein Kind auf dem Arme hatte, und deren unbeschäftigte Hand rasch den obern Teil ihres Kleides in Ordnung brachte. Das war Mrs. Plornish, und diese mütterliche Beschäftigung war die Beschäftigung von Mrs. Plornish während des größten Teils ihres wachen Daseins.

»Ist Mr. Plornish zu Hause?«

»Nein, mein Herr«, sagte Mrs. Plornish, eine höfliche Frau, »die Wahrheit zu sagen, er ist ausgegangen, um nach einem Geschäft zu sehen.«

»Die Wahrheit zu sagen«, war eine Redensart von Mrs. Plornish. Sie hätte die Menschen unter allen Umständen so wenig wie möglich getäuscht; aber sie hatte die Eigenheit, in dieser vorsichtigen Weise zu antworten.

»Glauben Sie, daß er bald zurück sein wird, wenn ich auf ihn wartete?«

»Ich erwarte ihn schon seit einer halben Stunde jeden Augenblick«, sagte Mrs. Plornish. »Treten Sie ein, Sir.«

Arthur trat in das ziemlich dunkle und dumpfige, obgleich sehr hohe Parterrezimmer und setzte sich auf den Stuhl, der ihm hingestellt worden war.

»Die Wahrheit zu sagen, Sir, ich schlag‘ es hoch an«, sagte Mrs. Plornish, »ich halte es für sehr gütig von Ihnen.«

Er wußte nicht recht, was sie damit meinte; und dies Gefühl, das sich in seinen Augen aussprach, entlockte ihr eine Erklärung.

»Es kommen nicht viele an diesen Ort der Dürftigkeit, die es der Mühe wert halten, ihren Hut abzunehmen«, sagte Mrs. Plornish. »Aber man denkt doch mehr darüber nach, als die Leute glauben.«

Clennam, der sich verlegen fühlte bei dem Gedanken, daß diese unbedeutende Höflichkeit etwas Außergewöhnliches sei, entgegnete: das sei nicht der Rede wert. Und sich hinabbeugend, um einem andern kleinen Kinde die Wangen zu kosen, das auf dem Boden saß und ihn anblickte, fragte er Mrs. Plornish, wie alt der hübsche Knabe sei.

»Gerade vier Jahre, Sir«, sagte Mrs. Plornish. »Es ist wirklich ein hübscher kleiner Junge, nicht wahr, Sir? Aber der da ist etwas kränklich.« Sie wiegte den Säugling sanft in den Armen, während sie dies sagte. »Sie werden mir gütigst erlauben, Sie zu fragen, Sir, ob es ein Geschäft ist, wegen dessen Sie gekommen?« fügte Mrs. Plornish neugierig hinzu.

Sie fragte so besorgt, daß, wenn er irgendeine Art von Haus gehabt, er es lieber einen Fuß dick hätte mit Gips bewerfen lassen, als nein zu sagen. Aber er war genötigt, nein zu antworten; und er sah einen Schatten von Enttäuschung über ihr Gesicht hinziehen, während sie tief aufseufzte und nach dem herabgebrannten Feuer blickte. Er sah indessen, daß Mrs. Plornish eine junge Frau war, die durch die Armut etwas schlampig an sich selbst und in ihrer Umgebung geworden; Armut und Kinder hatten sie so herumgezogen, daß deren vereinte Kräfte bereits auch Runzeln in ihr Gesicht gezogen.

»Mit allem, was Auftrag heißt«, sagte Mrs. Plornish, »scheint es mir schief zu gehen, wahrhaftig es ist so.« (Hier beschränkte Mrs. Plornish ihre Bemerkung auf das Gipserhandwerk und sprach ohne Beziehung auf das Circumlocution Office und die Familie Barnacle.)

»Ist es so schwierig, Arbeit zu bekommen?« fragte Arthur Clennam.

»Plornish findet es«, versetzte sie. »Er ist sehr unglücklich. Wirklich sehr unglücklich.«

Er war es auch in der Tat. Er war einer von den Pilgern auf dem Lebensweg, die mit übernatürlichen Hühneraugen behaftet sind. Diese machen es ihnen unmöglich, selbst mit ihren lahmen Rivalen gleichen Schritt zu halten. Ein williger, arbeitsamer, sanfter, nicht hartköpfiger Mann, nahm Plornish sein Schicksal so geduldig hin, wie man es nur erwarten konnte, obwohl es ein hartes Schicksal war. Es geschah so selten, daß wirklich jemand seiner zu bedürfen schien; es war ein so großer Ausnahmefall, wenn man seine Kräfte in Anspruch nahm, daß sein trüber Geist sich nicht klar werden konnte, wie dies kam. Er nahm die Sache deshalb, wie sie war; er stolperte in alle Arten von Verlegenheiten und stolperte auch wieder heraus; und so durch das Leben stolpernd, wurde er zuletzt ordentlich zerquetscht.

»Er läßt es ganz gewiß nicht daran fehlen, sich nach Arbeit umzusehen«, sagte Mrs. Plornish, ihre Brauen erhebend und nach einer Lösung des Problems zwischen den Eisenstäben des Gitters suchend, »auch ist er fleißig bei der Arbeit, wenn er solche bekommen kann. Niemand hat meinen Mann je über das Geschäft klagen hören.«

Auf die eine oder andere Art war dies das allgemeine Unglück des Hofes zum blutenden Herzen. Von Zeit zu Zeit war die allgemeine Klage, die sehr nachdrücklich die Runde machte, daß die Arbeitskraft so rar sei – was gewisse Leute sehr übel aufnahmen, als ob sie nach ihrem Gutdünken ein absolutes Recht darauf hätten, – aber der Hof zum blutenden Herzen, obgleich so willig wie irgendein Hof in ganz England, war trotz der Nachfrage deshalb nicht besser daran. Jene hohe alte Familie, die Barnacles, war längst zu sehr mit ihrem großen Prinzip beschäftigt, um in solche Dinge einzudringen; und die Sache hatte auch wirklich nichts mit ihrem Bemühen zu tun, alle andern hohen alten Familien, ausgenommen die Stiltstalking, an Taktik zu übertreffen.

Während Mrs. Plornish in solchen Worten von ihrem abwesenden Manne sprach, kam dieser. Ein glattwangiger, blühend aussehender, rotbärtiger Mann von dreißig Jahren, mit langen Beinen, schlaffen Knien, einfältigem Gesicht und einer flanellenen Jacke, die mit Kalk bespritzt war. »Das ist Plornish, Sir.«

»Ich kam«, sagte Clennam, »Sie um die Gefälligkeit einer kleinen Unterredung wegen der Familie Dorrit zu bitten.«

Plornish wurde mißtrauisch. Er schien einen Gläubiger zu wittern und sagte: »Ah! Ja! So, so. Er wisse nicht, welche Auskunft er einem Gentleman über diese Familie geben könnte. Worum es sich denn handle?«

»Ich kenne Sie besser«, sagte Clennam lächelnd, »als Sie wohl vermuten.«

Plornish bemerkte, ohne jedoch auch zu lächeln: »Und doch habe er nicht das Vergnügen, mit dem Gentleman bekannt zu sein.«

»Nein«, sagte Arthur, »ich kenne Sie durch Ihre Dienste aus zweiter Hand, aber aus der besten Quelle. Durch Klein-Dorrit. Ich meine«, erklärte er, »Miß Dorrit.«

»Mr. Clennam, nicht wahr? Oh! Habe von Ihnen gehört, Sir.«

»Und ich von Ihnen«, sagte Arthur.

»Bitte, setzen Sie sich wieder, Sir, und seien Sie mir willkommen. – O ja«, sagte Plornish, einen Stuhl nehmend und das ältere Kind auf seine Knie nehmend, um die moralische Stütze zu haben, über seinen Kopf hinüber mit dem Fremden sprechen zu können, »ich selber war auch einmal auf der schlimmen Seite der Gefängnistüre und lernte auf diese Weise Miß Dorrit kennen. Ich und meine Frau sind gut bekannt mit Miß Dorrit.«

»Ganz intim!« rief Mrs. Plornish. Sie war wirklich so stolz auf diese Bekanntschaft, daß sie eine ziemlich erbitterte Stimmung im Hofe hervorgerufen, indem sie die Summe, wegen der Miß Dorrits Vater ins Schuldgefängnis kam, ins Enorme gesteigert hatte. Die »blutenden Herzen« nahmen ihren Anspruch auf die Bekanntschaft mit Leuten von solcher Distinktion übel auf.

»Mit ihrem Vater wurde ich zuerst bekannt. Und durch die Bekanntschaft mit ihm wurde ich, Sie begreifen, ganz natürlich auch mit ihr bekannt«, sagte Plornish wiederholend.

»Ich begreife.«

»Ach! Was hat er für Manieren! Wie fein ist er! Was ist er für ein Gentleman, der noch im Marschallgefängnis gedeiht! Sie wissen vielleicht nicht«, sagte Plornish, seine Stimme schwächend und mit einer verkehrten Bewunderung dessen sprechend, was er hätte bemitleiden oder verachten sollen, »wissen nicht, daß Miß Dorrit und ihre Schwester ihn nicht wissen lassen dürfen, daß sie für den Lebensunterhalt arbeiten. Nein«, sagte Plornish, der mit einem lächerlichen Triumph zuerst seine Frau ansah und dann im ganzen Zimmer umherblickte. »Dürfen’s ihn nicht wissen lassen, dürfen’s nicht.«

»Ohne ihn deshalb zu bewundern, tut es mir doch sehr leid um ihn«, bemerkte Clennam ruhig. Diese Bemerkung schien Plornish zum erstenmal darauf aufmerksam zu machen, daß es doch nicht gerade ein sehr edler Charakterzug sei. Er erwog diesen Gedanken einen Augenblick und gab ihn dann auf.

»Gegen mich«, begann er aufs neue, »ist Mr. Dorrit so freundlich, wie man es nur immer erwarten kann. Namentlich, wenn man den Standes- und Rangunterschied zwischen uns in Betracht zieht. Aber wir sprachen von Miß Dorrit.«

»Allerdings. Bitte, wie führten Sie sie bei meiner Mutter ein?«

Mr. Plornish zupfte ein wenig Kalk aus seinem Backenbart, nahm es zwischen die Lippen, drehte es mit seiner Zunge wie eine Zuckerbohne, überlegte, fand sich zu einer klaren Auseinandersetzung unfähig und sagte, an seine Frau sich wendend: »Sally, du kannst ebensogut sagen, wie es kam, ja, Alte.«

»Miß Dorrit«, sagte Sally, den Säugling beruhigend und ihr Kinn auf die kleine Hand legend, als er das Kleid wieder in Unordnung zu bringen suchte. »Miß Dorrit kam eines Nachmittags mit etwas Geschriebenem hierher und sagte, daß sie Beschäftigung als Näherin wünsche, und fragte, ob es uns irgendwie ungelegen wäre, wenn sie die Interessenten hierher weisen lasse.« (Plornish wiederholte: die Interessenten hierher weisen lasse, mit leiser Stimme, als ob er in der Kirche nachbetete.) »Ich und Plornish sagen, nein, Miß Dorrit, gar nicht ungelegen.« (Plornish wiederholte: nicht ungelegen.) »Und sie schrieb es demzufolge hinein, worauf ich und Plornish sagen: Aber Miß Dorrit!« (Plornish wiederholte: Aber Miß Dorrit.) »Haben Sie auch daran gedacht, es drei- bis viermal abzuschreiben, damit man’s an verschiedenen Plätzen anschlagen kann? ›Nein‹, sagte Miß Dorrit, ›ich habe es nicht getan, aber ich will’s tun.‹ Sie schrieb es deshalb auf diesem Tisch recht schön ab, und Plornish nahm es mit, wohin er zur Arbeit ging, er hatte damals gerade Arbeit« (Plornish wiederholte: damals gerade Arbeit), »und dann auch zu dem Besitzer des Hofes zum blutenden Herzen. So kam es, daß Mrs. Clennam zuerst Miß Dorrit beschäftigte.« (Plornish wiederholte: Miß Dorrit beschäftigte.) Und Mrs. Plornish, die zu Ende war, tat, als bisse sie in die kleine Hand, während sie sie küßte.

»Der Besitzer des Hofes«, sagte Arthur Clennam, »ist –«

»Er heißt Mr. Casby«, sagte Plornish, »und Pancks, der kassiert die Miete ein. Das«, fügte Mr. Plornish hinzu, indem er mit einer Langsamkeit des Geistes und Denkens, die sich an keinen besonderen Gegenstand zu ketten, ihn auf keinen besondern Punkt zu führen schien, bei dieser Sache verweilte, »das ist’s, was sie ungefähr sind, Sie mögen mir’s glauben oder nicht, wies Ihnen beliebt.«

»Ach!« versetzte Clennam, nun auch in Gedanken versinkend. »Mr. Casby! Ein alter Bekannter von mir; lange Zeit her.«

Mr. Plornish fand keinen Weg, sich das Wieso zu erklären, und ließ es darum auch auf sich beruhen. Da hier wirklich kein Grund vorhanden war, weshalb er auch nur das geringste Interesse daran haben sollte, ging Arthur Clennam wieder zum Zweck seines Besuches über; nämlich Plornish zur Befreiung Tips als Werkzeug zu benutzen, und zwar mit so wenig Nachteil wie möglich für das Selbstvertrauen und die Selbsthilfe des jungen Mannes, da er voraussetzte, daß diese Eigenschaften noch nicht ganz in ihm aufgehört; freilich eine sehr kühne Voraussetzung. Plornish, der mit der Klagesache aus dem eignen Munde des Beklagten bekannt gemacht worden, gab Arthur zu verstehen, daß der Kläger ein »Chaunter« sei – er meinte damit nicht einen Kirchensänger, sondern einen Pferdehändler – und daß er (Plornish) glaube, mit zehn Schilling per Pfund sei die Sache »sehr schön bereinigt« – mehr aber hieße das Geld hinauswerfen.

Bald darauf begaben sich Clennam und sein Werkzeug nach einem Pferdehof in High Holborn, wo ein außerordentlich schöner, grauer Wallach, mindestens fünfundsiebenzig Guineen wert (ungerechnet der Wert des Schrots, den man ihm gegeben, um seine Form zu verschönern), für eine Zwanzig-Pfund-Note verkauft werden sollte. Er war nämlich vergangene Woche mit Frau Kapitän Barbary von Cheltenham durchgegangen, die einem Pferd seines Mutes nicht gewachsen war und es aus purem Ärger um diese lächerliche Summe verkaufen oder, mit andern Worten, verschenken wollte. Plornish, der allein in den Hof hineinging und den Herrn draußen ließ, fand einen Gentleman mit engen, schwarzbraunen Beinkleidern, einem ziemlich alten Hut, einem kleinen, krummen Stock und einem blauen Halstuch (Kapitän Marvon von Gloucestershire, ein intimer Freund von Kapitän Barbary), der glücklicherweise gerade anwesend war, um diese Mitteilungen über den außerordentlich feinen Schimmelwallach jedem wirklichen Pferdekenner und jedem, der etwas Gutes wegschnappen wollte, zu geben, falls er etwa, durch die Zeitungsanzeige veranlaßt, hier vorsprechen würde.

Dieser Gentleman, der zufällig auch der Kläger in Tips Sache war, wies Mr. Plornish an seinen Sachwalter und weigerte sich, mit Mr. Plornish zu verhandeln oder auch nur seine Anwesenheit im Hofe zu dulden, wenn er nicht mit einer Zwanzig-Pfund-Note erscheine. In diesem Fall allein wollte der Gentleman aus dem Schein schließen, daß er in Geschäftsangelegenheiten gekommen und eingelassen werden könne. Auf solchen Wink entfernte sich Mr. Plornish, um mit seinem Auftraggeber zu sprechen, und kam alsbald mit dem verlangten Kreditbriefe zurück. Kapitän Maroon sagte nun: »Wie lange brauchen Sie, um auch die andern zwanzig aufzubringen? Ich will Ihnen einen Monat Zeit lassen.« Kapitän Maroon sagte ferner, als es nicht passen wollte: »Nun, ich will Ihnen sagen, was ich tun will. Sie bringen mir einen guten Wechsel, bei irgendeinem Bankhaus in vier Monaten zahlbar, für die andern zwanzig Pfund.« Kapitän Maroon sagte ferner, als auch das nicht passen wollte: »Nun, kommen Sie; daß ist das Letzte, was ich Ihnen vorschlagen kann. Zahlen Sie mir zehn Pfund bar, so will ich die Schuld ausstreichen.« Kapitän Maroon sagte weiter, als auch das nicht passen wollte: »Nun, ich will Ihnen sagen, wie es ist, und damit ist die Sache abgemacht; er hat mir schlecht mitgespielt; aber ich will ihn für fünf Pfund bar und eine Flasche Wein springen lassen, wenn Ihnen das recht ist, so sei’s abgemacht, wenn nicht, so lassen wir die Sache beim alten.« Zuletzt sagte Kapitän Maroon, als selbst auch das noch nicht genügen wollte: »Abgemacht denn!« – Und gab rücksichtlich des ersten Anerbietens einen Schein für den Empfang der vollen Summe und sprach den Gefangenen frei.

»Mr. Plornish«, sagte Arthur, »ich vertraue Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, mein Geheimnis an. Wenn Sie es auf sich nehmen wollen, dem jungen Mann wissen zu lassen, daß er frei ist, und ihm zu sagen, daß Sie von jemandem, den Sie nicht nennen dürften, beauftragt seien, die Schuld abzutragen, so werden Sie nicht nur mir, sondern nicht weniger ihm und auch seiner Schwester einen Dienst erweisen.«

»Der letzte Grund, Sir«, sagte Plornish, »würde vollständig genügen. Ihre Wünsche sollen erfüllt werden.«

»Ein Freund habe seine Freilassung erwirkt, können Sie ja sagen, wenn Sie wollen. Ein Freund, der hoffe, daß er um seiner Schwester, wenn auch sonst um niemandes willen, einen guten Gebrauch von seiner Freiheit machen werde.«

»Ihre Wünsche sollen erfüllt werden, Sir.«

»Und wenn Sie so freundlich sein wollten, da Sie die Familie besser kennen, offen gegen mich zu sein und mir die Mittel zu sagen, wie ich Klein-Dorrit auf eine zarte Weise nützlich sein kann, so werde ich mich Ihnen sehr verbunden fühlen.«

»Bitte sehr, Sir«, versetzte Plornish, »es wird mir gleichfalls ein Vergnügen sein und ein – gleichfalls ein Vergnügen sein und ein –“ Da er sich, trotz zweimaligen Versuchs, nicht imstande fühlte, seine Phrase zu vollenden, ließ Mr. Plornish sie klugerweise fallen. Er nahm Clennams Karte nebst einem angemessenen Geldgeschenk in Empfang.

Er wollte sich des Auftrags alsbald entledigen, und auch sein Auftraggeber war damit einverstanden. Dieser bot ihm deshalb an, ihn bei dem Tor des Marschallgefängnisses abzusetzen, und sie fuhren nach jener Gegend über die Blackfriarsbrücke. Auf dem Weg entlockte Arthur seinem neuen Freunde eine verwirrte Übersicht über das innere Leben im Hof zum blutenden Herzen. Sie seien dort alle sehr schlimm dran, sagte Mr. Plornish, ungemein schlimm dran, das könne er versichern.

Er könne nicht sagen, wie das komme; er wisse nicht, ob es irgend jemand sagen könne; alles, was er wisse, sei, daß dies wirklich so wäre. Wenn ein Mensch an seinem eigenen Rücken oder in seinem Bauch fühle, daß er arm sei, so wisse dieser Mensch (das war Mr. Plornishs feste Überzeugung), daß er auf irgendeine Art arm sei, und man könne es ihm auch nicht ausreden, wie man kein Ochsenfleisch in ihn hineinreden könne.

Und dann, sehen Sie, einzelne Leute, denen es besser geht, und derer wohnen eine ziemliche Masse bis dicht an dies Quartier und drüber hinaus, wie er gehört, – diese hätten gesagt, sie seien »sorglose Menschen« (das war sein Lieblingswort). Wenn sie zum Beispiel einen Mann mit seiner Frau und seinen Kindern in einem Wagen nach Hampton Court fahren sehen, und wär’s auch nur einmal im Jahre, so sagen sie: »Hallo! Ich habe geglaubt, Ihr seid arm, mein sorgloser Freund!« Nun, bei Gott, das sei doch gewiß hart gegen den Mann! Was solle der Mensch anfangen? Er könne nicht »melancholisch« den Kopf hängen lassen, und wenn er’s täte, wär‘ es darum nicht besser. Nach Mr. Plornishs Ansicht wäre es nur um so schlimmer. Aber man scheine den Menschen wirklich melancholisch, wahnsinnig machen zu wollen. Darauf arbeitete man ständig hin – wenn nicht mit der rechten Hand, dann mit der linken. Und was tun die Leute im Hof zum blutenden Herzen? Sehe man sich’s mal näher an. Die Mädchen und ihre Mütter seien mit Nähen oder Schuheinfassen, Säumen und Kleidermachen Tag und Nacht und Nacht und Tag beschäftigt und nicht imstande, mehr als Leib und Seele zusammenzuhalten und oft nicht mal so viel. Es gebe dort Leute von allen Arten von Gewerben, die man kaum nennen könne, die alle arbeitsbedürftig seien, aber keine Arbeit bekommen könnten. Es wohnen alte Leute dort, die, nachdem sie ihr ganzes Leben hindurch gearbeitet, ins Armenhaus eingeschlossen, dort schlechtere Kost, Wohnung und Behandlung hätten, als – Mr. Plornish sagte Fabrikarbeiter, schien aber Strafarbeiter zu meinen. Man wisse nicht, wohin man sich wenden solle, um sich ein bißchen Labsal zu verschaffen.

Wer darob zu tadeln sei, – Plornish wußte es nicht. Er könnte auch sagen, wer darunter litt, aber nicht, wessen Schuld es wäre. Es sei nicht seine Sache, das herauszubringen, und wer würde darauf achten, wenn es ihm gelänge? Er wüßte bloß, daß diejenigen, die das täten, es nicht recht machten und daß es von selbst auch nicht recht würde. Kurz, es war seine unlogische Ansicht, daß, wenn man nichts für ihn tun könne, man lieber von ihm auch nichts dafür nehmen würde, daß man sich damit zu tun machte; soweit er sich die Sache erklären könne, käme es darauf hinaus. So drehte Plornish in seiner weitläufigen, halb murrenden, törichten Manier den verwickelten Strang seiner Lage um und um wie ein blinder Mann, der einen Anfang oder ein Ende desselben zu finden sucht, – bis sie endlich das Tor des Gefängnisses erreichten. Dort verließ er seinen Auftraggeber, der, während sein Gehilfe von ihm wegeilte, überlegte, wie viele tausend Plornishs wohl, ein bis zwei Tagreisen in der Runde um das Circumlocution Office herum, allerlei seltsame Variationen derselben Melodie spielten, die man in dem glorreichen Institut nicht einmal vom Hörensagen kannte.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Patriarchalisch.

Die Erwähnung von Mr. Casby machte in Clennams Gedächtnis die rauchenden Kohlen der Neugierde und des Interesses wieder glühen, die Mrs. Flintwinch am Abend seiner Ankunft angefacht. Flora Casby war die Geliebte seiner Knabenzeit gewesen, und Flora war die Tochter und das einzige Kind des holzklotzköpfigen alten Christopher (so nannten ihn bisweilen einige unehrerbietige Geister, die Geschäfte mit ihm hatten, und bei denen die Vertraulichkeit vielleicht ihre sprichwörtlichen Resultate hatte); er genoß den Ruf eines Mannes von großen wöchentlichen Mieteinnahmen; und ferner, daß er eine gute Quantität Blut aus den Steinen verschiedener wenig versprechender Höfe und Gäßchen zu pressen wisse.

Nach mehrtägigem Forschen und Fragen gewann Arthur Clennam endlich die Überzeugung, daß die Sache des Vaters vom Marschallgefängnis wirklich eine hoffnungslose sei, und verzichtete mit großem Schmerz auf den Gedanken, ihm zu seiner Freiheit zu verhelfen. Er hatte im Augenblick auch wegen Klein-Dorrits keine Nachforschungen mit Aussicht auf Erfolg anzustellen; aber er dachte bei sich, wenn irgend etwas, werde es für das arme Kind dienlich sein, wenn er diese Bekanntschaft erneuere. Es ist kaum nötig, hinzuzufügen, daß er ohne allen Zweifel sich bei Mr. Casby eingefunden, auch wenn keine Klein-Dorrit vorhanden gewesen; denn wir wissen alle, wie wir uns täuschen – das heißt, wie die Leute im allgemeinen, unser tieferes Selbst ausgenommen, sich über die Beweggründe ihrer Handlungen täuschen.

Mit einem angenehmen und in seiner Art ehrlichen Gefühl, daß er Klein-Dorrit auch selbst dann in seinen Schutz nehme, wenn er tue, was gar keine Beziehung zu ihr habe, stand er eines Nachmittags an der Ecke der Straße von Mr. Casby. Mr. Casby wohnte in einer Straße in Gray’s Inn Road, die mit der Absicht von dieser Durchfahrt sich abzweigt, in einem Lauf nach dem Tal hinab und wieder nach der Höhe von Pentonville Hill hinaufzurennen, die sich aber nach einer Strecke von zwanzig Ellen außer Atem gelaufen und seit jener Zeit stillgestanden. Es existiert jetzt kein solcher Platz in jenem Stadtteil mehr. Aber die stehengebliebene Straße war viele Jahre dort zu sehen, wie sie mit getäuschtem Gesicht nach der mit unfruchtbaren Gärten bepflasterten und mit finnenartig hervorbrechenden Sommerhäusern durchzogenen Wildnis hinabschaute, die sie im Nu zu überrennen gewillt gewesen.

»Das Haus«, dachte Clennam, als er über die Straße nach der Tür ging, »hat sich so wenig verändert wie das meiner Mutter und sieht beinahe ebenso düster aus. Aber die Ähnlichkeit hört schon außerhalb auf. Ich kenne seine stille Ruhe darinnen. Der Geruch seiner Vasen mit Rosenblättern und Lavendel scheint mir bereits entgegenzuduften.«

Als auf sein Klopfen mit dem glänzenden messingenen Türhammer von altväterischer Form eine Dienerin in der Tür erschien, begrüßten ihn wirklich diese welken Gerüche wie ein Winterhauch, der uns flüchtig an den vergangenen Frühling erinnert. Er trat in das nüchterne, stille, luftdichte Haus – man hätte glauben können, es sei von stummen Henkern nach orientalischer Methode erstickt worden –, und als die Tür wieder geschlossen wurde, schien sie Klang und Bewegung hinauszubannen. Das Hausgerät war feierlich, ernst und quäkerartig, aber gut gehalten, und machte einen so befangenen Eindruck, wie irgend etwas von einem menschlichen Geschöpf bis zu einem hölzernen Stuhl herab, das für vielen Gebrauch bestimmt, aber zu wenigem aufbewahrt ist, nur immer haben kann. Eine schwere Uhr tickte irgendwo auf der Treppe, und in derselben Gegend befand sich ein gesangloser Vogel, der an seinem Käfig pickte, als ob er gleichfalls tickte. Das Feuer im Parterrezimmer tickte auf dem Rost. Nur eine Person befand sich an dem Kamine des Parterrezimmers, und die laute Uhr in ihrer Tasche tickte hörbar.

Die Dienerin hatte die beiden Worte »Mr. Clennam« so leise getickt, daß sie nicht gehört worden war. Er stand deshalb unbemerkt in der Tür, die sie geschlossen. Die Gestalt eines Mannes von vorgerücktem Alter, dessen glatte, weiße Augbrauen sich nach dem Ticken zu bewegen schienen, während der Feuerschein auf ihnen flackerte, saß in einem Armstuhl, die Lackschuhe auf dem Kaminteppich streckend und die Daumen langsam umeinander drehend. Es war der alte Christopher Casby – auf den ersten Blick zu erkennen –, seit zwanzig Jahren und noch länger so unverändert wie sein solides Hausgerät, – von dem Einfluß der verschiedenen Jahreszeiten so wenig berührt wie die alten Rosenblätter und der alte Lavendel in seinen Porzellantöpfen. Vielleicht gab es in dieser schwierigen Welt nichts für die Phantasie so Schwieriges, wie sich ihn als Knaben vorzustellen; und doch hatte er sich seit jener Zeit auf seinem Weg durchs Leben sehr wenig verändert. Ihm gegenüber, in dem Zimmer, in dem er saß, befand sich das Bild eines Knaben, das jeder beim ersten Blick als das von Mr. Christopher Casby in seinem zehnten Jahre bezeichnet haben würde. Obgleich er als kleiner Heumäher verkleidet und mit einem Rechen versehen war, für den er von je so viel Geschmack oder Gebrauch gehabt wie für eine Taucherglocke, und dabei (auf einem seiner Beine) auf einer Veilchenbank saß, durch eine Dorfkirchturmspitze in frühreife Betrachtungen versenkt. Es war dasselbe glatte Gesicht, dieselbe glatte Stirn, dasselbe ruhige, blaue Auge, dieselbe gelassene Miene. Der glänzende Glatzkopf, der so groß erschien, weil er so viel Glanz verbreitete, und das lange weiße Haar an den Seiten und hinten, wie Pflanzenseide oder gesponnenes Glas herabhängend, das so wohlwollend aussah, weil es nie geschnitten wurde – das war natürlich bei dem Knaben nicht zu finden wie bei dem Mann. Trotzdem konnte man in dem ätherischen Wesen mit dem Heurechen deutlich die Spuren des Patriarchen mit den Lackschuhen erkennen.

Patriarch war der Name, den ihm viele Leute zu geben beliebten. Verschiedene alte Frauen in der Nachbarschaft sprachen von ihm als von dem »Letzten Patriarchen«. Sein weißes Haar, sein sanftes, ruhiges, leidenschaftsloses, kugelköpfiges Wesen gaben ihm ein Recht auf den Namen des Patriarchen. Er war in den Straßen angeredet und höflich ersucht worden, ein Patriarch für Maler und Bildhauer zu werden: und zwar wirklich mit solcher Zudringlichkeit, daß es den Schein hätte haben können, als ob es gar nicht die Aufgabe der schönen Kunst wäre, sich der Wesenheiten eines Patriarchen zu entsinnen oder einen solchen zu erfinden. Menschenfreunde beiderlei Geschlechts hatten gefragt, wer er sei, und als man ihnen sagte: »Der alte Christopher Casby, früher Stadtagent von Lord Decimus Tite Barnacle«, in der Ekstase der Enttäuschung ausgerufen: »Oh! warum ist er mit diesem Kopf nicht ein Wohltäter für sein Geschlecht! Oh! warum ist er mit diesem Kopf nicht ein Vater der Waisen und ein Freund der Verlassenen!« Mit diesem Kopf blieb er jedoch der alte Christopher Casby, dem allgemeinen Gerüchte zufolge ein reicher Hauseigentümer; und mit diesem Kopf saß er nun in seinem stillen Parterrezimmer. Es wäre auch wirklich ganz unvernünftig zu erwarten, er werde ohne diesen Kopf dasitzen.

Arthur Clennam machte eine Bewegung, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die weißen Augenbrauen wandten sich nach ihm um.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Clennam, »denn ich muß befürchten, daß Sie mich nicht melden hörten.«

»Nein, Sir, wirklich nicht. Wollten Sie mich sprechen, Sir?«

»Ich wollte Ihnen meinen Besuch machen.«

Mr. Casby schien durch diese Worte ein wenig enttäuscht, da er vielleicht auf einen andern wichtigeren Wunsch des Fremden gefaßt war. »Habe ich das Vergnügen, Sir?« – fuhr er fort, – »nehmen Sie sich einen Stuhl, wenn’s gefällig – habe ich das Vergnügen, Sie zu kennen? Ah! wirklich, ja, ich denke wohl! Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß ich mit diesen Gesichtszügen bekannt bin? Ich spreche doch wohl mit einem Gentleman, von dessen Heimkehr in das Vaterland mich Mr. Flintwinch unterrichtet?«

»Der bin ich.«

»Wirklich, Mr. Clennam?«

»Niemand anders, Mr. Casby.«

»Mr. Clennam, ich freue mich. Sie zu sehen. Wie ging es Ihnen, seit wir uns nicht mehr gesprochen?«

Ohne es der Mühe wert zu halten, zu erklären, daß er im Laufe eines Vierteljahrhunderts nach Körper und Geist manche kleine Veränderung durchgemacht, antwortete Clennam im allgemeinen, daß er sich nie wohler befunden, oder etwas der Art, und schüttelte die Hände des Besitzers des Kopfs, während dieser sein patriarchalisches Licht über ihn ergoß.

»Wir sind älter geworden, Mr. Clennam«, sagte Christopher Casby.

»Wir sind – nicht jünger“, sagte Clennam. Nach dieser klugen Bemerkung merkte er, daß er keinen glänzenden Schein von sich gegeben, und er fühlte sich etwas unbehaglich.

»Und Ihr verehrter Vater«, sagte Mr. Casby, »ist nicht mehr! Es hat mich sehr geschmerzt, das zu hören, Mr. Clennam, sehr geschmerzt.«

Arthur gab ihm auf die übliche Weise zu erkennen, daß er ihm unendlich verbunden sei.

»Es gab eine Zeit«, sagte Mr. Casby, »wo Ihre Eltern und ich nicht auf freundschaftlichem Fuße standen. Es herrschte ein kleines Mißverständnis zwischen uns. Ihre verehrte Mutter war vielleicht etwas eifersüchtig auf ihren Sohn; wenn ich sage, ihren Sohn, so meine ich Ihre würdige Person, Ihre würdige Person.«

Sein glattes Gesicht hatte eine Röte wie reifes Spalierobst. Mit diesem blühenden Gesicht, diesem Kopf und seinen blauen Augen schien er Gefühle von seltener Weisheit und Kraft zu äußern. In gleicher Weise schien sein physiognomischer Ausdruck mit lauter Wohlwollen schwanger zu gehen. Niemand hätte sagen können, worin diese Weisheit, worin diese Kraft oder dieses Wohlwollen lag; aber sie schienen doch alle von ihm auszugehen.

»Diese Zeiten«, fuhr Mr. Casby fort, »sind jedoch vergangen und vorbei, vergangen und vorbei. Ich mache mir selbst das Vergnügen, Ihre verehrte Mutter bisweilen zu besuchen und den Mut und die Stärke zu bewundern, mit der sie ihre Prüfung trägt, Prüfung trägt.«

Wenn er diese kleinen Wiederholungen machte, die Hände ineinander gelegt vor sich, tat er es mit dem Kopf auf die eine Seite geneigt und einem freundlichen Lächeln, als ob er etwas im Sinne trüge, das zu gütig und inhaltsschwer, als daß es in Worte gebracht werden könnte: als ob er sich selbst das Vergnügen versagte, es auszusprechen, weil er sonst zu hoch fliegen müßte und seine bescheidene Natur es deshalb vorzöge, Nichtssagendes zu sprechen.

»Ich habe gehört, daß Sie so freundlich waren, bei einem dieser Besuche«, sagte Arthur, die Gelegenheit ergreifend, während sie an ihm vorbeigeführt wurde, »Klein-Dorrit bei meiner Mutter zu erwähnen.«

»Klein –? Dorrit? Das ist die Näherin, die mir von einem meiner geringeren Mieter genannt wurde? Ja, ja. Dorrit! Das ist der Name. Ach, ja, ja. Sie nennen sie Klein-Dorrit?«

Kein Weg in dieser Richtung. Nichts kam in die Quere. So ging es zum Ziel.

»Meine Tochter Flora«, sagte Mr. Casby, »wie Sie wahrscheinlich gehört, Mr. Clennam, heiratete vor mehreren Jahren. Sie hatte das Unglück, ihren Gatten wenige Monate nach der Hochzeit zu verlieren. Sie wohnt jetzt wieder bei mir und wird sich sehr freuen, Sie zu sehen, wenn Sie mir erlauben wollen, sie wissen zu lassen, daß Sie hier sind.«

»Ganz gewiß«, versetzte Clennam. »Ich hätte selbst darum gebeten, wenn Sie mir nicht zuvorgekommen wären.«

Mr. Casby erhob sich in seinen Lackschuhen und ging mit langsamem schwerem Tritt (er war von elefantenartiger Bauart) nach der Tür. Er hatte einen langen, weitschößigen, flaschengrünen Rock und ein Paar flaschengrüne Beinkleider und eine flaschengrüne Weste an. Die Patriarchen trugen kein flaschengrünes Tuch, und doch hatten seine Kleider etwas Patriarchalisches.

Er hatte kaum das Zimmer verlassen und das Ticken wieder hörbar werden lassen, als eine rasche Hand einen Schlüssel in der Haustür umdrehte, sie öffnete und schloß. Augenblicklich darauf kam ein lebhafter, eifriger, kurzer, finstrer Mann mit so viel Ungestüm in das Zimmer, daß er nur noch einen Fuß von Clennam entfernt war, ehe er halten konnte.

»Hallo!« sagte er.

Clennam sah keinen Grund, weshalb er nicht auch »Hallo!« sagen sollte.

»Was gibt es?« sagte der kurze, finstre Mann.

»Ich habe nicht gehört, daß es irgend etwas gibt«, versetzte Clennam.

»Wo ist Mr. Casby?« fragte der kurze, finstre Mann und sah sich um.

»Er wird augenblicklich wieder da sein, wenn Sie ihn erwarten wollen.«

»Ich ihn erwarten?« sagte der kurze, finstre Mann. »Erwarten Sie ihn?«

Dies veranlaßte ein bis zwei Worte der Erklärung seitens Clennams, während deren der kurze, finstre Mann seinen Atem anhielt und ihn ansah. Er war in Schwarz und in ein Grau wie rostiges Eisen gekleidet, hatte onyxschwarze Kügelchen von Augen, ein ruppiges, kleines, schwarzes Kinn, drahtartiges, schwarzes Haar, spitzig von seinem Kopf abstehend wie Gabeln oder Haarnadeln, und eine Farbe, die sehr dunkel von Natur und sehr schmutzig durch Kunst oder eine Mischung von Kunst und Natur war. Er hatte schmutzige Hände und schmutzige abgebrochene Nägel und sah aus, als ob er im Kohlenberg gewesen wäre. Er war in Schweiß geraten und schnaufte und pustete und schnaubte und blies, wie ein kleines arbeitendes Dampfschiff.

»Oh«, sagte er, als Arthur ihm gesagt, wie er hierhergekommen. »Ganz gut. Das ist recht. Wenn er nach Pancks fragen sollte, wollen Sie die Güte haben, ihm zu sagen, daß Pancks gekommen?« Und pustend und schnaufend schob er zu einer andern Tür hinaus.

Vor Zeiten, als er noch in der Heimat lebte, hatten gewisse kühne Zweifel an dem letzten Patriarchen, die in der Luft verbreitet waren, das Gemüt Arthurs berührt. Er wurde einzelner Punkte und Stäubchen in der Atmosphäre einer Zeit gewahr, durch deren Medium gesehen, Christopher Casby wie ein bloßes Wirtshausschild ohne Wirtshaus erschien – eine Einladung auszuruhen und dankbar zu sein, während es keinen Ort gab, wo man einkehren, und nichts, wofür man hätte dankbar sein können. Er wußte, daß einige dieser Stäubchen Christopher sogar als einen Mann, der in »diesem Kopf« Pläne beherberge, und als schlauen Betrüger bezeichneten. Andere Punkte zeigten ihn als einen schwerfälligen, eigensinnigen, aufbrausenden Einfaltspinsel, der, nachdem er bei seinem unbeholfenen Anrennen gegen andere Menschen auf die Entdeckung gestolpert, daß, um mit Leichtigkeit und Sicherheit durchs Leben zu kommen, man bloß den Mund halten, den kahlen Teil seines Kopfes gut polieren und sein Haar wachsen lassen müsse, List genug besessen, um solche Idee zu ergreifen und daran festzuhalten. Man sagte, seine Stellung als Stadtagent von Lord Decimus Tite Barnacle schreibe sich nicht davon her, daß er auch nur das geringste Geschäftstalent besessen, sondern davon, daß er so ausnehmend wohlwollend ausgesehen, daß niemand hätte annehmen können, das Eigentum werde unter einem solchen Manne mißbraucht oder verschachert. Aus ähnlichen Gründen gewann er sich unzweifelhaft mehr Geld durch seine nichtswürdigen Baracken, als irgend jemand mit einem minder harten und leuchtenden Schädel je imstande gewesen wäre. Mit einem Wort, man behauptete (Clennam erinnerte sich dessen jetzt in dem tickenden Parterrezimmer), daß viele Menschen ihre Modelle ziemlich wie die eben erwähnten Maler die ihren wählen und daß, während in der königlichen Akademie ein elender, alter Schuft von Hundedieb sich alle Jahre finden wird, der alle Kardinaltugenden in sich vereinigt, was seine Augenwimpern oder sein Kinn oder seine Beine betrifft (und dabei den Dorn der Verlegenheit in die Brust der scharfsichtigeren Naturforscher drückt), häufig in der großen sozialen Ausstellung Äußerlichkeiten statt des inneren Charakters angenommen werden.

An diese Dinge dachte Arthur Clennam an jenem Tage, und Mr. Pancks in eine Reihe mit ihnen stellend, neigte er sich zu der Ansicht, ohne gerade sich entschieden für sie auszusprechen, daß der letzte der Patriarchen der oben besprochene, aufbrausende Einfaltspinsel sei, der den kahlen Teil seines Kopfes fein poliere. Wie man zuweilen auf der Themse ein schwerfälliges Schiff mit der Breitseite, das Hinterteil voran, in der Flut treiben sieht, sich selbst und allen andern im Wege – obgleich es große Parade mit seiner Schifffahrt macht, und dann plötzlich ein kleiner kohlenbeschmutzter Schleppdampfer darauf lossteuert, es ins Schlepptau nimmt und damit fortbraust, so schien auch der schwerfällige Patriarch von dem schnaubenden Pancks ins Schlepptau genommen worden zu sein, um nun dem Kielwasser dieses schmutzigen kleinen Schiffes zu folgen.

Die Rückkehr Mr Casbys mit seiner Tochter Flora machte diesen Gedanken ein Ende. Clennams Augen fielen kaum auf den Gegenstand seiner früheren Leidenschaft, als diese auch zusammenstürzte und in Stücke brach. Man wird die meisten Menschen so weit sich selbst treu finden, daß sie einem Ideal treu bleiben. Es ist kein Beweis eines unbeständigen Sinnes, sondern geradezu des Gegenteils, wenn dieses Ideal später nicht einen strengen Vergleich mit der Wirklichkeit aushalten kann und der Kontrast ein schlimmer Stoß für dasselbe ist. Das war auch Clennams Fall. In seiner Jugend hatte er dieses Weib glühend geliebt und auf sie all den verschlossenen Reichtum seiner Zuneigung und Liebe gehäuft. Dieser Reichtum war in seiner öden Heimat wie Robinson Crusoes Geld gewesen; bei niemandem auszuwechseln, unnütz im Dunkeln rostend, bis er ihn vor ihr ausschüttete. Seit jener denkwürdigen Zeit, obgleich er bis zu dem Abend seiner Ankunft sie von jeder Verbindung mit seiner Gegenwart oder Zukunft vollkommen ausgeschlossen, als wenn sie tot gewesen (was sie auch leicht sein konnte, da er nichts von ihr wußte), seit jener Zeit hatte er das alte Phantasiebild an seinem alten geheiligten Platz unverändert bewahrt. Und jetzt trat endlich der letzte der Patriarchen kalt in sein Zimmer und sagte gleichsam: „Haben Sie die Güte, es niederzuwerfen und darauf zu tanzen. Das ist Flora.“

Flora, die immer groß gewesen, war nun auch breit und kurzatmig geworden; aber das war noch nichts. Flora, die er als eine Lilie verlassen, war eine Pfingstrose geworden; aber das war noch nichts. Flora, die in allem, was sie sagte, etwas Bezauberndes gehabt, war langweilig und albern geworden. Das war schon viel. Flora, die ehedem kindlich und ungekünstelt gewesen, war entschlossen, auch jetzt kindlich und ungekünstelt zu sein. Das war ein fataler Schlag.

Das ist Flora! »Ich bin überzeugt«, kicherte Flora, ihren Kopf mit einer Karikatur kindlichen Wesens hin- und herwerfend, wie das ein Vermummter bei ihrem Begräbnis hätte nachahmen können, wenn sie im klassischen Altertum gelebt hätte und gestorben wäre, »ich schäme mich, Mr. Clennam zu begegnen, ich fühle mich befangen; ich weiß, er wird mich schrecklich verändert finden, ich bin wirklich eine alte Frau. Es ist höchst unangenehm, ein solches Wiedersehen ist höchst unangenehm!«

Er versicherte sie, daß sie ganz so sei, wie er sie erwartet, und daß die Zeit bei ihm gleichfalls nicht stille gestanden.

»Ach! aber bei einem Herrn ist das etwas ganz anderes, und dann sehen Sie auch so erstaunlich gut aus, daß Sie wirklich kein Recht haben, etwas der Art zu sagen, während ich. Sie wissen – ach!« rief Flora mit einem leichten Schrei, »schrecklich aussehe.«

Der Patriarch, der offenbar seine eigne Rolle in dem Drama, das gerade aufgeführt wurde, noch nicht verstand, glühte vor leerer Heiterkeit.

»Aber wenn wir von nicht verändert sprechen«, sagte Flora, die, was sie auch sagen mochte, nie zu einem vollen Abschluß kam, »sehen Sie Papa an, ist Papa nicht genau so, wie er war, als Sie fortreisten, ist es nicht grausam und unnatürlich von Papa, ein solcher Vorwurf für sein eignes Kind zu sein, daß die Leute, die uns nicht kennen, wenn es auf diese Weise fortgeht, am Ende glauben werden, ich sei Papas Mama?“

»Das würde noch lange dauern«, bemerkte Arthur.

»Oh, Mr. Clennam, Sie unlauterstes von allen Wesen«, sagte Flora, »ich sehe schon, daß Sie Ihre alte Art, Komplimente zu machen, noch nicht verloren haben, wie damals, als Sie behaupteten, sentimental verliebt zu sein. Sie wissen – ich meine es eigentlich nicht – o, ich weiß nicht, was ich meine!« Hier kicherte Flora verlegen und warf ihm einen ihrer alten Blicke zu.

Der Patriarch, als ob er nun zu merken begänne, daß es seine Rolle in dem Stücke sei, sobald wie möglich von der Szene abzutreten, stand auf und ging nach der Tür, durch die Pancks hinausgestürmt, und rief diesen Schleppdampfer beim Namen. Er erhielt von einem kleinen Dock im andern Zimmer eine Antwort und wurde alsbald außer Sicht bugsiert.

»Sie dürfen noch nicht ans Gehen denken«, sagte Flora,– Arthur hatte nach seinem Hut gesehen, da er in einer komischen Verlegenheit war und nicht wußte, was er tun sollte; »Sie können nicht so unfreundlich sein, ans Gehen zu denken, Arthur – ich wollte sagen Mr. Arthur – oder Mr. Clennam wäre, glaube ich, weit passender – aber ich weiß wirklich nicht, was ich sage –, ohne mit einem Worte die schönen alten Zeiten, die für immer dahin sind, berührt zu haben. Obgleich, wenn ich daran denke, ich sagen muß, es wäre weit besser, nicht davon zu sprechen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Sie irgendeine weit angenehmere Beschäftigung haben, und ich bitte, lasten Sie mich die letzte Person in der Welt sein, die Sie daran hindern sollte, obgleich es eine Zeit gab, – aber ich schwatze schon wieder Unsinn.«

Hatte Flora in den Tagen, an die sie erinnerte, wohl auch so viel geschwatzt? War in dem Zauber, der ihn einst gefangennahm, eine Spur von ihrer gegenwärtigen unzusammenhängenden Geschwätzigkeit?

„Wirklich«, sagte Flora, mit erstaunlicher Eile fortfahrend und ihren Redefluß nur mit Kommas und auch damit nur sehr sparsam unterbrechend, „ich bin etwas zweifelhaft, ob Sie nicht eine Chinesin geheiratet, da Sie solange in China gewesen und Geschäfte trieben und natürlich wünschen mußten sich häuslich niederzulassen und Verbindungen anzuknüpfen, so war nichts einfacher, als daß Sie einer Chinesin einen Heiratsantrag machten und nichts war meiner Ansicht nach natürlicher, als daß die Chinesin einwilligte und sich nun sehr glücklich fühlt, ich hoffe nur, daß sie keine Heidin ist, die in den Pagoden betet.«

»Ich bin mit gar niemandem verheiratet, Flora«, versetzte Arthur, wider Willen lächelnd.

»O gütiger Himmel, ich hoffe, Sie blieben doch nicht meinetwegen so lange Junggeselle!« kicherte Flora; »natürlich nicht, warum sollten Sie auch, bitte, sagen Sie nichts, ich weiß nicht, was ich da alles schwatze. Oh, sagen Sie mir etwas von den chinesischen Damen, ob ihre Augen wirklich so lang und schmal sind, sie erinnern mich immer an Perlmutterfische beim Kartenspiel. Und tragen sie wirklich Zöpfe hinten hinunter und zusammengeflochten oder sind es nur die Männer? Und wenn sie ihr Haar so straff von der Stirn zurückziehen, tun sie sich nicht weh? Und warum hängen sie kleine Glöckchen über all ihre Brücken und Tempel und Hüte und sonstige Dinge oder tun sie das nicht wirklich?« Flora warf ihm wieder einen von ihren alten Blicken zu. Sie fuhr alsbald fort, als ob er eine Zeitlang ihre Fragen beantwortend gesprochen.

»So ist alles wahr und sie tun das wirklich! Gott im Himmel, Arthur! –bitte, entschuldigen Sie – eine alte Gewohnheit – Mr. Clennam wäre weit passender – welch ein Land, um so lange darin zu leben und mit so vielen Laternen und Schirmen! Wie finster und feucht muß das Klima sein und ist es ohne Zweifel, und die Summen Geldes, die von den beiden Geschäften gemacht werden müssen, wo jeder Mensch solche trägt und aufhängt, die kleinen Schuhe und die Füße, die schon in der Jugend verkrüppelt werden. Es ist erstaunlich, was Sie für ein Reisender sind!“

In seiner komischen Verlegenheit empfing Clennam wieder einen von den ehemaligen Blicken, ohne daß er im geringsten wußte, was er damit anfangen sollte.

»Ja, ja«, sagte Flora, »wenn ich an die Veränderungen in der Heimat denke, Arthur – ich kann es nicht überwinden, scheint mir so natürlich, Mr. Clennam wäre weit passender – seit Sie mit chinesischer Sitte und Sprache vertraut wurden, die Sie, ich bin’s überzeugt, wie ein Eingeborener sprechen, wenn nicht besser. Sie waren ja immer geschickt und gewandt, obgleich die Sprache ohne Zweifel sehr schwer ist, ich weiß gewiß, die Teekisten allein würden mich töten, wenn ich’s versuchte, – die Veränderungen, Arthur – ich sage schon wieder so, scheint so natürlich, höchst unpassend – die sich niemand hätte einfallen lassen, wer hätte sich je eingebildet, daß ich Mrs. Finching würde, da ich’s selber mir nicht denken kann.«

»Ist das Ihr Name als Frau?« fragte Arthur, mitten in all diesem Geplauder durch einen gewissen warmen, herzlichen Ausdruck betroffen, der in ihrem Ton lag, sobald sie, wenn auch höchst wunderlich, auf das jugendliche Verhältnis anspielte, in dem sie früher zueinander gestanden. »Finching?«

»Finching. O ja, ist es nicht ein schrecklicher Name? Jedoch Mr. Finching sagte, als er mir seinen Heiratsantrag machte, was er siebenmal tat, und sich ganz hübsch drein fügte, nach zwölf Monaten wieder anzuklopfen, wie er’s nannte, er sei nicht verantwortlich dafür und könnte nichts daran ändern, nicht wahr, ein exzellenter Mann, gar nicht wie Sie, aber doch ein exzellenter Mann!«

Flora hatte sich endlich doch für einen Augenblick außer Atem gesprochen. Einen Augenblick; denn sie erholte sich, während sie eine kleine Ecke ihres Taschentuchs ans Auge brachte, einen Tribut für den Geist des geschiedenen Mr. Finching, und begann dann wieder.

»Niemand kann bestreiten, Arthur – Mr. Clennam – daß es ganz recht ist, wenn Sie unter so veränderten Umständen förmlich freundlich gegen mich sind, und wirklich, Sie könnten nichts anderes sein, wenigstens kann ich nicht annehmen, daß Sie es wissen sollten, aber ich kann nicht umhin, daran zu erinnern, daß es eine Zeit gab, wo die Dinge ganz anders standen.«

»Meine liebe Mrs. Finching«, begann Arthur, durch den weichen Ton wieder betroffen.

»O, nicht diesen häßlichen, garstigen Namen, sagen Sie Flora!«

»Flora, ich versichere Sie, Flora, ich bin glücklich, Sie wiederzusehen und zu finden, daß Sie wie ich die alten, törichten Träume nicht vergessen haben, als wir alles im Lichte unserer Jugend und Hoffnung sahen.«

»Es scheint denn doch nicht so«, schmollte Flora, »Sie nehmen es sehr kalt auf, aber ich weiß freilich, Sie sind in mir enttäuscht. Ich vermute, die Chinesinnen – Mandarininnen, wenn Sie sie so nennen wollen – sind, schuld daran, oder vielleicht bin ich schuld daran, es kann ebensogut sein.«

»Nein, nein«, bat Clennam, »sagen Sie das nicht.«

»O, ich sollte Sie kennen«, sagte Flora in einem bestimmten Ton, »welcher Unsinn auch, ich weiß, ich bin nicht, was Sie erwarteten, ich weiß das ganz wohl.«

Mitten in ihrem Ungestüm hatte sie das mit der raschen Beobachtungsgabe einer klügeren Frau herausgefunden. Die ungereimte und ganz unvernünftige Art, wie sie plötzlich ihre lange abgebrochene Knaben- und Mädchenfreundschaft mit dieser Begegnung verwob, machte den Eindruck auf Clennam, als ob er verrückt wäre. »Eine Bemerkung«, sagte Flora, indem sie ihrer Unterhaltung, ohne die geringste Notiz von Clennam zu nehmen, zu seinem großen Schrecken den Ton eines Liebesstreites verlieh, »eine Bemerkung wünschte ich zu machen, eine Erklärung möchte ich abgeben: als Ihre Mama kam und deshalb eine Szene mit meinem Papa spielte, und als ich in das kleine Frühstückszimmer hinabgerufen wurde, wo sie, Ihrer Mama Sonnenschirm zwischen sich, einander ansahen und dasaßen auf zwei Stühlen wie zwei tolle Stiere, was sollte ich da tun!«

»Meine liebe Mrs. Finching«, bat Arthur, – »alles, was so lange vorbei und so lange erledigt, verdient ernstlich –«

»Ich kann mich nicht, Arthur«, entgegnete Flora, »von der ganzen chinesischen Gesellschaft der Herzlosigkeit anklagen lassen, ohne mich zu rechtfertigen, wenn mir die Gelegenheit geboten ist. Sie mußten ganz gut wissen, daß es ein ›Paul und Virginie‹ zurückzugeben galt, welches auch zurückgegeben wurde, aber ohne Bemerkung oder Erklärung. Nicht daß ich damit sagen wollte, Sie hätten an mich schreiben sollen, bewacht wie ich war, aber wenn Sie das Buch nur wenigstens mit einer roten Oblate auf dem Umschlag versehen, so würde ich gewußt haben, daß es sagen wollte: Komm barfuß nach Peking, Nanking, und wie heißt doch noch gleich der dritte Ort?«

»Meine liebe Mrs. Finching, Sie waren nicht zu tadeln, und ich tadelte Sie nie. Wir waren beide zu jung, zu abhängig und hilflos, um in irgend etwas zu willigen, als unsre Trennung. – Bitte, bedenken Sie, wie lange das her ist«, warf Arthur freundlich ein.

»Noch eine Bemerkung möchte ich machen«, fuhr Flora mit ungeschwächter Redekraft fort, »nur noch eine Erklärung abgeben. Fünf Tage hatte ich einen Schnupfen vom Weinen, während dessen ich beständig in dem hinteren Empfangszimmer blieb. – Das hintere Empfangszimmer ist noch immer in dem ersten Stock und immer noch hinten hinaus, um meine Worte zu bekräftigen. – Als diese traurige Periode vorüber war, folgte ein Dämmerzustand. Jahre verflossen und Mr. Finching wurde uns bei gemeinschaftlichen Freunden vorgestellt. Er war lauter Aufmerksamkeit; er kam den folgenden Tag zu uns, er kam bald in der Woche dreimal abends und schickte Kleinigkeiten zum Nachtessen. Es war nicht Liebe auf Mr. Finchings Seite, es war Anbetung; Mr. Finching machte seinen Antrag mit der vollen Zustimmung Papas und was konnte ich tun?«

»Nichts, gar nichts andres«, sagte Arthur mit der freundlichsten Bereitwilligkeit, »als was Sie taten. Gestatten Sie einem alten Freund, Ihnen zu versichern, daß er vollständig davon überzeugt ist, wie Sie recht getan.«

»Eine letzte Bemerkung wollen Sie mir erlauben«, fuhr Flora fort, das Alltagsleben mit der Hand abwehrend, »eine letzte Erklärung wünschte ich abzugeben. Es war eine Zeit, ehe Mr. Finching mir seine ersten unmißdeutbaren Beweise von Aufmerksamkeit gab; aber sie ist vorbei und sollte nicht sein, lieber Mr. Clennam. Sie tragen keine goldene Kette mehr, Sie sind frei: Sie werden glücklich sein: hier ist Papa, der immer überflüssig ist und überall seine Nase hineinsteckt, wo man ihn nicht haben will.«

Mit diesen Worten und einer hastigen Gebärde voll ängstlicher Vorsicht – Clennams Augen kannten die Gebärde aus früheren Zeiten her – versenkte sich Flora ins achtzehnte Jahr, eine lange, lange Zeit rückwärts, und kam endlich zu einem Punkt in ihrer Rede.

Oder vielmehr, sie ließ ungefähr die Hälfte von sich im achtzehnten Jahre zurück und pfropfte den Rest auf die Witwe des verstorbenen Mr. Finching. Auf diese Art machte sie eine geistige Sirene aus sich, die ihr ehemaliger kindlicher Liebhaber mit Gefühlen betrachtete, darinnen sich sein Sinn für das Traurige und sein Sinn für das Komische seltsam mischte.

Zum Beispiel. Als ob ein geheimes Einverständnis der herzergreifendsten Art zwischen ihr und Clennam obwaltete: als ob die ersten Pferde eines Trains von vierspännigen Postwagen, die den ganzen Weg bis nach Schottland bedecken, im Augenblick um die Ecke kämen: als ob sie unter dem Schatten des Familienschirms, mit dem patriarchalischen Segen auf ihrem Haupt und unter dem Zustrom einer großen Menschenmasse nicht mit ihm in die nächste Pfarrkirche hätte treten können (und wollen), erquickte Flora ihr Herz durch Einbildungen geheimnisvollster Art, die die Furcht vor der Entdeckung an der Stirn trugen. Mit dem Gefühl, jeden Augenblick verwirrter zu werden, sah Clennam die Witwe des verstorbenen Mr. Finching sich in der seltsamsten Weise ergötzen, indem sie sich und ihn an ihre alten Plätze versetzte und das ganze Schauspiel von ehedem noch einmal aufführte – jetzt, wo die Bühne staubig, die Szenerie verblichen, die jugendlichen Schauspieler gestorben, das Orchester leer, die Lichter ausgelöscht waren. Und doch, bei all dieser grotesken Wiederbelebung dessen, was, wie er sich erinnerte, ihr einst ganz natürlich gestanden, mußte er fühlen, daß es bei seinem Anblick in ihr erwachte und daß eine süße Erinnerung für sie darin lag.

Der Patriarch bestand darauf, daß er zum Essen bleibe, und Flora signalisierte: »Ja!« Clennam wünschte so sehr, er hätte mehr tun können, als zum Essen bleiben – er wünschte so herzlich, er hätte Flora finden können, wie sie gewesen oder wie sie nie gewesen –, daß er glaubte, die geringste Genugtuung, die er für die Enttäuschung geben könnte, deren er sich beinahe schämte, sei, sich dem Familien-Wunsch zu opfern. Deshalb blieb er.

Pancks speiste mit ihnen. Pancks dampfte aus seiner kleinen Werft ein Viertel vor sechs und bahnte sich einen geraden Weg auf den Patriarchen zu, der gerade gedankenlos durch das stehende Wasser einer Rechnung über den Hof zum blutenden Herzen segelte. Pancks schoß dicht auf ihn zu und hielt ihn.

»Der Hof zum blutenden Herzen«, sagte Pancks schnaubend und schnaufend, »das ist ein beschwerliches Besitztum. Sie bezahlen nicht gerade schlecht, aber die Miete ist schwer zu bekommen. Sie haben mehr Mühe mit dem einen Platz als mit allem, was Ihnen sonst gehört.“

Gerade wie das schwere Schiff im Schlepptau bei den meisten Zuschauern als der Stärkere gilt, so schien auch der Patriarch gewöhnlich selbst gesagt zu haben, was Pancks an seiner Stelle sagte.

„Wirklich?“ fragte Clennam, auf den ein schwacher Schimmer des glatten Kopfes so lebhaft diesen Eindruck machte, daß er das Schiff statt den Schleppdampfer anredete. „Die Leute sind dort wirklich so arm?“

„Man kann nicht gerade sagen“, schnaubte Pancks, indem er eine schmutzige Hand aus einer seiner rostfarbenen Taschen zog, um an seinen Nägeln zu beißen, wenn er welche fände, und seine Augenkügelchen auf den Brotherrn richtete, „man kann nicht gerade sagen, ob sie arm sind oder nicht. Sie sagen es, aber das sagen alle. Wenn ein Mann sagt, er sei reich, so können Sie im allgemeinen überzeugt sein, daß er es nicht ist. Und dann, wenn sie es sind, so können wir nichts dagegen tun. Sie würden auch arm sein, wenn Sie Ihre Renten nicht bekämen.“

„Allerdings“, sagte Arthur.

„Sie werden nicht offenes Haus für alle Armen von London halten“, fuhr Pancks fort. „Sie werden sie nicht umsonst logieren. Sie werden nicht Ihre Tore weit öffnen, um sie hereinzulassen. Sie werden das gewiß nicht tun, auch wenn Sie um die Sachlage wissen.“

Mr. Casby schüttelte in ruhiger und gütiger Gelassenheit den Kopf.

„Wenn ein Mensch um eine halbe Krone die Woche ein Zimmer von Ihnen mietet und, wenn die Woche zu Ende ist, keine halbe Krone hat, so sagen Sie zu dem Mann: Weshalb habt Ihr denn das Zimmer gemietet? Wenn Ihr das eine nicht habt, warum habt Ihr denn das andre genommen? Was habt Ihr denn mit Eurem Gelde angefangen? Was wollt Ihr denn? Was fällt Euch ein? Das ist es, was Sie zu einem Mann der Art sagen, und wenn Sie es nicht sagen, ist es um so mehr unrecht von Ihnen!“ Mr. Pancks machte hier ein eigentümliches überraschendes Geräusch, das durch ein starkes Schnauben in der Gegend der Nase hervorgerufen wurde, das aber kein andres Resultat als dieses akustische hatte.

„Sie haben, glaube ich, im Osten oder Nordosten von London verschiedenes Eigentum?“ sagte Clennam, ungewiß, an wen von den beiden er sich wenden sollte.

„Allerdings!“ sagte Pancks. „Man ist nicht gerade auf Ost oder Nordost beschränkt. In allen Richtungen des Kompasses gibt es gute Besitzungen. Was man will, ist die gute Anlage und der rasche Umsatz des Geldes. Sie nehmen es, wo Sie es finden können. Sie sind nicht ängstlich, wohin Sie es geben – nein, das sind Sie nicht.“

Es existierte eine vierte und höchst originelle Figur in dem patriarchischen Zelte, die gleichfalls vor dem Essen erschien. Es war eine erstaunlich kleine, alte Frau, mit einem Gesicht wie eine ausdruckslose, weil billige, starrende, hölzerne Puppe mit einer steifen, gelben Perücke, die schief auf ihrem Kopf saß, als wenn das Kind, das die Puppe besaß, irgendwo einen Stift durchgetrieben, damit sie nur festhalte. Etwas anderes Merkwürdiges an dieser kleinen, alten Frau war, daß dieses gelbe, kleine Kind an zwei oder drei Orten mit einem stumpfen Instrument, wie einem Löffel, ihr Gesicht verunstaltet hatte; dieses, namentlich die Nasenspitze, hatte nämlich Spuren verschiedener Schwielen, die der Schale dieses Instruments entsprachen. Eine weitere Merkwürdigkeit an dieser kleinen, alten Frau war, daß sie keinen Namen als: Mr. Finchings Tante hatte.

Sie trat unter folgenden Umständen vor das Gesichtsfeld des Fremden: Flora sagte, als das erste Gericht auf die Tafel gestellt werden sollte, vielleicht habe Mr. Clennam nicht gehört, daß Mr. Finching ihr ein Legat hinterlassen? Clennam sprach in seiner Antwort die Hoffnung aus, Mr. Finching werde die Witwe, die er angebetet, mit dem größten Teil seiner irdischen Güter, wenn nicht mit allen, beschenkt haben. Flora sagte, o ja, sie meine nicht das, daß Mr. Finching ein schönes Testament gemacht; sondern er habe ihr als ein besonderes Legat seine Tante vermacht. Sie ging dann hinaus, um das Legat zu holen, und stellte ziemlich triumphierend »Mr. Finchings Tante« vor.

Die hervorstechenderen charakteristischen Eigenschaften, die der Fremde in Mr. Finchings Tante entdecken konnte, waren außerordentlicher Ernst und finstre Schweigsamkeit, bisweilen nur durch die Geneigtheit zu Bemerkungen in einem tiefen, warnenden Ton unterbrochen. Diese waren durch gar nichts im Gespräch und durch niemanden von der Gesellschaft veranlaßt. Sie standen in gar keiner Ideenverbindung und mußten einen unheimlich berühren. Mr. Finchings Tante mag bei diesen Bemerkungen einem ihr eigentümlichen System gefolgt sein; ja dieses mag sinnreich, vielleicht sogar genial gewesen sein. Aber es fehlte der Schlüssel dazu.

Das hübsch servierte und gut gekochte Diner (denn alles im patriarchalischen Haushalt forderte ruhige Verdauung) begann mit einer Suppe, gebackenen Seezungen, einer Assiette mit Seegarnelensoße und einer Schüssel mit Kartoffeln. Das Gespräch drehte sich noch immer um die Einnahme von Mietzinsen. Mr. Finchings Tante sah die Gesellschaft ungefähr zehn Minuten lang böse an und gab dann folgende schreckliche Bemerkung zum besten:

»Als wir in Henley wohnten, wurde Barnes‘ Gänserich von Kesselflickern gestohlen.«

Mr. Pancks nickte herzhaft mit dem Kopf und sagte: »Schon gut, Madame.« Aber die Wirkung dieser geheimnisvollen Mitteilung auf Clennam war eine durchaus einschüchternde. Und ein anderer Umstand verlieh dieser alten Dame eine besondere Unheimlichkeit. Obschon sie immer mit den Augen umherstierte, machte sie doch nie den Eindruck, als ob sie einen einzelnen ansähe. Der höfliche und aufmerksame Fremde wünschte z. B. zu erfahren, ob sie die Kartoffeln gereicht wünsche. Seine ausdrucksvollste Bewegung wäre jedoch gänzlich an ihr verloren gewesen, und was sollte er tun? Niemand konnte sagen: »Mr. Finchings Tante, wollen Sie mir erlauben?« Jeder ließ den Löffel liegen wie Clennam und war verwirrt und verlegen.

Nun kam Hammelbraten, Beefsteak und Apfelpastete – nichts was in entfernter Beziehung zu einem Gänserich stand, und das Diner ging fort wie ein verzaubertes Fest, was es wirklich war. Es hatte eine Zeit gegeben, wo Clennam an diesem Tisch saß und Flora allein seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Jetzt bemerkte seine Aufmerksamkeit wider seinen Willen bei Flora nichts, als daß sie dem Porter sehr zugetan war, daß sie eine große Menge Sherry mit ihrem Gefühl in Verbindung zu bringen wußte, und daß, wenn sie etwas stark geworden, dies auf sehr materiellen Gründen beruhte. Der letzte der Patriarchen war immer ein großer Esser gewesen, und er vertilgte eine ungeheure Masse solider Nahrung mit dem Wohlwollen einer guten Seele, die jemand andern füttert. Mr. Pancks, der immer große Eile hatte und zuweilen zu einem kleinen, schmutzigen Notizbuche griff, das er neben sich liegen hatte (vielleicht enthielt es die Namen der Verbrecher, auf die er zum Dessert seine Blicke richten wollte), Mr. Pancks verschlang seine Speisen, als ob er Kohlen einnähme, mit großem Geräusch, vielem Fallenlassen, und ab und zu mit einem Schnauben und Prusten, als ob er im Begriffe wäre fortzudampfen.

Während des ganzen Essens verglich Flora ihren gegenwärtigen Appetit nach Speise und Trank mit ihrem früheren Appetit nach romantischer Liebe, und zwar in einer Weise, daß Clennam kaum die Blicke von seinem Teller erhob. Er konnte sie nicht ansehen, ohne daß sie ihm einen Blick geheimnisvoller Mahnung zuwarf, als wenn sie in einem Komplott miteinander wären. Mr. Finchings Tante saß mit dem Ausdruck der größten Bitterkeit ihn herausfordernd da, bis das Tischtuch weggenommen wurde und die Karaffen erschienen, worauf sie eine zweite Bemerkung vorbrachte, die wie eine Uhr in das Gespräch schlug, ohne an irgend jemanden gerichtet zu sein.

Flora hatte gesagt: „Mr. Clennam, wollen Sie mir ein Glas Portwein für Mr. Finchings Tante geben?“

»Das Monument bei der Londoner Brücke«, warf die Dame plötzlich ein, »wurde nach dem großen Londoner Brande errichtet, und der große Londoner Brand war nicht der Brand, bei dem Ihres Oheims George Werkstätten niederbrannten.«

Mr. Pancks sagte mit seinem früheren Mut: »Wirklich, Madame? Schon gut.« Mr. Finchings Tante jedoch, die durch eingebildeten Widerspruch oder andere Ungerechtigkeit gereizt war, brachte, statt zu schweigen, folgende Kundgebung zum besten:

»Ich hasse einen Narren!«

Sie gab dieser Sentenz, die an und für sich beinahe salomonisch war, einen so außerordentlich beleidigenden und persönlichen Ausdruck, indem sie sie dem Fremden gerade ins Gesicht schleuderte, daß es notwendig wurde, Mr. Finchings Tante aus dem Zimmer zu führen. Das geschah in aller Ruhe von Flora; Mr. Finchings Tante leistete keinen Widerstand, sondern fragte ihrerseits, »weshalb der denn hier sei«, mit der unversöhnlichsten Animosität.

Als Flora zurückkehrte, erklärte sie, daß ihr Legat eine gescheite Frau, aber bisweilen etwas sonderbar sei und leicht Abneigungen fasse – Eigentümlichkeiten, auf die Flora eher stolz zu sein schien, als nicht. Da Floras Gutmütigkeit bei der Angelegenheit an den Tag trat, hatte Clennam nichts mehr gegen die alte Frau, die sie ans Licht gebracht, nun, da er von ihrer unheimlichen Gegenwart befreit war; und sie tranken ein bis zwei Gläser im Frieden. Da er voraussah, daß der Pancks in kurzem unter Segel gehen, und daß der Patriarch sich schlafen legen werde, so erklärte er, daß er notwendig seine Mutter besuchen müsse, und fragte Mr. Pancks, wohin er gehe.

»Nach der City, Sir«, sagte Pancks.

»Gehen wir zusammen?« sagte Arthur.

»Sehr angenehm«, sagte Pancks.

Indessen murmelte ihm Flora in raschen abgebrochenen Sätzen ins Ohr, daß es eine Zeit gegeben und daß die Vergangenheit ein gähnender Schlund sei, daß ihn keine goldene Kette mehr binde, und daß sie das Gedächtnis des verstorbenen Mr. Finching ehre, und daß sie halb zwei Uhr andern Tags zu Hause sei, und daß die Schicksalsfügungen unwiderruflich seien, und daß sie nichts für so unwahrscheinlich halte, als daß er je pünktlich um vier Uhr nachmittags auf der nordwestlichen Seite von Gray’s Inn Garden spazierengehe. Er versuchte beim Scheiden seine Hand offen der Flora von heute – nicht der verschwundenen Flora oder der Sirene – zu geben, aber Flora wollte sie nicht nehmen, konnte sie nicht nehmen, sie fühlte sich außerstande, sich und ihn von ihren früheren Existenzen loszuschälen. Er verließ das Haus in sehr peinlicher Stimmung und um so viel verwirrter als je, daß, wenn er nicht glücklicherweise ins Schlepptau genommen worden wäre, er für die erste Viertelstunde irgendwohin sich hätte treiben lassen.

Als er in der kälteren Luft und entfernt von Flora wieder zu sich zu kommen begann, fand er Pancks in voller Arbeit, die magere Weide der Nägel, die er an seinen Fingern fand, abnagend und bisweilen schnaubend. Dies, in Verbindung mit seiner einen Hand in der Tasche und seinem gegen den Strich gebürsteten Hut, der nach vorne gedrückt war, dies alles waren offenbar die Umstände, unter denen er nachdachte.

»Eine frische Nacht!« sagte Arthur.

»Ja, es ist sehr frisch«, stimmte Pancks bei, »als Fremder fühlen Sie das Klima mehr als ich. Ich habe wahrhaftig auch gar nicht die Zeit, mich darum zu kümmern.«

»Sie führen ein so geschäftiges Leben?«

»Ja, ich habe immer etwas zu besorgen, immer nach etwas zu sehen. Aber ich liebe die Geschäfte«, sagte Pancks, etwas näher kommend. »Wozu ist der Mensch sonst da?«

»Zu sonst nichts?« fragte Clennam.

Pancks stellte die Gegenfrage: wozu sonst? Auf dem engsten Raume war damit eine Last, die auf Clennams Leben geruht, zusammengefaßt. Er antwortete darum nicht.

»Das ist es, was ich unsre Wochenmieter frage«, sagte Pancks. »Einige von ihnen machen lange Gesichter und sagen: So arm, wie Sie uns sehen, Herr, arbeiten, placken und quälen wir uns doch jede Minute, die wir wachen. Ich antworte ihnen: Wozu seid ihr sonst da? Das schneidet alles ab. Sie haben nicht ein Wort, das sie antworten könnten. Wozu seid ihr sonst da? Das trifft den Nagel auf den Kopf.«

»Schlimm, schlimm, schlimm!« seufzte Clennam.

»Hier bin ich«, sagte Pancks, seine Verhandlung mit dem Wochenmieter fortsetzend. »Wozu glaubt ihr denn, daß ich sonst da sei? Für nichts sonst. Mich frühzeitig aus dem Bett aufzuraffen, mich in Bewegung zu setzen, mir so kurze Zeit wie möglich zum Essen zu gönnen und immer in dieser Lebensweise auszuharren. Halten Sie mich immer dabei fest, ich werde Sie dabei festhalten. Das ist die ganze Pflicht eines Mannes in einem Handelslande.«

Als sie schweigend etwas weiter gegangen, sagte Clennam: »Finden Sie keinen Geschmack an irgend sonst etwas, Mr. Pancks?«

»Was meinen Sie mit Geschmack?« versetzte Pancks trocken.

»Lassen Sie uns Neigung sagen.«

»Ich habe eine Neigung, Geld zu gewinnen, Sir«, sagte Pancks, »wenn Sie mir zeigen wollen, wie.« Er blies wieder einen Ton von sich, und sein Begleiter merkte zum ersten Male, daß dies seine Art sei zu lachen. Er war in jeder Beziehung ein eigentümlicher Mann: er mochte es nicht gerade ernst meinen; aber die kurze, harte, rasche Weise, wie er diese Schlacken von Grundsätzen auswarf, als geschähe es durch mechanische Umdrehung, schien unvereinbar mit einem Scherz zu sein.

»Sie sind vermutlich kein großer Leser?« sagte Clennam.

»Ich lese nie etwas als Briefe und Rechnungen. Ich sammle nichts als Anzeigen, die sich auf nahe Verwandte beziehen. Wenn das ein Geschmack ist, so habe ich welchen. Sie gehören nicht zu den Clennam von Cornwall, Mr. Clennam?«

»Ich habe nie davon gehört.«

»Ich weiß es wohl. Ich fragte Ihre Mutter, Sir. Sie hat zu viel Charakter, um sich eine Profitgelegenheit entgehen zu lassen.«

»Angenommen jedoch, ich gehörte zu den Clennams von Cornwall?«

»So hätten Sie von etwas gehört, was Ihnen von Nutzen wäre.«

»Wirklich! Ich habe wenig genug in letzter Zeit gehört, was mir von Nutzen wäre.« »Da ist in Cornwall ein herrenloses Gut für einen Spottpreis zu haben, namentlich für einen Cornwalleser Clennam«, sagte Pancks, indem er sein Notizbuch aus der Brusttasche nahm und es wieder einsteckte. »Ich biege hier ein und wünsche Ihnen gute Nacht!« »Gute Nacht!« sagte Clennam. Aber das Schleppboot lichtete plötzlich die Anker, und durch keine Last im Schlepptau beschwert, prustete es bereits in der Ferne. Sie hatten Smithfield durchschritten, und Clennam stand nun allein an der Ecke von Barbican. Er hatte nicht die Absicht, diesen Abend in dem unheimlichen Zimmer seiner Mutter zu erscheinen, und würde sich in einer Wildnis nicht gedrückter und verlassener gefühlt haben als an diesem Ort. Er ging langsam die Aldersgate Street hinab und brütete auf dem Wege nach St. Pauls vor sich hin. Er hatte die Absicht, nach einer der großen Durchfahrten zu gehen, da dort Licht und Leben war, als eine Masse Volks auf demselben Trottoir ihm entgegenströmte, und er auf die Seite an einen Laden trat, um sie vorüber zu lassen. Als sie in seine Nähe kamen, entdeckte er, daß sie sich um etwas drängten, das mehrere Männer auf den Schultern trugen. Er sah bald, daß es eine Tragbahre war, die in der Eile aus einem Fensterschließladen oder etwas Ähnlichem gemacht worden; eine darauf liegende Gestalt, die Gesprächsabfälle der Masse, ein schmutziges Bündel, das ein Mann trug, und ein schmutziger Hut, den ein anderer trug, sagten ihm, daß ein Unglücksfall geschehen sein müsse. Die Tragbahre hielt unter einer Laterne, ehe sie ein halbes Dutzend Schritte an ihm vorüber war, um die Last zurechtzurücken; und da die Menge auch hielt, so befand er sich mitten in dem Zuge. »Ein Unglücklicher, der nach dem Hospital gebracht wird?« fragte er einen alten Mann, der kopfschüttelnd neben ihm stand und dadurch ein Gespräch einleitete. »Ja«, sagte der Mann, »durch die Eilpost da. Sie sollte gerichtlich verfolgt und bestraft werden, die Eilpost da. Sie fährt in gesprengtem Trab aus Lad Lane und Wood Street, zwölf bis vierzehn Meilen in der Stunde, die Eilpost da. Es ist nur ein Wunder, daß nicht öfter Menschen von der Eilpost da getötet werden.« »Der Mensch ist doch hoffentlich nicht getötet?« »Ich weiß nicht«, sagte der Mann, »es liegt nicht am guten Willen der Eilpost da, wenn es nicht der Fall ist.« Als der Sprecher seine Arme kreuzte und sich’s bequem machte, um seine Schmähung der Eilpost da an alle Unterstehenden, die seinen Worten Gehör schenken wollten, zu richten, stimmten ihm mehrere aus lauter Teilnahme an dem Leidenden zu; einer sagte zu Clennam: »Sie sind eine öffentliche Plage, die Eilposten da, Sir«; ein anderer: »Ich sah vergangene Nacht einen Wagen nur einen halben Zoll vor einem Knaben anhalten«; ein dritter: »Ich sah einen Wagen über eine Katze rollen, Sir – und es hätte ebensogut Ihre eigne Mutter sein können«; und sie gaben ihm zu verstehen, daß, wofern er zufällig einen öffentlichen Einfluß besäße, er ihn nicht besser als gegen die Eilpost anwenden könne. »Nun, ein geborener Engländer ist dazu da, jeden Abend seines Lebens sein Leben gegen die Eilpost zu schützen«, fuhr der erste alte Mann fort, »und er weiß, wenn sie um die Ecke kommt, um ihm ein Glied vom andern zu reißen. Aber was können Sie von einem armen Fremden erwarten, der nichts davon weiß.« »Ist es denn ein Fremder?« sagte Clennam sich vorbeugend, um nach ihm zu sehen. Mitten unter Antworten, wie »ein Franzose, Sir«, »Portugiese, Sir«, »Holländer, Sir«, »Preuße, Sir«, und andern sich widersprechenden Zeugnissen, hörte er plötzlich eine schwache Stimme in französischer und italienischer Sprache Wasser verlangen. Durch die Reihen der Zuschauer ging statt der Antwort die Bemerkung: »Der arme Mensch, er sagt, er werde es nicht überleben; kein Wunder das!« Clennam bat durchgelassen zu werden, da er den armen Menschen verstehe. Man machte ihm augenblicklich Platz, damit er mit ihm sprechen könne. »Vor allem wünscht er etwas Wasser«, sagte er umherblickend. (Ein Dutzend guter Menschen eilte fort, um welches zu holen.) »Sind Sie schwer verletzt, mein Freund?« fragte er den Mann auf der Tragbahre italienisch. »Ja, Sir; ja, ja, ja. Mein Bein, mein Bein. Aber es freut mich, die alte Musik zu hören, obgleich ich sehr schlimm daran bin.« »Sie sind ein Reisender? Da ist Wasser! Ich will Ihnen welches geben.« Sie hatten die Tragbahre auf einen Haufen Pflastersteine gestellt. Sie stand ziemlich hoch vom Boden ab, und wenn man sie etwas senkte, konnte er den Kopf leicht mit der einen Hand heben und das Glas mit der andern an die Lippen halten. Es war ein kleiner, muskulöser, brauner Mann mit schwarzem Haar, weißen Zähnen und Ohrringen in den Ohren. Wie es schien, ein lebhaftes Gesicht. »So recht. Sie sind Reisender?« »Ja, Herr.« »Fremd in dieser Stadt?« »Gewiß, ganz und gar. Ich kam heute an diesem unglückseligen Abend hier an.« »Woher?« »Von Marseille.«

»Was sie sagen! Ich gleichfalls! Ich bin beinahe so fremd wie Sie, obgleich ich hier geboren bin; vor kurzem erst kam auch ich aus Marseille. Fassen Sie Mut!« Das Gesicht sah ihn so bittend an, als er nach dem Abwischen aufstand und den Mantel, der die vor Schmerzen sich windende Gestalt bedeckte, wieder über ihn legte. »Ich werde Sie nicht verlassen, bis man besser für Sie gesorgt hat. Mut! Sie werden sich in einer halben Stunde schon weit besser befinden!«

»Ach! Altro! Altro!« rief der arme, kleine Mann in einem etwas ungläubigen Ton; und als sie ihn aufnahmen, ließ er seine rechte Hand herabhängen, um seinen Zeigefinger verneinend zu drehen.

Arthur Clennam wandte sich um, und neben der Tragbahre hergehend und bisweilen ein ermutigendes Wort sprechend, begleitete er ihn bis zu dem nahen St.-Bartholomäus-Hospital. Niemand von der Menge als die Träger und er wurden eingelassen; der kranke Mann wurde mit kalter, wissenschaftlicher Art auf einen Tisch gelegt und sorgfältig von einem Chirurgen untersucht, der so nahe zur Hand und so bereit zu erscheinen war, wie das Übel selbst. »Er versteht kaum ein Wort Englisch«, sagte Clennam, »ist er schwer verletzt?«

»Wir wollen alles zuvor genau nachsehen«, sagte der Chirurg, seine Untersuchung mit geschäftsmäßigem Vergnügen fortsetzend, »ehe wir unsre Meinung aussprechen.«

Nachdem er das Bein mit einem Finger und zwei Fingern, mit einer Hand und zwei Händen oben und unten, rechts und links, in dieser Richtung und in jener Richtung betastet und über die wichtigen Punkte beifällige Bemerkungen gegen einen andern Herrn gemacht, der hinzugekommen, klopfte der Chirurg dem Patienten zuletzt auf die Schulter und sagte: »Es ist nicht gefährlich. Er wird bald wieder gut gehen. Es ist ein ziemlich schwieriger Fall, aber er soll sich diesmal nicht von seinem Bein trennen müssen.« Clennam verdolmetschte diese Worte dem Patienten, der voll Dankbarkeit war und in seiner ausdrucksvollen Weise mehrere Male die Hand des Dolmetschers und des Chirurgen küßte.

»Es ist vermutlich eine schwere Verletzung«, sagte Clennam.

»Ja, ja«, antwortete der Chirurg, mit dem bedächtigen Vergnügen eines Künstlers, der das Werk auf seiner Staffelei betrachtet. »Ja, allerdings. Es ist ein komplizierter Knochenbruch über dem Knie und eine Ausrenkung weiter unten. Beide sind von wundervoller Art.« Er gab dem Patienten einen freundlichen Schlag auf die Schulter, als wenn er wirklich fühlte, daß es ein guter Mensch sei und aller Empfehlung wert, da er sein Bein in einer für die Wissenschaft so interessanten Weise gebrochen.

»Er spricht französisch?« sagte der Chirurg.

»O ja, er spricht französisch.«

»So wird er sich hier nicht verlassen fühlen. – Sie werden nur, wie ein mutiger Bursche, etwas Schmerzen zu ertragen haben, mein Freund, und können dankbar sein, daß alles so gut geht, wie es geht«, fügte er in dieser Sprache hinzu; »bald werden Sie wieder zum Erstaunen aller gehen können. Aber nun laßt uns sehen, ob es sonst nichts gibt und wie unsere Rippen beschaffen sind.«

Es gab sonst nichts, und unsere Rippen waren gesund. Clennam blieb, bis alles, was geschehen konnte, pünktlich und sorgfältig geschehen war – der arme verspätete Wanderer in einem fremden Land bat ihn eindringlich um diese Gunst –, und weilte am dem Bett, in das dieser beizeiten gebracht worden, bis er in einen leichten Schlaf fiel. Dann schrieb er einige Worte für ihn auf seine Karte mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen, und bat sie ihm zu übergeben, wenn er erwachte.

Alle diese Vorgänge dauerten so lange, daß es elf Uhr schlug, als er das Hospital verließ. Er hatte für den Augenblick eine Wohnung in Covent-Garden gemietet und schlug den nächsten Weg nach diesem Quartier durch Snow Hill und Holbornstreet ein.

Nach der Besorgnis und Teilnahme, die sein letztes Abenteuer hervorgerufen, wieder mit sich allein, versank er natürlich in träumendes Sinnen. Er konnte aber begreiflicherweise nicht zehn Minuten nachdenklich dahinschlendern, ohne daß ihm Flora einfiel. Sie erinnerte ihn notwendig an sein Leben mit all seinem Mißgeschick und seinem geringen Glück.

Als er in seine Wohnung kam, setzte er sich vor das erlöschende Feuer, wie er an dem Fenster in seinem alten Zimmer gestanden und hinausgeschaut auf den geschwärzten Wald von Kaminen, und richtete seinen Blick auf die dunkle Reihe von Ereignissen, durch die er bis zu dieser Stufe seines Lebens gekommen war. Das war so lang, so leer, so kahl. Keine Kindheit, keine Jugend, mit Ausnahme einer Erinnerung; und die einzige Erinnerung hatte sich gerade heute als eine Torheit erwiesen.

Es war ein Unglück für ihn, so unbedeutend es auch für einen andern gewesen sein möchte. Denn, während all das, was hart und streng in seiner Erinnerung war, sich als Wirklichkeit erwies – für Blick und Berührung hart blieb und nichts von seiner schrecklichen Widerlichkeit verlor –, sollte die einzige süßere Erinnerung seines Lebens nicht dieselbe Probe bestehen und zerfließen. Er hatte dies in der letzten Nacht vorausgesehen, als er mit wachen Augen geträumt; aber er hatte es damals nicht gefühlt; jetzt jedoch hatte er es gefühlt.

Er war in solcher Weise ein Träumer; denn er war ein Mann, der einen in seiner Natur tief gewurzelten Glauben besaß, einen Glauben an alles Edle und Gute, das seinem Leben gemangelt. In Kargheit und hartem Verkehr aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein Mann von ehrenhafter Gesinnung und freigebiger Hand wurde. In Kälte und Strenge aufgewachsen, hatte dieser Glaube ihn gerettet, daß er ein warmes und teilnehmendes Herz behielt. Er war in einem Glaubensbekenntnis aufgewachsen, das zu finster war, um es in seinem Verfahren zu verfolgen, wie dadurch der Spruch, daß der Mensch nach dem Bilde seines Schöpfers geschaffen, in das Gegenteil davon verwandelt wurde, nämlich daß dieser Schöpfer nach dem Bilde eines verirrten Menschen geschaffen worden wäre. Vor diesem finstern Wähnen hatte ihn jener Glaube gerettet, so daß er nicht verdammte, sondern in Demut hilfsbereit war und Hoffnung und Liebe sich bewahrte.

Und dieser Glaube schützte ihn auch vor der winselnden Schwäche und grausamen Selbstsucht, zu meinen, weil solch ein Glück oder solch eine Kraft nicht in seinen kleinen Lebensweg gekommen oder für ihn gearbeitet habe, deshalb liege es auch nicht in dem großen Plane; sondern wenn es einmal erscheine, sei es auf die niedrigsten Elemente zurückzuführen. Er besaß einen schwergetäuschten Geist, aber einen Geist, zu fest und zu gesund für solch ungesunde Luft. Während seine Seele ihn selbst im Dunkel ließ, konnte sie ans Licht kommen, und er sah es auf andere scheinen und heilsam wirken.

Deshalb saß er vor seinem erlöschenden Feuer, traurig an den Weg denkend, den er bis zu dieser Nacht zurückgelegt, ohne jedoch Gift auf den Weg zu streuen, auf dem andere dahin gelangt waren. Daß ihm so viel fehlgeschlagen, und daß er in seinem Alter so weit um sich her nach einem Stabe blicken sollte, der ihn auf seinem Wege des nunmehr abwärts führenden Lebens stützen und ihn erheitern könnte, war ein gerechter Schmerz. Er blickte nach dem Feuer, dessen Flamme erlosch, dessen letzte Glut erstarb, dessen Asche grau und zu Staub wurde, und dachte: »Wie bald wird auch mit mir diese Wandlung vorgehen und ich dahin sein!«

Die Rundschau seines Lebens glich dem Herabsteigen an einem grünen Baume mit Blüten und Früchten, dessen Äste verdorren und abfallen, während man sich an ihm herabläßt.

»Von dem unglücklichen Druck meiner frühesten Jugend, durch das strenge und lieblose spätere Leben im elterlichen Hause, meinen Weggang, mein langes Exil, meine Heimkehr, meiner Mutter Willkommen, meinen Verkehr mit ihr seit jener Zeit, bis zu dem heutigen Nachmittag mit der armen Flora«, sagte Arthur Clennam, »was habe ich gefunden?«

Seine Tür wurde leise geöffnet, und das Wort, das durch die Öffnung gesprochen wurde, erschreckte ihn: es klang wie eine Antwort:

»Klein-Dorrit.«

Vierzehntes Kapitel.


Vierzehntes Kapitel.

Klein-Dorrits Gesellschaft.

Arthur Clennam stand rasch auf und sah sie an der Tür stehen. – Diese Geschichte muß bisweilen mit Klein-Dorrits Auge sehen und beginnt dies Verfahren mit seinem Anblick.

Klein-Dorrit sah in ein dunkles Zimmer, das ihr sehr geräumig und prachtvoll möbliert erschien. Vornehme Ideen von Covent-Garden, als einem Ort mit herrlichen Kaffeehäusern, wo Gentlemen mit goldgestickten Kleidern und Degen gekämpft und Duelle ausgefochten haben; köstliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo es im Winter Blumen zu einer Guinee das Stück, Ananas zu einer Guinee das Pfund, und zarte Gemüse zu einer Guinee das Kilo gab; malerische Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo ein prachtvolles Theater stehe, das reich gekleideten Damen und Herren wundervolle und reizende Schauspiele biete und das der armen Fanny und dem armen Onkel ewig unerreichbar bleibe; traurige Ideen von Covent-Garden, als dem Ort mit den Gewölben, wo die elenden Kinder in Lumpen, an denen sie gerade vorübergekommen, wie junge Ratten, versteckt und heimlich, vom Abfall genährt, um der Wärme willen zusammengekauert saßen oder herumgetrieben wurden (seht diese Ratten an, Jung und Alt, all ihr Barnacles; denn bei Gott, sie durchnagen unsere Grundmauern, daß die Dächer über unsern Häuptern zusammenstürzen!); überschwengliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort vergangener und gegenwärtiger Geheimnisse und Märchen, einem Ort des Überflusses und Mangels, der Schönheit und Häßlichkeit, hübscher ländlicher Gärten und schmutziger Straßengossen, alles durcheinander – machten das Zimmer düsterer in Klein-Dorrits Augen, als es war, während sie es von der Tür aus betrachtete.

Anfangs saß der Gentleman, den sie suchte, vor dem erloschenen Feuer und wandte sich dann staunend nach ihr um. Der braune, ernste Mann, der so freundlich lächelte, der so offen und bedachtsam in seinem Wesen war und in dessen Ernst doch etwas lag, das sie an seine Mutter erinnerte, aber mit dem Unterschied, daß ihr Ernst etwas Herbes, während der seine etwas Mildes hatte. Er betrachtete sie mit dem aufmerksamen und fragenden Blicke, den Klein-Dorrit nie auszuhalten vermochte und dem sie auch jetzt nicht standhalten konnte.

»Mein armes Kind! Hier um Mitternacht?«

»Ach«, sagte Klein-Dorrit, »Sir, um Sie vorzubereiten. Ich dachte mir, Sie würden sehr überrascht sein.«

»Sind Sie allein?«

»Nein, Sir, ich habe Maggy mit mir genommen.«

Maggy, die ihr Erscheinen durch diese Erwähnung ihres Namens genügend vorbereitet glaubte, erschien mit breitem Grinsen an der Tür. Sie unterdrückte jedoch augenblicklich diese Kundgebung und nahm eine feierliche Miene an.

»Und ich habe kein Feuer«, sagte Clennam. »Und Sie sind –« Er wollte sagen zu leicht gekleidet, hielt jedoch damit inne, da es eine Anspielung auf ihre Armut gewesen, und sagte statt dessen: »und es ist so kalt.«

Indem er den Stuhl, von dem er aufgestanden, näher an das Kamingitter schob, forderte er sie auf, sich hineinzusetzen, brachte rasch Holz und Kohlen herbei, legte sie übereinander und begann ein Feuer anzumachen. »Ihr Fuß ist wie Marmor, mein Kind«, sagte er; er hatte ihn zufällig berührt, während er, auf einem Knie liegend, das Feuer anzündete; »stellen Sie ihn näher an die Wärme.« Klein-Dorrit dankte ihm rasch. Er sei ganz warm, sehr warm! Es verwundete sein Herz, zu fühlen, daß sie ihre dünnen, abgetragenen Schuhe verbarg.

Klein-Dorrit schämte sich nicht ihrer armen Schuhe. Er kannte ihre Geschichte, und das war es nicht. Klein-Dorrit besorgte vielmehr, er möchte ihren Vater tadeln, wenn er sie sähe; er möchte denken: »Warum aß er heute zu Mittag und gibt dieses kleine Geschöpf den kalten Steinen preis!« Sie war nicht der Ansicht, daß dies ein gerechter Tadel sei; sie wußte nur aus Erfahrung, daß diese Meinungen sich den Leuten häufig aufdrängten. Es war ein Teil von ihres Vaters Unglück, daß dies der Fall war.

»Ehe ich irgend etwas sage«, begann Klein-Dorrit, vor dem bescheidenen Feuer sitzend und ihre Blicke zu dem Gesicht erhebend, das in seinem Ausdruck Interesse, Mitleid und Schutz so harmonisch vereinigte und ihr wie ein unerreichbares und beinahe kaum zu ahnendes Geheimnis erschien, »darf ich Ihnen etwas erzählen, Sir?«

»Ja, mein Kind.«

Ein leichter Schatten von Kummer fiel auf ihr Gesicht, daß er sie so oft Kind nannte. Sie war erstaunt, daß er dies sehen oder an eine so unbedeutende Sache denken sollte; aber er sagte offen:

»Ich brauchte ein zärtliches Wort, und es fiel mir kein anderes ein. Da Sie sich eben den Namen gaben, den man Ihnen bei meiner Mutter gibt, und da es der Name ist, mit dem ich immer an Sie denke, so lassen Sie mich Klein-Dorrit zu Ihnen sagen.«

»Ich danke, Sir, er ist mir lieber als jeder andere Name.«

»Klein-Dorrit.«

»Mütterchen«, warf Maggy (die am Einschlafen war) verbessernd ein.

»Es ist einerlei, Maggy«, versetzte Dorrit, »ganz einerlei.«

»Ist es ganz einerlei, Mutter?«

»Ganz einerlei.«

Maggy lachte und schnarchte augenblicklich darauf. In Klein-Dorrits Augen und Ohren war die seltsame Gestalt und der seltsame Klang so angenehm wie nur möglich. Ein glühendes Gefühl des Stolzes auf dieses ihr großes Kind überzog Klein-Dorrits Züge, als die Augen des ernsten, braunen Mannes darauf fielen. Sie hätte gern gewußt, was er denke, als er Maggy und sie ansah. Sie dachte, was für ein guter Vater er sein würde. Wie er mit einem solchen Blick seine Tochter beraten und erfreuen würde.

»Was ich Ihnen erzählen wollte, Sir«, sagte Klein-Dorrit, »ist, daß mein Bruder in Freiheit gesetzt wurde.«

Arthur war erfreut, das zu hören, und hoffte, er werde sich künftig gut aufführen.

»Und was ich Ihnen nun sagen wollte, Sir«, fuhr Klein-Dorrit fort, während ihr ganzer Körper und ihre Stimme zitterten, »das ist, daß ich nicht wissen soll, wessen Großmut ihn frei gemacht – daß ich nicht fragen soll und nie erfahren soll und dem Mann nicht aus vollem Herzen danken soll.«

Er brauchte wahrscheinlich keinen Dank, sagte Clennam. Sehr wahrscheinlich sei er selbst dafür dankbar (und wohl mit Recht), daß er die Mittel und Gelegenheit gehabt, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen, die eines großen so würdig gewesen.

»Und was ich Ihnen sagen wollte, Sir«, fuhr Klein-Dorrit immer mehr zitternd fort, »ist, daß, wenn ich ihn kennte und ich könnte es, ich ihm sagen würde, daß er nie ergründen kann, wie tief ich seine Güte fühle und wie mein Vater sie fühlt. Und was ich sagen wollte, Sir, ist, daß, wenn ich ihn kennte und ich könnt‘ es – aber ich kenne ihn nicht und soll ihn nicht kennen – ich weiß das! – ich ihm sagen würde, daß ich mich nie mehr schlafen legen werde, ohne zum Himmel gebetet zu haben, daß er ihn segne und belohne. Und wenn ich ihn kennte und ich könnt‘ es, würde ich auf meinen Knien zu ihm hinkriechen und seine Hand ergreifen und sie küssen und ihn bitten, sie mir nicht zu entziehen, sondern sie mir zu lassen – o nur auf einen Augenblick – und sie mit meinen dankbaren Tränen zu netzen, denn ich habe keinen andern Dank, den ich ihm bieten könnte!«

Klein-Dorrit hatte seine Hand an ihre Lippen geführt und wäre vor ihm auf die Knie gefallen; aber er hinderte sie freundlich daran und bat sie, sich wieder in den Stuhl zu fetzen. Ihre Augen und der Ton ihrer Stimme hatten ihm weit besser gedankt, als sie dachte. Er vermochte nicht so gefaßt wie sonst zu sagen: »Na, Klein-Dorrit, na, na, na! Wir wollen annehmen, Sie kennten diese Person, und daß Sie all das tun könnten, und daß das alles geschehen sei. Aber nun sagen Sie mir, der ich eine andre Person bin – mir, der ich nichts bin als der Freund, der Sie bat, Vertrauen zu ihm zu hegen –, warum Sie um Mitternacht außer dem Hause sind und was Sie zu so später Stunde so weit durch die Straßen führt, mein schwaches, zartes Kind«, lag auf seinen Lippen, »meine schwache, zarte Klein-Dorrit!«

»Maggy und ich waren heute abend«, antwortete sie, sich mit jener ruhigen Kraft bezwingend, die ihr lange schon zur andern Natur geworden war, »in dem Theater, wo meine Schwester engagiert ist.«

»Ach, es ist ein himmlischer Ort«, unterbrach sie Maggy plötzlich, in deren Macht es zu liegen schien, zu schlafen und zu wachen, wann es ihr beliebte. »Beinahe so gut wie das Hospital. Nur haben sie dort keine Hühner.«

Dabei schüttelte sie sich und schlief wieder ein.

»Wir gingen dahin«, sagte Klein-Dorrit mit einem Blick auf ihr Mündel, »weil ich bisweilen aus eigner Anschauung wissen möchte, daß meine Schwester nichts Unrechtes tut, und sie mit eignen Augen dort sehen möchte, wenn es weder sie noch ihr Oheim wissen. Nur selten kann ich das tun, weil ich, wenn ich nicht außer dem Hause arbeite, bei meinem Vater bin, und selbst wenn ich außer dem Hause arbeite, ich nach Hause zu ihm eile. Aber ich gebe heute nacht vor, daß ich in einer Gesellschaft gewesen sei.«

Als sie ängstlich zagend dieses Bekenntnis machte, erhob sie ihre Augen zu seinem Gesicht und las in seinem Ausdruck so deutlich, daß sie antwortete:

»O nein, gewiß nicht! Ich war nie in meinem Leben in einer Gesellschaft.« Sie hielt einen Augenblick inne, während er sie aufmerksam ansah, und sagte dann: »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes dabei. Ich hätte nie etwas nützen können, wenn ich mir nicht eine Lüge erlaubt.«

Sie fürchtete, er möchte sie im stillen tadeln, daß sie so darauf erpicht sei, für sie zu denken, zu überlegen und über ihnen zu wachen, ohne daß sie es wußten oder ihr dankten, vielleicht sogar, während sie wegen eingebildeter Vernachlässigung ihr Vorwürfe machten. Aber woran er wirklich dachte, das war die schwache Gestalt mit dem starken Willen, die dünnen zerrissenen Schuhe, die unzureichende Kleidung und der Vorwand der Erholung und des Vergnügens. Er fragte, wo die vorgebliche Gesellschaft sei? An einem Orte, wo sie arbeite, antwortete Klein-Dorrit errötend. Sie habe wenig davon gesprochen: nur ein paar Worte, um ihren Vater zu beruhigen. Ihr Vater glaube nicht, daß es eine große Gesellschaft sei – er könne dessen wirklich versichert sein. Sie blickte dabei einen Augenblick auf den Schal, den sie trug.

»Es ist die erste Nacht«, sagte Klein-Dorrit, »die ich außer dem Hause zubringe. Und London sieht so groß, so trübselig und so schmutzig aus.« In Klein-Dorrits Augen war seine Größe unter dem schwarzen Himmel schrecklich. Ein Schauer überrieselte sie, als sie diese Worte sagte.

»Aber das ist es nicht«, fügte sie mit der ihr eigentümlichen Fassung hinzu, »womit ich Sie bemühen wollte, Sir. Meine Schwester hat eine Freundin gefunden, eine Dame, von der sie mir erzählte; es machte mich unruhig, deshalb zunächst ging ich von Hause weg. Und da wir nun einmal fort waren und (absichtlich) an Ihrer Wohnung vorüberkamen und Licht im Fenster sahen –«

Nicht zum ersten Male. Nein, nicht zum ersten Male. In Klein-Dorrits Auge war die Außenseite dieses Fensters ein ferner Stern in andern Nächten als diese. Sie hatte sich außerordentlich angestrengt und abgemüht, zu ihm aufzublicken und zu staunen über den ernsten, braunen Mann, der von so ferne kam und als Freund und Beschützer zu ihr gesprochen.

»Es sind drei Dinge«, sagte Klein-Dorrit, »die ich mir zu sagen vornahm, falls Sie allein wären und ich heraufkäme. Erstens, was ich zu sagen versuchte, aber nicht kann – nicht soll –«

»Still, still! Das ist abgemacht. Wir wollen zum Zweiten übergehen«, sagte Clennam, ihre Aufregung weglächelnd, indem er die Flamme auf sie scheinen ließ und Wein und Kuchen und Obst vor ihr auf den Tisch setzte.

»Ich denke«, sagte Klein-Dorrit – »das Zweite ist, Sir, – ich denke, Mrs. Clennam muß mein Geheimnis entdeckt haben und muß wissen, woher ich komme und wohin ich gehe. Wo ich wohne, meine ich.«

»Wirklich?« versetzte Clennam lebhaft. Er fragte sie nach kurzer Überlegung, warum sie dies vermute. »Ich denke«, antwortete Klein-Dorrit, »Mr. Flintwinch muß mich beobachtet haben.«

Und warum, fragte Clennam, indem er seine Augen auf das Feuer richtete, seine Brauen zusammenzog und wieder überlegte, warum sie das vermute?

»Ich bin ihm zweimal begegnet. Beide Male in der Nähe meiner Wohnung. Beide Male bei Nacht, wenn ich nach Hause ging. Beide Male dachte ich (ich kann mich jedoch leicht darin täuschen), daß es kaum ausgesehen, als ob er mir durch Zufall begegnete.«

»Sagte er etwas?«

»Nein, er nickte bloß und neigte den Kopf auf die Seite.«

»Der Teufel hole diesen Kopf!« dachte Clennam, noch immer in das Feuer blickend: »er hängt stets zur Seite.«

Er stand auf, um sie zu nötigen, etwas Wein über ihre Lippen zu bringen und etwas Speise zu berühren – es war sehr schwierig, denn sie war so ängstlich und scheu – und dann sagte er, wieder nachdenkend:

»Ist meine Mutter irgendwie verändert gegen Sie?«

»O keineswegs. Sie ist ganz wie zuvor. Ich war ungewiß, ob ich ihr nicht lieber meine Geschichte erzählen sollte. Ich war ungewiß, ob ich – ich meine, ob Sie es gerne sähen, wenn ich sie ihr erzählte. Ich hätte gern gewußt“, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihn bittend ansah und ihre Augen immer mehr von ihm abwendete, je mehr er sie anblickte, »ob Sie mir andeuten wollten, was ich tun sollte.«

»Klein-Dorrit«, sagte Clennam, und dieses Wort hatte bereits begonnen, die Stelle von hundert freundlichen Worten zu vertreten, je nach dem verschiedenen Tone und der Verbindung, in der es ausgesprochen wurde, »tun Sie nichts. Ich werde mit meiner alten Freundin Mrs. Affery sprechen. Tun Sie nichts, Klein-Dorrit – als sich mit solchen Mitteln erfrischen, wie sie hier vorhanden sind. Ich bitte Sie, tun Sie das.«

»Ich danke, ich bin nicht hungrig. Und nicht«, sagte Klein-Dorrit, als er ihr sanft das Glas zuschob, »auch nicht durstig. Vielleicht hat Maggy zu etwas Appetit.«

»Nun, wir wollen Sie gleich für alles, was da ist, Taschen finden lassen«, sagte Clennam, »aber ehe wir sie aufwecken, ist noch etwas Drittes zu sagen.«

»Ja, aber Sie werden nicht beleidigt sein, Sir?«

»Ich verspreche Ihnen das ohne Rückhalt.«

»Es wird seltsam klingen. Ich weiß kaum, wie ich es sagen soll. Halten Sie es nicht für unvernünftig oder undankbar von mir«, sagte Klein-Dorrit mit wiederkehrender und wachsender Aufregung.

»Nein, nein, nein. Ich weiß gewiß, es wird recht und natürlich sein. Ich fürchte nicht, daß ich es falsch auffassen werde, was es auch sein mag.«

Arthur Clennam bei seiner Mutter.

»Ich danke. Sie werden wieder zu uns kommen und meinen Vater besuchen?«

»Ja.«

»Sie waren so gut und aufmerksam, meinem Vater ein Billett zu schreiben, daß Sie morgen kommen würden?«

»O, das ist nicht der Rede wert. Allerdings.«

»Können Sie ahnen«, sagte Klein-Dorrit, die kleinen Hände fest ineinander faltend und ihn mit dem ganzen Seelenernst, der aus ihren Augen sprach, ansehend, »um was ich Sie jetzt ersuchen will?«

»Ich glaube wohl, aber ich kann mich täuschen.«

»Nein, Sie täuschen sich nicht«, sagte Klein-Dorrit, ihren Kopf schüttelnd. »Wenn wir es gar so sehr bedürften, daß wir nicht ohne dasselbe existieren könnten, so lassen Sie mich darum bitten.«

»Gern – gern.«

»Ermutigen Sie ihn nicht zu dieser Bitte. Verstehen Sie ihn nicht, wenn er bittet. Geben Sie es ihm nicht. Ersparen Sie ihm das, und Sie werden besser von ihm zu denken imstande sein!«

Clennam sagte, freilich nicht sehr ehrlich, als er Tränen in ihren besorgten Augen glänzen sah, – ihr Wunsch solle ihm heilig sein.

»Sie wissen nicht, was er ist«, sagte sie, »Sie wissen nicht, was er wirklich ist. Wie sollten Sie auch, mein Gott, Sie, der ihn ganz plötzlich sieht, und nicht nach und nach wie ich. Sie waren so gut gegen uns, so zart, so wahrhaft gut, daß ich ihn in Ihren Augen besser als in irgendeines andern dastehen sehen möchte. Und ich kann es nicht ertragen, zu denken«, sagte Klein-Dorrit, ihre Tränen mit den Händen bedeckend, »daß Sie ihn nur in den Augenblicken seiner Entwürdigung sehen sollten!«

»Bitte«, sagte Clennam, »verscheuchen Sie Ihren Schmerz. Bitte, bitte, Klein-Dorrit! Ich verstehe ganz, was Sie meinen.«

»Dank Ihnen, Sir. Dank! Ich habe alles mögliche versucht, mich von dieser Bitte abzuhalten; ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht. Als ich aber gewiß wußte, daß Sie wiederkommen würden, nahm ich mir vor, mit Ihnen zu sprechen. Nicht weil ich mich seiner schämte«, sie trocknete rasch ihre Tränen, »sondern weil ich ihn besser kenne als irgend jemand und ihn liebe und stolz auf ihn bin.«

Von dieser Last befreit, trieb es Klein-Dorrit zu gehen. Da Maggy wieder ganz wach war und aus der Ferne über das Obst und die Kuchen im Vorgeschmack des Genusses schmatzend hinstarrte, bereitete ihr Clennam die beste Erquickung, die in seiner Macht stand: er schenkte ihr ein Glas Wein ein, das sie in einer Reihe von lauter Schlücken austrank, und bei jedem ihre Hand auf die Luftröhre legte, während sie beinahe atemlos und mit weit hervorstehenden Augen sagte: »O wie köstlich! Ach! es ist wie im Hospital.« Als sie den Wein ausgetrunken und ihre Lobsprüche beendet hatte, hieß er sie ihren Korb (sie war nie ohne ihren Korb) mit allen Eßwaren auf dem Tisch zu füllen und zusehen, daß kein

Brocken übrigbleibe. Die Freude, mit der Maggy dies tat, und die Freude, mit der ihr Mütterchen Maggy vergnügt sah, war die beste Wendung, die das Gespräch unter solchen Umständen nehmen konnte.

»Aber die Tore werden längst geschlossen sein«, sagte Clennam, plötzlich auf diesen Gedanken verfallend. »Wo gehen Sie hin?«

»Ich gehe nach Maggys Wohnung«, antwortete Klein-Dorrit. »Ich bin dort ganz gut aufgehoben, ganz sicher.«

»Ich muß Sie dahin begleiten«, sagte Clennam. »Ich kann Sie nicht allein gehen lassen.«

»Bitte, lassen Sie uns allein gehen. Bitte!« sagte Klein-Dorrit.

Sie bat mit solchem Ernst, daß Clennam zu zartfühlend war, sich ihr aufzudrängen; um so mehr, als er klug genug war einzusehen, daß Maggys Wohnung von der geringsten Art sein müsse. »Komm, Maggy«, sagte Klein-Dorrit freundlich, »wir werden schon fortkommen. Wir kennen den Weg zu dieser Zeit, nicht wahr, Maggy?«

»Ja, ja, Mütterchen, wir kennen den Weg«, kicherte Maggy, und sie gingen fort. Klein-Dorrit kehrte sich an der Tür um und sagte: »Gott segne Sie!« Sie sagte es sehr leise, aber – wer weiß – sie wurde vielleicht so gut oben im Himmel vernommen wie ein ganzer Kirchenchor.

Arthur Clennam ließ sie erst um die Ecke der Straße gehen, ehe er in einiger Entfernung folgte; auch nicht in der mindesten Absicht, zum zweiten Male in die Privatangelegenheiten Klein-Dorrits einzugreifen; sondern um sich selbst die Beruhigung zu verschaffen, sie sicher zu wissen, was der Fall war, sobald er sie in der Nachbarschaft sah, an die sie gewöhnt war. Sie erschien ihm so klein, so zerbrechlich und machtlos gegen das schwarze, neblige Wetter, während sie in dem schwankenden Schatten ihres Mündels einherging, daß ihm in seiner Teilnahme und seiner Gewohnheit, sie als ein von der übrigen rauhen Welt abgesondertes Kind zu betrachten, zu Mut war, als wenn er sich glücklich fühlen würde, sie in seine Arme zu nehmen und bis an das Ende ihrer Wanderung zu tragen.

Mit der Zeit kamen sie nach der Hauptstraße, wo das Marschallgefängnis lag; da sah er sie ihre Schritte verlangsamen und bald in eine Nebenstraße einbiegen. Er blieb stehen; denn er fühlte, daß er kein Recht hatte weiterzugehen, und verließ sie langsamen Schrittes. Er hatte nicht den geringsten Verdacht, sie könnten riskieren, obdachlos bis zum Morgen umherirren zu müssen; er hatte keine Idee von der Wahrheit, bis lange, lange später.

»Aber«, sagte Klein-Dorrit, als sie vor einem armseligen Haus ganz in der Dunkelheit stille hielten und lauschend keinen Ton vernahmen, »das ist ja eine sehr hübsche Wohnung für dich, Maggy, wir dürfen die Leute nicht belästigen. Deshalb wollen wir nur zweimal klopfen und nicht sehr laut; und wenn wir sie dadurch nicht aufwecken, müssen wir eben bis Tagesanbruch auf der Straße umhergehen.«

Klein-Dorrit klopfte einmal mit bescheidener Hand und horchte. Dann klopfte sie noch einmal mit bescheidener Hand und horchte. Alles blieb ruhig und still. »Maggy, wir müssen uns schon drein fügen, meine Liebe. Wir müssen geduldig sein und bis zu Tagesanbruch warten.«

Es war eine kalte, dunkle Nacht, und ein feuchter Wind blies, als sie wieder auf die Hauptstraße kamen und die Glocken halb zwei schlagen hörten. »Nur noch fünf und eine halbe Stunde, und wir können nach Hause kommen«, sagte Klein-Dorrit. Von Hause zu sprechen und zu gehen und danach zu sehen, war eine natürliche Folge. Sie gingen nach dem geschlossenen Tor und sahen durch das Schlüsselloch in den Hof. »Ich hoffe, er schläft gesund«, sagte Klein-Dorrit, einen der Riegel küssend, »und vermißt mich hoffentlich nicht.« Die Pforte war ihnen so vertraut wie eine Freundin, daß sie Maggys Korb in eine Ecke stellten, damit er als Sitz diene. So ruhten sie dicht aneinander gedrängt dort einige Zeit aus. Während die Straße leer und still war, fürchtete sich Klein-Dorrit nicht; wenn sie jedoch in einiger Entfernung einen Schritt hörte oder einen sich unter den Straßenlaternen hinbewegenden Schatten sah, fuhr sie auf und flüsterte ihrem Kind zu: »Maggy, ich sehe jemanden. Komm fort!« Maggy erwachte dann mehr oder weniger verdrießlich, und sie gingen eine Zeitlang umher und kamen dann zurück.

Solange das Essen eine Neuigkeit und eine Unterhaltung war, ging es mit Maggy ganz gut. Als diese Periode jedoch vorüber war, klagte sie über die Kälte und schauerte und winselte. »Es wird bald vorüber sein, liebes Kind!« sagte Klein-Dorrit geduldig.

»O, das ist alles ganz gut für dich, Mütterchen«, versetzte Maggy, »aber ich bin ein armes Ding, nur zehn Jahre alt.« Endlich, als in der Stille der Nacht die Straße vollkommen ruhig war, legte Klein-Dorrit Maggys schweres Haupt an ihre Brust und wiegte sie in den Schlaf. So saß sie am Tore, einsam und allein, und blickte zu den Sternen empor und sah die Wolken in wilder Flucht über sie hinziehen – das war der Tanz bei Klein-Dorrits Gesellschaft.

»Wenn es wirklich eine Gesellschaft wäre!« sagte sie plötzlich, als sie so dasaß. »Wenn es hell und warm und schön wäre und es unser Haus wäre, und mein armer, lieber Vater wäre der Herr und nie hinter diesen Mauern gewesen. Und wenn Mr. Clennam einer von unsern Gästen wäre, und wir tanzten zu entzückender Musik und wären alle so heiter und vergnügt wie nur immer möglich! Ich möchte wissen –« Es eröffnete sich ihr eine solche Reihe von Dingen, die sie hätte wissen mögen, daß sie ganz in Gedanken verloren zu den Sternen aufblickte, bis Maggy wieder unruhig wurde und aufstehen und gehen wollte.

Es wurde drei Uhr und halb vier Uhr, und sie waren über die London-Brücke gegangen. Sie hatten das Rauschen des Stromes gehört, der sich an den Hindernissen brach; hatten mit Schauer durch den dunkeln Nebel auf den Strom hinabgeschaut; hatten kleine Streifen des Wassers blitzen sehen, die das Licht der Brückenlaternen spiegelten, die wie Dämonenaugen leuchteten und die Schuld und das Elend mit furchtbarem Zauber in die Tiefe zogen. Sie waren unheimlich erschrocken an obdachlosen Menschen vorübergegangen, die zusammengekauert in Winkeln lagen. Sie waren Betrunkenen entflohen. Sie waren zurückgetreten, wenn sie Männer an sich vorüberschleichen, sich an Straßenecken zuwinken, zuflüstern oder andere in voller Flucht davoneilen sahen. Indessen tat der Wegweiser und Führer, Klein-Dorrit, glücklich in ihrer jugendlichen Erscheinung, als ob sie sich an Maggy hielte und sich auf sie stützte, und mehr als einmal hatte eine Stimme aus einem Haufen lärmenden und herumstreichenden Volks auf ihrem Wege den übrigen zugerufen, man solle »die Frau und das Kind vorbeigehen lassen!«

So waren die Frau und das Kind vorübergegangen und weitergegangen, und fünf Uhr hatte es von den Türmen geschlagen. Sie gingen langsam in der Richtung nach Osten, bereits nach dem ersten blassen Streifen Tageslicht blickend, als eine Frau hinter ihnen drein kam.

»Was tut Ihr mit dem Kinde?« sagte sie zu Maggy.

Sie war jung – viel zu jung, um hier zu sein, der Himmel weiß es! – und weder häßlich noch leichtsinnig aussehend. Sie sprach grob, aber mit keiner von Hause aus groben Stimme; es war sogar etwas Melodisches in deren Klang.

»Was tut Ihr mit Euch selbst hier?« versetzte Maggy in Ermanglung einer bessern Antwort.

»Könnt Ihr’s nicht sehen, ohne daß ich Euch’s sage?«

»Ich weiß nicht, ob ich’s kann«, sagte Maggy.

»Ich bringe mich selber um. Nun habe ich Euch geantwortet, jetzt antwortet mir. Was tut Ihr mit dem Kinde?«

Das vermeintliche Kind hatte den Kopf gesenkt und hing sich fest an Maggy an.

»Armes Ding!« sagte die Frau. »Habt Ihr denn kein Gefühl, daß Ihr sie zu solcher Zeit in den Straßen mit umherschleppt? Habt Ihr keine Augen, um zu sehen, wie zart und schwächlich sie ist? Habt Ihr denn keine Empfindung (Ihr seht allerdings nicht aus, als ob Ihr viel hättet), daß Ihr nicht mehr Mitleid mit dieser kalten und zitternden kleinen Hand habt?«

Sie war auf die andere Seite getreten und hielt die Hand Klein-Dorrits reibend in den ihren. »Küsse ein armes, verlorenes Geschöpf, mein liebes Kind«, sagte sie und beugte ihr Gesicht herab, »und sage mir, wo sie dich hinführt.«

Klein-Dorrit wandte sich nach ihr um.

»Du, mein Gott!« sagte sie zurückfahrend, »Ihr seid ja eine Frau?«

»Laßt das gut sein!« sagte Klein-Dorrit, eine der Hände ergreifend, die plötzlich die ihre losgelassen. »Ich fürchte mich nicht vor Euch.«

»Es wäre besser, Ihr würdet Euch fürchten«, antwortete sie. »Habt Ihr keine Mutter?«

»Nein.«

»Keinen Vater?«

»O ja, einen sehr lieben Vater.«

»Geht zu ihm heim und fürchtet Euch vor mir. Laßt mich gehen. Gute Nacht!«

»Ich muß Euch erst danken; laßt mich zu Euch sprechen, als wenn ich wirklich ein Kind wäre.«

»Das könnt Ihr nicht«, sagte die Frau. »Ihr seid freundlich und unschuldig, aber Ihr könnt mich nicht mit den Augen eines Kindes ansehen. Ich würde Euch nie berührt haben, wenn ich Euch nicht für ein Kind gehalten hätte.« Und mit einem seltsam wilden Schrei eilte sie hinweg.

Noch immer war der Tag nicht am Himmel, aber Tag war in den widerhallenden Steinen der Straßen, in den Wagen, Karren und Kutschen; in den Arbeitern, die zu verschiedenen Beschäftigungen eilten; in dem Öffnen der frühen Läden; in dem Handel des Marktes; in dem Getümmel an der Uferseite. Der Tag brach an in den flimmernden Lichtern, deren Farbe matter war als zu andern Zeiten; und in der schärferen Luft und der geisterhaften Farbe der Nacht.

Sie gingen wieder zu dem Tor zurück, in der Absicht, dort zu warten, bis es geöffnet würde; aber die Luft war so rauh und kalt, daß Klein-Dorrit, die Maggy im Schlaf umherführte, sich Bewegung machte. Als sie um die Kirche gingen, sahen sie Lichter dort und die Tür offen; sie gingen die Treppen hinauf und sahen hinein.

»Wer da?« rief ein stämmiger, alter Mann, der eine Nachtmütze aufsetzte, als wenn er in einer Gruft zu Bett ginge.

»Niemand besonderes, Herr«, sagte Klein-Dorrit.

»Halt!« rief der Mann. »Laßt mich Euch ansehen!«

Das veranlaßte sie umzukehren, als sie hinausgehen wollte, und sich und ihr Mündel vor ihm zu zeigen.

»Ich dacht‘ es doch!« sagte er. »Ich kenne Euch!«

»Wir haben einander oft gesehen«, sagte Klein-Dorrit, den Sakristan oder Meßner oder Stabträger, oder was er war, erkennend, »wenn ich hier in die Kirche kam.«

»Mehr als das, wir haben Ihre Geburt in unserm Register eingetragen; Sie wissen, Sie sind eine von unsern Kuriositäten.«

»Wirklich?« sagte Dorrit.

»Gewiß. Als das Kind von dem – übrigens, wie kommt’s, daß Ihr schon so früh auf seid?«

»Wir wurden die vergangene Nacht ausgeschlossen und warten nun, bis wir hinein können.«

»Ist das wirklich Eure Absicht? Das dauert wohl noch eine gute Stunde. Kommt in die Sakristei. Ihr werdet ein Feuer in der Sakristei finden, wegen der Maler. Ich warte auf die Maler, sonst wäre ich nicht hier, das dürft Ihr mir glauben. Eine von unsern Kuriositäten darf nicht kalt werden, wenn es in unsrer Macht liegt, sie gut zu wärmen. Kommt mit.«

Es war ein sehr guter, alter Mann, mit seinem vertrauten Ton; und nachdem er das Sakristeifeuer etwas angeschürt, suchte er an den Registerständern nach einem besondern Band umher. »Hier stehen Sie eingetragen, sehen Sie mal«, sagte er, indem er ihn herabnahm und die Blätter umdrehte. »Hier werden Sie sich in voller Größe finden. Amy, Tochter von William und Fanny Dorrit. Geboren im Marschallgefängnis, Parochie St. George. Und wir sagen den Leuten, daß Sie nie einen Tag oder eine Nacht seit jener Zeit von dort fortgewesen. Nicht wahr?«

»Allerdings, bis gestern abend.«

»Herr!« Aber ein bewundernder Blick, den er auf sie warf, führte ihn auf etwas anderes, nämlich: »Ich sehe mit Bedauern, daß Sie erschöpft und müde sind. Warten Sie einen Augenblick. Ich will einige Kissen aus der Kirche holen, und Sie und Ihre Freundin sollen vor dem Feuer liegen. Fürchten Sie nicht, daß Sie zu Ihrem Vater hineinzugehen versäumen, sobald das Tor geöffnet wird. Ich werde Sie rufen.«

Er brachte alsbald die Kissen und legte sie auf den Boden.

»So, da sind Sie nun wieder in Lebensgröße. Oh, denken Sie nicht ans Danken. Ich habe selbst auch Töchter. Und wenn sie auch nicht im Marschallgefängnis geboren wurden, wäre es doch möglich gewesen, wenn ich in meiner Lebensart von Ihres Vaters Schlag gewesen. Warten Sie einen Augenblick. Ich muß etwas unter das Kissen für Ihren Kopf legen. Hier ist ein Sterberegister. Das ist recht. Wir haben Mrs. Bangham in dem Buche. Aber was diese Bücher den meisten Leuten interessant macht, ist – nicht wer darin ist, sondern wer nicht darin und wer hineinkommt, verstehen Sie, und wann. Das ist die wichtige Frage.«

Er blickte mit einem empfehlenden Wort noch einmal auf das Polster zurück, das er improvisiert hatte, und verließ sie, damit sie die Stunde noch ausruhen könnten. Maggy schnarchte bereits, und Klein-Dorrit war gleichfalls bald eingeschlafen, den Kopf auf diesem versiegelten Buche des Schicksals, ungestört durch seine geheimnisvollen weißen Blätter.

Das war Klein-Dorrits Gesellschaft. Die Schande, Verlassenheit, das Elend und die Bloßstellung der großen Hauptstadt; die nassen, kalten, schleichenden Stunden, und die jagenden Wolken der unheimlichen Nacht. Das war die Gesellschaft, aus der Klein-Dorrit in dem ersten grauen Nebel eines regnerischen Morgens abgemattet heimkehrte.

Fünfzehntes Kapitel


Fünfzehntes Kapitel

Mrs. Flintwinch hat wieder einen Traum

Das baufällige alte Haus in der City, in seinen Mantel von Ruß gehüllt und schwerfällig auf die Krücken gestützt, die seinen Verfall geteilt und mit ihm bresthaft geworden, kannte auch nicht einen gesunden oder heiteren Augenblick. Wenn die Sonne es je berührte, so war es nur mit einem Strahl, und der war in einer halben Stunde vorüber. Wenn das Mondlicht je darauf fiel, so war es nur, um einige Flecken auf seinen Bettlermantel zu flicken und ihm ein noch traurigeres Aussehen zu verleihen. Die Sterne freilich schauten mit kaltem Blick darauf herab, wenn die Nächte und der Rauch klar genug waren, und alles schlechte Wetter hielt mit seltener Beharrlichkeit bei ihm aus. So sah man Regen, Hagel, Frost und Tau an diesem unheimlichen Ort noch immer weilen, wenn sie längst anderwärts verschwunden waren. Der Schnee blieb dort ganze Wochen lang liegen, nachdem er von Gelb in Schwarz übergegangen, sein schmutziges Leben langsam ausweinend. Der Ort hatte keine andern Anhänger. Was das Straßengeräusch betrifft, so polterten die Räder der Fuhrwerke nur im Vorübergehen durch den Torweg in das Gäßchen und ebenso rasch wieder hinaus. Sie machten auf die lauschende Mistreß Affery den Eindruck, als wäre sie taub, und gaben ihr das Gefühl des Hörens nur durch einzelne Stöße. So war es mit Pfeifen, Singen, Sprechen, Lachen und allen angenehmen menschlichen Klängen. Sie waren in einem Augenblick an der Tür vorüber und schon wieder weit entfernt.

Das verschiedene Licht von Feuer und Kerze in Mrs. Clennams Zimmer bildete den größten Wechsel, der je die totenstille Einförmigkeit des Ortes unterbrach. An ihren zwei schmalen Fenstern sah man den düstern Schein des Feuers bei Tag und bei Nacht. Nur selten flackerte es leidenschaftlich auf wie die Herrin des Hauses; zumeist war es gedämpft wie sie und zehrte gleichmäßig und langsam an sich selbst. Während vieler Stunden in den kurzen Wintertagen, wenn dort schon früh am Nachmittag die Dämmerung eintrat, konnte man abwechselnd Zerrbilder von ihr selbst im Räderstuhl, von Mr. Flintwinch mit seinem gekrümmten Hals, von Mrs. Affery, die ab- und zuging, an der Hausmauer über dem Torweg sich abzeichnen und wie Schatten aus einer großen Laterna magica hin- und herschweben sehen. Wenn die ihr Zimmer hütende Kranke sich zur Ruhe begab, verschwanden diese Bilder nach und nach, zuletzt Mistreß Afferys vergrößerter Schatten, der immer hin- und herwanderte, bis er endlich in der Luft verschwand, als wenn sie sich selbst auf eine Heimfahrt begäbe. Dann brannte das einsame Licht unverändert fort, bis es kurz vor der Morgendämmerung erblaßte und zuletzt unter dem Hauche von Mistreß Affery erlosch, wenn ihr Schatten von der Hexenregion des Schlafes sich darauf herabsenkte.

Sonderbar, wenn das kleine Krankenzimmerfeuer wirklich ein Leuchtturmfeuer wäre, das einen, und zwar den Unwahrscheinlichsten in der Welt an den Ort lockte, zu dem er kommen muß. Sonderbar, wenn das kleine Krankenzimmerlicht wirklich ein Nachtlicht wäre, das jede Nacht an diesem Ort brannte, bis ein bestimmtes Ereignis zu erspähen wäre? Wer von der großen Masse von Wanderern unter der Sonne und den Sternen, die die staubigen Hügel hinansteigen und über die endlos ermüdenden Ebenen ziehen, zu Land und zur See reisen, so seltsam kommen und gehen, um sich zu begegnen, aufeinander zu wirken und rückzuwirken, wer von dieser Schar mag, ohne das Reiseziel zu ahnen, sicher hierher seinen Weg nehmen?

Die Zeit wird es uns lehren. Der Ehrenposten und der Schandpfahl, die Generalsstelle und die Trommlerstelle, eine Peersstatue in der Westminsterabtei und eine Seemannshängematte im Schoß der Tiefe, die Bischofsmütze und das Arbeitshaus, der Wollsack und der Galgen, der Thron und die Guillotine – die Wanderer zu all diesen sind auf der großen Heerstraße; aber es gibt seltsame Abwege, und nur die Zeit allein kann uns lehren, zu welchem Ziel jeder einzelne Wanderer bestimmt ist.

An einem winterlichen Nachmittag im Zwielicht träumte Mrs. Flintwinch, die sich den ganzen Tag schon schwer und müde gefühlt, folgenden Traum:

Es war ihr, als befände sie sich in der Küche, den Kessel für den Tee rüstend, und wärme sich den Fuß am Kamingitter. Sie saß mit gerafftem Kleid an dem zusammengefallenen Feuer vor dem Kaminrost, einem Feuerlein, das zu beiden Seiten durch eine tiefe, schwarze, kalte Furche begrenzt war. Es war ihr, während sie so dasaß und über die Frage nachsann, ob das Leben nicht für manche Leute eine ziemlich traurige Erfindung sei, als würde sie durch ein plötzliches Geräusch hinter sich erschreckt. Es war ihr, als hätte sie ein ähnliches Geräusch vergangene Woche gleichfalls erschreckt, und als wenn dies Geräusch von ganz geheimnisvoller Art wäre, – ein Gerassel und drei oder vier lebhafte Schläge wie ein rascher Tritt, während ihr Herz einen Stoß bekam und zitterte, als wenn der Tritt den Fußboden erbeben gemacht oder gar, als wenn sie von einer furchtbaren Hand ergriffen worden wäre. Es war ihr, als würde die alte Furcht, es sei in dem Hause nicht geheuer, dadurch wieder geweckt, und als wenn sie die Küchentreppe hinaufflöge, sie wüßte nicht wie, um nur näher bei Menschen zu sein.

Es war Mrs. Affery, als ob sie, im Gang angekommen, die Tür zum Bureau ihres Oberherrn offenstehen und das Zimmer leer sähe. Als ob sie zu dem aufgerissenen Fenster in dem kleinen Zimmer nächst der Straßentür ginge, um ihr pochendes Herz durch die Scheiben mit den lebenden Wesen drunten und außerhalb des ungeheuerlichen Hauses in Verbindung zu setzen. Als sähe sie an der Mauer über dem Torweg die Schatten der beiden Gescheiten droben im Gespräch miteinander begriffen. Als ob sie dann mit den Schuhen in der Hand hinaufginge, teils um den Gescheiten, die den meisten Geistern gewachsen, nahe zu sein, teils um zu hören, wovon sie sprächen.

»Keine von Ihren Possen, bitte ich«, sagte Mr. Flintwich. »Ich lasse mir das nicht von Ihnen bieten.«

Mrs. Flintwinch träumte, sie stehe hinter der Tür, die gerade offen war, und höre ihren Gatten diese kühnen Worte ganz deutlich sagen.

»Flintwinch«, versetzte Mrs. Clennam in ihrem gewöhnlichen strengen und tiefen Ton, »es ist ein Dämon des Zorns in Ihnen. Hüten Sie sich vor ihm.«

»Ich kümmere mich nicht, ob es einer ist oder ein Dutzend«, sagte Mr. Flintwinch, durch seinen Nachdruck andeutend, daß die größere Zahl der Wahrheit näher sei. »Wenn es fünfzig wären, würden sie alle sagen: Keine von Ihren Possen, ich lasse es mir nicht von Ihnen bieten. – Ich würde sie zu diesem Ausspruch zwingen, sie möchten wollen oder nicht.«

»Was habe ich getan, du zorniger Mann?« fragte ihre strenge Stimme.

»Getan?« jagte Mr. Flintwinch. »Sie sind über mich hergefallen.«

»Wenn Sie damit meinen, ich habe Ihnen Vorstellungen gemacht – –«

»Legen Sie mir nicht Worte in den Mund, die ich nicht meine«, sagte Jeremiah, an seinen bildlichen Ausdruck mit zäher und unergründlicher Halsstarrigkeit sich hängend, »Sie sind über mich hergefallen.«

»Ich habe Ihnen Vorstellungen gemacht«, begann sie wieder, »weil –«

»Ich will es nicht haben!« rief Jeremiah. »Sie sind über mich hergefallen.«

»Ich bin also über Sie hergefallen, Sie unfreundlicher Mann«, (Jeremiah kicherte, daß er sie gezwungen, sich seiner Worte zu bedienen), »weil Sie diesen Morgen unnötigerweise gegen Arthur zu bezeichnend gewesen sind. Ich habe ein Recht, mich darüber zu beklagen, denn es ist nahezu ein Vertrauensbruch. Es war nicht Ihre Absicht –«

»Ich will das nicht!« warf der widerspruchsvolle Jeremiah ein, dieses Zugeständnis zurückweisend. »Es war meine Absicht.«

»Ich scheine Sie allein sprechen lassen zu müssen, wie’s Ihnen beliebt«, versetzte sie nach einer Pause, die das Gepräge der Gereiztheit trug. »Es ist nutzlos, mich an einen heftigen und halsstarrigen, alten Mann zu wenden, der sich fest vorgenommen, mich nicht anzuhören.«

»Ich kann mir das ebensowenig von Ihnen gefallen lassen«, sagte Jeremiah. »Ich habe mir das durchaus nicht vorgenommen. Wollen Sie wissen, warum es meine Absicht war, Sie heftige und halsstarrige alte Frau?«

»Sie scheinen mir nur meine Worte zurückgeben zu wollen«, sagte sie, ihre Entrüstung bekämpfend. »Ja.«

»So hören Sie denn. Weil Sie ihm seinen Vater nicht ins rechte Licht stellten und Sie das hätten tun sollen. Weil, ehe Sie auf irgendeine Erklärung über sich eingingen, die Sie –«

»Halten Sie ein, Flintwinch!« rief sie mit verändertem Ton. »Sie könnten um ein Wort zu weit gehen.«

Der alte Mann schien das auch zu denken. Es entstand wieder eine Pause, und er hatte seine Stellung im Zimmer verändert, als er in etwas sanfterem Ton fortfuhr:

»Ich war im Begriff, Ihnen zu sagen, warum solches geschah. Weil, ehe Sie Ihre eigne Sache aufgriffen, Sie meiner Ansicht nach die Sache von Arthurs Vater hätten abmachen sollen. Arthurs Vater! Ich hatte keine besondere Vorliebe für Arthurs Vater. Ich diente dem Oheim von Arthurs Vater in diesem Haus, als Arthurs Vater nicht viel mehr als ich, – ja ärmer war, was seine Taschen anbetraf – und sein Oheim mich ebensogut zu seinem Erben hätte machen können wie ihn. Er hungerte in dem Wohnzimmer, und ich hungerte in der Küche. Das war der Hauptunterschied in unserer Lage; es war nicht viel mehr als einige Stufen einer halsbrecherischen Treppe zwischen uns. Ich hielt damals nie zu ihm; ich weiß überhaupt nicht, daß ich mich je zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Er war ein unentschiedener, unschlüssiger Laffe, aus dem man alles außer seinem Waisenleben herausgeschreckt hatte, solange er jung war. Und als er Sie hierher brachte, das Weib, das sein Oheim für ihn bestimmte, brauchte ich Sie nicht zweimal anzusehen (Sie waren damals hübsch), um zu wissen, wer Herr im Hause sein würde. Sie standen seit jener Zeit auf Ihren eigenen Füßen. Stehen Sie jetzt wieder auf Ihren Füßen, lehnen Sie sich nicht an die Toten?«

»Ich lehne mich nicht – wie Sie es nennen – an die Toten.«

»Aber Sie waren nahe daran, es zu tun, wenn ich es zugegeben hätte«, brummte Jeremiah, »und das ist’s, weshalb Sie über mich hergefallen sind. Sie können nicht vergessen, daß ich mich nicht darein fügte. Vermutlich sind Sie erstaunt, daß ich es der Mühe für wert gehalten habe, Arthurs Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Hm? Es ist gleichgültig, ob Sie antworten oder nicht, weil ich weiß, daß Sie sich wundern und Sie es auch wissen, daß Sie sich wundern. Ich will Ihnen sagen, wie die Sache steht. Ich mag ein etwas seltsames Temperament haben, aber ich habe einmal dieses Temperament – ich kann die Leute nicht ganz nach ihrem Sinne handeln lassen. Sie sind eine Frau von entschiedenem Charakter und eine gescheite Frau; und wenn Sie sich etwas fest vorgenommen haben, wird Sie nichts davon abbringen. Wer weiß das besser, als ich?«

»Nichts wird mich davon abbringen, Flintwinch, wenn ich es vor mir selbst gerechtfertigt habe. Fügen Sie das noch hinzu.«

»Vor sich selbst gerechtfertigt haben? Ich sagte, Sie seien die entschiedenste Frau auf dem Erdenrund (oder ich wollte das sagen), und wenn Sie entschlossen sind, irgend etwas, was Sie im Sinn haben, zu rechtfertigen, so werden Sie es natürlich auch tun.«

»Mann! Ich rechtfertige mich durch die Autorität dieser Bücher«, rief sie mit strenger Stimme und schien, nach dem Geräusche zu urteilen, das diesen Worten folgte, das schwere Gewicht ihrer Arme auf den Tisch fallen zu lassen.

»Lassen Sie das«, versetzte Jeremiah ruhig, »wir wollen im Augenblick nicht auf diese Frage eingehen. Wie es auch stehen mag, Sie führen Ihre Vorsätze aus, und alles andere muß weichen. Ich nur will nicht weichen. Ich war Ihnen treu und diensteifrig und zugetan. Aber ich kann nicht zustimmen und würde nicht zustimmen, ich habe nie zugestimmt und werde nie zustimmen, ganz in Ihnen aufzugehen. Verschlingen Sie, wen Sie wollen, wohl bekomm‘ es Ihnen! Aber es ist eine Eigenheit meines Charakters, Ma’am, daß ich nicht lebendig verschlungen werden will.«

Vielleicht war das ursprünglich der Hauptgrund ihres sonstigen Einverständnisses. Mrs. Clennam hatte vielleicht so viele Kraft des Charakters in Mr. Flintwinch entdeckt, daß sie eine Art Bündnis mit ihm der Mühe für wert erachtet hatte.

»Genug, und mehr als genug davon«, sagte sie düster.

»Wenn Sie nur nicht wieder über mich herfallen«, versetzte der halsstarrige Flintwinch, »in dem Falle müßten Sie wieder davon hören.«

Mistreß Affery träumte, daß die Gestalt ihres Herrn hier in dem Zimmer auf und ab zu gehen anfinge, als wenn er seinen Ärger kühlen wollte, und daß sie dann weggeeilt sei; daß sie jedoch, als er nicht herausgekommen, während sie lauschend und zitternd einige Zeit in dem schattigen Gang gestanden, wieder die Treppe hinaufgeklettert sei, wie früher von Gespenstern und Neugierde getrieben, und sich an der Tür niedergekauert habe.

»Bitte, zünden Sie das Licht an, Flintwinch«, sagte Mrs. Clennam, die ihn offenbar auf ihren gewöhnlichen Ton zurückleiten wollte. »Es ist beinahe Teezeit. Klein-Dorrit kommt und wird mich im Dunkeln finden.«

Mr. Flintwinch zündete rasch das Licht an und sagte, als er es auf den Tisch stellte:

»Was wollen Sie eigentlich mit Klein-Dorrit? Kommt sie hierher, um ewig hier zu arbeiten? Um ewig hier Tee zu trinken? Soll sie ewig hier aus und ein gehen wie jetzt?«

»Wie können Sie von ewig gegenüber einem gelähmten Geschöpf wie ich sprechen? Werden wir nicht alle niedergemäht wie das Gras auf dem Felde, und wurde ich nicht von der Sense schon vor vielen Jahren getroffen, seit welcher Zeit ich hier liege und warte, daß man mich in die Scheune sammle?«

»Ja, ja! Aber seit Sie hier liegen – nichts weniger als dem Tode nahe –, wurden zahlreiche Kinder und junge Leute, blühende Frauen, kräftige Männer und was weiß ich abgeschnitten und in die Scheune getragen. Und Sie sind immer noch hier, wie Sie sehen, im ganzen nicht viel verändert. Ihre Zeit und die meine kann noch lange währen. Wenn ich ewig sagte, so meinte ich damit (obgleich ich nicht poetisch bin), solange wir leben.« Mr. Flintwinch gab diese Erklärung mit großer Ruhe und wartete ruhig auf eine Antwort.

»Solange Klein-Dorrit ruhig und fleißig ist und der schwachen Unterstützung, die ich ihr bieten kann, bedarf und sie verdient, solange wird sie vermutlich auch, falls sie nicht selbst aus eigenem Willen darauf verzichtet, hierherkommen; vorausgesetzt, daß mir Gott das Leben erhält.«

»Und nichts weiter als das?« sagte Flintwinch, seinen Mund und sein Kinn streichend.

»Was sollte denn noch weiter sein? Was könnte noch weiter sein?« rief sie in ihrer ernsten, staunenden Weise.

Mrs. Flintwinch träumte, daß sie sich ein oder zwei Minuten lang ansahen, während das Licht zwischen ihnen stand, und als ob sie irgendwie den Eindruck bekäme, daß sie einander fest ansähen.

»Wissen Sie zufällig, Mrs. Clennam«, fragte Afferys Eheherr mit weit leiserem Ton und mit einer Steigerung des Ausdrucks, die in keinem Verhältnis zu dem einfachen Inhalt seiner Worte stand, »wo sie wohnt?«

»Nein.«

»Möchten Sie wohl – möchten Sie es wissen?« sagte Jeremiah mit einer Plötzlichkeit, als ob er auf sie losgesprungen käme.

»Wenn ich es wissen möchte, so wüßte ich es bereits. Hätte ich sie nicht irgendmal fragen können?«

»So wollen Sie es also nicht wissen?«

»Nein.«

Mr. Flintwinch sagte, nachdem er einen langen, bezeichnenden Atemzug geholt, mit seiner früheren Betonung: »Ich habe es zufällig – merken Sie wohl! – herausgebracht.«

»Wo sie auch wohnen mag«, sagte Mrs. Clennam mit unmoduliertem hartem Ton und die Worte so scharf trennend, als ob sie sie aus verschiedenen Stückchen Metall herausläse, von denen sie eins ums andere aufhöbe, »sie hat ein Geheimnis daraus gemacht, und sie soll ihr Geheimnis vor mir bewahren.«

»Sonach hätten Sie vielleicht die Tatsache lieber gar nicht gewußt?« sagte Jeremiah, und er sagte es mit einer Verzerrung, als wenn seine Worte in seiner eignen verkrümmten Gestalt aus ihm herauskämen.

»Flintwinch«, sagte seine Herrin und Geschäftsteilhaberin, plötzlich zu einer Energie aufblitzend, die Affery stutzig machte, »warum stacheln Sie mich auf? Sehen Sie sich in diesem Zimmer um. Wenn irgendein Ersatz für meine lange Gefangenschaft in diesen engen Mauern darin liegt – ich beklage mich nicht über meine Heimsuchung, Sie wissen, ich beklage mich nie darüber –, wenn irgendein Ersatz für die lange Gefangenschaft darin liegt, daß, während mir jede angenehme Abwechselung versagt ist, mir auch die Wissenschaft von Dingen versagt ist, die ich lieber gerne nicht weiß, warum mißgönnen Sie unter allen Menschen ganz allein mir diese Annehmlichkeit?«

»Ich mißgönne sie Ihnen nicht«, versetzte Jeremiah.

»Dann sprechen Sie nicht mehr davon. Sprechen Sie nicht mehr davon. Lassen Sie Klein-Dorrit ihr Geheimnis vor mir bewahren und behalten Sie es gleichfalls bei sich. Lassen sie sie kommen und gehen, unbeobachtet und unbefragt. Lassen Sie mich leiden und lassen Sie mir die Linderung, die zu meinem Zustand gehört. Ist es denn so gar viel, daß Sie mich wie ein böser Geist quälen?«

»Ich richtete ja nur eine Frage an Sie. Das war alles.«

»Ich habe darauf geantwortet, und damit genug. Sprechen Sie nicht weiter davon.« Hier hörte man das Geräusch des Rollstuhls auf dem Boden, und Afferys Klingel schlug heftig an.

Banger in diesem Augenblick vor ihrem Gatten als vor dem geheimnisvollen Ton in der Küche, schlich Affery so leise und rasch, wie sie konnte, hinweg, eilte beinahe so geschwind die Küchentreppe hinab, wie sie heraufgekommen, nahm ihren Sitz vor dem Feuer wieder ein, schlug den Schoß ihres Kleides herauf und zog zuletzt ihre Schürze über den Kopf. Dann läutete die Glocke noch einmal und dann noch einmal, und dann klingelte es in einem fort; trotz dieser dringenden Aufforderungen saß Affery immer noch hinter ihrer Schürze und rang nach Atem.

Endlich kam Mr. Flintwinch schlürfend die Treppe herab in den Vorsaal, brummte und rief: »Affery, Frau!« den ganzen Weg entlang. Da Affery immer noch hinter ihrer Schürze verharrte, stolperte er die Küchentreppe herab, das Licht in der Hand, wackelte zu ihr heran, riß ihr die Schürze weg und zerrte sie in die Höhe.

»O Jeremiah!« rief Affery erwachend, »wie hast du mich erschreckt!«

»Was hast du getan, Frau?« fragte Jeremiah. »Man hat dir fünfzig Male geläutet.«

»O Jeremiah«, sagte Mistreß Affery, »ich träumte!«

An ihre frühere Heldentat in dieser Richtung erinnert, hielt Mr. Flintwinch das Licht an ihren Kopf, als wollte er sie anzünden, um die Küche zu beleuchten.

»Weißt du denn nicht, daß ihre Teestunde ist?« fragte er mit häßlichem Grinsen und versetzte einem von den Füßen des Stuhls, auf dem Mistreß Affery saß, einen Stoß.

»Jeremiah! Teestunde? Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Aber ich bekam einen so furchtbaren Schlag, Jeremiah, ehe ich zu träumen aufhörte, daß ich denke, es muß das gewesen sein.«

»Auf! Schlafmütze!« sagte Mr. Flintwinch, »wovon schwatzest du da?«

»Es war ein seltsames Geräusch, Jeremiah, und ein wunderbarer Stoß. In der Küche hier – gerade hier.«

Jeremiah hielt sein Licht in die Höhe und sah zu der geschwärzten Decke empor, hielt sein Licht herab und sah auf den feuchten Steinboden, drehte sich rings herum mit dem Licht und betrachtete die fleckigen und geschwärzten Wände.

»Ratten, Katzen, Wasser, Traufe«, sagte Jeremiah.

Mistreß Affery verneinte alles und schüttelte den Kopf. »Nein, Jeremiah; ich habe es vorher schon bemerkt. Ich habe es droben verspürt und einmal auf der Treppe, als ich in der Nacht von ihrem Zimmer nach dem unsrigen ging – ein Rascheln und eine Art zitternder Berührung hinter mir.«

»Affery, meine Frau«, sagte Mr. Flintwinch mürrisch, nachdem er seine Nase an die Lippen der Frau geführt, um nach spirituosen Getränken zu schnüffeln, »wenn du nicht rasch den Tee bringst, altes Weib, wirst du ein Rascheln und eine Berührung verspüren, daß du nach dem andern Ende der Küche fliegst.«

Diese Prophezeiung spornte Mrs. Flintwinch an, sich zu rühren und die Treppen nach Mrs. Clennams Zimmer hinaufzueilen. Aber trotz alledem fing sie an, fest davon überzeugt zu sein, daß es in dem düstern Hause nicht mit rechten Dingen zugehe. Sie war fortan nicht mehr ruhig, sobald der Tag verschwunden, und ging niemals in der Dunkelheit treppauf oder treppab, ohne die Schürze über dem Kopf zu haben, aus Furcht, sie möchte etwas sehen.

Zum Teil durch diese Gespensterfurcht und ihre seltsamen Träume verfiel Mrs. Flintwinch an jenem Abend in einen unheimlich bangen Zustand; und es wird lange dauern, ehe die gegenwärtige Erzählung einigermaßen Besserung bei ihr entdeckt. In der Unbestimmtheit und Unklarheit all ihrer neuen Erfahrungen und Beobachtungen begann sie, da alles um sie her geheimnisvoll für sie war, geheimnisvoll für andere zu werden. Man wußte sich ihr Wesen so wenig klarzumachen, wie sie das Haus und alles, was darin war, sich selbst genügend klarzumachen imstande war.

Sie hatte den Tee für Mrs. Clennam noch nicht ganz fertig gemacht, als man das leise Pochen an der Tür vernahm, das immer Klein-Dorrit ankündete. Mistreß Affery sah zu, wie Klein-Dorrit ihren schlichten Hut im Vorsaal abnahm und Mr. Flintwinch an seinen Kinnbacken rieb und sie schweigend betrachtete, als müßte irgend etwas Wunderbares die Folge davon sein, das sie vor Schrecken außer sich brachte oder sie alle drei zerschmettere.

Nach dem Tee hörte man wieder ein Pochen an der Tür, das Arthur meldete. Mistreß Affery ging hinab, um ihn einzulassen, und er sagte beim Eintreten: »Affery, ich freue mich, daß Sie es sind. Ich muß eine Frage an Sie richten.«

Affery antwortete sogleich: »Bitte, bitte, haben Sie die Güte und fragen Sie mich nichts, Arthur. Die Furcht kostet mich die eine Hälfte meines Lebens und das Träumen die andere. Fragen Sie mich nichts. Ich weiß nicht, wer wer ist und was was!« Und damit eilte sie fort und kam nicht mehr in seine Nähe.

Da Mistreß Affery keinen Geschmack am Lesen fand und nicht genug Licht in dem dumpfen Zimmer hatte, um zu nähen, vorausgesetzt, daß sie dafür Sinn besessen, saß sie jetzt jeden Abend in der Dunkelheit, aus der sie am Abend von Arthur Clennams Ankunft für einen Augenblick hervorgekommen, mit mancherlei verwirrten Betrachtungen und Verdachtgründen gegen ihre Herrin, ihren Gatten und das Geräusch im Hause beschäftigt. Wenn die leidenschaftlichen Andachtsübungen begonnen, zogen solche Betrachtungen Mistreß Afferys Blicke nach der Tür, als erwartete sie, es werde eine dunkle Gestalt in solchen günstigen Augenblicken erscheinen und die Gesellschaft um eine Person zu zahlreich machen.

Im übrigen sagte und tat Affery nichts, um die Aufmerksamkeit der beiden Gescheiten in irgendwelcher Weise auf sich zu ziehen. Nur bisweilen, gewöhnlich um die stille Zeit des Zubettegehens, fuhr sie plötzlich aus ihrer dunklen Ecke empor und flüsterte mit einem Gesicht voll Schrecken Mr. Flintwinch, der an Mrs. Clennams kleinem Tische die Zeitung las, ins Ohr:

»Da, Jeremiah! Hörst du’s? Was ist das für ein Geräusch?«

Dann hatte das Geräusch, wenn je ein solches gewesen, gewöhnlich aufgehört, und Mr. Flintwinch brummte, indem er sich nach ihr umwandte, als ob sie ihn gerade gegen seinen Willen abgeschnitten: »Affery, Alte, ich werde dir Arznei geben, Alte, ich werde dir Arznei geben. Du hast wieder geträumt!«

Einleitung.


Einleitung.

Den Roman »Klein-Dorrit« hat Dickens in den Jahren 1855/57, also in seiner schöpferisch fruchtbarsten Lebensperiode, geschrieben. Klein-Dorrit ist vielleicht die berühmteste seiner vielen großen Romangestalten, zum mindesten ist sie die rührendste und lichteste. Sie ist der Agnes im David Copperfield wesensverwandt. Aber Agnes ist mehr von außen beschrieben, ist vom Dichter als Ziel seiner Sehnsucht gesehen, ist ein Phantasiegeschöpf sehnender Liebe. Klein-Dorrit dagegen ist aus dem Herzblut des Dichters erwachsen; sie ist durchweg von innen her gestaltet. Sie ist nicht Außenziel, sondern sie bewegt den ganzen Roman. Unhörbar dreht sich die Erde, sagt Nietzsche. Unhörbar kreist in diesem gestaltenreichen Roman alles um Klein-Dorrit. Klein-Dorrit ist einer der stillsten, leisesten Menschen, die es geben kann. Sie macht nicht im mindesten Betrieb. Und doch treibt sie alles an, sich für oder gegen das gute Prinzip, das sie vertritt, zu entscheiden. So wandeln Engel auf Erden . – Ach, auf Erden? Sie wandeln in den irdischen Werken der Dichter. Denn in der Wirklichkeit dürften wir ein Geschöpf wie Klein-Dorrit vergebens suchen. Aber das ist ja grade die Gnadengabe der Dichter, daß sie das Poetisch-Schöne auf unsere unvollkommene Erde herabzaubern; daß sie uns jene höheren Sphären ahnen lassen, nach denen wir alle ein heimliches Verlangen tragen.

Wunderbar schlicht zeichnet Dickens Klein-Dorrit: als das im Schuldgefängnis geborene Kind »eines durch allerlei seltsame Schicksalsverkettungen verarmten und verschuldeten Mannes, dem es nicht gelingt, sich von seinen Schulden zu befreien. Das Kind Dorrit wächst in den Gefängnismauern auf, fern von der Freiheit blühender Wiesen und sich unbekümmert bewegender Menschen. Es wächst auf in grauen, muffig riechenden Mauern der Gefängnis-Armut, zwischen grauen Gesichtern armer Schuldgefangener. Wo blüht für sie je ein bißchen Freude? Wo lacht für sie je ein Sonnenstrahl? Da geschieht dann das unbegreifliche Wunder: dieses Kind ist sich selbst Gottes reinste Freude. Es ist nur für andere da, sorgt nur für andere, arbeitet und darbt für den Vater, um sein Los zu erleichtern. Der Vater weiß nicht oder will nicht wissen, woher die guten Gaben stammen. Er nimmt sie unwidersprochen hin. Für alle sorgt Klein-Dorrit, für die Geschwister, die, andern Blutes als sie, sie ausnutzen, ihre Aufopferung als selbstverständlich ansehen. Für alle sorgt sie, auch für die Mühseligen und Beladenen ihrer weiteren Umwelt, wie für das alte Kind Maggy, das, mit seinem Kopf in Klein-Dorrits Schoß, schläft, während sie die Nacht hindurch wacht. Und all das tut Klein-Dorrit so selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders sein.

Bis Arthur Clennam in ihren Kreis tritt, der freudlose Sohn eines freudlosen Elternhauses, dessen gutes Herz in einer von trostloser Strenge überschatteten Jugend verkümmerte und nun erst aufblüht, da dieser lange Roman beginnt. Wieder beschwört Dickens‘ Phantasie eine Fülle von Gestalten aus der Welt des Guten und Lebenstüchtigen wie des Verderbten, des Verruchten und Gemeinen. All das möge der Leser selbst nachlesen, und er möge sich daran freuen, wie des Dichters unverrückbarer Glaube an den endgültigen Sieg des Edlen und Lichten hier wiederum seine vollen Triumphe feiert.

Auch bei dieser Textrevision hat dem Unterzeichneten Frau Clara Weinberg, Hamburg, freundlich mitgeholfen.

P. Th. H.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Mütterchen.

Das Morgenlicht beeilte sich nicht sonderlich, die Gefängnismauern hinanzuklimmen und in die Fenster der Snuggery hineinzusehen; und als dies endlich geschah, wäre es weit willkommener gewesen, wenn es allein erschienen und nicht einen Regenschauer mit sich gebracht. Aber die Äquinoktialwinde stürmten draußen auf der See, und der unparteiische Südwestwind wollte auf seinem Flug selbst das enge Marschallgefängnis nicht versäumen. Während er durch die Türme von St. George brauste und durch alle Schirmkappen in der Nachbarschaft blies, trieb er plötzlich mit einem Stoß den Rauch von Southwark in den Kerker. Durch die Kamine einiger weniger Gefangener sich drängend, die bereits ihr Feuer anzündeten, hätte er diese beinahe erstickt.

Arthur Clennam hätte wenig Lust gehabt, länger im Bett zu verweilen, wenn dieses auch an einer abgeschiedeneren Stelle gestanden, und er von dem Herausscharren des Feuers von gestern, dem Anzünden eines neuen unter dem Siedetopf der Gefangenen, dem Füllen dieses spartanischen Kessels an der Pumpe, dem Fegen und Mit-Sägemehl-Bestreuen des gemeinschaftlichen Zimmers und dergleichen Vorbereitungen minder gestört worden wäre. Herzlich froh, den Morgen anbrechen zu sehen, obgleich er die Nacht wenig geruht, stand er, sobald er die Dinge um sich her unterscheiden konnte, auf und schritt zwei lange Stunden, ehe das Tor geöffnet wurde, im Hofe umher.

Die Mauern standen sich so nahe gerückt und die wilden Wolken eilten so rasch darüber hin, daß es ihm das Gefühl herannahender Seekrankheit gab, wenn er zum stürmischen Himmel emporblickte. Der Regen, der durch Windstöße in die Quere getrieben wurde, schwärzte die Wand des Hauptgebäudes, das er in der letzten Nacht besucht, ließ jedoch unter dem Lee der Mauer einen Raum trocken, wo er unter Stroh, Kehricht, Papierschnitzeln, dem verlorenen Getröpfel der Pumpe und den zerstreuten Gemüseabfällen von gestern auf und ab wallte. Es war ein so häßliches Lebensbild, wie man es sich nur denken kann.

Kein Schimmer des kleinen Geschöpfes, das ihn hierhergeführt, erhellte dieses Nachtbild. Vielleicht schlich sie aus ihrem Torweg in den, wo ihr Vater wohnte, während sein Gesicht von beiden abgewandt war. Aber er sah nichts von ihr. Es war zu früh für ihren Bruder; wer ihn einmal gesehen, hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, daß er zu träg war aufzustehen, mochte sein Bett, in dem er die Nacht zubrachte, auch noch so muffig sein. So sann Arthur Clennam, während er das Öffnen des Tores erwartend auf und nieder ging, mehr auf Mittel für die Fortsetzung seiner Nachforschungen, die er in Zukunft, als die er in der nächsten Gegenwart ins Werk setzen wollte.

Endlich bewegte sich die Tür des Pförtnerstübchens in den Angeln, und der Schließer, der seine Haare kämmend auf der Schwelle stand, war bereit, ihn hinauszulassen. Mit dem angenehmen Gefühl des Freiwerdens schritt er durch das Pförtnerstübchen und sah sich wieder in dem kleinen Vorhof, wo er vergangenen Abend den Bruder angeredet.

Von verschiedenen Seiten kamen bereits Menschen herbei, die unschwer als die noch unbeschriebenen Boten, Ausläufer und Unterhändler des Gefängnisses zu erkennen waren. Einige von ihnen hatten in dem Regen gelungert, bis das Tor sich öffnete. Andere, die ihre Ankunft mit größter Genauigkeit berechnet, waren nun gerade im Anzug und gingen mit feuchten, weißlich braunen Papiertüten vom Gewürzkrämer, Brotlaiben, Stücken Butter, Eiern, Milch und dergleichen in das Gefängnis. Die Lumpigkeit dieser Diener der Lumpigkeit, die Armut dieser zahlungsunfähigen Aufwärter der Zahlungsunfähigkeit war ein interessanter Anblick. Solche fadenscheinige Röcke und Hosen, solche muffige Kleider und Tücher, solche zerknüllte Hüte und Hauben, solche Stiefel und Schuhe, solche Schirme und Stöcke hatte man auf dem Trödelmarkt nie gesehen. Sie alle trugen die weggeworfenen Kleider anderer Männer und Frauen. Diese Kleider waren zusammengesetzt aus den Lappen und Stücken der Individualität anderer Leute und hatten keine eigne Existenz. Ihr Gang war der Gang einer ganz merkwürdigen Rasse. Sie hatten eine ganz eigentümliche Art, wie die Hunde um die Ecke zu schleichen, als ob sie beständig zu den Pfandleihern gingen. Wenn sie husteten, husteten sie wie Leute, die gewohnt sind, auf Türschwellen und in zugigen Gängen die Antwort auf Briefe zu erwarten, die mit blasser Tinte geschrieben sind und den Empfängern große geistige Unruhe bereiten und wenig Befriedigung gewähren. Wenn sie den Fremden im Vorübergehen betrachteten, betrachteten sie ihn mit bittenden Augen – hungrig, scharf, auf seine Güte spekulierend, als wenn sie auf ihn angewiesen wären, und auf die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Schönes ihrer warte. Die Bettelei aus Auftrag bückte sich in ihren hohen Schultern, schlenkerte in ihren unsteten Beinen, knöpfte, band, stopfte und schleppte ihre Kleider, rieb ihre Knopflöcher ab, hing in kleinen schmutzigen Bandenden aus ihrem Anzug hervor und drang in Atem, der nach Alkohol roch, aus ihrem Munde.

Als diese Leute an ihm vorübergingen, während er noch in dem Vorhof stand, und einer von ihnen zurückkehrte, um ihn zu fragen, ob er ihm nicht zu Dienst sein könne, kam Arthur auf den Gedanken, er wolle noch einmal mit Dorrit sprechen, ehe er wegging. Sie würde sich wohl von ihrer ersten Überraschung erholt haben und sich ihm gegenüber unbefangener fühlen. Er fragte dies Glied der Brüderschaft (das zwei Bücklinge in der Hand und ein Brot und eine Stiefelbürste unter dem Arm trug), wo man in der Nähe eine Tasse Kaffee bekommen könne. Der Unbeschriebene antwortete in ermutigenden Worten und brachte ihn nach einer Kaffeewirtschaft, die nur einen Steinwurf entfernt war. »Kennt Ihr Miß Dorrit?« fragte der neue Klient.

Der Unbeschriebene kannte zwei Miß Dorrit; eine, die im Gefängnis geboren worden – das war sie! Das war sie! Der Unbeschriebene kannte sie seit vielen Jahren. Was die andre Miß Dorrit betraf, so wohnte der Unbeschriebene in demselben Hause mit ihr und ihrem Oheim.

Dies änderte den beinahe gefaßten Entschluß des Klienten, in der Kaffeewirtschaft zu bleiben, bis der Unbeschriebene ihm melde, daß Dorrit nach der Straße herauskomme. Er betraute den Unbeschriebenen mit einer vertraulichen Botschaft des Inhalts an sie, daß der Fremde, der vergangenen Abend ihrem Vater einen Besuch abgestattet hatte, um die Gunst einiger Worte in ihres Onkels Wohnung bitte. Er erhielt von derselben Quelle die genaueste Auskunft über die Lage des Hauses, das sehr nahe war, entließ den Unbeschriebenen mit dem Geschenk einer halben Krone und eilte, nachdem er sich rasch in der Kaffeewirtschaft erfrischt, nach der Wohnung des Klarinettisten.

Es wohnten so viele Leute in dem Hause, daß der Türpfosten so voll von Glockengriffen schien, wie die Kathedralorgel von Registern. Ungewiß, welches das Klarinettregister sei, war er noch in Erwägung dieser Frage begriffen, als ein Federball aus dem Parterrezimmer flog und ihm den Hut vom Kopf warf. Er bemerkte dann, daß an dem Parterrefenster ein Schirm mit der Aufschrift war: Mr. Cripples‘ Akademie; und in einer zweiten Linie stand: Abendunterricht. Hinter dem Fensterschirm befand sich ein kleiner blasser Knabe mit einer Butterbrotschnitte und einer Kinderfibel. Das Fenster war vom Fußweg aus erreichbar; er sah über den Fensterschirm, warf den Federball wieder hinein und stellte seine Frage.

»Dorrit?« sagte der kleine blasse Knabe (Master Cripples selbst). »Mr. Dorrit? Dritte Glocke und einmal klopfen.«

Die Zöglinge von Mr. Cripples schienen ein Diktatheft aus der Straßentür gemacht zu haben, so war sie über und über mit Bleistift beschmiert. Die zahlreichen Inschriften »der alte Dorrit« und »der schmutzige Dick« schienen Persönlichkeiten für die Zöglinge Mr. Cripples‘ zu sein. Es war reichlich Zeit zu diesen Beobachtungen, ehe die Tür von dem alten Manne selbst geöffnet wurde.

»Ach«, sagte er, sich sehr langsam auf Arthur besinnend, »Sie wurden vergangene Nacht eingeschlossen?«

»Ja, Mr. Dorrit. Ich hoffe, Ihre Nichte hier bei Ihnen sprechen zu können.«

»Oh!« sagte er nachdenkend. »Nicht bei meinem Bruder? Gut. Wollen Sie heraufkommen und auf sie warten?«

»Ich danke.«

So langsam sich umwendend, wie er alles in seinem Kopfe bewegte, was er hörte und sagte, führte er den Fremden die schmalen Treppen hinauf. Das Haus war sehr verschlossen und hatte einen dumpfigen Geruch. Die kleinen Treppenfenster sahen in die hinteren Fenster der andern ebenso dumpfigen Häuser, an denen Stangen und Stricke befestigt waren, worauf traurig aussehendes Linnen hing, als wenn die Bewohner nach Kleidern angelten und hätten einige elende Köder gehabt, die man kaum beachtet. In einer hinteren Bodenkammer – einem ungesunden Gemach mit einem Umschlagbett, das kaum erst und so in der Eile umgeschlagen sein mußte, daß die Pfühle noch hervorquollen und sozusagen das Augenlid offenzuhalten schienen – in diesem Gemach stand ein, halbbeendigtes Frühstück von Kaffee und gerösteten Brotschnitten für zwei Personen auf einem elenden Tische unordentlich durcheinander.

Es war niemand da. Der alte Mann, der nach einigem Bedenken vor sich hinmurmelte, daß Fanny davongelaufen, ging nach dem nächsten Zimmer, um sie zurückzuholen. Der Fremde, der bemerkte, daß sie die Tür von innen festhielt, und daß, als der Onkel sie aufzuziehen suchte, ihn jemand laut beschwor: »Laßt doch gehen!« während schlaffe Strümpfe und Flanellröcke umherlagen, schloß, daß das junge Mädchen im Negligé sei. Der Onkel, der keinen Schluß zu ziehen schien, schlürfte wieder herbei, setzte sich auf seinen Stuhl und begann die Hände an dem Feuer zu wärmen. Nicht daß es kalt gewesen oder daß er eine dunkle Vorstellung von Wärme und Kälte in diesem Augenblick gehabt – er tat es unbewußt.

»Was dachten Sie von meinem Bruder, Sir?« fragte er, als er nach und nach entdeckte, was er tat, die Hände zurückzog, nach dem Kaminmantel langte und seine Klarinettkapsel herunterholte.

»Ich freute mich«, sagte Arthur sehr verlegen; denn seine Gedanken waren bei dem Bruder, der vor ihm saß, »ich freute mich, ihn so wohl und heiter zu finden.«

»Ha!« murmelte der alte Mann. »Ja, ja, ja, ja, ja!“«

Arthur war begierig zu erfahren, wozu er die Klarinettkapsel brauche. Er brauchte sie aber durchaus nicht. Er entdeckte bald, daß es nicht die kleine Papiertüte mit Schnupftabak war (die gleichfalls auf dem Kamin lag), legte sie wieder an ihre Stelle, nahm den Schnupftabak dafür und tröstete sich mit einer Prise. Er war so schwach, sparsam und langsam in seinen Prisen wie in allem andern, aber ein gewisses leichtes Zucken des Genusses spielte um die armen ausgemergelten Nerven in den Winkeln seiner Augen und seines Mundes.

»Amy, Mr. Clennam. Was halten Sie von ihr?«

»Alles, was ich von ihr gesehen und über sie gedacht, Mr. Dorrit, hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.«

»Mein Bruder wäre ohne Amy ganz verloren gewesen«, versetzte er. »Wir wären alle ohne Amy verloren gewesen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, die Amy. Sie tut ihre Pflicht.“

Arthur glaubte, wie am Abend vorher bei dem Vater, aus diesen Lobeserhebungen den Ton der Gewohnheit herauszuhören, während im Innern der Lobenden ein gewisses widerstrebendes Gefühl vorzuherrschen schien. Nicht daß sie ihrem Lob Abbruch getan oder gefühllos für das gewesen, was sie ihnen tat; aber sie waren beinahe bis zur Gleichgültigkeit an sie gewöhnt wie an alles übrige in ihrer Lage. Er glaubte, daß, obgleich sie tagtäglich den Vergleich zwischen ihr und einer andern und sich selbst anzustellen Gelegenheit hatten, sie sie doch als ein Wesen betrachteten, das eben einfach an ihrem notwendigen Platz stünde und eine Stellung zu ihnen allen einnehme, die ihr zu eigen sei wie ihr Name oder ihr Alter. Er glaubte, daß sie sie nicht als ein Geschöpf betrachteten, das über die Gefängnisatmosphäre erhaben sei, sondern als ein solches, das mitten darein gehöre, kurz als das, was sie von ihr erwarten konnten und nicht mehr.

Ihr Onkel nahm sein Frühstück wieder auf und kaute geröstetes Brot, das er in den Kaffee tauchte; er hatte seinen Gast längst vergessen, als man die dritte Glocke läuten hörte. Das sei Amy, sagte er, und ging hinab, um ihr aufzuschließen, während der Fremde noch immer das Bild seiner schmutzigen Hände, seines schmutzigen und abgezehrten Gesichtes, seiner gebeugten Gestalt vor sich zu haben glaubte, als säße er leibhaftig auf dem eben verlassenen Stuhle.

Sie kam hinter ihm die Treppe herauf, in dem gewöhnlichen einfachen Kleide und mit der gewöhnlichen schüchternen Haltung. Ihre Lippen waren etwas geöffnet, als ob ihr Herz heftiger denn sonst pochte.

»Amy«, sagte ihr Onkel, »Mr. Clennam hat einige Zeit auf dich gewartet.«

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihnen etwas bestellen zu lassen.«

»Es wurde mir ausgerichtet, Sir.«

»Gehen Sie diesen Morgen zu meiner Mutter? Ich denke nicht; denn Ihre gewöhnliche Stunde ist vorbei.«

»Heute nicht, Sir. Man braucht mich heute nicht.«

»Wollen Sie mir gestatten. Sie einen Teil des Weges zu begleiten, wohin Sie auch gehen mögen? Ich kann dann während des Gehens mit Ihnen sprechen und brauche Sie auf solche Weise nicht hier aufzuhalten und mich selbst nicht länger hier aufzudrängen.«

Sie schien verlegen, sagte jedoch, wenn es ihm beliebe, so sei sie bereit. Er tat, als ob er seinen Spazierstock verlegt habe, um ihr Zeit zu lassen, die Bettstelle in Ordnung zu bringen, dem ungeduldigen Pochen der Schwester an der Wand zu antworten und ihrem Onkel etwas leise zu sagen. Dann fand er den Stock, und sie gingen die Treppe hinab; sie voraus, er hintendrein, während der Onkel auf der obersten Stufe stand und sie wahrscheinlich vergessen hatte, ehe sie unten angekommen waren.

Mr. Cripples‘ Zöglinge, die inzwischen zur Schule gekommen waren, hielten in ihrer Morgenbelustigung, sich mit Büchermappen und Büchern zu schlagen, inne, um restlos hingegeben einen Fremden anzustarren, der den »schmutzigen Dick« besucht hatte. Sie ertrugen schweigend die harte Probe dieses Schauspiels, bis der geheimnisvolle Fremde in sicherer Entfernung von ihnen war: dann warfen sie mit Kieselsteinen und schrien und machten höhnische Sprünge und zerbrachen die Friedenspfeife mit so vielen wilden Zeremonien, daß, wenn Mr. Cripples der Häuptling des kriegerischen Cripplewayboostammes gewesen, sie kaum seiner Erziehung größere Gerechtigkeit hätten widerfahren lassen können.

Während dieser Huldigung bot Mr. Arthur Clennam Klein-Dorrit seinen Arm an, und Klein-Dorrit nahm ihn. »Wollen Sie den Weg nach der Iron Bridge einschlagen?« sagte er, »dort entkommen wir dem Straßengeräusch.« Klein-Dorrit antwortete: »wenn’s ihm gefällig sei« und fügte die Erwartung hinzu, daß er sich nicht durch Mr. Cripples‘ Zöglinge »kränken lassen solle«; denn sie habe selbst ihre bisherige Erziehung in Mr. Cripples‘ Abendschule erhalten. Er erwiderte mit der größten Bereitwilligkeit von der Welt, daß er Mr. Cripples‘ Jungen von ganzer Seele verzeihe. Auf solche Weise wurde Cripples unbewußt der Zeremonienmeister zwischen ihnen und brachte sie auf natürlichere Weise zusammen, als es Beau Nash gelungen wäre, wenn sie in seinen goldenen Zeiten gelebt und er selbst aus seiner Kutsche mit sechs Pferden deshalb gesprungen wäre.

Der Morgen blieb stürmisch, und die Straßen waren sehr schmutzig, aber es fiel kein Regen, solange sie nach der Iron Bridge wandelten. Das kleine Geschöpf erschien ihm so jung, daß es Augenblicke gab, in denen er von ihr wie von einem Kinde dachte, wenn er sie auch im Gespräch nicht als solches behandelte. Vielleicht erschien er ihr so alt, wie sie ihm jung.

»Ich habe mit Bedauern gehört, daß Sie in vergangener Nacht die Unannehmlichkeit hatten, eingeschlossen zu werden. Es war wirklich sehr fatal.«

Es habe nichts zu bedeuten, antwortete er. Er habe ein sehr gutes Bett gehabt.

»O ja!« sagte sie lebhaft, sie glaube, daß es vortreffliche Betten in jenem Kaffeehaus geben müsse. Es schien, daß das Kaffeehaus in ihren Augen ein majestätisches Hotel war und daß sie seinen Ruf hoch anschlug.

»Ich glaube, es ist sehr teuer«, sagte Klein-Dorrit, »aber mein Vater sagte mir, daß man dort vortreffliche Diners mache, und der Wein erst«, fügte sie schüchtern hinzu.

»Waren Sie jemals dort?«

»O nein! Nur in der Küche, um heißes Wasser zu holen.«

Man denke sich, daß man mit einer Art heiliger Scheu vor dem Luxus dieses glänzenden Etablissements, des Marschallgefängnishotels, aufwachsen kann!

»Ich fragte Sie gestern abend«, sagte Clennam, »wie Sie mit meiner Mutter bekannt wurden? Haben Sie je ihren Namen gehört, ehe sie nach Ihnen schickte?«

»Nein, Sir.«

»Glauben Sie, daß Ihr Vater ihn kannte?« »Nein, Sir.«

Er begegnete ihren Augen, die mit so viel Verwunderung zu ihm erhoben waren (sie erschrak bei dieser Begegnung und blickte auf die Seite), daß er es für notwendig hielt, zu sagen:

»Ich habe einen Grund zu dieser Frage, den ich Ihnen nicht gut auseinandersetzen kann. Aber Sie dürfen ihn durchaus nicht für etwas ansehen, das Ihnen im mindesten Unruhe oder Angst einflößen könnte. Im Gegenteil. Und Sie glauben, daß der Name Clennam Ihrem Vater niemals bekannt gewesen?«

»Nein, Sir.«

Er fühlte an dem Ton, in dem sie sprach, daß sie mit halb geöffneten Lippen zu ihm aufsah. Deshalb blickte er vor sich hin, um ihr Herz durch eine neue Verlegenheit nicht noch heftiger schlagen zu machen.

So kamen sie nach Iron Bridge, die nach dem Geräusch der Straßen ihnen so ruhig und still erschien, als ob es das offne Feld wäre. Der Wind blies heftig, die nassen Windstöße stoben an ihnen vorüber, daß die Pfützen auf Straßen und Pflaster schäumten und nach dem Fluß hinuntergetrieben wurden. Die Wolken stürmten in wildem Ungestüm an dem bleifarbigen Himmel hin, Rauch und Nebel jagten ihnen nach, und der dunkle Strom wälzte sich mit dumpfem Rauschen in derselben Richtung fort. Klein-Dorrit schien das letzte, stillste und schwächste Geschöpf des Himmels.

»Lassen Sie mich einen Wagen für Sie holen«, sagte Arthur und fügte rasch: »Mein armes Kind« hinzu.

Sie lehnte es ebenso rasch ab und sagte, daß ihr trocken oder naß ziemlich gleichgültig sei. Sie sei gewöhnt, bei jeglichem Wetter auszugehen. Er wußte, daß dem so war, und fühlte noch größeres Mitleid, wenn er an das schwächliche Wesen an seiner Seite dachte, das seinen nächtlichen Weg durch die dumpfen, finstern, unruhigen Straßen nach jenem stillen Ort machte.

»Sie sprachen so gefühlvoll gestern abend mit mir, Sir, und ich fand später, daß Sie so freigebig gegen meinen Vater gewesen, daß ich Ihrer Aufforderung Folge leisten mußte, wenn auch nur, um Ihnen zu danken; namentlich, da ich sehr wünschte, Ihnen zu sagen« – sie zögerte und zitterte, und Tränen traten in ihre Augen, flossen jedoch nicht über ihre Wangen.

»Mir zu sagen?«

»Daß ich hoffe, Sie werden meinen Vater nicht mißverstehen. Beurteilen Sie ihn nicht mit dem Maßstab, mit dem Sie andere Menschen außerhalb des Gefängnisses beurteilen würden. Er war so lange darinnen! Ich sah ihn niemals hier außen, aber ich kann wohl begreifen, daß er in manchen Dingen sich sehr verändert haben muß.«

»Ich werde nie ungerecht oder streng über ihn denken, glauben Sie mir.«

»Nicht«, sagte sie mit einer stolzen Miene, da die Besorgnis in ihr aufstieg, sie möchte ihn preiszugeben scheinen, »nicht, daß er in irgendeiner Beziehung zu erröten hätte oder daß ich seinetwegen irgendwie erröten müßte. Er muß nur verstanden werden. Ich fordere bloß, daß man sein Leben genau berücksichtigt. Alles, was er sagte, ist vollkommen wahr. Es ist alles geschehen, wie er erzählte. Er ist sehr geachtet und geehrt. Jedermann, der hineinkommt, freut sich, ihn kennenzulernen. Es wird ihm mehr gehuldigt als irgend sonst jemandem. Man nimmt weit mehr Rücksicht auf ihn als auf den Marschall.«

Wenn je ein Stolz unschuldig war, so war es der Klein-Dorrits, als sie für ihren Vater in die Lobposaune stieß.

»Man hat häufig gesagt, daß sein Benehmen das eines echten Gentlemans und daß er ein wirkliches Vorbild sei. Ich kenne nichts Ähnliches an jenem Ort, aber man gibt auch seine Überlegenheit über alle zu. Dies ist ebensosehr der Grund, weshalb sie ihm Geschenke machen, wie weil sie wissen, daß er ihrer bedürftig ist. Man darf ihn wegen seiner Dürftigkeit nicht tadeln, den guten Vater. Wer wäre ein Vierteljahrhundert im Gefängnis und lebte noch in guten Vermögensverhältnissen!«

Welche Liebe in ihren Worten, welches Mitleid in ihren unterdrückten Tränen, welche treue Seele, wie wahr das Licht, das eine falsche Helle um sich verbreitete!

»Wenn ich es für gut fand zu verheimlichen, wo ich wohne, so geschah es nicht, weil ich mich seiner schäme. Gott verhüte es! Auch schäme ich mich des Gefängnisses nicht so sehr, wie man vielleicht vermutet. Die Leute sind nicht schlecht, weil sie dorthin kommen. Ich kannte viele vortreffliche, zuverlässige, ehrenwerte Menschen, die durch Unglück dahin kamen. Sie sind beinahe alle gutherzig gegeneinander. Und es wäre wirklich undankbar von mir, wenn ich vergessen wollte, daß ich manche ruhige, angenehme Stunde dort hatte; daß ich einen ausgezeichneten Freund dort besaß, als ich noch ein kleines Kind war, der mich innig liebte, daß ich dort erzogen wurde und dort arbeitete und eines gesunden Schlafes mich dort erfreute. Ich würde es beinahe für feig und grausam halten, wenn ich nach alledem nicht ein wenig Anhänglichkeit an jene Räume hätte.«

Sie hatte die Fülle ihres redlichen Herzens vor ihm ausgeschüttet und fühlte sich dadurch erleichtert. Bescheiden fuhr sie fort und sah ihn fragend an: »Ich wollte nicht soviel sagen; auch habe ich diese Sache nie zuvor noch berührt. Aber es scheint mir, sie in ein besseres Licht zu stellen, als es dies verflossenen Abend der Fall war. Ich sagte, ich wünschte, Sie wären mir nicht gefolgt, Sir. Ich wünsche dies jetzt nicht mehr in dem Maße, wenn Sie nicht etwa denken sollten – wahrhaftig, ich wünsche es gar nicht mehr, wenn ich nicht etwa so verwirrt gesprochen haben sollte, daß – daß Sie mich kaum verstehen konnten, was, wie ich fürchte, wirklich der Fall war.«

Er sagte ihr, wie es die Wahrheit war, daß dies nicht der Fall; und sich zwischen sie und den scharfen Wind und Regen stellend, schützte er sie, so gut es ging.

»Ich glaube, daß es mir nun gestattet ist«, sagte er, »Sie etwas mehr über die Verhältnisse Ihres Vaters zu befragen. Hat er viele Gläubiger?«

»Ach! leider sehr viele!«

»Ich meine solche Gläubiger, die ihn an dem Ort festhalten, wo er ist.«

»O ja, sehr viele.«

»Können Sie mir sagen – ich kann zweifelsohne anderwärts darüber Nachrichten einziehen, wenn Sie sie mir nicht zu geben imstande sind –, wer ist der einflußreichste von ihnen?«

Dorrit sagte, nachdem sie einen Augenblick nachgedacht, daß sie vor langer Zeit häufig von Mr. Tite Barnacle als einem Mann von großer Macht habe sprechen hören. Er sei Kommissar, Ratsherr, Kurator oder »etwas der Art«. Er wohne auf dem Grosvenorplatz, glaube sie, oder dort in der Nähe. Er sei bei der Regierung – habe eine hohe Stellung bei dem Circumlocution Office. Sie schien in ihrer Kindheit einen unheimlichen Eindruck von der Macht dieses furchtbaren Mr. Tite Barnarle vom Grosvenorplatz oder dort in der Nähe und dem Circumlocution Office empfangen zu haben, daß es sie schauerte, wenn sie davon sprach.

»Ich begehe kein Unrecht«, dachte Arthur, »wenn ich mir diesen Mr. Tite Barnacle ansehe.«

Dieser Gedanke war nicht sobald in ihm aufgestiegen, als sie ihn auch schon wieder abschnitt. »Ach!« sagte Klein-Dorrit, den Kopf schüttelnd mit der milden Verzweiflung eines langen traurigen Lebens. »Schon viele Leute hatten die Absicht, meinen armen Vater aus dem Gefängnis zu befreien, aber Sie wissen nicht, wie hoffnungslos dieser Wunsch ist.«

Sie verlor in diesem Augenblick ihre Schüchternheit, da sie ihn von dem gesunkenen Wrack wegriß, das er wieder emporzuraffen sich träumen ließ, und sah ihn mit Augen an, die ihn in Verbindung mit ihrem geduldigen Gesicht, ihrer schwächlichen Gestalt, ihrem dürftigen Gewand und dem Wind und Regen sicher nicht von seinem Vorsatz, ihr zu helfen, abbrachten.

»Selbst wenn es möglich wäre«, sagte sie, »und es ist jetzt nie mehr möglich – wo sollte Vater wohnen oder wie könnte er leben? Ich habe oft daran gedacht, wenn ein solcher Glücksfall einträte, es würde ihm nichts weniger als nützlich sein. Die Leute hier draußen würden nicht so gut von ihm denken, wie sie es dort tun. Er würde hier nicht so freundlich behandelt werden wie dort. Er wäre nicht so geschaffen für das Leben außerhalb des Gefängnisses, wie für das innerhalb der vier Mauern.«

Hier konnte sie zum ersten Male nicht hindern, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten, und die kleinen zarten Hände, die er beobachtet, als sie so geschäftig waren, zitterten, während sie sich falteten.

»Es wäre ein neuer Kummer für ihn, wenn er wüßte, daß ich etwas Geld erwerbe und daß Fanny etwas Geld erwirbt. Er ist so besorgt um uns, da er sich hilflos eingeschlossen fühlt. Ein guter, guter Vater!«

Er ließ diesen kleinen Gefühlsstrom sich etwas verlaufen, ehe er sprach. Es war bald vorüber. Sie war nicht gewöhnt, an sich zu denken oder irgend jemanden mit ihren Gemütsbewegungen zu belästigen. Er hatte sich nur die Masse der Dächer und Kamine der City betrachtet, zwischen denen sich der Rauch langsam hinzog, und den Wald von Masten auf dem Strom und die Wildnis von Türmen am Ufer, die sich bei dem Sturm und Nebel nur in unklaren Umrissen vor seinen Blicken zeigten, bis sie wieder so ruhig war, als wenn sie in seiner Mutter Zimmer mit der Nadel hantierte.

»Sie würden wohl froh sein, wenn Sie Ihren Bruder in Freiheit sähen?«

»Sehr froh, Sir, sehr froh.«

»Gut, so wollen wir wenigstens für ihn hoffen. Sie sagten mir verflossene Nacht von einem Freunde, den Sie besessen?«

Sein Name sei Plornish, sagte Klein-Dorrit.

Und wo wohnt Plornish? Plornish wohne in Bleeding Heart Yard. Er sei »nur ein Gipser«, sagte Klein-Dorrit, aus Vorsicht, damit er nicht zu große gesellschaftliche Erwartungen von Plornish hege. Er wohne in dem letzten Haus in Bleeding Heart Yard und sein Name stehe über einem kleinen Torweg.

Arthur schrieb sich die Adresse auf und gab ihr die seine. Er hatte jetzt alles getan, was er für den Augenblick tun wollte. Nur wünschte er ihr ein Gefühl des Vertrauens zu ihm auf den Weg zu geben und ihr etwas wie ein Versprechen abzulocken, daß sie dieses Gefühl in sich lebendig erhalte.

»Das ist ein Freund!« sagte er und steckte die Brieftasche ein. »Während ich Sie nun zurückbringe – Sie gehen doch zurück?«

»O ja! ich gehe direkt nach Hause!«

»Während ich Sie zurückbringe«, das Wort nach Hause widerstrebte ihm, »darf ich Sie bitten, überzeugt zu sein, daß Sie noch einen Freund haben. Ich mache keine Bekenntnisse und sage nicht mehr.«

»Sie sind wirklich sehr gütig gegen mich. Ich brauche keinen weiteren Beweis.«

Sie gingen durch die elenden schmutzigen Straßen und zwischen den armen, geringen Läden zurück und wurden jeden Augenblick von der Menge schmutziger Trödler gestoßen, die sich stets in einer ähnlichen Umgebung finden. Auf dem kurzen Weg war wirklich nichts, was einem der fünf Sinne angenehm gewesen. Aber es war doch kein gewöhnlicher Gang durch gewöhnlichen Regen, Schmutz und Lärm für Clennam, da er dieses kleine, schwache, schüchterne Geschöpf an seinem Arme führte. Wie jung sie ihm oder wie alt er ihr erschien, oder welches Geheimnis den Knoten ihrer nach Schicksalsschluß sich künftig durchkreuzenden Lebensgeschichte schürzte, ist hier gleichgültig. Es trat ihm in diesem Augenblick vor die Seele, wie sie in dieser Umgebung geboren und auferzogen worden, mit dieser schmutzigen Lebensnotdurft vertraut und doch so unschuldig sei, und wie sie stets für andre besorgt war, während sie noch so jung und ihr ganzes Wesen einen durchaus kindlichen Eindruck machte.

Sie waren nach der High Street gekommen, wo das Gefängnis stand, als eine Stimme: »Mütterchen! Mütterchen!« rief. Als Dorrit stehenblieb und sich umsah, sprang eine seltsame Erscheinung in so großer Aufregung auf sie zu (immer noch »Mütterchen« rufend), daß sie zu Boden stürzte und der Inhalt eines großen mit Gemüsen gefüllten Korbes in den Staub fiel.

»O Maggy«, sagte Dorrit, »was bist du für ein ungeschicktes Kind!«

Maggy hatte sich nicht weh getan. Sie stand rasch wieder auf und begann die Kartoffeln zusammenzulesen, wobei ihr Dorrit und Arthur Clennam halfen. Maggy las sehr wenig Kartoffeln, aber um so mehr Schmutz auf; aber es wurde alles gerettet und wieder in den Korb gelegt. Maggy wischte dann ihr schmutziges Gesicht mit ihrem Schal ab und zeigte es Mr. Clennam als ein Bild der Reinheit, wodurch er in den Stand gesetzt war, zu sehen, wes Geistes Kind sie sei.

Sie zählte ungefähr achtundzwanzig Jahre, hatte starke Knochen, grobe Gesichtszüge, breite Füße und Hände, große Augen und kein Haar. Diese ihre großen Augen waren hell und beinahe farblos; sie schienen wenig Licht in sich aufzunehmen und unnatürlich stillzustehen. Ihr Gesicht hatte den aufmerksam lauernden Ausdruck, den man in den Gesichtern der Blinden findet. Aber sie war nicht blind; denn sie besaß ein ziemlich brauchbares Auge. Ihr Gesicht war nicht ausnehmend häßlich, obgleich nur ein Lächeln daran schuld, daß dies nicht der Fall; ein gutmütiges und an und für sich angenehmes Lächeln, das jedoch Mitleid erregte, weil es immer da war. Eine große weite Haube mit einer Menge undurchsichtiger Krausen, die immer drum herumflatterten, waren die Ehrenretter von Maggys Kahlköpfigkeit und machten es ihrem alten schwarzen Hut so schwer, seinen Platz auf ihrem Kopfe zu behaupten, daß er sich um den Hals festklammerte wie das Kind einer Zigeunerin. Eine Kommission von Kurzwarenhändlern konnte allein entscheiden, woraus der Rest ihrer dürftigen Bekleidung gemacht war; aber das Ganze hatte eine große Ähnlichkeit mit Meergras und da und dort mit einem riesigen Teeblatt. Ihr Schal sah besonders wie ein Teeblatt nach oftmaligem Aufguß aus.

Arthur Clennam sah Dorrit mit dem Ausdruck an, als wollte er sagen: »Darf ich fragen, wer ist das?« Dorrit, deren Hand diese Maggy, die sie noch immer Mütterchen nannte, zu streicheln begonnen, antwortete (sie standen unter einem Torweg, in den der größere Teil der Kartoffeln gerollt war):

»Das ist Maggy, Sir.«

»Maggy, Sir«, wiederholte die Vorgestellte. »Mütterchen!«

»Sie ist die Enkelin« – sagte Dorrit.

»Enkelin«, wiederholte Maggy.

»– meiner alten Wärterin, die schon lange tot ist. Maggy, wie alt bist du?«

»Zehn, Mutter«, sagte Maggy.

»Sie können sich nicht denken, wie gut sie ist, Sir«, sagte Dorrit mit unendlicher Zärtlichkeit.

»Gut sie ist«, wiederholte Maggy, das Fürwort in ungemein ausdrucksvoller Weise von sich auf ihre kleine Mutter übertragend.

»Und wie geschickt«, sagte Dorrit. »Sie besorgt alles aufs beste.« Maggy lachte. »Und ist so zuverlässig wie die Bank von England.« Maggy lachte. »Sie erwirbt sich ihren Lebensunterhalt ganz allein. Ganz allein, Sir!« sagte Dorrit in leiserem und triumphierendem Tone. »Wirklich, die reine Wahrheit!«

»Was ist ihre Lebensgeschichte?« fragte Clennam.

»Denke dir, Maggy!« sagte Dorrit, nahm ihre beiden großen Hände und klatschte sie zusammen. »Ein Gentleman, der viele tausend Meilen weit herkommt, will deine Geschichte wissen!«

»Meine Geschichte?« rief Maggy. »Mütterchen.«

»Sie meint mich«, sagte Dorrit etwas verlegen; »sie ist sehr anhänglich an mich. Ihre alte Großmutter war nicht so freundlich gegen sie, wie sie hätte sein sollen; nicht wahr, Maggy?«

Maggy schüttelte den Kopf, machte ein Trinkgefäß aus ihrer Hand, trank daraus und sagte: »Branntwein.« Dann schlug sie ein eingebildetes Kind und sagte: »Besenstiele und Schürhaken.«

»Als Maggy zehn Jahre alt war«, sagte Dorrit, ihr ins Gesicht sehend, während sie sprach, »hatte sie ein böses Fieber, Sir, und sie ist seitdem nicht älter geworden.«

»Zehn Jahre alt«, sagte Maggy und nickte mit dem Kopf. »Aber was für ein hübsches Krankenhaus! So angenehm, nicht wahr? Oh, es war so schön. Ein himmlischer Ort.«

»Sie hatte nie zuvor Ruhe gehabt, Sir«, sagte Dorrit und wandte sich, leise sprechend, einen Augenblick zu Arthur hin. »Sie kommt immer wieder darauf zurück.«

»So gute Betten gibt es dort!« sagte Maggy. »So gute Limonade! Apfelsinen! Köstliche Brühe und Wein! Und vortreffliche Hühner! Oh, ist das nicht ein angenehmer Aufenthalt, wo man gern ist und bleibt?«

»Maggy blieb wirklich so lange dort, wie sie konnte«, sagte Dorrit in ihrem früheren Ton, mit dem sie die Geschichte eines Kindes erzählt hatte, dem Ton, der für Maggys Ohr berechnet war; »und zuletzt, als sie nicht länger dort bleiben konnte, kam sie heraus. Und weil sie nicht mehr als zehn Jahre alt werden sollte, wie lange sie auch lebte –«

»Wie lange sie auch lebte«, wiederholte Maggy.

»– und weil sie sehr schwach war, ja wirklich, so schwach, daß wenn sie zu lachen begann, sie nicht aufhören konnte – was sehr traurig anzusehen war –« (Maggy wurde plötzlich sehr ernst.)

»– wußte ihre Großmutter nicht, was mit ihr anzufangen, und ging einige Jahre lang sehr schlecht mit ihr um. Endlich im Verlauf der Zeit suchte Maggy sich zu vervollkommnen und auf alles aufmerksam und recht fleißig zu sein. Nach und nach wurde ihr gestattet, so oft hier aus und ein zu gehen, wie ihr beliebte, und sie bekam genug zu tun, um sich ihren Lebensunterhalt dadurch zu erwerben, und dazu ist sie nun auch wirklich imstande. Das«, sagte Klein-Dorrit die beiden großen Hände wieder zusammenschlagend, »ist Maggys Geschichte, wie sie Maggy weiß!«

Ach! Arthur hätte so gern gewußt, was zu ihrer Vervollständigung fehlte, auch wenn er nie das Wort Mütterchen gehört, auch wenn er das Liebkosen der kleinen schmalen Hand nie gesehen, auch wenn er keinen Blick für die Tränen hatte, die jetzt in den farblosen Augen standen, auch wenn er den Seufzer nicht hörte, der das plumpe Lachen unterbrach. Der schmutzige Torweg, durch den der Wind und Regen fegte, mit dem Korb voll schmutziger Kartoffeln, der auf das Umwerfen oder Aufnehmen wartete, schien ihm nicht mehr die gewöhnliche Höhle zu sein, die er wirklich war, wenn er sich bei dieser Beleuchtung nach ihm umsah. Nein, nein!

Sie hatten das Ziel ihres Weges beinahe erreicht und traten jetzt aus dem Torweg, um die letzte Strecke zurückzulegen. Maggy ließ es nicht anders zu, als daß sie am Fenster eines Krämers kurz vor ihrem Bestimmungsort hielten, damit sie ihre Gelehrsamkeit zeigen könne. Sie konnte ziemlich gut lesen und hob die fetten Zahlen in den Preislisten zum größten Teil korrekt heraus. Sie stolperte auch, ihre Fehltritte mit ziemlichem Glück aufwiegend, durch die verschiedenen menschenfreundlichen Empfehlungen wie: »Versucht unsre Mischung«, »Versucht unsre Stiefelwichse«, »Versucht unsern orangenduftenden Peko, der als der beste Blütentee jeden Vergleich aushält« und verschiedene Warnungen des Publikums gegen betrügerische Konkurrenzunternehmungen und gefälschte Artikel. Als er sah, wie Dorrits Gesicht eine freudige Röte überflog, wenn Maggy einen Treffer machte, fühlte er, daß er des Krämers Fenster gern in eine Büchersammlung verwandelt hätte, bis der Regen und Wind vorüber.

Der Vorhof empfing sie endlich, und dort sagte er Klein-Dorrit Lebewohl. So klein sie auch immer schon aussah, in dem Augenblick, als er sie in das Pförtnerstübchen des Marschallgefängnisses eintreten sah, erschien ihm das Mütterchen, dem das aufgedunsene Kind zur Seite ging, noch kleiner.

Die Tür des Käfigs öffnete sich, und als der kleine in der Gefangenschaft aufgewachsene Vogel zahm hineingeflattert war, sah er sie sich wieder schließen. Dann ging er.