Vierzehntes Kapitel.

Klein-Dorrits Gesellschaft.

Arthur Clennam stand rasch auf und sah sie an der Tür stehen. – Diese Geschichte muß bisweilen mit Klein-Dorrits Auge sehen und beginnt dies Verfahren mit seinem Anblick.

Klein-Dorrit sah in ein dunkles Zimmer, das ihr sehr geräumig und prachtvoll möbliert erschien. Vornehme Ideen von Covent-Garden, als einem Ort mit herrlichen Kaffeehäusern, wo Gentlemen mit goldgestickten Kleidern und Degen gekämpft und Duelle ausgefochten haben; köstliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo es im Winter Blumen zu einer Guinee das Stück, Ananas zu einer Guinee das Pfund, und zarte Gemüse zu einer Guinee das Kilo gab; malerische Ideen von Covent-Garden, als einem Ort, wo ein prachtvolles Theater stehe, das reich gekleideten Damen und Herren wundervolle und reizende Schauspiele biete und das der armen Fanny und dem armen Onkel ewig unerreichbar bleibe; traurige Ideen von Covent-Garden, als dem Ort mit den Gewölben, wo die elenden Kinder in Lumpen, an denen sie gerade vorübergekommen, wie junge Ratten, versteckt und heimlich, vom Abfall genährt, um der Wärme willen zusammengekauert saßen oder herumgetrieben wurden (seht diese Ratten an, Jung und Alt, all ihr Barnacles; denn bei Gott, sie durchnagen unsere Grundmauern, daß die Dächer über unsern Häuptern zusammenstürzen!); überschwengliche Ideen von Covent-Garden, als einem Ort vergangener und gegenwärtiger Geheimnisse und Märchen, einem Ort des Überflusses und Mangels, der Schönheit und Häßlichkeit, hübscher ländlicher Gärten und schmutziger Straßengossen, alles durcheinander – machten das Zimmer düsterer in Klein-Dorrits Augen, als es war, während sie es von der Tür aus betrachtete.

Anfangs saß der Gentleman, den sie suchte, vor dem erloschenen Feuer und wandte sich dann staunend nach ihr um. Der braune, ernste Mann, der so freundlich lächelte, der so offen und bedachtsam in seinem Wesen war und in dessen Ernst doch etwas lag, das sie an seine Mutter erinnerte, aber mit dem Unterschied, daß ihr Ernst etwas Herbes, während der seine etwas Mildes hatte. Er betrachtete sie mit dem aufmerksamen und fragenden Blicke, den Klein-Dorrit nie auszuhalten vermochte und dem sie auch jetzt nicht standhalten konnte.

»Mein armes Kind! Hier um Mitternacht?«

»Ach«, sagte Klein-Dorrit, »Sir, um Sie vorzubereiten. Ich dachte mir, Sie würden sehr überrascht sein.«

»Sind Sie allein?«

»Nein, Sir, ich habe Maggy mit mir genommen.«

Maggy, die ihr Erscheinen durch diese Erwähnung ihres Namens genügend vorbereitet glaubte, erschien mit breitem Grinsen an der Tür. Sie unterdrückte jedoch augenblicklich diese Kundgebung und nahm eine feierliche Miene an.

»Und ich habe kein Feuer«, sagte Clennam. »Und Sie sind –« Er wollte sagen zu leicht gekleidet, hielt jedoch damit inne, da es eine Anspielung auf ihre Armut gewesen, und sagte statt dessen: »und es ist so kalt.«

Indem er den Stuhl, von dem er aufgestanden, näher an das Kamingitter schob, forderte er sie auf, sich hineinzusetzen, brachte rasch Holz und Kohlen herbei, legte sie übereinander und begann ein Feuer anzumachen. »Ihr Fuß ist wie Marmor, mein Kind«, sagte er; er hatte ihn zufällig berührt, während er, auf einem Knie liegend, das Feuer anzündete; »stellen Sie ihn näher an die Wärme.« Klein-Dorrit dankte ihm rasch. Er sei ganz warm, sehr warm! Es verwundete sein Herz, zu fühlen, daß sie ihre dünnen, abgetragenen Schuhe verbarg.

Klein-Dorrit schämte sich nicht ihrer armen Schuhe. Er kannte ihre Geschichte, und das war es nicht. Klein-Dorrit besorgte vielmehr, er möchte ihren Vater tadeln, wenn er sie sähe; er möchte denken: »Warum aß er heute zu Mittag und gibt dieses kleine Geschöpf den kalten Steinen preis!« Sie war nicht der Ansicht, daß dies ein gerechter Tadel sei; sie wußte nur aus Erfahrung, daß diese Meinungen sich den Leuten häufig aufdrängten. Es war ein Teil von ihres Vaters Unglück, daß dies der Fall war.

»Ehe ich irgend etwas sage«, begann Klein-Dorrit, vor dem bescheidenen Feuer sitzend und ihre Blicke zu dem Gesicht erhebend, das in seinem Ausdruck Interesse, Mitleid und Schutz so harmonisch vereinigte und ihr wie ein unerreichbares und beinahe kaum zu ahnendes Geheimnis erschien, »darf ich Ihnen etwas erzählen, Sir?«

»Ja, mein Kind.«

Ein leichter Schatten von Kummer fiel auf ihr Gesicht, daß er sie so oft Kind nannte. Sie war erstaunt, daß er dies sehen oder an eine so unbedeutende Sache denken sollte; aber er sagte offen:

»Ich brauchte ein zärtliches Wort, und es fiel mir kein anderes ein. Da Sie sich eben den Namen gaben, den man Ihnen bei meiner Mutter gibt, und da es der Name ist, mit dem ich immer an Sie denke, so lassen Sie mich Klein-Dorrit zu Ihnen sagen.«

»Ich danke, Sir, er ist mir lieber als jeder andere Name.«

»Klein-Dorrit.«

»Mütterchen«, warf Maggy (die am Einschlafen war) verbessernd ein.

»Es ist einerlei, Maggy«, versetzte Dorrit, »ganz einerlei.«

»Ist es ganz einerlei, Mutter?«

»Ganz einerlei.«

Maggy lachte und schnarchte augenblicklich darauf. In Klein-Dorrits Augen und Ohren war die seltsame Gestalt und der seltsame Klang so angenehm wie nur möglich. Ein glühendes Gefühl des Stolzes auf dieses ihr großes Kind überzog Klein-Dorrits Züge, als die Augen des ernsten, braunen Mannes darauf fielen. Sie hätte gern gewußt, was er denke, als er Maggy und sie ansah. Sie dachte, was für ein guter Vater er sein würde. Wie er mit einem solchen Blick seine Tochter beraten und erfreuen würde.

»Was ich Ihnen erzählen wollte, Sir«, sagte Klein-Dorrit, »ist, daß mein Bruder in Freiheit gesetzt wurde.«

Arthur war erfreut, das zu hören, und hoffte, er werde sich künftig gut aufführen.

»Und was ich Ihnen nun sagen wollte, Sir«, fuhr Klein-Dorrit fort, während ihr ganzer Körper und ihre Stimme zitterten, »das ist, daß ich nicht wissen soll, wessen Großmut ihn frei gemacht – daß ich nicht fragen soll und nie erfahren soll und dem Mann nicht aus vollem Herzen danken soll.«

Er brauchte wahrscheinlich keinen Dank, sagte Clennam. Sehr wahrscheinlich sei er selbst dafür dankbar (und wohl mit Recht), daß er die Mittel und Gelegenheit gehabt, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen, die eines großen so würdig gewesen.

»Und was ich Ihnen sagen wollte, Sir«, fuhr Klein-Dorrit immer mehr zitternd fort, »ist, daß, wenn ich ihn kennte und ich könnte es, ich ihm sagen würde, daß er nie ergründen kann, wie tief ich seine Güte fühle und wie mein Vater sie fühlt. Und was ich sagen wollte, Sir, ist, daß, wenn ich ihn kennte und ich könnt‘ es – aber ich kenne ihn nicht und soll ihn nicht kennen – ich weiß das! – ich ihm sagen würde, daß ich mich nie mehr schlafen legen werde, ohne zum Himmel gebetet zu haben, daß er ihn segne und belohne. Und wenn ich ihn kennte und ich könnt‘ es, würde ich auf meinen Knien zu ihm hinkriechen und seine Hand ergreifen und sie küssen und ihn bitten, sie mir nicht zu entziehen, sondern sie mir zu lassen – o nur auf einen Augenblick – und sie mit meinen dankbaren Tränen zu netzen, denn ich habe keinen andern Dank, den ich ihm bieten könnte!«

Klein-Dorrit hatte seine Hand an ihre Lippen geführt und wäre vor ihm auf die Knie gefallen; aber er hinderte sie freundlich daran und bat sie, sich wieder in den Stuhl zu fetzen. Ihre Augen und der Ton ihrer Stimme hatten ihm weit besser gedankt, als sie dachte. Er vermochte nicht so gefaßt wie sonst zu sagen: »Na, Klein-Dorrit, na, na, na! Wir wollen annehmen, Sie kennten diese Person, und daß Sie all das tun könnten, und daß das alles geschehen sei. Aber nun sagen Sie mir, der ich eine andre Person bin – mir, der ich nichts bin als der Freund, der Sie bat, Vertrauen zu ihm zu hegen –, warum Sie um Mitternacht außer dem Hause sind und was Sie zu so später Stunde so weit durch die Straßen führt, mein schwaches, zartes Kind«, lag auf seinen Lippen, »meine schwache, zarte Klein-Dorrit!«

»Maggy und ich waren heute abend«, antwortete sie, sich mit jener ruhigen Kraft bezwingend, die ihr lange schon zur andern Natur geworden war, »in dem Theater, wo meine Schwester engagiert ist.«

»Ach, es ist ein himmlischer Ort«, unterbrach sie Maggy plötzlich, in deren Macht es zu liegen schien, zu schlafen und zu wachen, wann es ihr beliebte. »Beinahe so gut wie das Hospital. Nur haben sie dort keine Hühner.«

Dabei schüttelte sie sich und schlief wieder ein.

»Wir gingen dahin«, sagte Klein-Dorrit mit einem Blick auf ihr Mündel, »weil ich bisweilen aus eigner Anschauung wissen möchte, daß meine Schwester nichts Unrechtes tut, und sie mit eignen Augen dort sehen möchte, wenn es weder sie noch ihr Oheim wissen. Nur selten kann ich das tun, weil ich, wenn ich nicht außer dem Hause arbeite, bei meinem Vater bin, und selbst wenn ich außer dem Hause arbeite, ich nach Hause zu ihm eile. Aber ich gebe heute nacht vor, daß ich in einer Gesellschaft gewesen sei.«

Als sie ängstlich zagend dieses Bekenntnis machte, erhob sie ihre Augen zu seinem Gesicht und las in seinem Ausdruck so deutlich, daß sie antwortete:

»O nein, gewiß nicht! Ich war nie in meinem Leben in einer Gesellschaft.« Sie hielt einen Augenblick inne, während er sie aufmerksam ansah, und sagte dann: »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes dabei. Ich hätte nie etwas nützen können, wenn ich mir nicht eine Lüge erlaubt.«

Sie fürchtete, er möchte sie im stillen tadeln, daß sie so darauf erpicht sei, für sie zu denken, zu überlegen und über ihnen zu wachen, ohne daß sie es wußten oder ihr dankten, vielleicht sogar, während sie wegen eingebildeter Vernachlässigung ihr Vorwürfe machten. Aber woran er wirklich dachte, das war die schwache Gestalt mit dem starken Willen, die dünnen zerrissenen Schuhe, die unzureichende Kleidung und der Vorwand der Erholung und des Vergnügens. Er fragte, wo die vorgebliche Gesellschaft sei? An einem Orte, wo sie arbeite, antwortete Klein-Dorrit errötend. Sie habe wenig davon gesprochen: nur ein paar Worte, um ihren Vater zu beruhigen. Ihr Vater glaube nicht, daß es eine große Gesellschaft sei – er könne dessen wirklich versichert sein. Sie blickte dabei einen Augenblick auf den Schal, den sie trug.

»Es ist die erste Nacht«, sagte Klein-Dorrit, »die ich außer dem Hause zubringe. Und London sieht so groß, so trübselig und so schmutzig aus.« In Klein-Dorrits Augen war seine Größe unter dem schwarzen Himmel schrecklich. Ein Schauer überrieselte sie, als sie diese Worte sagte.

»Aber das ist es nicht«, fügte sie mit der ihr eigentümlichen Fassung hinzu, »womit ich Sie bemühen wollte, Sir. Meine Schwester hat eine Freundin gefunden, eine Dame, von der sie mir erzählte; es machte mich unruhig, deshalb zunächst ging ich von Hause weg. Und da wir nun einmal fort waren und (absichtlich) an Ihrer Wohnung vorüberkamen und Licht im Fenster sahen –«

Nicht zum ersten Male. Nein, nicht zum ersten Male. In Klein-Dorrits Auge war die Außenseite dieses Fensters ein ferner Stern in andern Nächten als diese. Sie hatte sich außerordentlich angestrengt und abgemüht, zu ihm aufzublicken und zu staunen über den ernsten, braunen Mann, der von so ferne kam und als Freund und Beschützer zu ihr gesprochen.

»Es sind drei Dinge«, sagte Klein-Dorrit, »die ich mir zu sagen vornahm, falls Sie allein wären und ich heraufkäme. Erstens, was ich zu sagen versuchte, aber nicht kann – nicht soll –«

»Still, still! Das ist abgemacht. Wir wollen zum Zweiten übergehen«, sagte Clennam, ihre Aufregung weglächelnd, indem er die Flamme auf sie scheinen ließ und Wein und Kuchen und Obst vor ihr auf den Tisch setzte.

»Ich denke«, sagte Klein-Dorrit – »das Zweite ist, Sir, – ich denke, Mrs. Clennam muß mein Geheimnis entdeckt haben und muß wissen, woher ich komme und wohin ich gehe. Wo ich wohne, meine ich.«

»Wirklich?« versetzte Clennam lebhaft. Er fragte sie nach kurzer Überlegung, warum sie dies vermute. »Ich denke«, antwortete Klein-Dorrit, »Mr. Flintwinch muß mich beobachtet haben.«

Und warum, fragte Clennam, indem er seine Augen auf das Feuer richtete, seine Brauen zusammenzog und wieder überlegte, warum sie das vermute?

»Ich bin ihm zweimal begegnet. Beide Male in der Nähe meiner Wohnung. Beide Male bei Nacht, wenn ich nach Hause ging. Beide Male dachte ich (ich kann mich jedoch leicht darin täuschen), daß es kaum ausgesehen, als ob er mir durch Zufall begegnete.«

»Sagte er etwas?«

»Nein, er nickte bloß und neigte den Kopf auf die Seite.«

»Der Teufel hole diesen Kopf!« dachte Clennam, noch immer in das Feuer blickend: »er hängt stets zur Seite.«

Er stand auf, um sie zu nötigen, etwas Wein über ihre Lippen zu bringen und etwas Speise zu berühren – es war sehr schwierig, denn sie war so ängstlich und scheu – und dann sagte er, wieder nachdenkend:

»Ist meine Mutter irgendwie verändert gegen Sie?«

»O keineswegs. Sie ist ganz wie zuvor. Ich war ungewiß, ob ich ihr nicht lieber meine Geschichte erzählen sollte. Ich war ungewiß, ob ich – ich meine, ob Sie es gerne sähen, wenn ich sie ihr erzählte. Ich hätte gern gewußt“, sagte Klein-Dorrit, indem sie ihn bittend ansah und ihre Augen immer mehr von ihm abwendete, je mehr er sie anblickte, »ob Sie mir andeuten wollten, was ich tun sollte.«

»Klein-Dorrit«, sagte Clennam, und dieses Wort hatte bereits begonnen, die Stelle von hundert freundlichen Worten zu vertreten, je nach dem verschiedenen Tone und der Verbindung, in der es ausgesprochen wurde, »tun Sie nichts. Ich werde mit meiner alten Freundin Mrs. Affery sprechen. Tun Sie nichts, Klein-Dorrit – als sich mit solchen Mitteln erfrischen, wie sie hier vorhanden sind. Ich bitte Sie, tun Sie das.«

»Ich danke, ich bin nicht hungrig. Und nicht«, sagte Klein-Dorrit, als er ihr sanft das Glas zuschob, »auch nicht durstig. Vielleicht hat Maggy zu etwas Appetit.«

»Nun, wir wollen Sie gleich für alles, was da ist, Taschen finden lassen«, sagte Clennam, »aber ehe wir sie aufwecken, ist noch etwas Drittes zu sagen.«

»Ja, aber Sie werden nicht beleidigt sein, Sir?«

»Ich verspreche Ihnen das ohne Rückhalt.«

»Es wird seltsam klingen. Ich weiß kaum, wie ich es sagen soll. Halten Sie es nicht für unvernünftig oder undankbar von mir«, sagte Klein-Dorrit mit wiederkehrender und wachsender Aufregung.

»Nein, nein, nein. Ich weiß gewiß, es wird recht und natürlich sein. Ich fürchte nicht, daß ich es falsch auffassen werde, was es auch sein mag.«

Arthur Clennam bei seiner Mutter.

»Ich danke. Sie werden wieder zu uns kommen und meinen Vater besuchen?«

»Ja.«

»Sie waren so gut und aufmerksam, meinem Vater ein Billett zu schreiben, daß Sie morgen kommen würden?«

»O, das ist nicht der Rede wert. Allerdings.«

»Können Sie ahnen«, sagte Klein-Dorrit, die kleinen Hände fest ineinander faltend und ihn mit dem ganzen Seelenernst, der aus ihren Augen sprach, ansehend, »um was ich Sie jetzt ersuchen will?«

»Ich glaube wohl, aber ich kann mich täuschen.«

»Nein, Sie täuschen sich nicht«, sagte Klein-Dorrit, ihren Kopf schüttelnd. »Wenn wir es gar so sehr bedürften, daß wir nicht ohne dasselbe existieren könnten, so lassen Sie mich darum bitten.«

»Gern – gern.«

»Ermutigen Sie ihn nicht zu dieser Bitte. Verstehen Sie ihn nicht, wenn er bittet. Geben Sie es ihm nicht. Ersparen Sie ihm das, und Sie werden besser von ihm zu denken imstande sein!«

Clennam sagte, freilich nicht sehr ehrlich, als er Tränen in ihren besorgten Augen glänzen sah, – ihr Wunsch solle ihm heilig sein.

»Sie wissen nicht, was er ist«, sagte sie, »Sie wissen nicht, was er wirklich ist. Wie sollten Sie auch, mein Gott, Sie, der ihn ganz plötzlich sieht, und nicht nach und nach wie ich. Sie waren so gut gegen uns, so zart, so wahrhaft gut, daß ich ihn in Ihren Augen besser als in irgendeines andern dastehen sehen möchte. Und ich kann es nicht ertragen, zu denken«, sagte Klein-Dorrit, ihre Tränen mit den Händen bedeckend, »daß Sie ihn nur in den Augenblicken seiner Entwürdigung sehen sollten!«

»Bitte«, sagte Clennam, »verscheuchen Sie Ihren Schmerz. Bitte, bitte, Klein-Dorrit! Ich verstehe ganz, was Sie meinen.«

»Dank Ihnen, Sir. Dank! Ich habe alles mögliche versucht, mich von dieser Bitte abzuhalten; ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht. Als ich aber gewiß wußte, daß Sie wiederkommen würden, nahm ich mir vor, mit Ihnen zu sprechen. Nicht weil ich mich seiner schämte«, sie trocknete rasch ihre Tränen, »sondern weil ich ihn besser kenne als irgend jemand und ihn liebe und stolz auf ihn bin.«

Von dieser Last befreit, trieb es Klein-Dorrit zu gehen. Da Maggy wieder ganz wach war und aus der Ferne über das Obst und die Kuchen im Vorgeschmack des Genusses schmatzend hinstarrte, bereitete ihr Clennam die beste Erquickung, die in seiner Macht stand: er schenkte ihr ein Glas Wein ein, das sie in einer Reihe von lauter Schlücken austrank, und bei jedem ihre Hand auf die Luftröhre legte, während sie beinahe atemlos und mit weit hervorstehenden Augen sagte: »O wie köstlich! Ach! es ist wie im Hospital.« Als sie den Wein ausgetrunken und ihre Lobsprüche beendet hatte, hieß er sie ihren Korb (sie war nie ohne ihren Korb) mit allen Eßwaren auf dem Tisch zu füllen und zusehen, daß kein

Brocken übrigbleibe. Die Freude, mit der Maggy dies tat, und die Freude, mit der ihr Mütterchen Maggy vergnügt sah, war die beste Wendung, die das Gespräch unter solchen Umständen nehmen konnte.

»Aber die Tore werden längst geschlossen sein«, sagte Clennam, plötzlich auf diesen Gedanken verfallend. »Wo gehen Sie hin?«

»Ich gehe nach Maggys Wohnung«, antwortete Klein-Dorrit. »Ich bin dort ganz gut aufgehoben, ganz sicher.«

»Ich muß Sie dahin begleiten«, sagte Clennam. »Ich kann Sie nicht allein gehen lassen.«

»Bitte, lassen Sie uns allein gehen. Bitte!« sagte Klein-Dorrit.

Sie bat mit solchem Ernst, daß Clennam zu zartfühlend war, sich ihr aufzudrängen; um so mehr, als er klug genug war einzusehen, daß Maggys Wohnung von der geringsten Art sein müsse. »Komm, Maggy«, sagte Klein-Dorrit freundlich, »wir werden schon fortkommen. Wir kennen den Weg zu dieser Zeit, nicht wahr, Maggy?«

»Ja, ja, Mütterchen, wir kennen den Weg«, kicherte Maggy, und sie gingen fort. Klein-Dorrit kehrte sich an der Tür um und sagte: »Gott segne Sie!« Sie sagte es sehr leise, aber – wer weiß – sie wurde vielleicht so gut oben im Himmel vernommen wie ein ganzer Kirchenchor.

Arthur Clennam ließ sie erst um die Ecke der Straße gehen, ehe er in einiger Entfernung folgte; auch nicht in der mindesten Absicht, zum zweiten Male in die Privatangelegenheiten Klein-Dorrits einzugreifen; sondern um sich selbst die Beruhigung zu verschaffen, sie sicher zu wissen, was der Fall war, sobald er sie in der Nachbarschaft sah, an die sie gewöhnt war. Sie erschien ihm so klein, so zerbrechlich und machtlos gegen das schwarze, neblige Wetter, während sie in dem schwankenden Schatten ihres Mündels einherging, daß ihm in seiner Teilnahme und seiner Gewohnheit, sie als ein von der übrigen rauhen Welt abgesondertes Kind zu betrachten, zu Mut war, als wenn er sich glücklich fühlen würde, sie in seine Arme zu nehmen und bis an das Ende ihrer Wanderung zu tragen.

Mit der Zeit kamen sie nach der Hauptstraße, wo das Marschallgefängnis lag; da sah er sie ihre Schritte verlangsamen und bald in eine Nebenstraße einbiegen. Er blieb stehen; denn er fühlte, daß er kein Recht hatte weiterzugehen, und verließ sie langsamen Schrittes. Er hatte nicht den geringsten Verdacht, sie könnten riskieren, obdachlos bis zum Morgen umherirren zu müssen; er hatte keine Idee von der Wahrheit, bis lange, lange später.

»Aber«, sagte Klein-Dorrit, als sie vor einem armseligen Haus ganz in der Dunkelheit stille hielten und lauschend keinen Ton vernahmen, »das ist ja eine sehr hübsche Wohnung für dich, Maggy, wir dürfen die Leute nicht belästigen. Deshalb wollen wir nur zweimal klopfen und nicht sehr laut; und wenn wir sie dadurch nicht aufwecken, müssen wir eben bis Tagesanbruch auf der Straße umhergehen.«

Klein-Dorrit klopfte einmal mit bescheidener Hand und horchte. Dann klopfte sie noch einmal mit bescheidener Hand und horchte. Alles blieb ruhig und still. »Maggy, wir müssen uns schon drein fügen, meine Liebe. Wir müssen geduldig sein und bis zu Tagesanbruch warten.«

Es war eine kalte, dunkle Nacht, und ein feuchter Wind blies, als sie wieder auf die Hauptstraße kamen und die Glocken halb zwei schlagen hörten. »Nur noch fünf und eine halbe Stunde, und wir können nach Hause kommen«, sagte Klein-Dorrit. Von Hause zu sprechen und zu gehen und danach zu sehen, war eine natürliche Folge. Sie gingen nach dem geschlossenen Tor und sahen durch das Schlüsselloch in den Hof. »Ich hoffe, er schläft gesund«, sagte Klein-Dorrit, einen der Riegel küssend, »und vermißt mich hoffentlich nicht.« Die Pforte war ihnen so vertraut wie eine Freundin, daß sie Maggys Korb in eine Ecke stellten, damit er als Sitz diene. So ruhten sie dicht aneinander gedrängt dort einige Zeit aus. Während die Straße leer und still war, fürchtete sich Klein-Dorrit nicht; wenn sie jedoch in einiger Entfernung einen Schritt hörte oder einen sich unter den Straßenlaternen hinbewegenden Schatten sah, fuhr sie auf und flüsterte ihrem Kind zu: »Maggy, ich sehe jemanden. Komm fort!« Maggy erwachte dann mehr oder weniger verdrießlich, und sie gingen eine Zeitlang umher und kamen dann zurück.

Solange das Essen eine Neuigkeit und eine Unterhaltung war, ging es mit Maggy ganz gut. Als diese Periode jedoch vorüber war, klagte sie über die Kälte und schauerte und winselte. »Es wird bald vorüber sein, liebes Kind!« sagte Klein-Dorrit geduldig.

»O, das ist alles ganz gut für dich, Mütterchen«, versetzte Maggy, »aber ich bin ein armes Ding, nur zehn Jahre alt.« Endlich, als in der Stille der Nacht die Straße vollkommen ruhig war, legte Klein-Dorrit Maggys schweres Haupt an ihre Brust und wiegte sie in den Schlaf. So saß sie am Tore, einsam und allein, und blickte zu den Sternen empor und sah die Wolken in wilder Flucht über sie hinziehen – das war der Tanz bei Klein-Dorrits Gesellschaft.

»Wenn es wirklich eine Gesellschaft wäre!« sagte sie plötzlich, als sie so dasaß. »Wenn es hell und warm und schön wäre und es unser Haus wäre, und mein armer, lieber Vater wäre der Herr und nie hinter diesen Mauern gewesen. Und wenn Mr. Clennam einer von unsern Gästen wäre, und wir tanzten zu entzückender Musik und wären alle so heiter und vergnügt wie nur immer möglich! Ich möchte wissen –« Es eröffnete sich ihr eine solche Reihe von Dingen, die sie hätte wissen mögen, daß sie ganz in Gedanken verloren zu den Sternen aufblickte, bis Maggy wieder unruhig wurde und aufstehen und gehen wollte.

Es wurde drei Uhr und halb vier Uhr, und sie waren über die London-Brücke gegangen. Sie hatten das Rauschen des Stromes gehört, der sich an den Hindernissen brach; hatten mit Schauer durch den dunkeln Nebel auf den Strom hinabgeschaut; hatten kleine Streifen des Wassers blitzen sehen, die das Licht der Brückenlaternen spiegelten, die wie Dämonenaugen leuchteten und die Schuld und das Elend mit furchtbarem Zauber in die Tiefe zogen. Sie waren unheimlich erschrocken an obdachlosen Menschen vorübergegangen, die zusammengekauert in Winkeln lagen. Sie waren Betrunkenen entflohen. Sie waren zurückgetreten, wenn sie Männer an sich vorüberschleichen, sich an Straßenecken zuwinken, zuflüstern oder andere in voller Flucht davoneilen sahen. Indessen tat der Wegweiser und Führer, Klein-Dorrit, glücklich in ihrer jugendlichen Erscheinung, als ob sie sich an Maggy hielte und sich auf sie stützte, und mehr als einmal hatte eine Stimme aus einem Haufen lärmenden und herumstreichenden Volks auf ihrem Wege den übrigen zugerufen, man solle »die Frau und das Kind vorbeigehen lassen!«

So waren die Frau und das Kind vorübergegangen und weitergegangen, und fünf Uhr hatte es von den Türmen geschlagen. Sie gingen langsam in der Richtung nach Osten, bereits nach dem ersten blassen Streifen Tageslicht blickend, als eine Frau hinter ihnen drein kam.

»Was tut Ihr mit dem Kinde?« sagte sie zu Maggy.

Sie war jung – viel zu jung, um hier zu sein, der Himmel weiß es! – und weder häßlich noch leichtsinnig aussehend. Sie sprach grob, aber mit keiner von Hause aus groben Stimme; es war sogar etwas Melodisches in deren Klang.

»Was tut Ihr mit Euch selbst hier?« versetzte Maggy in Ermanglung einer bessern Antwort.

»Könnt Ihr’s nicht sehen, ohne daß ich Euch’s sage?«

»Ich weiß nicht, ob ich’s kann«, sagte Maggy.

»Ich bringe mich selber um. Nun habe ich Euch geantwortet, jetzt antwortet mir. Was tut Ihr mit dem Kinde?«

Das vermeintliche Kind hatte den Kopf gesenkt und hing sich fest an Maggy an.

»Armes Ding!« sagte die Frau. »Habt Ihr denn kein Gefühl, daß Ihr sie zu solcher Zeit in den Straßen mit umherschleppt? Habt Ihr keine Augen, um zu sehen, wie zart und schwächlich sie ist? Habt Ihr denn keine Empfindung (Ihr seht allerdings nicht aus, als ob Ihr viel hättet), daß Ihr nicht mehr Mitleid mit dieser kalten und zitternden kleinen Hand habt?«

Sie war auf die andere Seite getreten und hielt die Hand Klein-Dorrits reibend in den ihren. »Küsse ein armes, verlorenes Geschöpf, mein liebes Kind«, sagte sie und beugte ihr Gesicht herab, »und sage mir, wo sie dich hinführt.«

Klein-Dorrit wandte sich nach ihr um.

»Du, mein Gott!« sagte sie zurückfahrend, »Ihr seid ja eine Frau?«

»Laßt das gut sein!« sagte Klein-Dorrit, eine der Hände ergreifend, die plötzlich die ihre losgelassen. »Ich fürchte mich nicht vor Euch.«

»Es wäre besser, Ihr würdet Euch fürchten«, antwortete sie. »Habt Ihr keine Mutter?«

»Nein.«

»Keinen Vater?«

»O ja, einen sehr lieben Vater.«

»Geht zu ihm heim und fürchtet Euch vor mir. Laßt mich gehen. Gute Nacht!«

»Ich muß Euch erst danken; laßt mich zu Euch sprechen, als wenn ich wirklich ein Kind wäre.«

»Das könnt Ihr nicht«, sagte die Frau. »Ihr seid freundlich und unschuldig, aber Ihr könnt mich nicht mit den Augen eines Kindes ansehen. Ich würde Euch nie berührt haben, wenn ich Euch nicht für ein Kind gehalten hätte.« Und mit einem seltsam wilden Schrei eilte sie hinweg.

Noch immer war der Tag nicht am Himmel, aber Tag war in den widerhallenden Steinen der Straßen, in den Wagen, Karren und Kutschen; in den Arbeitern, die zu verschiedenen Beschäftigungen eilten; in dem Öffnen der frühen Läden; in dem Handel des Marktes; in dem Getümmel an der Uferseite. Der Tag brach an in den flimmernden Lichtern, deren Farbe matter war als zu andern Zeiten; und in der schärferen Luft und der geisterhaften Farbe der Nacht.

Sie gingen wieder zu dem Tor zurück, in der Absicht, dort zu warten, bis es geöffnet würde; aber die Luft war so rauh und kalt, daß Klein-Dorrit, die Maggy im Schlaf umherführte, sich Bewegung machte. Als sie um die Kirche gingen, sahen sie Lichter dort und die Tür offen; sie gingen die Treppen hinauf und sahen hinein.

»Wer da?« rief ein stämmiger, alter Mann, der eine Nachtmütze aufsetzte, als wenn er in einer Gruft zu Bett ginge.

»Niemand besonderes, Herr«, sagte Klein-Dorrit.

»Halt!« rief der Mann. »Laßt mich Euch ansehen!«

Das veranlaßte sie umzukehren, als sie hinausgehen wollte, und sich und ihr Mündel vor ihm zu zeigen.

»Ich dacht‘ es doch!« sagte er. »Ich kenne Euch!«

»Wir haben einander oft gesehen«, sagte Klein-Dorrit, den Sakristan oder Meßner oder Stabträger, oder was er war, erkennend, »wenn ich hier in die Kirche kam.«

»Mehr als das, wir haben Ihre Geburt in unserm Register eingetragen; Sie wissen, Sie sind eine von unsern Kuriositäten.«

»Wirklich?« sagte Dorrit.

»Gewiß. Als das Kind von dem – übrigens, wie kommt’s, daß Ihr schon so früh auf seid?«

»Wir wurden die vergangene Nacht ausgeschlossen und warten nun, bis wir hinein können.«

»Ist das wirklich Eure Absicht? Das dauert wohl noch eine gute Stunde. Kommt in die Sakristei. Ihr werdet ein Feuer in der Sakristei finden, wegen der Maler. Ich warte auf die Maler, sonst wäre ich nicht hier, das dürft Ihr mir glauben. Eine von unsern Kuriositäten darf nicht kalt werden, wenn es in unsrer Macht liegt, sie gut zu wärmen. Kommt mit.«

Es war ein sehr guter, alter Mann, mit seinem vertrauten Ton; und nachdem er das Sakristeifeuer etwas angeschürt, suchte er an den Registerständern nach einem besondern Band umher. »Hier stehen Sie eingetragen, sehen Sie mal«, sagte er, indem er ihn herabnahm und die Blätter umdrehte. »Hier werden Sie sich in voller Größe finden. Amy, Tochter von William und Fanny Dorrit. Geboren im Marschallgefängnis, Parochie St. George. Und wir sagen den Leuten, daß Sie nie einen Tag oder eine Nacht seit jener Zeit von dort fortgewesen. Nicht wahr?«

»Allerdings, bis gestern abend.«

»Herr!« Aber ein bewundernder Blick, den er auf sie warf, führte ihn auf etwas anderes, nämlich: »Ich sehe mit Bedauern, daß Sie erschöpft und müde sind. Warten Sie einen Augenblick. Ich will einige Kissen aus der Kirche holen, und Sie und Ihre Freundin sollen vor dem Feuer liegen. Fürchten Sie nicht, daß Sie zu Ihrem Vater hineinzugehen versäumen, sobald das Tor geöffnet wird. Ich werde Sie rufen.«

Er brachte alsbald die Kissen und legte sie auf den Boden.

»So, da sind Sie nun wieder in Lebensgröße. Oh, denken Sie nicht ans Danken. Ich habe selbst auch Töchter. Und wenn sie auch nicht im Marschallgefängnis geboren wurden, wäre es doch möglich gewesen, wenn ich in meiner Lebensart von Ihres Vaters Schlag gewesen. Warten Sie einen Augenblick. Ich muß etwas unter das Kissen für Ihren Kopf legen. Hier ist ein Sterberegister. Das ist recht. Wir haben Mrs. Bangham in dem Buche. Aber was diese Bücher den meisten Leuten interessant macht, ist – nicht wer darin ist, sondern wer nicht darin und wer hineinkommt, verstehen Sie, und wann. Das ist die wichtige Frage.«

Er blickte mit einem empfehlenden Wort noch einmal auf das Polster zurück, das er improvisiert hatte, und verließ sie, damit sie die Stunde noch ausruhen könnten. Maggy schnarchte bereits, und Klein-Dorrit war gleichfalls bald eingeschlafen, den Kopf auf diesem versiegelten Buche des Schicksals, ungestört durch seine geheimnisvollen weißen Blätter.

Das war Klein-Dorrits Gesellschaft. Die Schande, Verlassenheit, das Elend und die Bloßstellung der großen Hauptstadt; die nassen, kalten, schleichenden Stunden, und die jagenden Wolken der unheimlichen Nacht. Das war die Gesellschaft, aus der Klein-Dorrit in dem ersten grauen Nebel eines regnerischen Morgens abgemattet heimkehrte.