Der selbstsüchtige Riese

Wenn die Kinder am Nachmittag aus der Schule kamen, gingen sie für gewöhnlich in den Garten des Riesen, um dort zu spielen.

Es war ein großer, wunderschöner Garten mit weichem grünen Gras. Hier und da standen prächtige Blumen sternengleich auf der Wiese, außerdem zwölf Pfirsichbäume, die im Frühjahr zarte Blüten in rosa und perlweiß hervorbrachten und im Herbst reiche Frucht trugen. Die Vögel saßen in den Bäumen und sangen so lieblich, dass die Kinder im Spiel innehielten, um ihnen zuzuhören. »Wie glücklich sind wir doch hier!«, riefen sie einander zu.

Eines Tages kam der Riese zurück. Er hatte seinen Freund besucht, den Menschenfresser von Cornwall, und er war sieben Jahre lang bei ihm geblieben. Nachdem die sieben Jahre vergangen waren, hatte der Riese all das gesagt, was zu sagen war; seine Gesprächsbereitschaft war nämlich begrenzt, und so entschied er sich dafür, in sein eigenes Schloss zurückzukehren. Als er dort ankam, sah er die Kinder in seinem Garten spielen.

»Was macht ihr hier?«, schrie er mit äußerst mürrischer Stimme und die Kinder liefen verängstigt davon.

»Mein eigener Garten ist immer noch mein eigener Garten«, sagte der Riese, »das muss jeder einsehen, und ich werde niemals jemandem außer mir selbst erlauben, darin zu spielen«. Und so errichtete er eine hohe Mauer rings um den Garten und stellte ein Warnschild mit den folgenden Worten auf: Unbefugten ist der Zutritt bei Strafe verboten! – Er war wirklich ein sehr selbstsüchtiger Riese.

Die armen Kinder hatten von nun an keinen Ort mehr, wo sie spielen konnten. Sie versuchten auf der Straße zu spielen, aber diese war sehr staubig und voll mit spitzen Steinen, und das gefiel den Kindern nicht. Immer wieder schlenderten sie nach dem Unterricht um die hohe Mauer herum und sprachen von dem herrlichen Garten, der dahinter verborgen lag. »Wie glücklich waren wir doch dort«, sagten sie zueinander.

Dann kam der Frühling und überall – landauf, landab – waren kleine Blüten zu sehen, und junge Vögel zwitscherten vergnügt. Nur im Garten des selbstsüchtigen Riesen war immer noch Winter. Die Vögel wollten dort nicht singen und die Bäume vergaßen zu blühen, weil keine Kinder mehr da waren. Einmal streckte eine wunderschöne Blume ihren Kopf aus dem Gras heraus, aber als sie das Hinweisschild sah, hatte sie so großes Mitleid mit den Kindern, dass sie sich sofort wieder in den Boden zum Schlafen zurückzog. Die einzigen, denen der Garten noch gefiel, waren der Schnee und der Frost. »Der Frühling hat diesen Garten vergessen«, riefen sie erfreut, »wir werden das ganze Jahr über hier bleiben«. Der Schnee bedeckte das Gras mit seinem dicken weißen Mantel und der Frost ließ alle Bäume silbern erscheinen. Dann luden sie den Nordwind ein, ihnen Gesellschaft zu leisten – und er kam. Er war in warme Felle gehüllt, brüllte unaufhörlich durch den Garten und blies die Schornsteinbleche hinunter. »Welch ein herrlicher Platz«, schwärmte er, »wir sollten den Hagel bitten, uns zu besuchen«. Und der Hagel kam. Jeden Tag prasselte er drei Stunden lang auf das Dach des Schlosses, bis er fast alle Ziegel zerstört hatte, und danach sauste er, so schnell er konnte, quer durch den Garten. Er war ganz in grau gekleidet und sein Atem war so kalt wie Eis.

»Ich kann nicht verstehen, warum der Frühling in diesem Jahr so spät kommt«, sagte der selbstsüchtige Riese, als er an dem Fenster saß und in seinen kalten weißen Garten blickte; »ich hoffe, dass sich das Wetter bald ändert«.

Aber es kamen weder Frühling noch Sommer. Der Herbst beschenkte jeden Garten mit goldenen Früchten, nur den Garten des Riesen sparte er aus. »Er ist zu selbstsüchtig«, sagte der Herbst. So war anhaltender Winter im Garten; und der Nordwind, der Hagel, der Frost und der Schnee tanzten im Wechsel zwischen den Bäumen herum.

Eines Morgens lag der Riese wach in seinem Bett, als er eine wunderschöne Musik hörte. Sie klang so lieblich in seinen Ohren, dass er dachte, es könnten nur die Musiker des Königs sein, die vorbeizögen. In Wirklichkeit aber war es nur ein kleiner Hänfling, der draußen vor seinem Fenster sang; aber es war so lange her, seit er einen Vogel in seinem Garten hatte singen hören, dass er das Gefühl hatte, die schönste Musik der Welt zu vernehmen. In diesem Moment hörte der Hagel auf, über seinem Kopf herumzutanzen, der Nordwind stellte sein Gebrüll ein und ein köstlicher Duft strömte ihm durch das geöffnete Fenster entgegen. »Ich glaube, nun kommt der Frühling wohl doch noch«, sagte der Riese, sprang aus dem Bett und guckte nach draußen.

Und was sah er da?

Es war der wundervollste Anblick, den man sich denken konnte. Die Kinder waren durch ein kleines Loch in der Mauer in den Garten gekrochen und saßen nun auf den Zweigen der Bäume – in jedem Baum, den er sehen konnte, ein kleines Kind. Und die Bäume waren so froh, die Kinder endlich wieder bei sich zu haben, dass sie sich mit Blüten schmückten und ihre Zweige gleich schützenden Händen über den Köpfen der Kinder auf und ab bewegten. Die Vögel flogen umher und zwitscherten vor Vergnügen und die Blumen schauten lachend aus dem frischen grünen Gras heraus. Es war ein anmutiges Bild, nur in einer Ecke des Gartens war noch immer Winter. Dort, in dem entferntesten Winkel, stand ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht an die Zweige des Baumes heranreichen konnte; immer wieder ging er um ihn herum und weinte bitterlich. Der arme Baum war immer noch über und über mit Eis und Schnee bedeckt und der Nordwind blies und heulte über ihn hinweg. »Klettere nur hinauf, kleiner Junge!«, sagte der Baum freundlich, und beugte seine Zweige so tief herunter, wie er konnte, aber der Junge war einfach zu klein.

Als der Riese das sah, wurde es ihm ganz warm um das Herz. »Wie selbstsüchtig bin ich gewesen!«, sprach er reumütig zu sich selbst, »jetzt verstehe ich, warum der Frühling nicht in meinen Garten kommen wollte. Ich werde den kleinen Jungen auf die Spitze des Baumes setzen und danach die Mauer niederreißen. Von nun an soll der Garten auf ewig der Spielplatz der Kinder sein«. Er bedauerte aufrichtig, was er getan hatte.

Der Riese schlich nach unten, öffnete ganz leise die Haustür und trat in den Garten. Aber als die Kinder ihn sahen, hatten sie solche Angst, dass sie alle davonrannten – und augenblicklich wurde es wieder Winter im Garten. Nur der kleine Junge lief nicht fort; denn er hatte, da seine Augen ganz mit Tränen gefüllt waren, den Riesen nicht kommen sehen. Dieser näherte sich dem Jungen ganz vorsichtig von hinten, nahm ihn sanft in seine Hand und setzte ihn in den Baum. Unverzüglich erstrahlte der Baum in üppiger Blütenpracht und die Vögel kamen, setzten sich hinein und sangen; und der kleine Junge streckte seine Arme aus, schlang sie dem Riesen um den Hals und küsste ihn. Und als all die anderen Kinder sahen, dass der Riese nicht länger böse war, kamen sie eilig zurück – und mit ihnen kam der Frühling. »Von nun an, Kinder, ist dies euer Garten«, sagte der Riese, nahm eine riesige Axt und riss die Mauer nieder. Und als die Menschen um die Mittagszeit zum Markt gingen, sahen sie den Riesen mit den Kindern im Garten spielen, dem schönsten Garten, den sie jemals gesehen hatten.

Sie spielten den ganzen Tag lang, und am Abend gingen sie auf den Riesen zu, um sich von ihm zu verabschieden.

»Aber wo ist denn euer kleiner Spielgefährte, der Junge, den ich auf den Baum gesetzt habe?«, fragte der Riese. Den kleinen Jungen liebte er nämlich am meisten, weil dieser ihn geküsst hatte.

»Das wissen wir nicht«, antworteten die Kinder, »er ist fortgegangen«.

»Ihr müsst ihm sagen, dass er morgen unbedingt wiederkommen soll«, sagte der Riese. Aber die Kinder entgegneten, dass sie nicht wüssten, wo er wohne, und dass sie ihn auch niemals zuvor gesehen hätten. Daraufhin wurde der Riese sehr traurig.

Jeden Nachmittag, wenn die Schule zu Ende war, kamen die Kinder und spielten mit dem Riesen. Aber den kleinen Jungen, den der Riese besonders liebte, sah man nie mehr. Der Riese war sehr freundlich zu all den Kindern, und dennoch blieb in ihm die Sehnsucht nach seinem ersten kleinen Freund; immer wieder sprach er von dem Jungen. »Wie gerne würde ich ihn wiedersehen«, pflegte der Riese dann zu sagen.

Jahre vergingen und der Riese wurde ganz alt und schwach. Er konnte nicht mehr im Garten spielen, und so saß er in einem riesigen Lehnstuhl, sah den Kindern beim Spielen zu und erfreute sich an seinem Garten. »Ich habe zwar viele herrliche Blumen, aber die Kinder sind die schönsten von allen«, sagte er zu sich selbst.

An einem Wintermorgen schaute er, während er sich anzog, aus dem Fenster. Jetzt hasste er den Winter nicht mehr, denn er wusste, dass dies nur die Zeit des schlafenden Frühlings und der sich ausruhenden Blumen war. Plötzlich rieb er sich verwundert die Augen – und schaute und schaute. Es war in der Tat ein wundervoller Anblick. In der entlegensten Ecke des Gartens war ein Baum über und über mit herrlichen weißen Blüten bedeckt. Seine Zweige waren vergoldet und silberne Früchte hingen von ihnen herab. Und unter dem Baum stand der kleine Junge, den der Riese so sehr in sein Herz geschlossen hatte.

Hocherfreut rannte der Riese nach unten und hinaus in den Garten. Er hastete über die Wiese und näherte sich dem Kind. Und als er ganz nah herangekommen war, wurde sein Gesicht rot vor Zorn, und er fragte: »Wer hat es gewagt, dich zu verletzen?« Auf den Handflächen des Kindes waren nämlich die Male von zwei Nägeln zu erkennen, und die Male von zwei Nägeln waren auch an seinen kleinen Füßen.

»Wer hat es gewagt, dich zu verletzen?«, schrie der Riese noch einmal, »sag es mir, damit ich mein mächtiges Schwert ziehen und ihn erschlagen kann«. »Nein!«, antwortete das Kind, »denn dies sind die Wunden der Liebe«. »Wer bist du?«, fragte der Riese; eine seltsame Ehrfurcht überkam ihn und er kniete vor dem kleinen Jungen nieder.

Daraufhin lächelte das Kind den Riesen an und sagte zu ihm. »Du hast mich einst in deinem Garten spielen lassen, heute sollst du mit mir in meinen Garten kommen – in das Paradies eingehen«.

Und als die Kinder an diesem Nachmittag in den Garten gelaufen kamen, fanden sie den Riesen tot auf – er lag unter dem Baum und war über und über mit weißen Blüten bedeckt.

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The Happy Prince


Der glückliche Prinz

Hoch über der Stadt stand auf einer schlanken Säule die Statue des glücklichen Prinzen. Er war über und über mit dünnen Blättern feinen Goldes vergoldet, er hatte zwei schimmernde Saphire als Augen, und an seinem Schwertknauf glühte ein großer roter Rubin.

Alle Welt bewunderte ihn sehr. »Er ist so schön wie ein Wetterhahn«, meinte ein Ratsherr, der den Ruf eines Kunstkenners zu erlangen trachtete. »Nur nicht ganz so nützlich«, setzte er hinzu, denn er fürchtete, die Leute könnten ihn für unpraktisch halten, und das war er keineswegs.

»Warum kannst du nicht sein wie der glückliche Prinz?« fragte eine empfindsame Mutter ihren kleinen Jungen, der weinend nach dem Mond verlangte. »Dem glücklichen Prinzen fällt’s nun und nimmer ein, nach irgend etwas zu weinen.«

»Ich bin froh, daß es in dieser Welt doch Einen gibt, der vollkommen glücklich ist«, flüsterte ein Enttäuschter vor sich hin, als er zu dem wundervollen Standbild emporschaute.

»Er sieht ganz wie ein Engel aus«, sagten die Waisenkinder, wenn sie in ihren hellen scharlachroten Mänteln und den sauberen weißen Schürzchen aus der Kathedrale kamen.

»Woher wollt ihr das wissen?« fragte der Rechenlehrer. »Ihr habt ja nie einen gesehen.«

»O doch! In unseren Träumen«, antworteten die Kinder; und der Rechenlehrer runzelte die Stirn und machte ein sehr strenges Gesicht, denn er konnte es gar nicht leiden, daß Kinder träumten.

Eines Nachts nun flog eine kleine Schwalbe über die Stadt, ein Schwalbenjüngling. Seine Gefährten waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten gezogen, er aber hatte gesäumt, denn er war in das hübscheste aller Schilfrohre verliebt. Er hatte seine Schöne im jungen Frühling kennengelernt, als er hinter einem dicken gelben Falter her den Fluß entlangflog, und war von ihrer zarten Taille so betört gewesen, daß er in seinem Fluge eingehalten hatte, um mit ihr zu plaudern.

»Soll ich dich lieben?« fragte der Schwalbenjüngling, der gern ohne viel Umschweife zur Hauptsache kam, und die Schöne neigte sich tief vor ihm. Da flog und kreiste er um sie her und streifte das Wasser leicht mit seinen Flügeln, daß es sich silbern kräuselte. Auf solche Art warb er, und es ging so den ganzen Sommer lang.

»Das ist eine lächerliche Liebschaft«, zwitscherten die anderen Schwalben, »sie hat kein Geld und viel zuviel Verwandte« – und in der Tat war der Fluß ganz voller Röhricht. Dann, als der Herbst kam, flogen die Schwalben alle davon.

Da sie nun fort waren, fühlte der kleine Vogel sich einsam und fing an, seiner Dame überdrüssig zu werden. »Man kann sich gar nicht mit ihr unterhalten«, sagte er, »und mir scheint fast, sie ist kokett, denn allzeit flirtet sie mit dem Wind.« Und wirklich, wann immer der Wind wehte, grüßte sie ihn mit den anmutvollsten Verneigungen. »Ich gebe zu, sie ist häuslich«, fuhr der Vogel fort, »aber ich liebe das Reisen, und folglich sollte meine Frau es auch lieben.«

»Willst du mit mir kommen?« fragte er sie schließlich; aber sie schüttelte nur den Kopf, sie wurzelte allzu fest in ihrem Heim. »Du hast dein Spiel mit mir getrieben!« schrie er. »Ich mache mich davon nach den Pyramiden. Leb wohl!« Und er flog von dannen.

Den ganzen Tag flog er, und im Abenddämmern kam er in der Stadt an. »Wo soll ich absteigen?« sagte er zu sich. »Hoffentlich haben sie hier ihre Zurüstungen getroffen.«

Dann sah er das Standbild auf der hohen Säule.

»Dort will ich absteigen«, rief er, »die Lage ist schön, und frische Luft gibt‘s da oben genug.« Damit ließ er sich just zwischen den Füßen des glücklichen Prinzen nieder.

»Ich habe ein goldenes Schlafzimmer«, sagte der kleine Vogel träumerisch zu sich selber, als er um sich blickte, und machte sich zum Schlafengehen bereit; aber da er eben den Kopf unter den Flügel stecken wollte, fiel ein großer Tropfen Wasser auf ihn herab. »Wie sonderbar!« rief er, »nicht ein einziges Wölkchen steht am Himmel, die Sterne scheinen klar und hell, und dabei regnet es. Das Klima im nördlichen Europa ist wirklich schauderhaft. Das Schilfrohr schwärmte zwar für Regen, aber das war nichts als Egoismus.«

Da fiel ein zweiter Tropfen.

»Wozu nützt ein Standbild, wenn es nicht einmal den Regen abhalten kann?« sagte er, »ich muß mich nach einem soliden Schornsteinaufsatz umsehen «, und er beschloß weiterzufliegen.

Doch ehe er seine Flügel ausgebreitet hatte, fiel ein dritter Tropfen, und er blickte auf und sah … Ah, was sah er?

Die Augen des glücklichen Prinzen waren voll Tränen, und Tränen strömten ihm über die goldenen Wangen. Sein Antlitz war so schön im Mondlicht, daß Mitleid die kleine Schwalbe erfüllte.

»Wer bist du?« fragte sie.

»Ich bin der glückliche Prinz.«

»Warum weinst du dann?« fragte die Schwalbe, »ich bin davon ganz naß geworden.«

»Als ich lebte und ein Menschenherz besaß«, erwiderte das Standbild, »wußte ich nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Schloß Sorgenlos, das kein Leid betreten darf. Am Tage spielte ich mit meinen Gespielen im Garten, und des Abends führte ich den Tanz im großen Saale an. Rings um den Garten lief eine sehr hohe Mauer; aber nie kam mir die Frage, was dahinter sein möge, denn alles um mich her war so schön. Die Herren vom Hofe nannten mich den glücklichen Prinzen, glücklich war ich fürwahr, wofern Freude Glück bedeutet. So lebte ich, so starb ich. Und nun, da ich tot bin, haben sie mich in solche Höhe hier heraufgestellt, daß ich alles sehen kann, was häßlich, alles, was jammervoll ist in meiner Stadt, und wenn ich auch ein bleiernes Herz habe – wie sollte ich nicht weinen?«

»Was, er ist nicht aus massivem Gold?« fragte sich die Schwalbe im stillen. Sie war zu höflich, um irgendwelche anzüglichen Bemerkungen laut auszusprechen.

»Weit entfernt von hier«, fuhr das Standbild mit leiser, melodischer Stimme fort, »weit entfernt von hier in einer kleinen Gasse steht ein ärmliches Haus. Eins der Fenster ist offen, und durch dieses Fenster kann ich eine Frau an einem Tische sitzen sehen. Ihr Gesicht ist mager und verhärmt, rauh und rot sind ihre Hände und ganz von der Nadel zerstochen, denn sie ist eine Näherin. Sie stickt Passionsblumen auf ein Atlaskleid, das die reizendste unter den Ehrendamen der Königin beim nächsten Hofball tragen will. In einer Ecke der Kammer liegt ihr kleiner Junge krank im Bett. Er fiebert und möchte so gerne Orangen. Seine Mutter aber hat nichts ihm zu geben als Wasser aus dem Fluß, und deshalb weint er. Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe, willst du ihr nicht den Rubin aus meinem Schwertknauf bringen? Meine Füße sind an dies Postament gefesselt, und ich kann nicht hinab.«

»Ich werde in Ägypten erwartet«, sagte die Schwalbe. »Meine Freunde fliegen den Nil auf und nieder und plaudern mit den prangenden Lotosblumen. Bald werden sie im Grabmal des großen Königs schlafen gehen. Der König selbst liegt dort unten in seinem buntbemalten Sarge. Er ist in ein gelbes Leintuch gewickelt und mit Wohlgerüchen einbalsamiert. Um seinen Nacken schlingt sich eine Kette von blaßgrüner Jade, und seine Hände sind wie welkes Laub.«

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht eine Nacht lang bei mir bleiben und mein Bote sein? Der Knabe verschmachtet, und der Mutter ist so bang.«

»Ich kann Jungen eigentlich gar nicht leiden«, entgegnete die Schwalbe. »An dem Flusse, wo ich vorigen Sommer wohnte, waren zwei ungezogene Jungen, die Müllerssöhne; die warfen immerfort mit Steinen nach mir. Sie haben mich natürlich nie getroffen, wir Schwalben fliegen dafür viel zu gut, und überdies stamme ich aus einer Familie, die wegen ihrer Hurtigkeit berühmt ist; es war aber doch ein Zeichen von Nichtachtung.« Aber der glückliche Prinz sah so traurig aus, daß es die kleine Schwalbe jammerte. »Es ist sehr kalt hier«, sagte sie, »doch ich will eine Nacht lang bei dir bleiben und dein Bote sein.«

»Danke, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz.

Also pickte die Schwalbe den großen Rubin aus des Prinzen Schwert, und den Edelstein im Schnabel, flog sie davon, über die Dächer der Stadt.

Sie kam am Turm der Kathedrale vorüber, von dem die weißen Marmorengel niederschauten. Sie kam am Schloß vorüber und hörte den Lärm des Balles. Ein schönes Mädchen trat mit seinem Anbeter auf den Altan hinaus. »Wie wunderreich die Sterne sind«, sagte er zu ihr, »und wie wunderreich ist die Macht der Liebe!«

»Hoffentlich wird mein Kleid rechtzeitig für den Hofball fertig«, antwortete sie. »Ich habe Auftrag gegeben, daß Passionsblumen daraufgestickt werden; aber die Näherinnen sind so faul.«

Die Schwalbe flog über den Fluß und sah die Laternen an den Masten der Schiffe hängen. Sie flog über das Getto und sah die alten Juden miteinander handeln und Geld auf kupfernen Waagschalen wägen. Endlich kam sie zu dem armen Häuschen und blickte hinein. Der Knabe warf sich fieberheiß im Bette hin und her, und die Mutter war eingeschlafen, sie war so müde. Durchs Fenster hinein hüpfte die Schwalbe und legte den großen Rubin auf den Tisch, neben den Fingerhut der Schlafenden. Dann umflog sie mit weichen Flügelschlägen das Bett, und ihre Schwingen fächelten des Knaben Stirn. »Wie kühl mir ist«, sagte der Knabe, »ich glaube, nun werde ich gesund.« Und er sank in einen erquickenden Schlummer.

Darauf flog die Schwalbe zurück zu dem glücklichen Prinzen und erzählte ihm, was sie getan hatte. »Es ist sonderbar«, bemerkte sie, »aber mich friert jetzt gar nicht mehr, obwohl es so kalt ist.«

»Das kommt, weil du eine gute Tat getan hast«, sagte der Prinz. Und die kleine Schwalbe begann darüber nachzudenken, und dann schlief sie ein. Denken machte sie immer schläfrig.

Als es tagte, flog sie hinab zum Fluß und nahm ein Bad. »Welch bemerkenswertes Phänomen!« sagte der Professor der Ornithologie, der eben über die Brücke ging. »Eine Schwalbe im Winter!« Und er schrieb über diesen Gegenstand einen langen Artikel für die Lokalzeitung. Jedermann zitierte ihn, er war voll so vieler Wörter, die niemand verstand.

»Heute abend reise ich nach Ägypten«, sagte der kleine Vogel, und er fühlte sich ganz angeregt von dieser Aussicht. Er besuchte alle Denkmäler und bedeutenden Bauten der Stadt und saß lange auf der Kirchturmspitze. Wo er auch hinkam, überall riefen die Spatzen zwitschernd einander zu: »Was für ein vornehmer Fremder!« So unterhielt sich die Schwalbe ganz ausgezeichnet.

Als der Mond aufging, flog sie zurück zu dem glücklichen Prinzen. »Soll ich in Ägypten etwas für dich ausrichten?« rief sie. »Ich breche jetzt auf.«

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht diese eine Nacht noch bei mir bleiben?«

»Ich werde in Ägypten erwartet«, antwortete die Schwalbe. »Morgen fliegen meine Freunde hinauf zum zweiten Katarakt. Das Nilpferd ruht dort zwischen den Binsen, und auf einem großen granitenen Throne sitzt der Gott Memnon. Die ganze Nacht hindurch schaut er nach den Sternen, und wenn das Morgengestirn aufgeht, stößt er einen einzigen tönenden Jubelschrei aus und schweigt dann wieder still. Zu Mittag kommen die gelben Löwen herab zum Ufersaum, um zu trinken. Sie haben Augen gleich grünen Beryllen, und ihr Gebrüll ist mächtiger als das Brüllen des Katarakts.«

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »weit entfernt von hier, am Ende der Stadt, sehe ich einen jungen Mann in einer Dachkammer. Er beugt sich über ein Schreibpult, das mit Papieren bedeckt ist, und ein Bund verdorrter Veilchen steht neben ihm in einem Wasserglas. Sein Haar ist braun und gelockt, und er hat große verträumte Augen, und seine Lippen sind wie ein Granatapfel rot. Er müht sich, ein Stück für den Theaterdirektor zu vollenden, aber er friert so sehr, daß er nicht weiterschreiben kann. Kein Feuer brennt in seinem Kamin, und der Hunger hat ihn entkräftet.«

»Ich will diese eine Nacht noch bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, die wirklich ein gutes Herz hatte. »Soll ich ihm auch einen Rubin bringen?«

»Ach nein, ich habe keinen Rubin mehr«, sagte der Prinz, »meine Augen sind alles, was mir geblieben ist. Sie sind aus köstlichen Saphiren gemacht, die man vor tausend Jahren aus Indien hergebracht hat. Reiß eines von ihnen aus und trag es zu ihm hin. Er wird den Edelstein zum Goldschmied bringen und Nahrung und Feuerholz kaufen und sein Stück vollenden.«

»Lieber Prinz«, sagte die Schwalbe, »das kann ich nicht.« Und sie begann zu weinen.

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »tu, wie ich dich heiße.«

Also riß die Schwalbe des Prinzen eines Auge aus und flog fort zur Dachkammer des Studenten. Es war leicht genug, hineinzugelangen, denn das Dach hatte ein Loch. Da hindurch schoß sie und kam in die Kammer. Der junge Mann hatte den Kopf in den Händen vergraben; so hörte er das Flattern der Vogelschwingen nicht, und als er aufsah, fand er den schönen Saphir, der auf den verdorrten Veilchen lag.

»Man beginnt mich anzuerkennen«, rief er, »dies hier kommt gewiß von einem großen Bewunderer. Nun kann ich mein Stück vollenden«, und er sah ganz glücklich aus.

Am nächsten Tage flog die Schwalbe hinunter zum Hafen. Sie saß auf dem Mast eines gewaltigen Schiffes und sah zu, wie die Matrosen schwere Kisten an Tauen aus dem Schiffsleib hochwanden. »Hievt, a-hoi! a-hoi!« schrien sie bei jeder Kiste, die sie aufhievten. »Ich reise nach Ägypten!« rief die Schwalbe; aber niemand beachtete sie, und als der Mond aufging, flog sie zurück zu dem glücklichen Prinzen.

»Ich bin gekommen, dir Lebewohl zu sagen«, rief sie.

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »willst du nicht diese eine Nacht noch bei mir bleiben?«

»Es ist Winter«, antwortete die Schwalbe, »und der eisige Schnee wird bald dasein. In Ägypten scheint die Sonne warm auf die grünen Palmenbäume, und die Krokodile liegen im Schlamm und blicken träge um sich. Meine Gefährten bauen ein Nest im Tempel von Baalbek, und die weiß- und rosenfarbenen Tauben sehen ihnen zu, und eine gurrt der andern Zärtlichkeiten. Lieber Prinz, ich muß Abschied nehmen, aber ich will dich nie vergessen, und im nächsten Frühling bringe ich dir zwei schöne Edelsteine statt derer, die du weggegeben hast.

Der Rubin soll röter sein als eine rote Rose, und der Saphir so blau wie die weite See.«

»Auf dem Platze unten«, sagte der glückliche Prinz, »steht ein kleines Mädchen und verkauft Streichhölzer. Sie hat ihre Hölzchen in die Gosse fallen lassen, und sie sind ganz verdorben.

Ihr Vater wird sie schlagen, wenn sie kein Geld nach Hause bringt, und darum weint sie. Sie hat nicht Strümpfe noch Schuhe, und ihr Köpfchen ist bloß. Reiß mein anderes Auge aus und gib es ihr, und ihr Vater wird sie nicht schlagen.« »Ich will diese eine Nacht noch bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, »aber ich kann dir das Auge nicht ausreißen. Du wärest dann ja ganz blind.«

»Schwalbe, Schwalbe, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »tu, wie ich dich heiße.«

Da riß sie des Prinzen anderes Auge aus und stieß damit hinab auf den Platz. Sie schwirrte an dem Streichholzmädchen vorbei und ließ das Juwel in ihre Hand gleiten. »Was für ein hübsches Stückchen Glas!« rief die Kleine; und lachend lief sie heim.

Dann kam die Schwalbe zurück zu dem Prinzen. »Du bist nun blind«, sagte sie, »so will ich immerdar bei dir bleiben.«

»Nein, kleine Schwalbe«, sagte der arme Prinz, »du mußt nach Ägypten reisen.«

»Ich will immerdar bei dir bleiben«, sagte die Schwalbe, und zu Füßen des Prinzen schlief sie ein.

Den ganzen folgenden Tag saß sie auf des Prinzen Schulter und erzählte ihm von allerlei Seltsamem, das sie in fremden Landen geschaut hatte. Sie erzählte ihm von den roten Ibissen, die in langen Reihen an den Ufern des Niles stehen und mit ihren Schnäbeln Goldfische fangen; von der Sphinx, die so alt ist wie die Welt und in der Wüste lebt und jedes Ding weiß; von den Kaufleuten, die gemessenen Schrittes zur Seite ihrer Kamele gehen und Rosenkränze aus Bernstein in den Händen tragen; von dem König der Mondberge, der schwarz ist wie Ebenholz und einen riesigen Kristall anbetet; von der großen grünen Schlange, die in einem Palmbaum schläft und zwanzig Priester um sich hat, ihr zu dienen und sie mit Honigkuchen zu füttern; und von den Pygmäen, die über einen großen See auf flachen breiten Blättern segeln und allzeit im Krieg liegen mit den Schmetterlingen.

»Liebe kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »du erzählst mir von wundersamen Dingen, aber wundersamer als alles in der Welt ist das Menschenleid. Kein Wunder ist so tief wie die Wunden des Elends. Flieg über meine Stadt, kleine Schwalbe, und erzähl mir, was du dort siehst.«

So flog die kleine Schwalbe über die große Stadt und sah, wie sich’s die Reichen in ihren schönen Häusern wohl sein ließen, indes die Bettler draußen an den Toren saßen. Sie flog in dunkle Gassen und sah die weißen Gesichter hungernder Kinder, die unfroh auf die düsteren Straßen blickten. Unter einem Brückenbogen lagen zwei kleine Jungen, einer in des andern Arm geschmiegt, um sich zu wärmen. »Wir haben solchen Hunger!« sagten sie. »Ihr dürft hier nicht liegen!« brüllte der Wächter, und sie gingen hinaus in den Regen.

Da flog die Schwalbe zurück und erzählte dem Prinzen, was sie gesehen hatte.

»Ich bin mit feinem Golde bedeckt«, sagte der Prinz, »das sollst du abheben, Blatt um Blatt, und meinen Armen geben; die Lebenden meinen, daß Gold sie glücklich machen könne.« Blatt für Blatt des feinen Goldes pickte die Schwalbe ab, bis der glückliche Prinz ganz stumpf und grau aussah. Blatt für Blatt des feinen Goldes brachte sie den Armen, und die Wangen der Kinder erblühten, und sie lachten und spielten ihre Spiele auf den Straßen. »Nun haben wir Brot!« riefen sie.

Dann kam der Schnee, und nach dem Schnee kam der Frost. Die Straßen sahen aus, als wären sie aus Silber geschmiedet, so hell glitzerten sie; lange Eiszapfen, kristallenen Dolchen gleich, hingen von den Dächern der Häuser, alle Welt ging in Pelzen einher, und die kleinen Jungen trugen rote Wollkappen und liefen Schlittschuh auf dem Eise.

Die arme kleine Schwalbe fror und fror immer ärger, aber sie wollte den Prinzen nicht verlassen, dazu hatte sie ihn zu lieb. Sie pickte Krumen vor der Tür des Bäckers auf, wenn der Bäcker nicht hinsah, und suchte sich zu wärmen, indem sie mit den Flügeln schlug.

Endlich aber erkannte sie, daß sie sterben müsse. Sie hatte gerade noch Kraft genug, sich noch einmal auf des Prinzen Schulter zu schwingen. »Leb wohl, lieber Prinz!« sagte sie leise, »darf ich deine Hand küssen?«

»Ich freue mich, daß du endlich nach Ägypten reisest, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz, »du bist schon viel zu lange hiergeblieben; aber du mußt mich auf die Lippen küssen, denn ich liebe dich.«

»Nicht nach Ägypten reise ich«, sagte die Schwalbe, »ich reise zum Haus des Todes. Der Tod ist der Bruder des Schlafes, ist’s nicht so?«

Und sie küßte den glücklichen Prinzen auf die Lippen und fiel tot zu seinen Füßen nieder.

In diesem Augenblick tönte aus dem Innern des Standbildes ein seltsames Knacken, als ob etwas zerbrochen wäre. Und wirklich, das bleierne Herz war mitten entzweigesprungen. Es war ja auch eine grimmig kalte Nacht.

Früh am nächsten Morgen ging der Bürgermeister mit den Ratsherren unten über den Platz. Als sie an der Säule vorbeikamen, blickte er hinauf zu dem Standbild. »Ach, du liebe Zeit! Wie armselig der glückliche Prinz aussieht!« sagte er. »Gewiß, wie armselig!« riefen die Ratsherren, die stets einer Meinung mit dem Bürgermeister waren; und sie stiegen hinauf, um den Schaden von der Nähe zu besehen.

»Der Rubin ist aus seinem Schwert gefallen, die Augen sind weg, und er ist gar nicht mehr golden«, sagte der Bürgermeister. »Er sieht buchstäblich kaum besser aus als ein Bettler.«

»Kaum besser als ein Bettler«, sagten die Ratsherren. »Und hier liegt wahrhaftig ein toter Vogel vor seinen Füßen!« fuhr der Bürgermeister fort. »Wir müssen tatsächlich eine Verordnung erlassen, daß es Vögeln verboten ist, hier zu sterben.« Und der Stadtschreiber notierte sich diesen Hinweis. Also wurde das Standbild des glücklichen Prinzen herabgeholt. »Da er nicht mehr schön ist, ist er nicht mehr nützlich«, sagte der Kunstprofessor der Universität.

Darauf schmolzen sie das Standbild in einem Schmelzofen, und der Bürgermeister hielt eine Sitzung mit dem Stadtrat ab, um zu entscheiden, was mit dem Metall geschehen solle. »Wir

müssen selbstverständlich ein neues Standbild haben«, sagte er, »und das soll mein eigenes Standbild sein.« »Mein eigenes«, sagte jeder der Ratsherren, und sie zankten sich und stritten. Als ich zuletzt von ihnen hörte, stritten sie sich noch immer.

»Ist das aber merkwürdig!« sagte der Werkmeister in der Schmelzhütte. »Dieses zerbrochene Herz will im Ofen nicht schmelzen. Wir müssen es wegwerfen.« So warfen sie es auf einen Kehrichthaufen, auf dem auch die tote Schwalbe lag. »Bring mir die beiden kostbarsten Dinge dieser Stadt«, sagte Gott zu einem seiner Engel; und der Engel brachte ihm das bleierne Herz und den toten Vogel.

»Du hast recht gewählt«, sagte Gott, »denn in meinem Paradiesgarten soll der kleine Vogel singen für und für, und in meiner goldenen Stadt soll der glückliche Prinz mich lobpreisen.«