24. Kapitel


24. Kapitel

Eine Gerichtsverhandlung

Richard weihte Mr. Jarndyce in seinen Gemütszustand ein, kurz nachdem er mit mir das bereits erwähnte Gespräch gehabt hatte. Ich bezweifle, daß mein Vormund durch die Mitteilung besonders überrascht war, aber sie bereitete ihm viel Sorge und Enttäuschung. Er und Richard waren oft noch spät abends und bereits früh morgens wieder miteinander eingeschlossen und verbrachten ganze Tage in London, hatten unzählige Zusammenkünfte mit Mr. Kenge und arbeiteten sich durch eine große Menge unangenehmer Geschäfte hindurch. Trotz alledem war mein Vormund, obgleich er sehr unter der Windrichtung litt und seinen Kopf so beständig rieb, daß kein einziges Haar auch nur einen Augenblick auf seiner rechten Stelle blieb, zu mir und Ada so freundlich wie immer, beobachtete aber über diese Angelegenheiten das strengste Stillschweigen, und da wir trotz angestrengtesten Bemühens aus Richard nur die allgemeine Versicherung herausbringen konnten, daß alles vortrefflich gehe und jetzt wirklich im richtigen Geleise sei, so wurden unsere Besorgnisse durch ihn nicht sehr vermindert.

Wir erfuhren im Verlauf der Zeit, daß man im Namen Richards, als Mündel oder als Unmündiger oder ich weiß nicht als was sonst, eine Eingabe an den Lordkanzler gemacht und lange hin- und hergeredet hatte und daß der Lordkanzler ihn in offener Gerichtssitzung ein beschwerliches und launisches Mündel genannt habe und daß man die Sache vertagte und wieder vertagte und weiter verwies und darüber Bericht erstattete und darum petitionieren ließ, bis Richard zu zweifeln anfing, wie er uns sagte, ob er, wenn er überhaupt je in die Armee eintreten könne, dann nicht ein Veteran von siebzig oder achtzig Jahren sein werde. Endlich lud ihn der Lordkanzler zu einer Besprechung in seinem Privatbureau ein und warf ihm dort ernstlich vor, daß er nicht wisse, was er wolle, und die Zeit vertrödle. »Ein wirklich guter Witz, wenn er aus solchem Munde kommt, sollte ich meinen«, sagte Richard.

Endlich wurde seine Eingabe bewilligt. Sein Name wurde im Armeekommando unter den Bewerbern um ein Fähnrichspatent bei der Garde eingeschrieben. Die Gebühr wurde deponiert, und Richard warf sich in seiner gewohnten charakteristischen Art mit Leidenschaft auf militärische Studien und stand jeden Morgen früh um fünf Uhr auf, um sich im Säbelfechten zu üben.

Ferienzeit folgte auf Gerichtssession und Gerichtssession auf Ferienzeit. Wir hörten manchmal vom Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce, daß er auf der Liste stehe oder von der Liste gestrichen sei, daß er daran komme und auch daran kam und dann wieder vorbei war. Richard, der jetzt bei einem ihm Unterricht erteilenden Lehrer in London wohnte, konnte uns weniger häufig besuchen als früher. Mein Vormund beobachtete immer noch dieselbe Zurückhaltung, und so verging die Zeit, bis das Patent kam und Richard Ordre erhielt, sich zu seinem Regiment nach Irland zu begeben.

Er traf eines Abends mit dieser Nachricht in der größten Eile ein und hatte eine lange Konferenz mit meinem Vormund.

Über eine Stunde verging; dann steckte mein Vormund den Kopf in das Zimmer, wo Ada und ich saßen, und sagte: »Kommt einmal herein, liebe Kinder.« Wir traten ein und fanden Richard, den wir noch vor kurzem in bester Laune gesehen, mit gekränktem und erzürntem Gesicht am Kamin lehnen.

»Rick und ich, Ada«, erklärte uns Mr. Jarndyce, »sind nicht ganz einer Meinung. Komm, komm, Rick, mach ein freundlicheres Gesicht dazu.«

»Du bist sehr hart gegen mich«, sagte Richard. »Um so härter, als du doch in jeder andern Hinsicht so nachsichtig gewesen bist und für mich getan hast, was ich nie gebührend anerkennen kann. Ich wäre ohne dich nie in Ordnung gekommen.«

»Schon gut, schon gut«, sagte Mr. Jarndyce. »Ich möchte dich aber noch mehr in Ordnung bringen. Ich möchte dich mit dir selbst in Ordnung bringen.«

»Ich hoffe, du wirst entschuldigen, wenn ich sage, daß ich mir selbst das beste Urteil über mich zutraue«, erwiderte Richard sehr lebhaft, aber mit aller Ehrerbietung.

»Ich hoffe, du wirst entschuldigen, lieber Rick, wenn ich sage«, bemerkte Mr. Jarndyce mit größter Freundlichkeit und in bester Laune, »daß ich es ganz natürlich finde, wenn du dieser Meinung bist, daß ich aber anders denke. Ich muß meine Pflicht tun, Rick, sonst würdest du bei kaltem Blut keine gute Meinung von mir haben, und ich hoffe, du wirst stets gut von mir denken. Bei kaltem oder bei heißem Blut.«

Ada war so blaß geworden, daß er sie in seinen Lehnstuhl drückte und sich neben sie setzte.

»Es ist nichts, liebes Kind«, beruhigte er sie. »Es ist nichts. Rick und ich hatten nur in aller Freundschaft einen kleinen Meinungsaustausch, den wir dir mitteilen müssen, denn um dich handelt es sich. Es ist dir gewiß bange vor dem, was jetzt kommen soll?«

»Gewiß nicht, Vetter John«, entgegnete Ada lächelnd, »da es doch von dir kommt.«

»Ich danke dir, liebes Kind. Schenke mir eine Minute Aufmerksamkeit, ohne Rick anzusehen, und du, Mütterchen, tust desgleichen.«

»Mein liebes Kind«, er legte seine Hand auf die Adas auf der Armlehne des Stuhls, »erinnerst du dich noch des Gesprächs unter uns vieren? Als das Mütterchen mir etwas von einer gewissen kleinen Liebesgeschichte erzählte?«

»Es ist nicht gut möglich, daß Richard oder ich jemals vergessen könnten, wie gut du an jenem Tage zu uns warst, Vetter John.«

»Ich kann es nie vergessen«, rief Richard.

»Und ich auch nicht«, sagte Ada.

»So ist das, was ich zu sagen habe, desto leichter, und desto leichter werden wir uns verständigen.« Das Gesicht meines Vormunds strahlte vor Herzensgüte. »Ada, mein liebes Kind, du mußt wissen, daß Rick jetzt zum letzten Mal seinen Beruf gewählt hat. Das ganze Vermögen, das er zu bekommen hat, wird vollständig verbraucht sein, wenn er equipiert ist. Er hat damit alle seine Hilfsquellen erschöpft und ist von jetzt an an den Baum gebunden, den er gepflanzt hat.«

»Es ist ganz richtig, daß ich meine gegenwärtigen Hilfsquellen erschöpft habe, und ich bin ganz zufrieden, es zu wissen. Aber was ich zu bekommen habe«, sagte Richard, »ist nicht alles, was ich besitze.«

»Rick, Rick!« rief mein Vormund mit einer ganz veränderten Stimme und fuhr mit plötzlichem Entsetzen mit den Händen empor, als wollte er sich die Ohren zuhalten. »Um Gottes willen, erhoffe oder erwarte nichts von diesem Familienfluch! Was du immer auf dieser Seite des Grabes tun magst, niemals schenke diesem furchtbaren Phantom, das uns so viele Jahre verfolgt hat, auch nur einen einzigen sehnsüchtigen Blick. Viel besser zu borgen, betteln zu gehen oder zu sterben.«

Der leidenschaftliche Ton in seiner Warnung erschreckte uns alle. Richard biß sich in die Lippen und hielt den Atem an und sah mich an, als ob er wüßte, daß auch ich fühlte, wie sehr er der Warnung bedürfte.

»Meine liebe Ada«, sagte Mr. Jarndyce und gewann seinen fröhlichen Gleichmut wieder, »das sind starke Worte, aber ich lebe in Bleakhaus und habe hier manches mitansehen müssen. Genug davon. Alles, was Richard zur Begründung einer Laufbahn im Leben besitzt, steht jetzt auf dem Spiel. Ich empfehle ihm und dir, seinet- und deinetwillen, von uns mit der Gewißheit zu scheiden, daß euch keinerlei Verpflichtung mehr aneinander bindet. Ich muß noch weiter gehen. Ich will offen gegen euch beide sein. Ihr sollt mir rückhaltlos vertrauen, und ich will auch in euch rückhaltloses Vertrauen setzen. Ich bitte euch für jetzt, jedes andre Band als das eurer Verwandtschaft zu vergessen.«

»Sag doch lieber gleich heraus, daß du kein Vertrauen mehr zu mir hast und Ada rätst, deinem Beispiel zu folgen.«

»Ich kann das nicht sagen, weil ich es nicht meine.«

»Aber du denkst dir, ich hätte schlecht angefangen! Ich habe es, das weiß ich.«

»Wie ich hoffte, daß du anfangen und fortfahren mögest, sagte ich dir bereits damals, als wir zuletzt von diesen Dingen sprachen«, erwiderte Mr. Jarndyce in herzlichem und ermutigendem Tone. »Du hast diesen Anfang noch nicht gemacht; aber jedes Ding braucht seine Zeit, und deine ist noch nicht vorbei, oder vielmehr, sie ist noch gar nicht gekommen. Schlage eine neue Seite auf und beginne. Ihr beide seid noch sehr jung und seid Verwandte. Bis jetzt seid ihr euch weiter nichts. Was weiter kommen soll, muß eine Frucht deiner eignen Anstrengungen sein, Rick.«

»Du bist sehr hart gegen mich, Vetter, härter, als ich von dir erwartet hätte.«

»Mein lieber Junge, ich bin noch härter gegen mich selbst, wenn ich etwas tue, was dir Schmerz bereitet. Du hast das Heilmittel selbst in deiner Hand. Ada, es ist besser für ihn, daß er frei ist und daß du nicht mit ihm von Jugend auf verlobt bist. Rick, es ist besser für sie, viel besser. Du bist es ihr schuldig. Kommt! Ihr werdet doch beide tun, was das Beste für den andern ist!«

»Warum ist es so am besten?« wendete Richard hastig ein. »Als wir dir unser Herz ausschütteten, war es nicht so. Du sprachst damals anders.«

»Seitdem habe ich Erfahrungen gemacht. Ich tadle dich durchaus nicht, Rick, aber ich habe Erfahrungen gemacht.«

»Du meinst, in bezug auf mich?«

»Hm! Ja. In bezug auf euch beide«, sagte Mr. Jarndyce gütig.

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo ihr euch einander versprechen sollt. Es ist nicht recht, und ich darf nicht damit einverstanden sein. Folgt mir, meine lieben Kinder, und fangt von neuem an. Laßt geschehen sein und wendet eine neue Seite um in euerm Leben.«

Richard betrachtete Ada gespannt, sagte aber kein Wort.

»Ich habe bis jetzt vermieden, gegen euch beide oder gegen Esther eine Silbe darüber zu äußern, damit wir so offen wie der Tag sein und auf gleichem Fuß miteinander stehen können. Ich rate euch nun auf das innigste und bitte euch aufs eindringlichste, so voneinander zu scheiden, wie ihr hierher gekommen seid. Überlaßt alles übrige der Zeit, der Treue und der Standhaftigkeit. Wenn ihr anders handelt, tut ihr Unrecht und verflechtet mich mit in das Unrecht. Denn ich war es, der euch zusammengebracht hat.«

Eine lange Pause folgte.

»Richard«, sagte Ada und sah ihn mit ihren blauen Augen zärtlich an.

»Nach dem, was unser Vetter vorhin gesagt hat, bleibt uns, glaube ich, keine Wahl. Meinetwegen kannst du ganz ruhig sein, denn du läßt mich hier unter seiner Obhut zurück und kannst überzeugt sein, daß mir nichts zu wünschen bleibt, wenn ich mich nach seinem Rate richte. Ich –ich bezweifle nicht, Vetter Richard«, sagte Ada ein wenig verwirrt, »daß du mich sehr lieb hast, und ich – ich glaube nicht, daß du dich in eine andre verlieben wirst. Aber ich möchte doch, du überlegtest dir es ordentlich, da ich dich vor allem glücklich zu sehen wünsche. Auf mich kannst du vertrauen, Vetter Richard. Ich bin ganz und gar nicht flatterhafter Natur, aber auch nicht unverständig, und würde dich niemals tadeln. Selbst Verwandten kann es leid tun, voneinander scheiden zu müssen, und in Wahrheit tut es mir sehr, sehr leid, Richard, wenn ich auch weiß, daß es nur zu deinem Besten geschieht. Ich werde immer mit Liebe an dich denken und oft von dir mit Esther sprechen, und – und vielleicht wirst du auch manchmal ein klein wenig an mich denken, Vetter Richard. Also«, sagte Ada, trat zu ihm und reichte ihm ihre zitternde Hand, »jetzt sind wir wieder bloß Kusin und Kusine, Richard. Vielleicht bloß für jetzt – und ich bete um Gottes Segen für meinen lieben Vetter Richard, wohin er auch gehen mag.«

Es kam mir seltsam vor, daß Richard nie imstande war, meinem Vormund zu verzeihen, daß dieser ganz dieselbe Meinung von ihm hegte, der er mir gegenüber doch selbst in viel stärkerem Maße Worte gegeben hatte. Mit großem Bedauern bemerkte ich, daß er von dieser Stunde an nie wieder so frei und offen Mr. Jarndyce entgegenkam wie früher. Er hätte jede Ursache gehabt, es zu sein, aber er war es nicht, und eine einseitige Entfremdung griff zwischen ihnen Platz.

Über den Reisevorbereitungen und was damit zusammenhing vergaß er bald sich selbst und sogar seinen Schmerz, von Ada zu scheiden, die in Hertfordshire zurückblieb, während er, Mr. Jarndyce und ich uns für eine Woche nach London begaben. Dann und wann gedachte er ihrer allerdings mit heißen Tränen, und zu solchen Zeiten schüttete er mir sein Herz aus und überhäufte sich mit schwersten Selbstanklagen. Aber schon ein paar Minuten später wieder baute er sich Luftschlösser, in denen sie beide immer reich und glücklich und so fröhlich wie möglich werden sollten. Es war eine geschäftige Zeit, und ich lief mit ihm den ganzen Tag herum, um eine Menge Sachen zu kaufen, die er notwendig brauchte. Von all den Dingen, die er angeschafft haben würde, wenn man ihn sich selbst überlassen hätte, will ich gar nicht sprechen. Er war voll Vertrauen zu mir und sprach oft so vernünftig und gefühlvoll von seinen Fehlern und seinem festen Entschluß und schöpfte soviel Mut aus diesen Gesprächen, daß ich ihrer nie müde geworden wäre, auch wenn ich es versucht hätte.

In jener Woche kam außerordentlich häufig ein Mann zu uns, der früher Kavallerist gewesen, und erteilte Richard Fechtunterricht. Er war ein hübscher, kräftig aussehender Mensch von offenem, freiem Wesen. Richard hatte schon seit einigen Monaten Lektionen bei ihm genommen. Ich hörte soviel von ihm, nicht bloß von Richard, sondern auch von meinem Vormund, daß ich absichtlich eines Morgens nach dem Frühstück zu Hause blieb, als er kam.

»Guten Morgen, Mr. George«, begrüßte ihn mein Vormund, der gerade mit mir allein im Zimmer war. »Mr. Carstone kommt gleich. Unterdessen wird es Miß Summerson hier ein großes Vergnügen machen, Sie kennenzulernen, wie sie mir sagt. Bitte nehmen Sie Platz.«

Der Mann setzte sich, ein wenig verlegen wegen meiner Anwesenheit, wie mir schien, und fuhr sich mit seiner schweren sonnenverbrannten Hand wiederholt über seine Oberlippe, ohne mich anzusehen.

»Sie sind so pünktlich wie die Sonne, Mr. George.«

»Militärisch, Sir, Sache der Gewohnheit. Eine reine Angewohnheit bei mir, Sir, kein Geschäftseifer.«

»Aber Sie haben ein großes Etablissement, wie ich höre.«

»Es ist nicht so schlimm, Sir. Nur einen Scheibenstand. Es ist nicht viel dahinter.«

»Und wie macht sich Mr. Carstone als Schütze und als Fechter?«

»Recht gut, Sir«, antwortete Mr. George und kreuzte die Arme auf seiner breiten Brust, was ihm ein riesenhaftes Aussehen verlieh. »Wenn Mr. Carstone sich der Sache mit ganzer Seele widmen wollte, könnte er sehr Tüchtiges leisten.«

»Aber das ist wohl nicht der Fall?«

»Anfangs tat er es, Sir, aber dann ließ er nach. Er ist nicht mehr recht bei der Sache. Vielleicht hat er etwas anderes auf dem Herzen, eine junge Dame vielleicht.« Seine glänzenden dunkeln Augen blickten mich jetzt zum ersten Mal an.

»Mich hat er nicht auf dem Herzen, das versichere ich Ihnen, Mr. George«, sagte ich lachend, »wenn Sie mich auch im Verdacht zu haben scheinen.«

Das sonnengebräunte Gesicht des Kavalleristen errötete ein wenig, und er machte mir eine militärische Verbeugung. »Nichts für ungut, Miß. Ich bin einer von den Ungehobelten.«

»Aber es ist doch nur ein Kompliment, Mr. George.«

Wenn er früher kaum aufgeblickt hatte, so sah er mich jetzt drei oder vier Mal rasch hintereinander aufmerksam an.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte er mit einer gewissen männlichen Art von Schüchternheit zu meinem Vormund. »Aber Sie erwiesen mir die Ehre, mir den Namen der jungen Dame zu nennen…«

»Miß Summerson.«

»Miß Summerson!« wiederholte er und sah mich wieder an.

»Kennen Sie den Namen?« fragte ich.

»Nein, Miß. Soviel ich weiß, habe ich ihn nie gehört. Ich glaube nur, Sie irgendwo gesehen zu haben.«

»Das kann nicht gut sein«, entgegnete ich, blickte von meiner Arbeit auf und sah ihn an. Es lag soviel Treuherzigkeit in seiner Rede und seinem Benehmen, daß mir die Gelegenheit ganz lieb war. »Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«

»Ich auch, Miß.«

Er wandte mir seine dunkeln Augen und seine breite Stirn zu. »Hm! Wie komme ich nur auf den Gedanken?«

Da sein braunes Gesicht wieder errötete und er sich vergeblich bemühte, in seiner Erinnerung zu suchen, entschloß sich mein Vormund, ihm herauszuhelfen.

»Haben Sie viele Schüler, Mr. George?«

»Manchmal ja, manchmal nicht, Sir. Meistens sind’s recht wenige, um davon zu leben.«

»Und was für Leute besuchen Ihre Galerie, um sich zu üben?«

»Leute aller Art, Sir. Hiesige und Fremde. Vom Gentleman herab bis zum Kommis. Sogar Französinnen habe ich schon unterrichtet, und sie haben sich als geschickte Pistolenschützen gezeigt. Natürlich auch eine Menge Verrückte, aber die gehen ja überallhin, wo eine Tür offen steht.«

»Ich will doch nicht hoffen, daß Leute mit Racheplänen, um Ihre Lektionen mit dem Schießen nach lebendigen Zielscheiben zu beendigen, zu Ihnen kommen?« fragte mein Vormund lächelnd.

»Das geschieht wohl selten, Sir, ist aber auch schon vorgekommen. Die meisten treiben’s bloß der Übung wegen oder aus Langeweile. Sechs von der einen und ein halbes Dutzend von der andern Sorte. Ich bitte um Verzeihung, Sir.« Er setzte sich aufrecht und stützte seine Hände, die Ellbogen nach außen gedreht, auf seine Knie. »Ich glaube, Sie haben einen Kanzleigerichtsprozeß, wenn ich recht gehört habe?«

»Es tut mir leid, die Frage bejahen zu müssen.«

»Mich hat auch einer Ihrer Leidensgenossen besucht, Sir.«

»Partei in einem Prozeß? Wie ging das zu?«

»Nun. Der Mann war so verfolgt, gepeinigt und gemartert, weil sie ihn von Pontius zu Pilatus und von Pilatus zu Pontius schickten«, sagte Mr. George, »daß er ein wenig verrückt wurde. Ich glaube nicht, daß er auf jemand Bestimmten schießen wollte, aber er war so voll Zorn und Wut manchmal, wenn er kam, daß er für fünfzig Schüsse bezahlte und drauflos feuerte, bis er förmlich glühte. Aber eines Tages, als ich mit ihm allein war und er mir ganz zornig von allem, was ihm Unrechtes geschehen, erzählt hatte, sagte ich zu ihm: ‚Wenn dieses Schießen für Sie eine Erleichterung bedeutet, Kamerad, ist’s ja gut, aber es will mir nicht besonders gefallen, daß Sie immer in Ihrem gegenwärtigen Gemütszustand so darauf versessen sind, Kamerad. Ich möchte Ihnen lieber raten, sich dann mit etwas anderm zu befassen !‘ Er wurde so leidenschaftlich, daß ich schon einen Schlag parieren wollte, aber er nahm es verhältnismäßig gut auf und ließ es gleich sein. Wir haben uns dann die Hände geschüttelt und sind so eine Art Freunde geworden.«

»Was war das für ein Mann?« fragte mein Vormund mit sichtlicher Teilnahme.

»Bevor sie einen wilden Stier aus ihm gemacht haben, war er ein kleiner Landwirt in Shropshire.«

»Hieß er Gridley?«

»Jawohl, Sir.«

Mr. George sah mich ein paar Mal rasch hintereinander aufmerksam an, während mein Vormund und ich, überrascht über das Zusammentreffen, ein paar Worte zusammen sprachen, und ich erklärte ihm daher, woher wir den Namen des Mannes kannten. Zum Dank für meine Herablassung, wie er es nannte, machte er mir wieder eine seiner militärischen Verbeugungen.

»Ich weiß nicht«, sagte er und sah mich an, »was mich wieder auf diese Gedanken bringt, aber – ba, wo mein Kopf nur wieder hinaus will.«

Er fuhr sich mit seiner schweren Hand über sein kurzgelocktes schwarzes Haar, als wollte er seine Gedanken wegwischen, und saß, ein wenig vorwärts gebeugt, den einen Arm in die Seite gestemmt, den andern auf seinen Schenkel gelegt, da und starrte, in dieses Sinnen verloren, auf den Fußboden.

»Ich habe zu meinem Bedauern gehört, daß Gridley infolge seiner Gemütsverfassung wieder in neuerliche Ungelegenheiten geraten ist und sich versteckt hält«, sagte mein Vormund.

»Ich habe es auch gehört, Sir«, bestätigte Mr. George, immer noch nachdenklich auf den Boden starrend. »Ich habe es auch gehört.«

»Wissen Sie nicht, wo er ist?«

»Nein, Sir«, antwortete der Kavallerist, erwachte jetzt aus seinem Brüten und blickte wieder auf. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Ich fürchte, es wird bald aus mit ihm sein. Man kann viele Jahre an dem Herzen eines starken Mannes herumfeilen, aber endlich bricht es doch.«

Die Ankunft Richards brach das Gespräch ab. Mr. George stand auf, machte mir wieder eine militärische Verbeugung, wünschte meinem Vormund guten Tag und schritt gewichtig zur Tür hinaus.

Das war an dem Morgen des Tages, wo Richard abreisen sollte. Wir hatten keine Einkäufe mehr zu besorgen. Mit dem Einpacken war ich schon zeitig vormittags fertig geworden, und wir waren frei bis zum Abend, wo er über Liverpool nach Holyhead abreisen sollte. Da »Jarndyce kontra Jarndyce« wieder verhandelt werden sollte, schlug mir Richard vor, mit ihm den Gerichtshof zu besuchen und der Sitzung beizuwohnen. Da es sein letzter Tag war, ihm viel an dem Gange zu liegen schien und ich überdies niemals dort gewesen war, gingen wir zusammen nach Westminster, wo damals der Gerichtshof seine Versammlungen abhielt. Unterwegs unterhielten wir uns mit Verabredungen, wie oft wir uns schreiben wollten, und mit vielen hoffnungsvollen Plänen. Mein Vormund wußte, wo wir hingingen, und begleitete uns daher nicht.

Als wir den Gerichtshof erreichten, sahen wir den Lordkanzler – denselben, den ich damals in seinem Privatzimmer in Lincoln’s-Inn gesprochen hatte – in großem Ornat feierlich in einem Thronsessel sitzen, das Zepter und die Siegel auf einem roten Tisch unter sich und einen ungeheuren flachen Blumenstrauß daneben, der wie ein kleiner Garten den ganzen Gerichtssaal durchduftete. Vor dem Tisch zog sich eine lange Reihe von Solicitoren mit Aktenstößen auf dem Strohteppich zu ihren Füßen hin, und dann kamen die Herren vom Barreau mit Perücke und Talar. Einige schliefen, andre wachten, und gelegentlich sprach einer, ohne daß jemand dem, was er sagte, die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Der Lordkanzler saß in seinen bequemen Lehnstuhl zurückgelehnt, den Ellbogen auf die gepolsterte Armlehne und die Stirn auf die Hand gestützt. Einige der übrigen Anwesenden schlummerten, einige lasen Zeitungen, andre gingen auf und ab oder unterhielten sich flüsternd in Gruppen. Aber alle schienen sich sehr wohl zu fühlen und nicht die mindeste Eile zu haben, als ginge sie das Ganze überhaupt nichts an.

Zu sehen, wie alles so glatt verlief, und daran zu denken, wie rauh das Leben und Sterben der Prozessierenden war, all den Pomp und die Feierlichkeit zu sehen und an die Verschwendung und andererseits den Mangel und das bettelhafte Elend, um das es sich handelte, zu denken, – zu bedenken, daß, während bange Hoffnung in so vielen Herzen wühlte, dieses glänzende Schauspiel Tag für Tag und Jahr um Jahr wohlgeordnet und ruhevoll ungestört seinen Fortgang nahm, den Lordkanzler und die ganze Schar von Juristen um ihn herum zu sehen, die sich und die Zuschauer anblickten, als hätte keiner von ihnen je gehört, daß in ganz England das, in dessen Namen sie sich versammelten, bitterer Hohn sei, ein Gegenstand allgemeinen Abscheus, der Verachtung und Erbitterung, eine Institution, so offenkundig unwürdig, daß fast ein Wunder dazu gehörte, wenn es wirklich jemals irgend jemandem Nutzen brachte – das alles kam mir bei meiner Unerfahrenheit so merkwürdig und widerspruchsvoll vor, daß ich es anfangs gar nicht begreifen konnte und meinen Augen nicht traute.

Ich setzte mich auf den Platz, den Richard mir aussuchte, und versuchte zuzuhören und mich zurechtzufinden, aber es schien nichts Reales an dem ganzen Schauspiel zu sein als die kleine Miß Flite, die arme Verrückte, die auf einer Bank stand und immerwährend nickte.

Miß Flite erspähte uns bald und kam zu uns. Sie bewillkommnete mich huldvoll in ihrem Gebiet und machte mich mit vielem Behagen auf seine Hauptreize aufmerksam. Auch Mr. Kenge trat zu uns und machte uns die Honneurs fast in gleicher Weise und mit der freundlich bescheidenen Miene eines Hauseigentümers.

Die Gelegenheit sei für einen Besuch nicht sehr gut gewählt, sagte er, er würde den ersten Tag der Session vorgezogen haben, aber es sei ein imposantes, sehr imposantes Schauspiel.

Als wir ungefähr eine halbe Stunde dagewesen waren, schien die eben im Stadium der Verhandlung befindliche Rechtssache an ihrer eignen Nichtigkeit, ohne daß jemand übrigens ein Resultat zu erwarten schien, zu sterben.

Der Lordkanzler warf einen Stoß Papier von seinem Pult den Herren unter ihm zu, und irgend jemand rief: »Jarndyce kontra Jarndyce.« Dann hörte man ein Summen und Lachen und bemerkte eine allgemeine Flucht der Zuhörer und sah große Haufen und Stöße und Beutel um Beutel voller Akten hereingetragen werden.

Ich glaube, die Sache kam »wegen weiterer Verweisung wegen Kostenfestsetzung« zur Sprache, soviel mir trotz meiner Verwirrung klar wurde. Ich zählte dreiundzwanzig Herrn in Perücken, die sagten, sie hätten darin »zu vertreten«, und keiner derselben schien in der Sache mehr zu wissen als ich. Sie plauderten darüber mit dem Lordkanzler und stritten sich und erklärten einander das und jenes, und einige von ihnen behaupteten, es sei so, und andere, es sei anders, und einige schlugen scherzweise vor, ungeheure Folianten Zeugenaussagen verlesen zu lassen, und das Summen und Lachen nahm immer mehr zu, und allen, die in der Sache zu tun hatten, schien der Prozeß ein Feld müßiger Unterhaltung zu sein, und niemand wußte etwas damit anzufangen. Nach ungefähr einer Stunde und sehr viel begonnenen und wieder unterbrochenen Reden wurde sie »vorläufig zurückgestellt«, wie Mr. Kenge sagte, und die Akten wurden wieder hinausgeschafft, ehe die Schreiber noch mit dem Hereinbringen fertig waren.

Ich sah nach Schluß dieser hoffnungslosen Verhandlung Richard an und erschrak über den müden angegriffenen Ausdruck seines hübschen jungen Gesichtes. »Es kann nicht ewig dauern, Mütterchen. Das nächste Mal wird es besser gehen.« Das war alles, was er sagte.

Ich hatte Mr. Guppy Akten hereinbringen und von Mr. Kenge ordnen sehen. Er erkannte mich und machte mir eine melancholische Verbeugung, was in mir den Wunsch erweckte, den Gerichtssaal zu verlassen. Richard reichte mir den Arm und wollte mich hinausführen, da trat Mr. Guppy zu uns.

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carstone«, sagte er flüsternd, »und auch Miß Summerson, aber es ist eine Dame hier, die ich kenne und die auch Miß Summerson kennt und das Vergnügen haben möchte, sie zu begrüßen.«

Noch während er sprach, sah ich Mrs. Rachael wie eine körperlich gewordene Erinnerung aus dem Haus meiner Patin vor mir auftauchen.

»Wie geht es Ihnen, Esther?« fragte sie. »Erinnern Sie sich meiner noch?«

Ich reichte ihr die Hand und bejahte und sagte, sie habe sich sehr wenig verändert.

»Ich wundere mich, daß Sie sich noch an diese Zeiten erinnern, Esther«, sagte sie mit ihrer alten Schroffheit. »Sie haben sich sehr verändert. Nun, ich freue mich, Sie zu sehen, und freue mich, daß Sie nicht zu stolz geworden sind, um mich noch zu kennen.« – In Wirklichkeit schien sie sich zu ärgern, daß ich es nicht war. –

»Stolz, Mrs. Rachael?«

»Ich bin verheiratet, Esther«, verbesserte sie kalt, »und heiße Mrs. Chadband. Ich wünsche Ihnen guten Tag und hoffe, daß es Ihnen auch weiter gut gehen wird.«

Mr. Guppy, der diesem kurzen Zwiegespräch aufmerksam zugehört hatte, seufzte hörbar und bahnte sich und Mrs. Rachael durch das Gewühl der kommenden und gehenden Menschen, in dessen Mitte wir uns befanden und das der Wechsel der Verhandlungen verursacht hatte, mit dem Ellbogen einen Weg. Richard und ich drängten uns ebenfalls durch, und das Fröstelgefühl bei diesem unerwarteten Zusammentreffen hatte mich noch nicht verlassen, als ich niemand anders als Mr. George auf uns zukommen sah. Er schritt gewichtig einher, kümmerte sich nicht um die Umstehenden und spähte über ihre Köpfe hinweg in den Gerichtssaal.

»Heda, George«, rief Richard, den ich auf ihn aufmerksam gemacht hatte.

»Das ist gescheit, daß ich Sie hier treffe«, antwortete der Kavallerist, »und auch Sie, Miß. Könnten Sie mir nicht eine Person im Saal zeigen, die ich suche? Ich kenne mich hier nicht aus.«

Er drehte sich um, schaffte mühelos Platz für uns und blieb, als wir sicher vor dem Gedränge waren, in einer Ecke hinter einem großen roten Vorhang stehen.

»Es ist hier eine kleine verrückte Alte«, fing er an, »die…« Ich hielt meinen Finger warnend empor, denn Miß Flite stand dicht neben uns. Sie hatte sich die ganze Zeit über in meiner unmittelbarsten Nähe gehalten und die Aufmerksamkeit verschiedener ihr bekannter Advokaten auf mich gelenkt und ihnen, wie ich in meiner Verwirrung bemerkte, in die Ohren geraunt: »Sst! Fitz-Jarndyce, hier links von mir.«

»Hm, Sie werden sich erinnern, Miß, daß wir diesen Morgen von einem gewissen – Gridley«, setzte er hinter der Hand flüsternd hinzu, »sprachen.«

»Ja.«

»Er hält sich bei mir versteckt. Ich durfte es heute früh nicht sagen. Hatte keine Erlaubnis. Er tritt seinen letzten Marsch an, Miß, und hat sich in den Kopf gesetzt, sie zu sehen. Er sagt, sie verstünden einander und sie wäre ihm hier fast wie eine Freundin gewesen. Ich kam her, um sie zu suchen, denn als ich heute nachmittag bei ihm saß, war mir’s, als hörte ich bereits den Schall der gedämpften Trommeln.«

»Soll ich es ihr sagen?« fragte ich.

»Würden Sie so gut sein!« Er warf einen fast ängstlichen Blick auf Miß Flite. »Es ist eine Schickung der Vorsehung, daß ich Sie treffe, Miß. Ich bezweifle, daß ich mit dieser Dame umzugehen verstanden hätte.« Und er steckte eine Hand in die Brust und stand militärisch gerade aufgerichtet da, während ich Miß Flite den Zweck seines freundlichen Kommens ins Ohr flüsterte.

»Mein temperamentvoller Freund aus Shropshire! Fast so berühmt wie ich!« rief sie aus. »Nein, wirklich! Gewiß, mein Kind, werde ich ihn mit dem größten Vergnügen besuchen.«

»Er hält sich bei Mr. George versteckt. Still! Dies ist Mr. George.«

»Soooo«, sagte Miß Flite. »Sehr geehrt. Ein Militär, wie ich sehe. Ein vollkommener General, nicht wahr?« flüsterte sie mir zu.

Die arme Miß Flite hielt es für unumgänglich notwendig, als Zeichen ihrer Hochachtung vor der Armee so höflich zu sein und soviel Knickse zu machen, daß es keine leichte Sache war, sie aus dem Gerichtssaal zu bugsieren. Als dies endlich geglückt war und sie Mr. George, den sie General anredete, zum großen Spaß verschiedner Maulaffen den Arm gab, verlor er dermaßen seine Fassung und bat mich so ehrerbietig, »ihn nicht zu verlassen«, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, es zu tun, zumal sich Miß Flite von mir immer gern leiten ließ und noch dazu sagte: »Meine liebe Fitz-Jarndyce, Sie werden doch natürlich mit uns kommen?« Da Richard ganz damit einverstanden war, entschlossen wir uns, sie zu begleiten.

Mr. George erzählte uns, daß Gridley den ganzen Nachmittag von Mr. Jarndyce gesprochen habe, und so schrieb ich schnell ein paar Zeilen an meinen Vormund, um ihm mitzuteilen, wohin wir gegangen seien und weshalb. Richard versiegelte den Brief in einem Kaffeehaus, damit nicht zufällig etwas herauskäme, und wir ließen ihn durch einen Dienstmann besorgen.

Dann nahmen wir eine Droschke und fuhren bis in die Nähe von Leicester-Square. Wir gingen durch einige enge Höfe und erreichten bald den Schießstand, dessen Eingang verschlossen war. Während Mr. George an einer an der Tür hängenden Klingel zog und auf das Öffnen wartete, redete ihn ein sehr respektabler alter Herr mit grauem Haar, Brille, schwarzem Spencer, Gamaschen und einem breitkrempigen Hut und einem dicken Stock mit goldnem Knopf in der Hand an:

»Ich bitte um Entschuldigung, guter Freund, ist das Georges Schießgalerie?«

»Jawohl, Sir«, antwortete Mr. George und sah hinauf zu den großen Buchstaben, mit denen die Firma auf die weiße Mauer gemalt war.

»Ah, ja«, sagte der alte Herr, der seinen Augen gefolgt war. »Danke Ihnen. Haben Sie geklingelt?«

»Mein Name ist George, Sir. Ich habe bereits geklingelt.«

»O, wirklich?« sagte der alte Herr, »Sie sind Mr. George? Dann bin ich, wie Sie sehen, ebenso rasch hier wie Sie. Sie haben nach mir geschickt.«

»Nein, Sir. Ich nicht.«

»So? Dann war es Ihr Diener. Ich bin Arzt und wurde vor fünf Minuten geholt, um zu einem Kranken in Georges Schießgalerie zu kommen.«

»Die gedämpften Trommeln«, sagte Mr. George zu Richard und mir und schüttelte ernst den Kopf. »Es ist schon richtig, Sir. Haben Sie die Güte, einzutreten.«

Die Türe wurde jetzt von einem sehr seltsam aussehenden kleinen Mann in einer grünwollenen Mütze und Schürze geöffnet, dessen Gesicht, Hände und Kleider über und über geschwärzt waren, und wir gingen durch einen öden Gang in ein großes Gebäude mit kahlen Ziegelwänden, wo Scheiben und Gewehre, Säbel und andere Dinge dieser Art herumhingen. Als wir dort angekommen waren, blieb der Arzt stehen, nahm seinen Hut ab und schien wie durch Zauberei verschwunden und durch einen andern von ihm ganz verschiednen Herrn ersetzt worden zu sein.

»Nun, sehen Sie mich mal an, George«, sagte er, drehte sich rasch gegen den Kavalleristen um und tippte ihm mit seinem langen Zeigefinger auf die Brust. »Sie kennen mich, und ich kenne Sie. Sie sind ein Mann von Welt, und ich bin ein Mann von Welt. Ich heiße Bucket, wie Sie wissen, und habe einen Vorführungsbefehl gegen Gridley. Sie haben ihn lange Zeit versteckt gehalten und es sehr schlau angefangen. Es macht Ihnen Ehre.«

Mr. George sah ihn bös an, biß sich in die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, George, Sie sind ein verständiger Mann und unbescholten. Das sind Sie, darüber ist kein Zweifel. Und merken Sie wohl, ich spreche nicht zu Ihnen wie zu einem gewöhnlichen Menschen, denn Sie haben dem Vaterland gedient und wissen, daß man gehorchen muß, wenn die Pflicht ruft. Daher fällt es Ihnen auch gar nicht ein, Anstände zu machen. Wenn ich Beistand brauche, würden Sie ihn mir sogar leisten. Ja, das würden Sie tun. Phil Squod, schleichen Sie mir nicht so in der Galerie herum.« Der pulvergeschwärzte kleine Mann schob sich nämlich mit der Schulter an der Wand entlang und heftete sein Auge in höchst drohender Weise auf den Eindringling. »Ich kenne Sie, und es paßt mir nicht.«

»Phil!« rief Mr. George.

»Ja, Govneur.«

»Ruhig sein.«

Mit einem tiefen Brummen blieb der kleine Mann stehen.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Mr. Bucket fort, »Sie müssen entschuldigen, wenn Ihnen alles das etwas peinlich ist, aber ich bin der Inspektor Bucket von der Geheimpolizei und muß meine Pflicht tun. George, ich weiß, wo mein Mann ist. Ich war vorige Nacht auf dem Dach und habe ihn durchs Deckenfenster gesehen und Sie bei ihm. Er ist dort drin. Sie wissen schon. Dort drin auf einem Sofa. Ich muß jetzt meinen Mann sehen und ihm sagen, daß er sich als verhaftet zu betrachten hat. Aber Sie kennen mich und wissen, daß ich keine peinlichen Maßregeln ergreifen werde. Sie geben mir Ihr Wort, wie es ein Mann dem andern gibt, und auch als alter Soldat, daß es eine Ehrensache zwischen uns ist, und ich will Ihnen, wie ich irgend kann, entgegenkommen.«

»Ich gebe es Ihnen«, war die Antwort. »Aber es war nicht schön von Ihnen, Mr. Bucket.«

»Dummes Zeug, George! Nicht schön?« sagte Mr. Bucket, tippte dem Kavalleristen wieder auf die breite Brust und schüttelte ihm die Hand. »Sage ich vielleicht, es sei nicht schön gewesen, daß Sie meinen Mann so versteckt gehalten haben? Machen Sie mir doch ein freundliches Gesicht, alter Junge, alter Wilhelm Tell! Alter Leibgardist! Wahrhaftig, er ist ganz für sich allein ein Muster der ganzen britischen Armee, meine Herrschaften. Ich gäbe eine Fünfzigpfundnote, wenn ich seine Finger hätte.«

Nachdem sich Mr. George die Sache ein wenig überlegt hatte, schlug er vor, er wolle zuerst zu seinem Kameraden, wie er ihn nannte, hineingehen und Miß Flite mitnehmen. Mr. Bucket gab seine Zustimmung, und sie gingen nach dem andern Ende der Galerie, während wir um den mit Gewehren bedeckten Tisch herumsaßen und – standen. Mr. Bucket nahm die Gelegenheit wahr, um in leichtem Konversationston eine Unterhaltung zu beginnen, fragte mich, ob ich mich vor Gewehren fürchte wie die meisten jungen Damen, fragte Richard, ob er ein guter Schütze sei, und Phil Squod, welche wohl die beste unter den Büchsen sei, und was sie neu kosten möge, und riet ihm im Laufe des Gesprächs, sich nie von seinem Temperament fortreißen zu lassen, zumal er doch von Natur so freundlich sei wie ein junges Mädchen.

Nach einer Weile folgte er uns an das andre Ende der Galerie, und Richard und ich wollten uns eben ruhig entfernen, als Mr. George uns nachkam. Er sagte, wenn wir nichts dagegen hätten, seinen Kameraden zu sehen, so würde sich dieser gewiß sehr darüber freuen. Kaum hatte er ausgesprochen, da läutete es, und mein Vormund erschien. Auf die Möglichkeit hin, bemerkte er, einem armen Mann, der unter demselben Mißgeschick wie er selbst leide, einen kleinen Dienst erweisen zu können. Wir kehrten alle vier um und traten in den Verschlag, wo Gridley lag.

Es war ein kahler Raum, von der Galerie durch einen rohen Bretterverschlag abgeteilt. Da die Scheidewand nicht höher als acht oder zehn Fuß war und nicht bis zur Decke reichte, nahm man hoch oben die Dachbalken wahr und die Luke, durch die Mr. Bucket hineingesehen hatte. Die Sonne stand bereits tief und ging eben unter, und ihr Licht schien rot oben durchs Fenster, ohne den Boden zu erreichen. Auf einem einfachen, mit Leinwand überzogenen Sofa lag der Mann aus Shropshire, ziemlich so gekleidet, wie wir ihn zuletzt gesehen, aber so verändert, daß ich sein farbloses Gesicht anfangs gar nicht wiedererkannte.

Er hatte in seinem Versteck immer noch geschrieben und Stunde für Stunde über dem Gegenstand seines Kummers gebrütet. Ein Tisch und einige Regale waren mit Manuskripten, mit alten Federn und einem bunten Haufen ähnlicher Dinge bedeckt. In rührender und zugleich grauenerregender Freundschaft saßen er und die kleine Verrückte nebeneinander, sozusagen allein in ihrer Welt. Sie saß auf einem Stuhle und hielt seine Hand in der ihren, und keiner von uns trat näher an sie heran. Mit dem Verschwinden seines alten Gesichtsausdrucks, seiner Kraft, seines Zornes, seines Widerstandes gegen das Unrecht, das ihn zuletzt doch zu Boden geworfen hatte, war auch seine Stimme schwach geworden. Er war nur mehr der Schatten des Mannes aus Shropshire, den wir früher gekannt.

Er nickte Richard und mir müde zu und sagte zu meinem Vormund:

»Mr. Jarndyce, es ist sehr freundlich von Ihnen, mich besuchen zu kommen. Man wird mich nicht mehr oft besuchen kommen, glaube ich. Es macht mir Freude, Ihnen die Hand drücken zu können, Sir. Sie sind ein braver Mann, über Ungerechtigkeit erhaben, und Gott weiß, wie hoch ich Sie schätze.«

Sie schüttelten sich ernst die Hand, und mein Vormund sagte ihm einige Worte des Trostes.

»Es mag Ihnen vielleicht seltsam erscheinen, Sir, aber ich würde mich in meinem jetzigen Zustand hier nicht gerne von Ihnen haben sehen lassen, wenn wir uns nicht schon früher kennen gelernt hätten. Aber Sie wissen, daß ich gekämpft habe. Sie wissen, daß ich mich als einzelner gegen sie alle gestemmt habe. Sie wissen, daß ich ihnen bis zuletzt ins Gesicht gesagt habe, was sie sind und was sie mir angetan haben, drum mache ich mir nichts daraus, daß Sie mich jetzt als Wrack hier sehen.«

»Sie haben Ihren Mut oft genug bewiesen«, tröstete ihn mein Vormund.

»Ja, Sir, das habe ich«, Mr. Gridley lächelte schwach. »Ich sagte Ihnen, wie es kommen würde, wenn ich damit aufhörte, und schauen Sie her. Sehen Sie uns beide an.« Er zog Miß Flites Hand durch seinen Arm und brachte sie sich dadurch etwas näher.

»Das ist das Ende. Von allen meinen alten Bekannten, von allen meinen alten Hoffnungen und Bestrebungen, von der ganzen lebendigen und toten Welt ist diese arme Seele meine einzige natürliche Gefährtin, zu der ich passe. Zwischen uns besteht ein Band seit vielen leidensvollen Jahren, und es ist das einzige Band auf Erden, das das Kanzleigericht noch nicht zerrissen hat.«

»Nehmen Sie meinen Segen, Gridley!« sagte Miß Flite unter Tränen. »Nehmen Sie meinen Segen!«

»Ich brüstete mich damit, sie würden mir nie das Herz brechen können, Mr. Jarndyce. Ich war entschlossen, es sollte ihnen nicht gelingen. Ich glaubte, ich würde ihnen solange vorwerfen können, welch dummes Gaukelspiel sie trieben, bis ich an einer Krankheit des Körpers stürbe. Aber ich bin abgenutzt. Wie lang die Zerbröcklung gedauert hat, weiß ich nicht. Es war mir, als ob ich in einer einzigen Stunde zusammenbräche. Ich hoffe, sie werden es nie erfahren. Ich hoffe, Sie werden sie, alle die Sie hier sind, glauben machen, daß ich ihnen noch auf dem Totenbette getrotzt habe wie die langen Jahre hindurch.«

Hier kam ihm Mr. Bucket, der in einem Winkel in der Tür saß, gutmütig tröstend zu Hilfe.

»Ach, lassen Sie doch«, sagte er aus seiner Ecke heraus. »Reden Sie doch nicht so, Mr. Gridley. Sie sind ein wenig niedergedrückt. Das sind wir alle manchmal. Ich bin’s auch. Kopf hoch! Sie werden sich noch oft genug mit der ganzen Kohorte herumzanken, und ich werde noch ein paar Dutzend Vorführungsbefehle gegen Sie bekommen, wenn ich Glück habe.«

Gridley schüttelte den Kopf.

»Schütteln Sie nicht den Kopf. Nicken Sie. Das möchte ich von Ihnen sehen. O du mein Himmel, was haben wir alles zusammen erlebt! Habe ich Sie nicht immer und immer wieder in der Fleet gesehen wegen Beleidigung von Amtspersonen? Bin ich nicht zwanzig Nachmittage im Gerichtshof gewesen, bloß um zu sehen, wie Sie wie eine Bulldogge den Kanzler angingen? Wissen Sie nicht mehr, wie Sie zuerst die Advokaten zu bedrohen anfingen und jede Woche ein paar Mal ein Friedensbruch gegen Sie bezeugt wurde? Fragen Sie die kleine alte Dame da. Sie war immer dabei. Kopf hoch, Mr. Gridley! Kopf hoch, Mann!«

»Was wollen Sie mit ihm machen?« fragte George mit leiser Stimme.

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Bucket ebenfalls flüsternd. Dann fuhr er mit seinem Zureden wieder laut fort:

»Abgenutzt, Mr. Gridley, nachdem Sie mich wochenlang an der Nase herumgeführt und gezwungen haben, wie eine Katze auf das Dach zu klettern und als Arzt verkleidet mich hereinzuschleichen? So sieht jemand, der fertig ist, nicht aus. Ich glaube das nicht. Ich will Ihnen sagen, was Sie brauchen. Sie brauchen Aufregung, verstehen Sie, um sich aufrecht zu erhalten. Das ist’s, was Sie brauchen. Sie sind daran gewöhnt und können ohne das nicht leben. Mir würde es gerade so gehen. Sehen Sie, hier ist der Vorführungsbefehl, erwirkt von Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields und seitdem auf ein halb Dutzend Grafschaften ausgedehnt. Was meinen Sie dazu, wenn Sie mit mir kämen und sich mit dem Friedensrichter tüchtig herumzankten? Es würde Sie aufmuntern und Ihnen zu einem neuen Kampf mit dem Kanzler frische Kräfte geben. Fertig sein! Ich muß mich wirklich wundern, einen Mann von Ihrer Energie so etwas sagen zu hören. Das dürfen Sie doch gar nicht. Ohne Sie ist die Komödie im Kanzleigerichtshof nicht halb so fidel. George, reichen Sie Mr. Gridley die Hand und versuchen Sie, ob es ihm nicht besser täte, wenn er aufsteht.«

»Er ist zu schwach.«

»Wirklich?« fragte Bucket besorgt. »Ich möchte ihn irgendwie aufmuntern. Ich sehe nicht gern einen alten Bekannten so zusammenbrechen. Es würde ihn mehr als alles andere stärken, wenn ich ihn ein bißchen wütend auf mich machen könnte. Er soll nur über mich herfallen, soviel er mag. Ich werde es ihm wahrhaftig nicht nachtragen.«

Das Dach hallte von einem Schrei Miß Flites wider. Jetzt klingt er noch in meinen Ohren.

»Nein, nein, Gridley«, schrie sie, als der Kranke schwer und lautlos vor ihr zurücksank. »Nicht ohne meinen Segen nach so vielen Jahren!«

Die Sonne war untergegangen und das Licht allmählich von dem Dach verschwunden, und Schatten krochen die Wände empor. Für mich fiel der Schatten dieser zwei Personen, die eine lebendig, die andere tot, trüber auf Richards Abreise als die Finsternis der dunkelsten Nacht. Und durch Richards Abschiedsworte klangen mir die Worte in den Ohren:

»Von allen meinen alten Bekannten, von allen meinen alten Hoffnungen und Bestrebungen, von der ganzen lebendigen und toten Welt ist diese arme Seele meine einzige natürliche Gefährtin, zu der ich passe. Zwischen uns besteht ein Band seit vielen leidensvollen Jahren, und es ist das einzige Band auf Erden, das das Kanzleigericht noch nicht zerrissen hat.«

25. Kapitel


25. Kapitel

Mrs. Snagsby auf der Lauer

Mißstimmung herrscht in Cook’s Court, Cursitor Street. Schwarzer Verdacht wohnt in diesen friedlichen Regionen. Die Cook’s Courter sind wohl in ihrer gewöhnlichen Gemütsverfassung, aber Mr. Snagsby ist nicht mehr derselbe, und seine kleine Frau weiß es.

‚Toms Einöd‘ und Lincoln’s-Inn-Fields bleiben wie ein paar widerspenstige Durchgeher vor den Wagen von Mr. Snagsbys Phantasie gespannt. Mr. Bucket kutschiert, und drin sitzen Jo und Mr. Tulkinghorn, und das ganze Gefährt saust in wildem Jagen um das Zifferblatt herum. Selbst in der kleinen Küche auf die Gasse heraus, wo die Familie zu speisen pflegt, rasselt sie in scharfem Trab vom Eßtisch weg, wenn Mr. Snagsby im Anschneiden der Hammelkeule innehält und an die Küchenwand starrt.

Mr. Snagsby findet sich in seinem Kopf nicht mehr zurecht. Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Aber was daraus werden soll, wann und aus welchem Winkel es ungeahnt hervortreten wird, ist das verwirrende Rätsel seines Lebens. Seine dunklen Eindrücke von den Talaren und Krönchen, den Sternen und Ordensbändern, die durch die Stauboberfläche von Mr. Tulkinghorns Kanzlei schimmern, seine Ehrfurcht vor den Geheimnissen dieses besten und verschlossensten aller seiner Kunden, den sämtliche Inns, ganz Chancery-Lane und die juristische Nachbarschaft mit Scheu betrachten, seine Erinnerung an den Detektiv Mr. Bucket mit seinem langen Zeigefinger und seinem vertraulichen Getue, dem man weder entgehen noch etwas abschlagen kann, festigen in ihm die Überzeugung, daß er an einem gefährlichen Geheimnis teilhat, ohne zu wissen, was es ist.

Und es ist die schreckliche Eigentümlichkeit dieser Lage, daß zu jeder Stunde, bei jedem Aufgehen der Ladentür, bei jedem Klingeln, bei jeder Ankunft eines Boten oder eines Briefes das Geheimnis Feuer fangen, explodieren und irgend jemanden in die Luft sprengen kann. Wen, weiß Mr. Bucket allein.

Wenn daher ein Unbekannter, wie es doch oft geschieht, in den Laden tritt und fragt: Ist Mr. Snagsby da? oder sonst etwas Unschuldiges, so klopft Mr. Snagsbys Herz laut in seiner schuldbeladenen Brust. So sehr irritieren ihn solche Fragen, daß, wenn Knaben sie stellen, er über den Ladentisch hinweg ihnen eins hinter die Ohren gibt und die Schlingel fragt, was sie damit sagen wollen und warum sie nicht gleich mit allem herausrücken. Weniger irdisch greifbare Männer und Jungen stören beständig Mr. Snagsbys Schlummer und jagen ihn mit rätselhaften Fragen in Furcht, so daß, wenn sich der Hahn in der kleinen Milchwirtschaft in Cursitor Street in seiner gewohnten zwecklosen Weise über den Morgen ausläßt, Mr. Snagsby sich im Stadium des Alpdruckes befindet, bis seine kleine Frau ihn wachrüttelt und sagt: Was hat der Mann nur!

Die kleine Frau selbst trägt nicht wenig zu seiner Qual bei. Zu wissen, daß er immer ein Geheimnis vor ihr verbirgt, unter allen Umständen einen schmerzenden Zahn vor ihr zu verheimlichen hat, den sie ihm stets mit schlauer Begier herauszudrehen bereit ist, gibt Mr. Snagsby seiner Frau gegenüber ganz das Aussehen eines Hundes, der etwas angestellt hat und dem Auge seines Herrn ausweicht. Alle diese kleinen Anzeichen entgehen Mrs. Snagsbys scharfem Blick keineswegs. Snagsby hat etwas auf dem Herzen, sagt sie sich. Und so hält der Argwohn in Cook’s Court, Cursitor Street, seinen Einzug. Vom Argwohn zur Eifersucht findet Mrs. Snagsby den Weg so leicht wie von Cook’s Court nach Chancery-Lane. Und so hält die Eifersucht in Cook’s Court, Cursitor Street, ihren Einzug. Einmal dort – gelauert hat sie immer in der Gegend –, rumort sie rastlos in Mrs. Snagsbys Brust, treibt sie bei Nacht, Mr. Snagsbys Taschen zu untersuchen, Mr. Snagsbys Briefe heimlich zu lesen, im stillen das Hauptbuch und Journal, die kleine und die große Kasse und den Dokumentenschrank zu durchforschen, am Fenster zu lauern, hinter Türen zu horchen und beständig das und jenes mit den unrichtigen Enden zusammenzuknüpfen.

Mrs. Snagsby liegt so beständig auf der Lauer, daß das Haus vor lauter Dielenknistern und Kleiderrascheln einen ganz gespensterhaften Eindruck macht. Die »Stifte« glauben, es müsse jemand in alten Zeiten hier ermordet worden sein. In Gusters Kopf spuken Bruchstücke legendenhafter Ideen, daß unter dem Keller Geld vergraben sei und von einem weißbärtigen Alten bewacht werde, der vor siebentausend Jahren nicht erlöst werden könne, weil er das Vaterunser einmal rückwärts gebetet habe.

Wer war Nimrod? fragt sich Mrs. Snagsby immer wieder. Wer war die Dame – diese »Person« ? Und wer ist der Junge? Da Nimrod so tot ist wie der gewaltige Jägersmann, dessen Namen Mrs. Snagsby für ihre Zwecke mit Beschlag belegt hat, und die »Dame« nicht herbeizuschaffen ist, lenkt sich der Blick ihres Geistes vorderhand mit verdoppelter Wachsamkeit auf den Jungen.

Wer ist dieser Junge? fragt sich Mrs. Snagsby tausend und ein Mal. Wer ist dieser…? Und da geht ihr plötzlich ein Licht auf.

Er hat keinen Respekt vor Mr. Chadband! Nein, den hat er nicht und kann ihn auch nicht haben! Natürlich kann er keinen haben unter solchen ansteckenden Verhältnissen! Mr. Chadband hat ihn eingeladen – Mrs. Snagsby hat es mit eignen Ohren gehört –, wiederzukommen, um zu erfahren, wo Mr. Chadband predige. Und er ist nicht gekommen! Warum ist er nicht gekommen? Weil man es ihm verboten hat! Wer hat es ihm verboten? Wer? Haha! Mrs. Snagsby sieht plötzlich klar.

Aber zum Glück – und Mrs. Snagsby schüttelt grimmig den Kopf und lächelt grimmig – hat Mr. Chadband gestern den Knaben auf der Straße getroffen, und Mr. Chadband hat diesen Knaben, über den er zur Erbauung einer auserlesenen Gemeinde zu predigen wünscht, ergriffen und ihm gedroht, ihn der Polizei zu übergeben, wenn er nicht sage, wo er wohne, und sich nicht morgen seinem Versprechen gemäß in Cook’s Court einfinde. Mor-gen a-bend! wiederholt Mrs. Snagsby des Nachdrucks wegen mit grimmigem Lächeln und Kopfschütteln, und morgen abend wird der Junge kommen, und morgen abend wird Mrs. Snagsby ein Auge auf ihn und noch eine andere gewisse Person haben. O, du magst schon eine hübsche Weile deine Schleichwege gehen, sagt Mrs. Snagsby mit Stolz und Verachtung, aber mich betrügst du nicht!

Mrs. Snagsby hängt es nicht an die große Glocke, was sie sich denkt, sondern schweigt über ihre Pläne und behält ihr Geheimnis für sich.

Morgen kommt. Die schmackhaften Vorbereitungen für die Ölmühle kommen, und der Abend kommt. Es kommt Mr. Snagsby in seinem schwarzen Rock. Es kommen die Chadbands, wenn das »Gefäß« genügend leer ist. Es kommen die »Stifte« und Guster, um sich erbauen zu lassen. Es kommt endlich mit hängendem Kopf und schlottrigem Gang, in der schmutzigen Hand die Pelzmütze, die er rupft wie einen Vogel, den er roh verzehren will, Jo, der Schmier-Ober, den Mr. Chadband bessern will.

Mrs. Snagsby wirft einen wachsamen, aber verstohlenen Blick auf Jo, wie ihn Guster jetzt in das kleine Staatszimmer führt. Er sieht Mr. Snagsby beim Eintreten an. Aha! Warum sieht er Mr. Snagsby an ? – Mr. Snagsby sieht ihn an. Warum tut er das?

Mrs. Snagsby weiß sofort alles. Warum denn sonst wechseln diese beiden einen Blick miteinander, warum denn sonst ist Mr. Snagsby so verlegen und hustet einen Signalhusten hinter seiner Hand, als, weil es klar wie Kristall ist, daß Mr. Snagsby der – Vater dieses Knaben ist.

»Friede sei mit euch, meine Freunde!« salbadert Chadband, steht auf und wischt sich die Ölabsonderungen von seinem Reverendgesicht ab. »Friede sei mit uns! Meine Freunde, warum mit uns? Weil«, sagt er mit seinem fetten Lächeln, »weil er nicht gegen uns sein kann, weil er für uns ist; weil er nicht verhärtet, sondern weil er erweicht; weil er nicht Krieg führt wie der Habicht, sondern zu uns kommt wie die Taube. Deshalb, meine Freunde, sei Friede mit uns! Du, menschlicher Knabe, tritt vor!«

Mr. Chadband streckt die aufgedunsene Pfote aus, legt sie auf Jos Arm und überlegt sich, wo er ihn hinsetzen solle. Jo, sehr argwöhnisch in bezug auf die Absichten Seiner Ehrwürden und keineswegs sicher, ob man nicht etwa eine schmerzliche Operation an ihm vornehmen wolle, brummt: »Lassen S mi gehn. I hab Eahna nix tan. Lassen S mi gehn.«

»Nein, mein junger Freund«, sagt Chadband salbungsvoll. »Ich lasse dich nicht. Und warum? Weil ich einsammle die Ernte; weil ich mich mühe und plage; weil du mir überliefert bist und ein köstlich Werkzeug geworden in meiner Hand. Meine Freunde, möge ich mich dieses Werkzeugs bedienen zu eurem Besten, zu eurem Nutzen, zu eurem Gewinn, zu eurer Wohlfahrt, zu eurer Bereicherung! Mein junger Freund, setze dich auf diesen Stuhl.«

Sichtlich von dem Gedanken beherrscht, daß Seine Ehrwürden ihm die Haare schneiden wolle, schützt sich Jo den Kopf mit beiden Armen und läßt sich nur mit großer Mühe und unter vielem Sträuben hinsetzen.

Als man ihn endlich wie eine Modellpuppe zurechtgerückt hat, zieht sich Mr. Chadband hinter den Tisch zurück, hält seine Bärentatze empor und spricht:

»Meine Froinde!«

Das ist das Signal für die ganze Zuhörerschaft, die Ohren aufzumachen. Die »Stifte« kichern in sich hinein und stoßen sich mit den Ellbogen. Guster verfällt in einen Zustand leeren Vorsichhinstierens, zusammengesetzt aus atemloser Bewunderung Mr. Chadbands und Mitleid mit dem armen freundlosen Ausgestoßnen, dessen Lage sie tief ergreift.

Mrs. Snagsby legt schweigend Pulverminen.

Mrs. Chadband setzt sich mit finsterer Miene an den Kamin und wärmt sich die Knie. Sie findet, daß dies das Zuhören erleichtert.

Mr. Chadband hat die übliche Kanzelpredigergewohnheit, ein Mitglied der Gemeinde zu fixieren und mit fettigem Wohlwollen seine Argumente insbesondere an diese Person zu richten. Von dem Angeredeten wird in solchen Fällen gewöhnlich erwartet, daß er sich zu gelegentlichem Stöhnen, Seufzen, Ächzen oder andern hörbaren Äußerungen des Innenlebens aufschwingt. Diese Äußerung der Seele pflegt dann von einer ältlichen Dame im nächsten Kirchenstuhl zumeist wiederholt zu werden, geht dann wie beim Pfänderspiel im Kreise der leichter gärbaren Sünder unter den Anwesenden herum, erfüllt den Zweck des parlamentarischen »Hört, hört!« und erhält den Prediger in Volldampf.

Aus bloßer Gewohnheit also hat Mr. Chadband bei den Worten »Meine Froinde!« sein Auge auf Mr. Snagsby geheftet und richtet an den armen Schreibmaterialienhändler, dem die Sterne sichtlich übel wollen und der schon verlegen genug ist, unmittelbar seine Rede.

»Meine Freunde!« beginnt Chadband. »Wir haben hier unter uns einen Ungesalbten, einen Heiden, einen Bewohner der Zelte von ‚Toms Einöd‘, einen, der da herumschweift auf Erden. Meine Freunde, wir haben hier unter uns« – Mr. Chadband nestelt das Argument mit seinem schmutzigen Daumennagel auf, wirft ein öliges Lächeln auf Mr. Snagsby, als wolle er sagen, er werde ihn sofort logisch zu Fall bringen, wenn er nicht schon sowieso am Boden liege – »haben hier unter uns einen Bruder und einen Knaben. – Ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Vieh und Herden, ohne Gold und Silber und Edelgestein. Aber, meine Freunde, warum sage ich, daß er dieser Besitztümer ermangelt? Warum? Warum ermangelt er ihrer?« Mr. Chadband wirft die Frage auf, als lege er Mr. Snagsby ein ganz neues ungemein geistreiches Rätsel vor und bäte ihn, nur ja nicht an der Auflösung zu verzweifeln.

Mr. Snagsby, sehr verwirrt von dem Sphinxblick, den sein kleines Frauchen bei den Worten »ohne Eltern« auf ihn wirft, läßt sich zu der bescheidnen Bemerkung verleiten:

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir.«

Diese Unterbrechung macht Mrs. Chadband finster aufblicken, und Mrs. Snagsby ruft: »Es ist eine Schande.«

»Ich höre eine Stimmö«, sagt Chadband. »Ist es eine demütige Stimmö, meine Freunde? Ich fürchte nicht, wiewohl ich es hoffen möchte.«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»…Die da saget, ich weiß es nicht. Und nun will ich euch sagen, warum. Ich sage, dieser Bruder, der da stehet vor uns, ermangelt der Eltern, ermangelt der Verwandten, ermangelt des Viehs und der Herden, ermangelt des Silbers, des Goldes und jeglichen Geschmeides, weil er des Lichtes entbehrt, das da niederscheinet auf einige von uns. Was ist das für ein Licht? Was ist es? Ich frage euch, was ist das für ein Licht?«

Mr. Chadband legt den Kopf zurück und hält inne, aber Mr. Snagsby geht nicht noch einmal auf den Leim.

Mr. Chadband lehnt sich über den Tisch hinüber und bohrt, was er noch zu sagen hat, mit dem bereits erwähnten Daumennagel in Mr. Snagsby hinein.

»Es ist«, erläutert Chadband, »der Strahl der Strahlen, die Sonne der Sonnen, der Mond der Monde, der Stern der Sterne. Es ist das Licht der Waharheit.«

Mr. Chadband richtet sich wieder auf und sieht Mr. Snagsby triumphierend an, als wolle er sich vergewissern, wie seinem Opfer jetzt zumute sei.

»Der Waharheit«, wiederholt Mr. Chadband mit einem neuen Lanzenstich. »Saget mir nicht, daß sie nicht sei die Leuchte der Leuchten. Ich sage euch, sie ist es. Ich sage euch millionenmal, sie ist es. Sie ist es. Ich sage euch, daß ich es euch verkündigen werde, ob ihr da wollet oder nicht. Ja, je weniger ihr wollet, desto lauter will ich es euch verkünden mit Drommetenzungen. Ich sage euch, locket ihr dagegen, werdet ihr fallen, werdet ihr stürzen, werdet ihr zerschlagen, werdet ihr zerbrochen, werdet ihr zermalmet zu Stahub.«

Der kühne Redeflug, von Mr. Chadbands Anhängern wegen seiner Gewaltigkeit ungemein bewundert, macht Seiner Ehrwürden nicht nur unangenehm warm, sondern stellt auch den unschuldigen Mr. Snagsby als einen entschiedenen Feind der Tugend, erzgestirnt und hartherzig, dar, und deshalb gerät der unglückliche Schreibmaterialienhändler noch mehr außer Fassung, als er ohnehin schon ist.

Und da gibt ihm Mr. Chadband zufällig den Gnadenstoß.

»Meine Freunde«, beginnt er wieder, nachdem er seine fette Stirn eine Weile betupft hat – und sie dampft so sehr, daß sein Taschentuch, das nach jedesmaligem Tupfen ebenfalls dampft, daran anzubrennen scheint –, »um den Gegenstand, an dem wir nach unsern bescheidenen Gaben uns zu erbauen trachten, weiter zu verfolgen, wollen wir im Geiste der Liebe fragen: Was ist die Waharheit, von der ich gesprochen habe? Denn, meine jungen Freunde«, wendet er sich an die »Stifte« und Guster, zu deren großer Bestürzung, »wenn mir der Arzt sagt, daß Calomel oder Kastoröl gut für mich seien, so werde ich natürlich fragen, was ist Calomel, und was ist Kastoröl? Ich werde mich darüber vergewissern, ehe ich eins der Mittel oder beide einnehme. Nun, meine jungen Freunde, was ist also diese Waharheit? Erstlich im Geiste der Liebe, was ist die gewöhnliche Art der Waharheit?… Die Werktagswaharheit – sozusagen –, meine jungen Freunde? Ist sie Hintergehung?«

Hörbares Räuspern Mr. Snagsbys.

»Ist sie Verheimlichung?«

Mrs. Snagsby erschauert förmlich vor stummer Verneinung.

»Ist sie heimliches Vorenthalten?«

Ein langes entschiedenes Kopfschütteln Mrs. Snagsbys.

»Nein, meine Freunde, sie ist keins von alledem. Keiner dieser Namen ist ihr echter. Als dieser jetzt unter uns weilende junge Heide, der jetzt, mit dem Siegel der Gleichgültigkeit und Verworfenheit auf seinen Augenlidern, schläft, meine Freunde (wecket ihn nicht, auf daß ich seinetwegen kämpfe und ringe und den Sieg gewinne), als dieser verstockte junge Heide uns eine Geschichte von einem Hahn und einem Stier und einer Dame und einem Sovereign erzählte, war das die Waharheit? Nein. Oder, wenn sie es zum Teil war, war sie es ganz vollständig? Nein, meine Freunde, nein!«

Mr. Snagsby müßte ganz anders beschaffen sein, wenn er den Blick seiner kleinen Frau aushalten sollte, wie er sich jetzt durch die Fenster seiner Seele in sein tiefstes Inneres bohrt.

»Oder, meine jungen Freunde«, fährt Mr. Chadband fort, klettert bis zum tiefsten Niveau der Auffassungskraft der »Stifte« herab und lächelt fett und demütig mit der Miene eines Mannes, der eine hohe Treppe hinuntersteigt, »wenn der Herr dieses Hauses in die Stadt ginge, einen Aal sähe und zurückkehrte, um die Herrin dieses Hauses zu sich zu berufen und ihr zu sagen: Sarah, freue dich mit mir, denn ich habe einen Elefanten gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby bricht in Tränen aus.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde, daß er einen Elefanten gesehen hätte und heimkehrte und sagte: Siehe, die Stadt ist öde, wahrlich, ich habe nur einen Aal gesehen! Wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby schluchzt laut.

»Oder nehmen wir an, meine jungen Freunde«, sagt Chadband, bei dem Tone angeregt, »daß die unnatürlichen Eltern dieses schlummernden Heiden – denn Eltern hat er ohne Zweifel gehabt –, nachdem sie ihn den Wölfen und den Geiern und den wilden Hunden und den jungen Gazellen und den Schlangen hingeworfen, in ihre Wohnung zurückkehrten und sich erfreuten an ihren Pfeifen und ihren Fleischtöpfen und ihrem Flötenspiel und ihren Tänzen und ihrem Gerstensaft und des Schlächters Fleisch und Geflügel – wäre das die Waharheit?«

Mrs. Snagsby antwortet damit, daß sie eine Beute von Krämpfen wird; nicht eine widerstandslose Beute, sondern eine weinende und schluchzende, so daß Cook’s Court von ihrem Jammergeschrei widerhallt. Endlich wird sie kataleptisch und muß die schmale Treppe umständlich wie ein Piano hinaufgetragen werden. Nach unaussprechlichen Leiden, die die größte Bestürzung hervorbringen, melden Eilboten aus dem Schlafzimmer, daß sie frei von Schmerzen, aber noch sehr angegriffen sei. Mr. Snagsby, den man bei diesem Klaviertransport an die Wand gedrückt und auf die Füße getreten und dadurch sehr verschüchtert hat, wagt sich jetzt wieder hinter der Tür des Staatszimmers hervor.

Die ganze Zeit über ist Jo dort, wo er aufgewacht ist, stehen geblieben, hat beständig seine Mütze gerupft und Pelzstückchen in den Mund gesteckt. Er spuckt sie mit reuevoller Miene aus, denn er begreift, daß er von Natur ein unverbesserliches verworfenes Geschöpf ist, dem jeder Versuch, wach zu bleiben, fehlschlägt.

Aber doch ist es möglich, Jo, daß es selbst für so vertierte Gemüter wie dich eine Geschichte gibt, die von Taten handelt, so ergreifend für das Menschenherz, daß sie selbst dich wach erhalten und belehren könnte, wenn sie dir die Chadbands nur ohne Schwulst und schlicht erzählen wollten.

Aber Jo hat nie von einer solchen Historie und solchen Büchern gehört. Seine Verfasser und Reverend Chadband gelten ihm gleich; nur, daß er Ehrwürden Chadband kennt und lieber eine Stunde weit weglaufen möchte, als ihn noch fünf Minuten länger reden zu hören.

»Es hat kan Zweck, no länger zwarten«, sagt Jo. »Mr. Snagsby redet eh nix heit abend.« Und er schlottert die Treppe hinunter.

Aber unten steht die mildtätige Guster, hält sich am Geländer der Küchentreppe fest, um gegen einen herannahenden Krampfanfall, den Mrs. Snagsbys Gekreisch geweckt hat, anzukämpfen. Sie reicht ihr eigenes Abendbrot – Butterschnitt und Käse – Jo hin und wagt ein paar Worte an ihn zu richten.

»Hier hast du was zum Essen, armer Bub.«

»Dank schön, Mum«, sagt Jo.

»Hast an Hunger?«

»Damisch«, sagt Jo.

»Was ist aus deinem Vater und deiner Mutter geworden?«

Jo hält mitten im Abbeißen inne und sieht ganz versteinert aus, denn der Waisenschützling des christlichen Heiligen, dessen Schrein in Tooting steht, hat ihm auf die Schulter geklopft. Das erste Mal in seinem Leben, daß eine anständige Hand ihn so berührt hat.

»I hab nie nix von ihnen ghört«, sagt Jo.

»Und ich von meinen auch nicht«, ruft Guster. Sie unterdrückt einige Krampfsymptome, da verscheucht sie plötzlich etwas, und sie entschwindet auf der Kellertreppe.

»Jo«, flüstert der Schreibmaterialienhändler leise, während der Junge noch zögernd auf der Treppe steht.

»Da bin i, Mr. Sangsby.«

»Ich wußte nicht, daß du schon fort bist… Hier hast du wieder eine halbe Krone, Jo. Du hast es gut gemacht, daß du nichts von der Dame von neulich abends sagtest. Es könnte Unannehmlichkeiten verursachen. Du kannst nicht verschwiegen genug sein, Jo.«

»I bin a Ghauter, Master.«

»Also gute Nacht.«

Ein geisterhafter Schatten in Unterrock und Nachtmütze folgt dem Papierhändler in das Zimmer, aus dem er gekommen ist, und gleitet höher hinauf. Und von nun an, mag Mr. Snagsby gehen, wohin er will, begleitet ihn noch ein andrer Schatten als sein eigner, kaum weniger fest an seine Fersen geheftet, kaum weniger ruhig, kaum weniger geräuschlos als sein eigner. Und in welche Geheimnisatmosphäre sein eigner Schatten auch treten mag, von nun an mögen sich alle an dem Geheimnis Beteiligten in acht nehmen. Die wachsame Mrs. Snagsby liegt auf der Lauer. Bein von seinem Bein, Fleisch von seinem Fleisch, Schatten von seinem Schatten.

26. Kapitel


26. Kapitel

Scharfschützen

Der Wintermorgen, der mit trüben Augen und fahlem Gesicht auf die Umgebung von Leicester-Square herabsieht, findet die Schläfer noch alle in ihren Betten. Viele von ihnen sind auch in der hellsten Jahreszeit keine Frühaufsteher, sind Nachtvögel, die schlafen, wenn hoch am Himmel die Sonne steht, sind wach und beutegierig, wenn die Sterne scheinen. Hinter schmutzig grauen Vorhängen im Obergeschoß und im Dachstübchen, mehr oder weniger unter falschem Namen, falschem Haar, falschen Titeln, falschem Schmuck und falschen Vorgeschichten, liegt eine Kolonie Briganten in ihrem ersten Schlaf.

Herren, die aus persönlicher Erfahrung von fremden Galeeren und heimischen Tretmühlen erzählen könnten, Spione starker Regierungen, die ewig vor Schwäche und elender Furcht zittern, Bankerottiers, Feiglinge, Renommisten, Spieler, Schwindler und falsche Zeugen, einige unter der schmutzigen Hülle mit der Brandmarke gezeichnet, alle mit mehr Grausamkeit im Herzen als Nero und mit mehr Verbrechen beladen, als im Kerker von Newgate zu finden sind. So schlecht der Teufel in Barchent und Fuhrmannskittel auch sein kann, schlauer, gefühlloser und unerträglicher ist er, wenn er eine Busennadel trägt, sich einen Gentleman nennt, auf eine Karte oder eine Farbe setzt, ein paar Partien Billard spielt oder etwas von Wechseln oder Schuldverschreibungen versteht. Und in dieser Gestalt findet ihn Mr. Bucket, wenn er will, überall in den Nebengassen von Leicester-Square.

Aber der Wintermorgen bedarf seiner nicht und weckt ihn nicht. Er weckt Mr. George in der Schießgalerie und seinen Gehilfen. Sie stehen auf, rollen ihre Matratzen zusammen und verstauen sie. Nachdem Mr. George sich vor einem winzig kleinen Spiegel rasiert hat, marschiert er barhäuptig und mit bloßer Brust hinaus an die Pumpe im kleinen Hof und kehrt bald zurück, glänzend vom Reiben, vom Regen, von gelber Seife und schneidend kaltem Wasser. Wie er sich mit einem großen Frottiertuch abreibt und dabei wie eine Art eben an die Oberfläche gekommener militärischer Tauchervogel prustet, lockt sich sein krauses Haar immer dichter an seinen sonnenverbrannten Schläfen, je mehr er es reibt, so daß es aussieht, als könne man es bestenfalls nur mehr mit einem eisernen Rechen oder einem Striegel in Ordnung bringen. Und wie er reibt und pustet und poliert und schnaubt und den Kopf von einer Seite auf die andre wendet, um sich besser die Kehle zu reinigen, und mit vorgebeugtem Körper dasteht, um keine Tropfen auf seine martialischen Beine kommen zu lassen, sieht sich Phil, der vor dem Kamin kniet, um Feuer zu machen, um, als wäre es für ihn Wäsche genug, wenn er dem allen bloß zusähe, und hinreichend Stärkung für einen Tag, die von seinem Herrn weggeworfene überflüssige Gesundheit magnetisch anzuziehen.

Als Mr. George trocken ist, beginnt er seinen Kopf mit zwei harten Bürsten zugleich so unbarmherzig zu bearbeiten, daß Phil, der, die Galerie auskehrend, mit der Schulter an der Wand entlangrutscht, vor Mitgefühl mit den Augen zwinkert.

Auf diese Abbürstung folgt der verschönernde Teil der Toilette, der bald zu Ende ist. Dann stopft sich Mr. George die Pfeife, zündet sie an und marschiert, wie er es gewohnt ist, rauchend auf und ab, während Phil in einem gewaltigen Dunstkreis von heißen Semmeln und Kaffee das Frühstück zurecht macht. Er raucht ernst und marschiert langsam auf und ab. Vielleicht ist diese Morgenpfeife dem Andenken Gridleys in seinem Grabe gewidmet.

»Also du hast diese Nacht vom Lande geträumt, Phil«, sagt der Inhaber der Schießgalerie, nachdem er einige Mal stumm auf und nieder geschritten ist. Phil hatte es nämlich im Tone der Überraschung, als er aus dem Bette stieg, erwähnt.

»Ja, Govner.«

»Wie hat’s ausgesehen?«

»Ich weiß nicht recht, wie’s ausgesehen hat, Govner«, sagt Phil nachdenklich.

»Woher wußtest du, daß es auf dem Lande war?«

»Von wegen dem Gras, glaub ich, und den Schwänen drauf«, sagt Phil nach weiterer Überlegung.

»Was haben die Schwäne auf dem Grase gemacht?«

»Haben’s gefressen vermutlich.«

Mr. George setzt seinen Marsch und der Diener die Bereitung des Frühstücks fort. Es bedürfte eigentlich keiner sehr langen Vorbereitung, denn es besteht bloß aus dem Auftragen sehr einfacher Frühstücksrequisiten für zwei Personen, dem Rösten einer Scheibe Schinken an dem Feuer des rostigen Herdes. Aber da Phil sich bei jedem Gegenstand, den er braucht, einen beträchtlichen Teil an der Galerie entlangschieben muß und nie zwei Sachen auf einmal bringt, dauert es ziemlich lange.

Endlich ist das Frühstück fertig, wie Phil meldet. Mr. George klopft die Pfeife an der Herdwand aus, stellt sie in eine Ecke und setzt sich zum Essen hin. Als er zugelangt hat, folgt Phil seinem Beispiel. Er sitzt am äußersten Ende des kleinen länglichen Tisches und hält den Teller auf den Knien. Entweder aus Bescheidenheit oder um seine pulvergeschwärzten Hände zu verstecken oder weil es seine natürliche Art ist, so zu essen.

»Auf dem Lande!« sagt Mr. George wieder und hantiert mit Messer und Gabel. »Ich glaube, du hast überhaupt noch nie das Land gesehen.«

»Ich hab die Sümpf ein Mal gsehn«, sagt Phil und verzehrt zufrieden sein Frühstück.

»Was für Sümpfe?«

»Die Sümpf, Kommandeur.«

»Wo sind sie?«

»Ich weiß nicht, wo sie sind, aber gsehn hab ich’s, Govner, flach sinds gwesn und neblig.«

Gouverneur und Kommandeur sind für Phil Worte von gleichem Wert, drücken beide dieselbe Achtung und Ehrerbietung aus und dürfen nur auf Mr. George angewendet werden.

»Ich bin auf dem Lande geboren, Phil.«

»Was S net sagen, Kommandeur!«

»Ja, und dort aufgewachsen.«

Phil zieht seine einzige Augenbraue in die Höhe und schlingt, nachdem er seinen Herrn ehrerbietig angestarrt hat, um sein Interesse auszudrücken, einen großen Schluck Kaffee hinunter.

»Es gibt keinen Vogel, den ich nicht an der Stimme kenne«, sagt Mr. George. »Es gibt wenig Blätter oder Beeren in England, deren Namen ich nicht wüßte. Nicht viele Bäume, auf die ich nicht heute noch klettern könnte, wenn es darauf ankäme. Ich war zu meiner Zeit ein echter Bursch vom Lande. Meine gute Mutter wohnte auf dem Lande.«

»Sie muß eine schöne alte Dame gewesen sein, Govner.«

»Jawohl. Und doch noch nicht besonders alt vor fünfunddreißig Jahren. Aber ich möchte wetten, daß sie mit neunzig Jahren sich fast noch so gerade halten und so breit über die Schultern sein würde wie ich.«

»Starb sie mit neunzig Jahren, Govner?«

»Nein!… Bah! Mag sie in Frieden leben, und Gott segne sie! Möcht wissen, was mich Bauernburschen und fortgelaufne Taugenichtse heut angehen! Du natürlich hast mich draufgebracht. Also du hast nie das Land gesehen, Sümpfe und Träume ausgenommen. Was?«

Phil schüttelt den Kopf.

»Möchtest du’s sehen?«

»N-nein. Ich glaub eigentlich nicht.«

»Die Stadt genügt dir, was?«

»Ja, sehen Sie, Kommandeur«, sagt Phil, »ich kenn weiter nichts und weiß nicht, ob ich nicht für Neuheiten zu alt bin.«

»Wie alt bist du eigentlich, Phil?« fragt der Kavallerist und hebt die rauchende Untertasse zum Munde.

»Es ist etwas mit einem Achter drin. Achtzig kann’s nicht sein, achtzehn auch nicht. Es muß so zwischen beiden sein.«

Mr. George setzt langsam die Tasse hin, ohne einen Schluck getan zu haben, und will gerade zu lachen anfangen, da sieht er, daß Phil an seinen schmutzigen Fingern zählt.

»Was, zum Donnerwetter, Phil…«

»Ich war gerade acht Jahre«, erklärt Phil, »nach der Gemeindehausrechnung, als ich mit dem Kesselflicker fortlief. Ich sollte was holen und sah ihn vor einem alten Haus ganz behaglich allein an einem Feuer sitzen, und er sagte: ‚Du gingst wohl gern mit mir, Bürschchen ?‘ Ich sag ja, und er und ich und das Feuer sind zusammen nach Clerkenwell gegangen. Das war am ersten April. Ich konnte bis zehn zählen, und als der erste April wiederkam, sagte ich zu mir: Na, alter Bursche, jetzt bist du eins und eine Acht darin. Als wieder der erste April kam, sagte ich: Jetzt, alter Junge, bist du zwei und eine Acht dann. Mit der Zeit kam ich zu zehn und eine Acht darin und dann zu zwei Zehnern und eine Acht darin. Höher hinauf konnte ich’s nicht mehr bewältigen, aber ich weiß immer, daß eine Acht darin war.«

»So!« sagt Mr. George und macht sich wieder über sein Frühstück her. »Und wo ist der Kesselflicker?«

»S Trinken hat ihn ins Spital gebracht, Govner, und das Spital in – einen Glaskasten, hab ich mir sagen lassen«, gibt Phil geheimnisvoll zur Antwort.

»Auf diese Weise bist du avanciert – hast das Geschäft übernommen, Phil?«

»Ja, Kommandeur, das Geschäft übernommen. So, wie’s eben war. Es war nicht viel daran. Um Saffronhill, Hattongarden, Clerkenwell, Smiffield und daherum gibt’s nur arme Leut, die die Kessel abnützen, bis nichts mehr dran zu flicken ist. Die meisten der herumziehenden Kesselflicker kamen zu uns und wohnten bei uns. Das war der Hauptverdienst von meinem Meister. Aber zu mir kamen sie nicht. Ich war nicht wie er. Er hat ihnen so schön vorgsungen. Ich konnte das nicht. Er konnte ihnen etwas vorspielen auf jedem Topf, ob er jetzt aus Eisen oder Zinn war. Ich konnte nie etwas andres mit einem Topf anfangen, als ihn flicken oder drin kochen – ich hab nie einen Ton Musik in mir gehabt. Und dann war ich zu häßlich, und ihre Weiber beschwerten sich über mich.«

»Die haben’s nötig gehabt! In der Herde wärst du schon auch noch mit durchgerutscht, Phil«, sagt der Kavallerist mit einem freundlichen Lächeln.

»Nein, Govner«, entgegnet Phil mit Kopfschütteln. »O nein, bestimmt nicht. Ich war noch so ziemlich passabel, als ich zum Kesselflicker kam, wenn ich mich damit auch nicht brüsten konnte, aber ich mußte immer schon als Junge das Feuer anblasen und verdarb mir die Haut und versengte mir das Haar und mußte den Rauch schlucken. Und dann hatte ich von Natur aus Pech, hab mich immer an heißem Eisen verbrannt und mich auf die Art gezeichnet, und dann hab ich immer, als ich älter wurde, mit dem Kesselflicker Streit gehabt, so oft er betrunken war, und mich herumprügeln müssen. Und besoffen war er immer. Daher hat es mit meiner Schönheit schon damals sehr windig ausgesehen. Und seitdem bin ich ein Dutzend Jahre in einer dunkeln Schmiede beschäftigt gewesen, wo die Leute Schindluder mit mir getrieben haben, und bei einem Unglücksfall in einer Gasanstalt verbrannt worden und bei einem Feuerwerksgeschäft beim Böllerfüllen zum Fenster hinausgeflogen. Jetzt bin ich so häßlich, daß man mich auf dem Jahrmarkt zeigen könnte.«

Phil sieht trotz dieses Zustandes ganz zufrieden aus und fragt um Erlaubnis, ob er noch eine Tasse Kaffee trinken dürfe. Während er sie schlürft, sagt er: »Nach der Explosion bei dem Feuerwerker hab ich Sie das erste Mal gesehen, Kommandeur. Erinnern Sie sich noch?«

»Gewiß, Phil, du gingst im Sonnenschein spazieren.«

»Schob mich an der Wand hin, Govner.«

»Jawohl, Phil, mit der Schulter…«

»In einer Nachtmütze!« ruft Phil ganz aufgeregt aus.

»In einer Nachtmütze…«

»Und humpelte an ein paar Krücken!« ruft Phil noch aufgeregter.

»Mit ein paar Krücken – da…«

»Da blieben Sie stehen, erinnern Sie sich!« ruft Phil aus, setzt seine Tasse hin und nimmt hastig den Teller vom Knie. »Und sagten zu mir: ‚Was, Kamerad, du bist im Krieg gewesen !‘ Ich sagte nicht viel zu Ihnen, Kommandeur, denn ich war ganz überrascht, daß ein so starker und gesunder Mann wie Sie stehen blieb und einen hinkenden Knochenhaufen wie mich ansprach. Aber Sie fragten mich und sagten es so herzlich heraus, daß es grad war wie ein Glas von was Heißem: ‚Was ist dir zugestoßen? Du bist bös dabei weggekommen. Was fehlt dir, alter Knabe? Kopf hoch und alles frisch erzählt!‘

Kopf hoch! Mich frischte es ordentlich auf, und dann haben Sie etwas gesagt, und ich hab etwas gesagt, und dann haben wir lang miteinander gesprochen, und so bin ich jetzt hier, Kommandeur. Hier bin ich, Kommandeur!« ruft Phil, der von seinem Stuhl aufgesprungen ist und jetzt anfängt, sich auf ganz unerklärliche Weise seitwärts fortzubewegen. »Wenn man ein Ziel braucht oder es dem Geschäft von Nutzen ist, sollen die Kunden mich nur ruhig als Scheibe verwenden. Meiner Schönheit können sie weiter nicht mehr schaden. Mir ist alles gleich. Nur heran! Wenn sie einen brauchen, um auf ihn loszuboxen, sollen sie losboxen. Sie können mir ruhig auf den Kopf hauen. Mir ist’s gleich. Wenn sie einen Leichtgewichtler brauchen, um ihn nach Cornwall-, Devonshire- oder Lancashire-Weise zu werfen, sollen sie mich werfen. Macht nichts. Ich bin mein ganzes Leben lang auf jede Weise geworfen worden.«

Mit dieser unerwarteten Rede, die er sehr energisch vorbringt, und mit den verschiednen Leibesübungen angepaßten Gebärden begleitet, schiebt sich Phil Squod mit der Schulter an drei Seiten der Galerie herum und wendet sich dann plötzlich gegen seinen Kommandeur und vollführt mit dem Kopf einen Stoß nach ihm, um damit seine volle Hingebung im Dienst anzudeuten. Dann fängt er an, das Frühstück wegzuräumen.

Mr. George hat heiter gelacht und ihm auf die Schulter geklopft. Jetzt hilft er ihm beim Wegräumen und bringt dann mit ihm die Galerie für das Geschäft in Ordnung. Er macht ein paar Übungen mit Hanteln durch. Dann wiegt er sich, schließt daraus, daß er zuviel Fleisch ansetze, und schreitet mit großem Ernst an eine Übung im Säbelschwingen. Unterdessen hat sich Phil an seinen Arbeitstisch gesetzt, schraubt Gewehre auseinander und zusammen, putzt und feilt und bläst in kleine Löcher und wird immer schwärzer dabei und hantiert aufs emsigste mit allen möglichen Waffenbestandteilen.

Herr und Diener hören endlich im Gange, wo es so stark hallt, Tritte, die die Ankunft seltener Gäste verraten. Die Schritte kommen der Galerie immer näher, und endlich tritt eine Gruppe auf die Schwelle, die auf den ersten Anblick zu keinem andern Tag im Jahr als dem fünften November, dem Datum der großen Verschwörung, zu passen scheint.

Sie besteht aus einer hinfälligen und häßlichen Gestalt auf einem von zwei Trägern getragnen Stuhl und einem daneben hergehenden hagern Frauenzimmer mit einem Gesicht wie eine halbverhungerte Maske. Sie sieht aus, daß man jeden Augenblick von ihr die Verse zur Erinnerung an die Zeit, wo sie ganz England in die Luft sprengen wollten, zu hören erwarten würde, wenn sie die Lippen nicht so fest und trotzig zusammenbisse. Der Stuhl wird hingesetzt, und die darin liegende Gestalt, die bis jetzt nur gekeucht hat: »O Gott, o Gott!« fügt hinzu: »Wie geht’s, mein lieber Freund, wie geht’s?« und Mr. George erkennt in der Prozession den auf einer Spazierfahrt begriffenen würdigen Mr. Smallweed, begleitet von seiner Enkelin Judy als Leibwache.

»Mr. George, mein lieber Freund«, ruft Großvater Smallweed und nimmt seinen rechten Arm von dem Halse eines seiner Träger, den er auf dem Herweg fast erwürgt hat. »Wie geht’s? Sie sind wohl sehr überrascht, mich zu sehen, mein lieber Freund?«

»Ich würde über Ihren Freund in der City kaum weniger überrascht sein.«

»Ich gehe sehr selten aus«, keucht Mr. Smallweed. »Ich bin seit vielen Monaten nicht herausgekommen. Es ist unbequem und teuer. Aber ich sehnte mich so sehr, Sie zu sehen, lieber Mr. George. Wie geht es Ihnen?«

»Recht gut«, sagt Mr. George. »Ich hoffe, Ihnen auch?«

»Es kann Ihnen nie zu gut gehen, mein lieber Freund.« Mr. Smallweed ergreift seine beiden Hände. »Ich habe meine Enkelin Judy mitgebracht. Sie ließ sich’s nicht nehmen. Sie sehnte sich auch so sehr, Sie zu sehen.«

»Hm! Anmerken tut man ihr nichts«, brummt Mr. George.

»So nahmen wir also eine Droschke und setzten einen Stuhl hinein, und unten an der Straßenecke hoben sie mich aus dem Wagen und in den Stuhl und trugen mich hierher, damit ich meinen lieben Freund in seinem eignen Geschäft besuchen könnte! Das ist der Kutscher«, sagt Großvater Smallweed und deutet auf den Mann, der der Gefahr des Erwürgens ausgesetzt war und sich, seine Luftröhre befühlend, jetzt entfernt.

»Er bekommt nichts extra. Es ist im Fahrgeld mit einbegriffen. Den andern Mann da nahmen wir auf der Straße für eine Finte Bier. Das kostet zwei Pence. Judy, gib dem Mann zwei Pence. Ich wußte nicht, daß Sie selbst einen Gehilfen hier haben, lieber Freund, sonst hätten wir den Mann gespart.«

– Großvater Smallweed richtet dabei einen ziemlich erschrockenen Blick auf Phil und läßt ein halbunterdrücktes »O Gott, o Gott!« hören. Seine Besorgnis ist anscheinend nicht grundlos, denn Phil, der die Erscheinung in dem schwarzen Samtkäppchen noch nie gesehen hat, steht mit einer Flinte in der Hand starr da wie ein Jäger, der Mr. Smallweed wie einen häßlichen alten Vogel vom Krähengeschlecht soeben herunterzuschießen im Begriff steht. –

»Judy, mein Kind, gib dem Mann seine zwei Pence. Es ist schrecklich viel für die kleine Arbeit.«

Der Mann, eines jener merkwürdigen Exemplare menschlicher Pilze, die in den westlichen Straßen Londons ganz plötzlich aus dem Boden schießen können, in alte rote Jacken gekleidet sind und sich mit der Mission, Pferde zu halten und Kutscher zu holen, mit Vorliebe betrauen lassen, nimmt seine zwei Pence ohne besonderes Entzücken in Empfang, wirft das Geld in die Luft, fängt es wieder auf und entfernt sich.

»Mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, »möchten Sie nicht so gut sein und mich ans Feuer tragen helfen? Ich bin an Wärme gewöhnt und bin ein alter Mann und fröstle leicht. – O Gott!«

Der Ausruf entfährt dem würdigen Herrn infolge der Plötzlichkeit, mit der Mr. Squod wie ein diensteifriger Gnom ihn samt dem Stuhl in die Höhe hebt und dicht am Herd niedersetzt.

»O Gott«, sagt Mr. Smallweed keuchend. »O mein Gott! O Gott im Himmel! Mein lieber Freund, Ihr Gehilfe ist furchtbar stark und – so rasch. O Gott, ist der rasch! Judy, zieh mich ein bißchen zurück. Es verbrennt mir die Beine.«

Das stimmt, wie alle Anwesenden an dem Geruch der versengten Wollstrümpfe des alten Herrn merken.

Nachdem ihn die sanfte Judy ein wenig vom Feuer weggezogen, wie gewöhnlich zurechtgeschüttelt und sein Auge von dem schwarzsamtenen Lichtauslöscher befreit hat, sagt er abermals: »O Gott, o Gott!«, sieht sich um, begegnet Mr. Georges Blick und streckt ihm wieder seine beiden Hände hin.

»Mein lieber Freund, wie froh bin ich, Sie zu sehen! Und das ist Ihr Geschäftslokal? Ein entzückender Ort! Ein wahres Bild! – Es kommt doch nicht vor, daß hier manchmal etwas zufällig losgeht, mein lieber Freund?« setzt Großvater Smallweed plötzlich sehr besorgt hinzu.

»Nein, nein, haben Sie keine Angst.«

»Und Ihr Gehilfe? Er – o Gott – läßt doch nichts losgehen, auch nicht unabsichtlich. Wie, mein lieber Freund?«

»Er hat noch niemanden verletzt als sich selbst«, sagt Mr. George lächelnd.

»Aber es könnte doch geschehen, wissen Sie. Er scheint sich sehr oft verletzt zu haben und könnte doch auch andre verletzen«, wendet der alte Herr ein. »Er braucht es ja nicht mit Absicht zu tun. Oder vielleicht gelegentlich doch mit Absicht. Was kann man wissen. Mr. George, möchten Sie ihm nicht befehlen, diese höllischen Feuerwaffen liegenzulassen und wegzugehen?«

Einem Wink des Kavalleristen gehorsam, begibt sich Phil mit leeren Händen an das andre Ende der Galerie. Mr. Smallweed ist jetzt beruhigt und fängt an, sich die Schenkel zu reiben.

»Und Sie befinden sich also wohl, Mr. George?« fragt er den Kavalleristen, der mit dem Säbel in der Hand Front vor ihm macht. »Das Geschäft geht gut, so Gott will?«

Mr. George antwortet mit einem kühlen Nicken und setzt hinzu: »Also los endlich! Um das zu sagen, sind Sie doch nicht hergekommen.«

»Sie sind so spaßig, Mr. George«, entgegnet der ehrwürdige Greis. »Sie sind so ein guter Gesellschafter.«

»Haha! Aber los endlich.«

»Mein lieber Freund!… Aber das Schwert funkelt schrecklich und sieht so scharf aus. Es könnte jemanden zufällig schneiden. Es macht mich schaudern, Mr. George. Verflucht soll er sein«, sagt der vortreffliche alte Herr heimlich zu Judy, als der Kavallerist ein paar Schritte weggeht, um den Säbel aufzuhängen. »Er ist mir Geld schuldig und könnte auf den Einfall kommen, seine Rechnung in diesem Mörderloch zu begleichen. Ich wollte, deine Höllengroßmutter wäre hier und er rasierte ihr den Kopf ab.«

Mr. George kommt zurück, verschränkt die Arme, sieht auf den Alten herab, der mit jedem Augenblick tiefer in seinen Stuhl versinkt, und sagt ruhig: »Nun also?«

»Ha!« ruft Mr. Smallweed und reibt sich die Hände mit schlauem Kichern. »Ja. Nun also. Nun also, was jetzt, mein lieber Freund?«

»Eine Pfeife«, sagt Mr. George, setzt sich höchst gelassen in seinen Stuhl in der Kaminecke, nimmt seine Pfeife vom Rost, stopft sie und zündet sie an und beginnt friedlich zu rauchen.

Das bringt Mr. Smallweed aus der Fassung. Er findet es so schwer, auf sein Thema zu kommen, und gerät darüber so in Aufregung, daß er mit seinen klauenartigen Fingern mit ohnmächtiger Rachgier, als wolle er Mr. Georges Gesicht zerfleischen, in der Luft herumfährt. Die Nägel des vortrefflichen alten Herrn sind lang und bleifarben, seine Hände mager und dickaderig und seine Augen grün und wäßrig. Und da er außerdem, während er so in der Luft herumfuchtelt, immer tiefer in seinem Stuhl zu einem gestaltlosen Bündel zusammensinkt, bietet er selbst den abgehärteten Augen Judys ein so scheußliches Schauspiel dar, daß diese Jungfrau, wenn auch nicht mit der Glut kindlicher Liebe, auf ihn zustürzt und ihn so aufrüttelt und ihm am Körper herumklopft und ihn pufft, daß er in seinem Jammer Töne wie die Ramme eines Pflasterers hören läßt.

Als Judy ihn durch diese Mittel wieder in seinem Stuhl, in dem er jetzt mit weißem Gesicht und blauer Nase, aber immer noch in die Luft krallend, dasitzt, aufgerichtet hat, streckt sie ihren dünnen Zeigefinger aus und sticht damit Mr. George in den Rücken. Als der Kavallerist aufblickt, sticht sie auf dieselbe Weise nach ihrem geschätzten Großvater und starrt, nachdem sie so die Unterhaltung eingeleitet hat, streng ins Feuer.

»Ui, ui! O, o! U-u-uff«, schnattert Großvater Smallweed, seine Wut in sich hineinschlingend. »Mein lieber Freund.«

»Ich will Ihnen was sagen, wenn Sie mit mir reden wollen, müssen Sie geradeheraus sprechen. Ich bin einer von den Ungehobelten und nicht gewohnt, wie die Katze um den Brei herumzugehen. Ich bin das nicht gewohnt. Ich bin nicht gescheit genug dazu. Es paßt mir nicht. Wenn Sie mich so umschlängeln«, sagt der Kavallerist und steckt die Pfeife wieder zwischen die Zähne, »verdammt, ob es mir nicht vorkommt, als ob ich ersticken müßte.«

Und er dehnt seine breite Brust aus, so weit er kann, als wolle er sich versichern, daß er noch nicht erwürgt ist.

»Wenn Sie gekommen sind, um mir einen freundschaftlichen Besuch zu machen, bin ich Ihnen dafür verbunden. Wie befinden Sie sich? Wenn Sie gekommen sind, um nachzusehen, wie’s mit meinem Besitz steht, dann sehen Sie sich um: Sie sind willkommen. Wenn Sie was zu sagen haben, dann reden Sie.«

Die rosige Judy versetzt, ohne ihren Blick vom Feuer abzuwenden, ihrem Großvater einen gespensterhaften Stoß.

»Sie sehen, es ist auch ihre Meinung. Aber warum zum Teufel setzt sich das Mädchen nicht wie jeder andre Christenmensch?« fragt Mr. George, die Augen nachdenklich auf Judy geheftet. »Ich kann’s nicht begreifen.«

»Sie bleibt neben mir, um auf mich acht zu geben«, erklärt Großvater Smallweed. »Ich bin ein alter Mann, mein lieber Mr. George, und brauche Beistand. Ich kann meine Jahre noch tragen. Ich bin kein Höllenteufelplapperpapagei.« Er knurrt und sieht sich unwillkürlich nach dem Kissen um. »Aber ich brauche Beistand, mein lieber Freund.«

»Gut«, entgegnet der Kavallerist und dreht seinen Stuhl so, daß er dem Alten ins Gesicht sieht. »Nun, also?«

»Mein Freund in der City, Mr. George, hat ein kleines Geschäftchen mit einem Schüler von Ihnen gemacht.«

»Hat er das? Tut mir leid zu hören.«

»Ja, Sir.« Großvater Smallweed reibt sich die Schenkel. »Er ist ein hübscher junger Soldat jetzt, Mr. George, und heißt Carstone. Freunde sind für ihn eingesprungen und haben alles ehrlich bezahlt.«

»So, taten sie das! – Meinen Sie, Ihr Freund in der City würde einen guten Rat annehmen?«

»Ich glaube wohl, mein lieber Freund. Von Ihnen?«

»Dann rate ich ihm, keine weiteren Geschäfte mehr in dieser Richtung zu machen. Es schaut nichts mehr dabei heraus. Der junge Herr ist, soviel ich weiß, mit der Nase an der Wand angekommen.«

»Nein, nein, mein lieber Freund, o nein, Mr. George. Nein, nein, nein, Sir«, wendet Großvater Smallweed ein und reibt sich listig seine dürren Schenkel. »Noch nicht ganz, glaube ich. Er hat gute Freunde und ist gut für seine Gage und ist gut für den Verkaufspreis seines Patents und ist gut für seine Aussichten in einem Prozeß und ist gut für seine Chancen auf eine Heirat und… O, wissen Sie, Mr. George, ich glaube, mein Freund würde den jungen Herrn noch immerhin für ganz gut halten«, sagt Großvater Smallweed, schiebt das Sammetkäppchen in die Höhe und kratzt sich hinter dem Ohr wie ein Affe.

Mr. George, der die Pfeife weggelegt hat und einen Arm auf der Stuhllehne ruhen läßt, trommelt mit dem rechten Fuß auf den Fußboden, als fände er keinen besondern Gefallen an der Wendung, die das Gespräch genommen hat.

»Aber, um von einem Thema auf das andre überzugehen, um die Unterhaltung avancieren zu lassen, wie ein Spaßvogel wie Sie sagen würde, um von dem Fähnrich auf den Kapitän zu kommen, Mr. George…«

»Was meinen Sie damit?« fragt Mr. George und hält mit gerunzelter Stirn inne, sich in der Erinnerung seinen Schnurrbart zu streichen. »Auf was für einen Kapitän?«

»Auf unsern Kapitän. Auf den Kapitän, den wir kennen. Kapitän Hawdon.«

»So, so. Um den handelt sich’s!« Mr. George läßt ein leises Pfeifen hören, während Großvater und Enkelin ihn scharf ansehen. »Das ist’s also. Nun, was ist’s damit? Los. Ich habe nicht Lust, mich länger ersticken zu lassen. Reden Sie!«

»Mein lieber Freund«, entgegnet der Alte, »man wendete sich gestern an mich – Judy, schüttle mich ein bißchen auf –, man hat sich gestern an mich wegen des Kapitäns gewendet, und ich bin immer noch der Ansicht, daß der Kapitän nicht tot ist.«

»Blech!« bemerkt Mr. George.

»Was sagten Sie, lieber Freund?« forscht der Alte, die Hand am Ohr.

»Blech!«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed. »Mr. George, Sie können selbst meine Meinung nach den mir gestellten Fragen und den dafür angegebnen Gründen beurteilen. Also was, meinen Sie, will der Advokat denn dann, der immer bei mir nachforscht?«

»Ein Geschäft machen.«

»Nichts derart.«

»Dann kann er kein Advokat sein«, sagt Mr. George und verschränkt die Arme mit einer Miene größter Entschlossenheit.

»Mein lieber Freund, er ist Advokat, und zwar ein sehr berühmter. Er wünscht Kapitän Hawdons Handschrift zu sehen. Er will sie nicht behalten. Er wünscht sie bloß zu sehen und mit einer in seinem Besitz befindlichen Handschrift zu vergleichen.«

»Nun, und?«

»Nun, Mr. George, da er sich zufällig an die Zeitungsnotiz, die Kapitän Hawdon betraf, erinnerte, forschte er nach und kam zu mir – gerade wie Sie, mein lieber Freund. Geben Sie mir die Hand. Ich freute mich so sehr an jenem Tag, daß Sie kamen. Wir hätten nie Freundschaft geschlossen, wenn Sie mich nicht damals besucht hätten.«

»Nun, und, Mr. Smallweed?« fragt Mr. George wiederum und tut die Zeremonie des Händeschüttelns mit einer gewissen Steifheit ab.

»Ich besaß kein Schreiben von ihm. Ich hatte nichts als eine Unterschrift. Hölle, Pest und Hungersnot, Schlacht, Mord und Schlagfluß sollen über ihn kommen«, sagt der Alte und macht einen Fluch aus seinen bruchstückweisen Erinnerungen an ein Gebet und zaust sein Samtkäppchen wütend zwischen den Händen. »Ich glaube, ich habe eine halbe Million von seinen Unterschriften. Aber Sie«, fährt er fort und gewinnt atemlos seinen milderen Ton wieder, wie ihm Judy das Käppchen wieder auf seinen kahlen Kopf setzt, »aber Sie, mein lieber Mr. George, besitzen wahrscheinlich einen Brief oder ein Papier, das unsern Zweck erfüllt. Alles wäre geeignet. Nur muß es von seiner Hand geschrieben sein.«

»Etwas von seiner Hand Geschriebenes?« überlegt der Kavallerist. »Möglich, daß ich etwas habe.«

»Mein lieber, lieber Freund!«

»Vielleicht auch nicht.«

»Ho!« sagt Großvater Smallweed entmutigt.

»Aber wenn ich auch ganze Scheffel davon hätte, würde ich nicht soviel zeigen, als zu einer Patrone reicht, ohne zu wissen, wozu?«

»Sir, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu! Mein lieber Mr. George, ich habe Ihnen doch gesagt, wozu!«

»Das ist nicht genug.« Der Kavallerist schüttelt den Kopf. »Ich muß mehr wissen und damit einverstanden sein.«

»Wollen Sie dann mit zu dem Advokaten kommen? Mein lieber Freund, kommen Sie mit, und besuchen wir den Herrn«, drängt Großvater Smallweed und zieht eine verhungerte alte Uhr heraus mit Zeigern wie die Beine eines Skeletts. »Ich sagte ihm, ich würde ihn zwischen zehn und elf heute vormittag besuchen, und es ist jetzt halb elf. Wollen Sie mich zu dem Herrn begleiten, Mr. George?«

»Hm«, überlegt der Kavallerist ernst. »Mir ist’s gleich. Ich möchte nur wissen, warum Ihnen gar soviel daran liegt.«

»Mir liegt an allem, was mir die Möglichkeit gibt, etwas über den Kapitän zu erfahren. Hat er uns nicht alle eingetunkt? Ist er uns nicht allen ohne Ausnahme ungeheure Summen schuldig? Mich angehen? Wen kann es mehr angehen als mich? Nicht etwa, mein lieber Freund«, sagt Großvater Smallweed mit ruhigerem Ton, »daß ich Ihnen zumute, etwas zu verraten. Weit entfernt davon. Sind Sie bereit, mitzukommen, mein lieber Freund?«

»Na ja! Ich komme. Aber ich verspreche nichts, verstanden!«

»Nein, mein lieber Mr. George, nein.«

»Und Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie mich in Ihrem Wagen mitfahren lassen, ohne etwas dafür zu berechnen?« höhnt Mr. George und holt seinen Hut und seine dicken waschledernen Handschuhe.

Dieser Spaß gefällt Mr. Smallweed so sehr, daß er lange und leise vor dem Feuer lacht. Aber selbst während er lacht, blickt er über seine gelähmte Schulter nach Mr. George und belauert mit gierigen Augen, wie er das Vorhängschloß vor einem einfachen Schrank am hintern Ende der Galerie öffnet, in den obern Fächern herumsucht und schließlich etwas herausnimmt, das wie Papier raschelt, es zusammenfaltet und in die Brusttasche steckt. Dabei stößt Judy Mr. Smallweed an, und Mr. Smallweed stößt Judy an.

»Ich bin bereit«, sagt der Kavallerist und kommt zurück.

»Phil, du kannst diesen alten Herrn an seinen Wagen tragen. Gib aber acht!«

»O Gott, o Gott! Warten Sie einen Augenblick«, sagt Mr. Smallweed. »Sie sind schrecklich schnell. Wissen Sie auch sicher, daß nichts geschieht, mein Bester?«

Phil gibt keine Antwort, packt den Stuhl und stürzt seitwärts, von dem jetzt sprachlosen Mr. Smallweed krampfhaft umklammert, durch den Gang, als hätte er den freundlichen Auftrag, den alten Ehrenmann nach dem nächsten Vulkan zu tragen. Da sein Ziel jedoch schon der Wagen ist, setzt er ihn dort hinein, die schöne Judy nimmt daneben Platz, und der Stuhl verziert das Dach.

Mr. George setzt sich auf den Bock.

Mr. George ist ganz verblüfft von dem Schauspiel, das sich ihm bietet, wenn er von Zeit zu Zeit durch das Fenster zurück in den Wagen blickt, wo die grimme Judy regungslos sitzt, während der alte Herr, das Käppchen über einem Auge, von dem Sitz in das Stroh hinuntergerutscht ist und mit dem freien Auge in hilfloser Klage, daß ihn das Rütteln so in den Rücken stoße, zu ihm hinaufschaut.

27. Kapitel


27. Kapitel

Schachzüge

Nicht lange braucht Mr. George, die Arme verschränkt, auf dem Bock zu sitzen, denn das Ziel ist Lincoln’s-Inn-Fields. Als der Kutscher hält, steigt er herunter, sieht zum Fenster hinein und fragt:

»Was, Mr. Tulkinghorn ist Ihr Gewährsmann?«

»Ja, lieber Freund. Kennen Sie ihn denn, Mr. George?«

»Ich habe von ihm gehört –, ihn auch schon gesehen, glaube ich. Aber ich kenne ihn nicht und er mich auch nicht.«

Zuerst muß Mr. Smallweed die Treppe hinaufgetragen werden, was mit des Kavalleristen Hilfe leicht vonstatten geht. Man bringt ihn in Mr. Tulkinghorns großes Zimmer und setzt ihn auf den türkischen Teppich neben den Kamin. Mr. Tulkinghorn ist momentan nicht anwesend, wird aber gleich wieder zurück sein. Der Inhaber des Pultes im Vorzimmer meldet dies, schürt das Feuer und überläßt es dem Kleeblatt, sich zu wärmen.

Mr. George sieht neugierig im Zimmer umher, zu der gemalten Decke hinauf, betrachtet die alten juristischen Bücher, die Porträts der vornehmen Klienten und liest laut die Namen auf den Kasten.

»Sir Leicester Dedlock, Baronet«, buchstabiert er gedankenvoll. »Ha! Rittergut Chesney Wold. Hm!« Er steht eine Weile vor diesen Kasten wie vor Gemälden und tritt wieder an den Kamin und wiederholt dabei die Worte: »Sir Leicester Dedlock, Baronet«, und »Rittergut Chesney Wold. Hm!«

»Hat schrecklich viel Geld, Mr. George«, flüstert Großvater Smallweed und reibt sich die Schenkel. »Fürchterlich reich.«

»Wen meinen Sie? Diesen alten Herrn oder den Baronet?«

»Diesen Herrn, diesen Herrn.«

»Hab es auch schon gehört. Hat auch so manchen im Sack, möchte wetten. Kein schlechtes Quartier übrigens«, sagt Mr. George und sieht sich wieder um. »Schauen Sie mal die eiserne Kasse dort.«

Mr. Tulkinghorns Ankunft schneidet die Antwort ab. Er sieht natürlich aus wie immer. Sein Anzug ist stumpf schwarz. Die Brille trägt er in der Hand, und sogar ihr Futteral ist abgeschabt. Sein Benehmen ist verschlossen und abweisend, die Stimme tonlos und gedämpft. Sein Gesicht ist wach, aber wie hinter einem Vorhang. Wer weiß, vielleicht ist er ein Misanthrop oder ein Weltverächter. Der hohe Adel könnte nach allem vielleicht wärmere Verehrer haben und treuere Anhänger als Mr. Tulkinghorn.

»Guten Morgen, Mr. Smallweed, guten Morgen«, sagt er beim Hereintreten. »Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe. Setzen Sie sich, Sergeant.«

Während Mr. Tulkinghorn die Handschuhe auszieht und sie in seinen Hut legt, wirft er unter den Lidern hinweg einen Blick auf die andre Seite des Zimmers, wo der Kavallerist steht, und sagt leise, wahrscheinlich zu sich selbst: »Du könntest mir so passen, mein Freund.«

»Setzen Sie sich, Sergeant«, wiederholt er laut, tritt an den Tisch neben dem Kamin und nimmt in seinem Lehnstuhl Platz. »Kalt und rauh heute morgen, kalt und rauh…« Mr. Tulkinghorn wärmt sich vor dem Kamingitter abwechselnd Innen- und Außenseite seiner Hände und betrachtet hinter seinem Gesichtsvorhang, der immer heruntergelassen ist, hervor das im Halbkreis herumsitzende Kleeblatt.

»Nun, ich möchte jetzt wissen, woran ich bin, Mr. Smallweed.«

Der alte Herr wird von Judy zurechtgeschüttelt, um an der Unterhaltung teilnehmen zu können.

»Sie haben den Sergeanten mitgebracht, wie ich sehe.«

»Ja, Sir«, antwortet Mr. Smallweed und liegt auf dem Bauch vor dem Reichtum und Einfluß des Advokaten.

»Und was meint der Sergeant zu der Sache?«

»Mr. George«, sagt Großvater Smallweed und streckt seine runzelige Hand zitterig aus. »Dies ist der Herr, Mr. George.«

Mr. George begrüßt den Herrn, sitzt aber dabei steif aufrecht und in tiefstem Schweigen auf der Vorderkante seines Stuhls, als ob er seine ganze feldmäßige Adjustierung anhätte.

Mr. Tulkinghorn fährt fort: »Nun, George, ich glaube, Ihr Name ist doch George?«

»So ist’s, Sir.«

»Was sagen Sie dazu, George?«

»Entschuldigen Sie, Sir«, entgegnet der Kavallerist, »aber ich möchte wissen, was Sie dazu sagen.«

»Meinen Sie hinsichtlich Bezahlung?«

»Ich meine in jeder Hinsicht.«

Das stellt Mr. Smallweeds Geduld derartig auf die Probe, daß er plötzlich herausfährt: »Du Höllenhundsbestie!« Ebenso schnell bittet er Mr. Tulkinghorn um Entschuldigung, indem er sich damit herausredet, daß er zu Judy sagt: »Mir ist deine Großmutter eingefallen, mein Kind.«

»Ich glaubte, Mr. Smallweed hätte Ihnen bereits die Sache genügend auseinandergesetzt, Sergeant«, beginnt Mr. Tulkinghorn von neuem, lehnt sich in den Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. »Sie ist übrigens bald erklärt. Sie haben unter Kapitän Hawdon gedient, ihn in seiner Krankheit gepflegt, ihm manchen kleinen Dienst geleistet und waren sein Vertrauter, wie ich hörte. Verhält es sich so?«

»Ja, Sir, so verhält es sich«, bestätigt Mr. George mit militärischer Kürze.

»Sie besitzen daher vielleicht etwas – gleichgültig was –, Rechnungen, Instruktionen, Befehle, einen Brief oder sonst etwas von Kapitän Hawdons Hand? Ich wünsche seine Handschrift mit einem in meinem Besitz befindlichen Schriftstück zu vergleichen. Wenn Sie mir das ermöglichen, werde ich Sie für Ihre Mühe entschädigen. Drei, vier, fünf Guineen würden wohl anständig bezahlt sein, schätze ich.«

»Nobel, mein lieber Freund!« ruft Großvater Smallweed und drückt die Augen halb zu.

»Wenn es Ihnen nicht genug ist, so sagen Sie auf Ihr Gewissen als Soldat, wieviel mehr es sein soll. Sie brauchen die Schrift nicht aus der Hand zu geben, wenn es Ihnen widerstrebt, obgleich es mir lieber wäre, wenn sie in meinen Besitz überginge.«

Mr. George sitzt unbeweglich stramm, blickt auf den Boden, auf die gemalte Decke hinauf und spricht kein Wort. Mr. Smallweed kratzt wütend in der Luft herum.

»Die Frage ist«, sagt Mr. Tulkinghorn in seiner methodischen, gedämpften, teilnahmslosen Weise, »erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in Ihrem Besitz?«

»Erstens, ist etwas von Kapitän Hawdons Handschrift in meinem Besitz, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Zweitens, was wollen Sie für Ihre Mühe haben?«

»Zweitens, was will ich für meine Mühe haben, Sir?« wiederholt Mr. George.

»Drittens können Sie selbst urteilen, ob dies der Handschrift irgendwie ähnlich sieht«, sagt Mr. Tulkinghorn und gibt dem Kavalleristen plötzlich einige zusammengebundene Bogen beschriebenen Papiers in die Hand.

»Ob sie dieser irgendwie ähnlich sieht, Sir. Ich verstehe«, wiederholt Mr. George.

Alle drei Sätze spricht Mr. George ganz mechanisch nach und sieht Mr. Tulkinghorn unverwandt an und wirft auch nicht den flüchtigsten Blick auf das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce, das ihm der Advokat, um ihn zu überrumpeln, gegeben hat, sondern sieht Mr. Tulkinghorn mit einer Miene unruhigen Grübelns an.

»Nun?« fragt Mr. Tulkinghorn. »Was meinen Sie dazu?«

»Nun, Sir«, antwortet Mr. George, richtet sich straff auf und sieht wie ein Riese aus. »Sie entschuldigen schon, aber ich möchte lieber nichts mit der Sache zu tun haben.«

Äußerlich nicht im mindesten erregt, fragt Mr. Tulkinghorn: »Warum nicht?«

»Warum nicht, Sir? Ich habe wohl militärische Disziplin, bin aber sonst kein Geschäftsmann. Unter Zivilisten bin ich, was man so sagt, das fünfte Rad am Wagen. Ich habe schriftliche Sachen nicht gern, Sir. Ich kann jedes Feuer besser aushalten als ein Feuer von Kreuzfragen. Ich erwähnte erst vor einer Stunde zu Mr. Smallweed, daß, wenn man mir von derlei Dingen zu reden anfängt, mir ist, als müßte ich ersticken. Und so ist mir jetzt wieder zumut«, sagt Mr. George und sieht die Anwesenden der Reihe nach an.

Dann macht er drei Schritte vorwärts, um die Papiere wieder auf den Tisch zu legen, und drei Schritte rückwärts zu seinem frühern Platz. Und dort bleibt er aufrecht stehen, blickt auf den Boden und dann wieder auf die gemalte Decke und versteckt die Hände auf dem Rücken, wie um kein Dokument mehr annehmen zu müssen.

Das reizt Mr. Smallweed dermaßen, daß er sein Lieblingsschimpfwort wieder mit »Höllenschwefel…« beginnt, aber noch rechtzeitig verschluckt, »mein lieber Freund«, sagt und eine Pause macht.

Dann aber fängt er an, seinen lieben Freund aufs zärtlichste zu ermahnen, nicht starrköpfig zu sein, sondern zu tun, was so ein hervorragender Gentleman wünsche, und zwar bereitwillig und unbedenklich, da es ebenso tadellos sei wie gewinnbringend. Nur gelegentlich flicht Mr. Tulkinghorn einen Satz ein wie: »Sie müssen am besten wissen, wie hoch Sie es veranschlagen, Sergeant. – Denken Sie selbst nach, ob es Ihnen Schaden bringt. – Ganz, wie es Ihnen beliebt, ganz wie es Ihnen beliebt. – Wenn Sie wissen, was Sie wollen, so genügt das vollkommen.« Er spricht die Sätze anscheinend mit vollkommener Gleichgültigkeit, kramt dabei unter den Papieren auf seinem Tisch herum und trifft Vorbereitungen, einen Brief zu schreiben.

Mr. George blickt mißtrauisch von der gemalten Decke auf den Boden, von dem Boden auf Mr. Smallweed, von Mr. Smallweed auf Mr. Tulkinghorn und von Mr. Tulkinghorn wieder auf die gemalte Decke und läßt in seiner Verlegenheit seinen Körper bald auf dem einen, bald auf dem andern Bein ruhen.

»Ich versichere Ihnen, Sir«, sagt er, »ohne Sie beleidigen zu wollen, daß ich mich zwischen zwei solchen Leuten wie Ihnen und Mr. Smallweed wahrhaftig fünfzig Mal hintereinander ersticken fühle. Tatsächlich, Sir! Ich kann es mit zwei solchen Gentlemen nicht aufnehmen. Darf ich fragen, warum Sie des Kapitäns Handschrift zu sehen wünschen, falls ich eine Probe davon finden sollte?«

Mr. Tulkinghorn schüttelt ruhig den Kopf. »Nein! Wenn Sie Geschäftsmann wären, Sergeant, so würde ich Ihnen nicht erst zu sagen brauchen, daß es in meinem Beruf Vertrauenssache ist, auch Gründe, die an und für sich ganz harmlos sind, geheim zu halten. Aber wenn Sie fürchten, Kapitän Hawdon vielleicht irgendwie zu schaden, so können Sie in dieser Hinsicht beruhigt sein.«

»Das glaube ich ohne weiteres. Er ist ja tot, Sir.«

»So?« Mr. Tulkinghorn setzt sich ruhig zum Schreiben hin.

»Es tut mir leid, Sir«, sagt der Kavallerist und sieht nach einer neuerlichen Verlegenheitspause in seinen Hut, »daß ich Ihrem Wunsch nicht mehr habe entsprechen können. Wenn es gewünscht wird, daß ich in meiner Ansicht, lieber nichts mit der Sache zu tun zu haben, noch von einem Freund bestärkt werde, der einen bessern Kopf für Geschäftssachen hat als ich und auch ein alter Soldat ist, so will ich ihn gern zu Rate ziehen. Die – die Kehle ist mir gegenwärtig so vollkommen zugeschnürt«, sagt Mr. George und fährt sich mit der Hand hoffnungslos über die Stirn, »daß ich nicht weiß, ob es nicht eine Befriedigung für mich wäre.«

Als Mr. Smallweed vernimmt, daß die Autorität ein alter Soldat ist, rät er, so lebhaft er kann, ihn zuzuziehen und ihm vor allem zu sagen, daß es sich um fünf Guineen oder mehr handelt. Mr. George verspricht schließlich, hinzugehen und seinen Freund um Rat zu fragen. Mr. Tulkinghorn sagt nichts dafür und nichts dagegen.

»Wenn Sie wünschen, Sir, werde ich also meinen Freund zu Rate ziehen«, sagt der Kavallerist, »und mir die Freiheit nehmen, im Lauf des Tages mit einer endgültigen Antwort wieder vorzusprechen. Mr. Smallweed, wenn Sie jetzt die Treppe hinuntergetragen zu werden wünschen…«

»Einen Augenblick, mein lieber Freund, einen Augenblick. Möchten Sie mich noch ein Wort mit diesem Herrn unter vier Augen sprechen lassen?«

»Gewiß, Sir. Übereilen Sie sich meinetwegen nicht.«

Der Kavallerist zieht sich in einen entfernten Winkel des Zimmers zurück und besichtigt wieder neugierig den Geldschrank und die Kasten.

»Wenn ich nicht so schwach wie ein kleines Höllenschwefelkind wäre, Sir«, flüstert Großvater Smallweed, während er den Advokaten an der Rockklappe zu sich herunterzieht und in seinen zornigen Augen ein halberloschnes grünes Feuer glimmt, »so würde ich ihm das Schreiben entreißen. Er hat es in seine Brusttasche eingeknöpft. Ich habe gesehen, wie er es einsteckte. Judy hat’s auch gesehen. Sprich doch, du ausgetrocknetes Bild für das Schild eines Spazierstockladens, und sag, daß du es ihn hast einstecken sehen!«

Diese vehemente Beschwörung begleitet der alte Ehrenmann mit einem solchen Stoß nach seiner Enkelin, daß es seine Kräfte übersteigt und er aus seinem Stuhl herausrutscht, Mr. Tulkinghorn nachziehend, bis Judy ihn aufhält und zurechtschüttelt.

»Mit Gewaltmaßregeln will ich nichts zu tun haben, mein Freund«, lehnt Mr. Tulkinghorn kühl ab.

»Nein, nein, ich weiß, ich weiß, Sir, aber ärgerlich und verdrießlich ist’s… s ist noch viel schlimmer als deine schnatternde plappernde Elster von einer Großmutter«, sagt Großvater Smallweed zu der undurchdringlichen Judy, die immer nur ins Feuer sieht. »Zu wissen, daß er hat, was wir brauchen, und es nur nicht herausgeben will. Er es nicht herausgeben ! Er! Ein Vagabund! Aber tut nichts, Sir. Tut nichts. Schlimmstenfalls hat er nur eine kleine Weile seinen Willen. Ich habe ihn von Zeit zu Zeit im Schraubstock. Ich werd ihn schon mürb machen, Sir. Ich werde die Schraube schon zuziehen, Sir. Wenn er nicht freiwillig tut, was ich will, werde ich ihn schon zwingen, Sir. – Nun, mein lieber Mr. George«, sagt Großvater Smallweed, läßt den Advokaten los und zwinkert ihm häßlich zu. »Wenn ich jetzt Ihre Hilfe in Anspruch nehmen darf, mein vortrefflicher Freund…«

Mr. Tulkinghorn, durch dessen Selbstbeherrschung ein leichtes Licht dringt, das verrät, daß ihn der Auftritt sehr amüsiert, steht mit dem Rücken gegen das Feuer auf dem Kaminteppich, sieht dem Entschwinden Mr. Smallweeds zu und erwidert den Gruß des Kavalleristen mit einem leichten Nicken.

Mr. George findet, daß es schwerer ist, den alten Herrn loszuwerden als ihn die Treppen hinuntertragen zu helfen, denn als dieser wieder im Wagen sitzt, zeigt er sich so geschwätzig über die Guineen und hält »seinen lieben Freund« so zärtlich am Knopf fest – von dem heimlichen Verlangen beseelt, ihm den Rock aufzureißen und das Papier zu entwenden –, daß Mr. George beinahe Gewalt anwenden muß, um von ihm loszukommen. Endlich gelingt es, und er macht sich allein auf den Weg zu seinem Ratgeber.

Er schreitet am klösterlichen »Tempel« und bei Whitefriars vorbei –nicht ohne einen Blick auf Hanging-Sword-Alley, die ihm einigermaßen am Weg zu sein scheint – und über die Blackfriarsbrücke und durch die Blackfriars-Road gelassen nach einer Straße voll kleiner Läden in jenem Gewirr von Wegen aus Kent und Surrey und Straßen von den Londoner Brücken her, die in dem allbekannten Elefanten zusammenlaufen, der sein Kastell, aus tausend vierspännigen Kutschen geformt, an ein noch stärkeres eisernes Ungeheuer, das ihn an jedem beliebigen Tag zu Wurstfleisch zu zerhacken bereit ist, abgetreten hat. Nach einem der kleinen Läden in dieser Straße, einem Instrumentenladen mit einigen Violinen, ein paar Panpfeifen, einem Tambourin, einem Triangel und ein paar Noten in der Auslage lenkt Mr. George seine wuchtigen Schritte. Kurz davor bleibt er stehen, als er eine soldatenmäßig aussehende Frau mit aufgeschürztem Kleid und einem kleinen Holzzuber heraustreten und auf dem Trottoirrand zu waschen anfangen sieht, und murmelt: »Sie wäscht Grünzeug wie gewöhnlich. Ich habe sie noch nie gesehen, außer auf einem Bagagewagen, ohne daß sie nicht Grünzeug wusch.«

Der Gegenstand seiner Reflexionen ist jedenfalls mit dem Grünzeugwaschen so eifrig beschäftigt, daß er von seiner Annäherung nichts ahnt, bis er das Wasser in den Rinnstein geschüttet hat, mit dem Zuber aufsteht und ihn vor sich sieht. Ihr Empfang ist nicht besonders schmeichelhaft.

»George, ich sehe Sie nie, ohne daß ich Sie nicht hundert Meilen weit weg wünschte.«

Ohne ein Wort auf diese Begrüßung zu erwidern, folgt der Kavallerist der Dame in den Instrumentenladen, wo sie ihr Gemüsefäßchen auf den Ladentisch setzt, ihm die Hand schüttelt und die Hüften stemmt.

»Ich halte Matthew Bagnet keine Minute für sicher, wenn Sie in der Nähe sind, George. Sie sind ein ruheloser, landstreicherischer…«

»Ja, ja! Ich weiß schon, Mrs. Bagnet. Ich weiß schon.«

»Wenn Sie’s auch wissen, was hilft das? Warum sind Sie so?«

»Wahrscheinlich ein animalischer Zug«, entschuldigt sich der Kavallerist gutmütig.

»Ach!« ruft Mrs. Bagnet mit ein wenig schriller Stimme. »Was hab ich von dem animalischen Zug, wenn das Tier meinen Mat vom Musikgeschäft weg nach Neuseeland oder Australien gelockt haben wird.«

Mrs. Bagnet ist keineswegs häßlich. Etwas derbknochig zwar und von grobem Wuchs und gebräunt von Sonne und Wind, die ihr das Haar auf der Stirne gebleicht haben, aber gesund und frisch und mit muntern Augen. Eine kräftige rührige tätige Frau mit ehrlichem Gesicht, von fünfundvierzig oder fünfzig Jahren. Reinlich, einfach und so ökonomisch, obgleich nicht ärmlich gekleidet, daß ihr einziger Schmuck ihr Trauring zu sein scheint, der ihr nicht mehr vom Finger geht, bis er sich dereinst mit ihrem Staub vermischt.

»Mrs. Bagnet«, sagt der Kavallerist, »Sie haben mein Wort. Mat soll meinethalben keinen Schaden nehmen. Insofern können Sie sich auf mich verlassen.«

»Nun, dann will ich’s glauben. Aber schon Ihr Aussehen macht einen unruhig. Ach, George, George! Wären Sie nur gesetzter geworden und hätten Joe Pouchs Witwe geheiratet, als er in Nordamerika starb! Sie hätte sich die Hände abgearbeitet für Sie.«

»Diese Gelegenheit habe ich allerdings versäumt«, entgegnet der Kavallerist halb lachend, halb im Ernst. »Aber jetzt werde ich kein solider Ehemann mehr werden. Joe Pouchs Witwe hätte mir helfen können – es war etwas an ihr –, aber ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ja, wenn ich das Glück gehabt hätte, so eine Frau, wie Mat eine hat, zu finden.«

Mrs. Bagnet, die in ehrbarer Weise einem guten Kerl gegenüber wenig Zurückhaltung zu kennen scheint, sondern in dieser Hinsicht selbst eine Art guter Kerl ist, bedankt sich für dieses Kompliment, indem sie Mr. George mit einem Bund Grünzeug ins Gesicht spritzt. Dann trägt sie ihren Zuber in das kleine Zimmer hinter dem Laden.

»Nun, Quebec, mein Püppchen«, sagt George, der ihr auf ihre Einladung in die Stube folgt. »Was, und die kleine Malta auch? Kommt und küßt euern Wauwau.«

Die angeredeten jungen Damen, die nicht wirklich so getauft sind, aber in ihren Familien stets so nach ihren Geburtsorten in den Militärstationen genannt werden, sind beide auf dreibeinigen Stühlchen beschäftigt. Die jüngere, fünf oder sechs Jahre alt, mit Buchstabierenlernen aus einer Pennyfibel, die ältere, acht oder neun Jahre alt, als ihre Lehrerin und dabei fleißig nähend.

Beide jubeln Mr. George als altem Freund zu und setzen nach einigem Küssen und Balgen ihre Stühle neben ihn.

»Was macht der kleine Woolwich?« fragt Mr. George.

»Ach ja! Hören Sie nur!« ruft Mrs. Bagnet aus und sieht mit lebhaft gerötetem Gesicht – denn sie kocht eben das Mittagessen – von ihrer Pfanne auf. »Man sollte es nicht glauben. Hat eine Anstellung im Theater neben dem Vater, um in einem Militärstück die Querpfeife zu blasen.«

»Bravo, mein Patenkind«, ruft Mr. George und schlägt sich auf die Schenkel.

»Glaub’s Ihnen«, sagt Mrs. Bagnet. »Er ist ein Brite. Ja, das ist Woolwich. Ein echter Brite.«

»Und Mat bläst sein Fagott, und ihr seid alle samt und sonders ehrbare Zivilisten«, nickt Mr. George. »Familienvolk, den Stall voll Kinder, und Mats alte Mutter in Schottland und Ihr alter Vater irgendwo daherum bekommen Briefe und ein bißchen Unterstützung und… Gut, gut! Freilich weiß ich nicht, warum man mich nicht hundert Meilen weit weg wünschen sollte, denn was gehen mich solche Sachen an.«

Mr. George wird nachdenklich, wie er am Kamin in der weißgetünchten Stube sitzt, deren Fußboden mit Sand bestreut ist. Kasernengeruch herrscht, und nichts Überflüssiges ist zu sehen, von den Anzügen Quebecs und Maltas bis zu den glänzenden weißblechernen Töpfen und Pfannen auf den Simsen. Nirgends liegt Staub und Schmutz. – Mr. George grübelt, während Mrs. Bagnet kocht, und dann kommen Mr. Bagnet und der junge Woolwich pünktlich nach Hause.

Mr. Bagnet ist ein ehemaliger Artillerist, hochgewachsen und kerzengerade, mit zottigen Augenbrauen und einem Backenbart wie aus Kokosfasern, kein einziges Haar auf dem kahlen Kopf und von rotglühender Gesichtsfarbe. Seine kurze, tiefe und hallende Stimme klingt dem Instrument, das er spielt, nicht unähnlich. Überhaupt ist alles an ihm von straffem, unnachgiebigem, messingbeschlagnem Wesen, als ob er selbst das Fagott des ganzen großen Menschenorchesters wäre. Der kleine Woolwich ist der Typus eines kleinen Trommlerknaben.

Vater und Sohn begrüßen den Kavalleristen gleich herzlich. Später, als er erklärt, er sei gekommen, um Mr. Bagnet um Rat zu fragen, erklärt dieser gastfreundschaftlich, nicht eher etwas von Geschäften hören zu wollen, ehe nicht sein Freund an dem Schweinefleisch mit Gemüse teilgenommen habe. Da der Kavallerist die Einladung annimmt, gehen beide, um die häuslichen Vorbereitungen nicht zu stören, hinaus, machen einen kleinen Spaziergang auf der Straße und marschieren mit gemessenem Schritt, die Arme verschränkt, auf und ab, als befänden sie sich auf einer Schanze.

»George«, sagt Mr. Bagnet, »du kennst mich. Meine Alte erteilt die Ratschläge. Sie ist der Kopf. Aber ich gestehe es vor ihr nicht ein. Disziplin muß sein. Warte, bis sie ihre Sorge um das Gemüse los ist. Dann wollen wir beraten. Was die Alte sagt, das tue. Tue das ja!«

»Das ist auch meine Absicht, Mat. Ich frage lieber sie um Rat als ein ganzes Kollegium.«

»Kollegium!« entgegnet Mr. Bagnet in kurzen Sätzen, ganz fagottartig. »Was für ein Kollegium würde ganz allein aus einem andern Weltteil, mit nichts als einem grauen Mantel und einem Regenschirm, nach Europa heimreisen! Die Alte würde es morgen tun. Hat es schon einmal getan.«

»Da hast du Recht«, sagt Mr. George.

»Welches Kollegium könnte sich mit zwei Pence Kalk – für einen Penny Walkererde – einen halben Penny Sand – und dem Rest, der noch von einem Sixpence an Bargeld bleibt, etablieren? Und damit hat die Alte angefangen. In diesem Geschäft hier.«

»Es freut mich, zu hören, daß es gedeiht, Mat.«

»Die Alte spart«, sagt Mr. Bagnet zustimmend. »Hat irgendwo einen Strumpf. Mit Geld drin. Habe ihn nie gesehen. Aber ich weiß, daß sie einen hat. Warte nur, bis sie die Sorge mit dem Gemüse los ist. Dann wird sie dir gut raten.«

»Sie ist ein wahrer Schatz!« ruft Mr. George aus.

»Mehr noch! Aber ich sage das nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein. Meine Alte war’s, die meine musikalischen Fähigkeiten entdeckt hat. Ich stünde noch heute bei der Artillerie ohne die Alte. Sechs Jahre lang habe ich die Violine mißhandelt. Die Alte sagte, das ginge nicht! – Wille gut, aber Mangel an Biegsamkeit. Sollte Fagott versuchen. Die Alte borgte sich ein Fagott vom Kapellmeister beim Schützenregiment. Ich übte mich in den Laufgräben. Machte Fortschritte, bekam selbst ein Fagott. Lebe jetzt davon.«

George sagt, sie sähe so frisch aus wie eine Rose und so gesund wie ein Apfel.

»Die Alte ist durch und durch eine schöne Frau«, gibt Mr. Bagnet zu. »Daher gleicht sie einem durch und durch schönen Tage. Wird schöner, je älter sie wird. Habe nie ihresgleichen gesehen. Sage es aber nie, wenn sie’s hören könnte. Disziplin muß sein.«

Sie fangen jetzt an, von gleichgültigen Dingen zu sprechen, und gehen in Schritt und Takt die kleine Straße auf und ab, bis Quebec und Malta sie zum Schweinefleisch mit Gemüse hereinrufen, über das Mrs. Bagnet dann wie ein Regimentskaplan ein kurzes Tischgebet spricht.

Bei der Verteilung dieser Speisen hält sich Mrs. Bagnet wie bei jeder andern Wirtschaftspflicht an ein strenges System, setzt jedes Gericht vor sich hin, mißt jeder Portion Fleisch ihr Maß Brühe, Grünzeug, Kartoffeln und Senf zu und teilt sie dann aus. Nachdem sie auf die Art auch das Bier aus einer Kanne eingeschenkt und verteilt hat, befriedigt sie ihren eignen Hunger, der recht zufriedenstellend ist. Das Tischgerät besteht hauptsächlich aus Horn und Zinn und hat schon in verschiednen Weltteilen Dienste geleistet. Namentlich des kleinen Woolwichs Messer, von Austernart und mit einer starken Neigung behaftet, zuzuklappen, wodurch es häufig dem Appetit des jungen Musikers den Dienst verweigert, hat, wie man bei Tisch erfährt, bereits in verschiednen Händen den Dienst in allen Kolonien mitgemacht.

Nach beendeter Mahlzeit macht Mrs. Bagnet mit Hilfe der Jüngern Familienmitglieder, die ihre Becher und Teller, Messer und Gabeln selbst reinigen, das ganze Tischgerät so glänzend wie zuvor und räumt alles weg, kehrt aber zuerst den Herd, damit Mr. Bagnet und der Gast nicht behindert sind, ihre Pfeifen zu rauchen. Diese Wirtschaftssorgen sind mit vielem Hin- und Zurückklappern von Holzschuhen im rückwärtigen Hof verbunden und mit reichlicher Inanspruchnahme eines Wassereimers, der schließlich das Glück hat, zur Abwaschung von Mrs. Bagnet selbst zu dienen.

Bald erscheint die Alte ganz frisch wieder und setzt sich mit ihrer Näharbeit hin, und erst jetzt, wo ihre Sorgen um das Gemüse als ganz und gar beendet zu betrachten sind, fordert Mr. Bagnet den Kavalleristen auf, seine Sache vorzutragen.

Mr. George tut das mit größter Diskretion, indem er zu Mr. Bagnet zu sprechen scheint, aber während der ganzen Zeit wie dieser selbst sein Auge auf die Alte gerichtet hat. Sie, ebenso diskret, beschäftigt sich mit ihrer Näherei. Als die Sache vollständig auseinandergesetzt ist, nimmt Mr. Bagnet, um die Disziplin aufrecht zu erhalten, zu seiner altgewohnten List seine Zuflucht.

»Das ist die ganze Geschichte, was, George?« fragt er.

»Die ganze Geschichte.«

»Und du willst meinem Rate folgen?«

»Ich werde mich ganz nach ihm richten.«

»Alte«, sagt Mr. Bagnet, »sag ihm meine Meinung. Du kennst sie. Teile sie ihm mit.«

Der Rat lautet, daß man nicht wenig genug mit Leuten, die zu schlau für einen sind, zu tun haben und sich nicht genug hüten kann, sich in Dinge zu mischen, die man nicht versteht. Die einfache Regel lautet, nichts heimlich zu tun, an nichts Verstecktem oder Geheimnisvollem teilzunehmen und den Fuß nirgendshin zu setzen, wo man den Weg nicht sieht. Das ist dem Wesen nach Mrs. Bagnets Meinung. Und sie erleichtert Mr. George, der darin seine eigne Meinung bestätigt und seine Zweifel schwinden sieht, so sehr, daß er die seltne Gelegenheit benutzt, noch eine Pfeife raucht und mit der ganzen Familie Bagnet Lebenserfahrungen austauscht und von alten Zeiten plaudert.

So kommt es, daß Mr. George sich in dieser Stube nicht eher zu seiner vollen Höhe erhebt, als bis die Zeit naht, wo das englische Publikum im Theater das Fagott und die Querpfeife nicht länger mehr missen kann. Und selbst dann braucht Mr. George noch geraume Zeit, um in seiner Stellung als Wauwau Abschied von Quebec und Malta zu nehmen und einen Patenschilling in die Tasche des jungen Woolwich gleiten zu lassen, mit Glückwünschen über seine Erfolge im Leben. Erst als es finster wird, wendet Mr. George wieder sein Gesicht Lincoln’s-Inn-Fields zu.

Eine Häuslichkeit, spricht er zu sich selbst auf dem Heimweg, macht, so klein sie auch sein mag, daß ein Mann wie ich sich einsam fühlt. Aber es ist gut, daß ich das Manöver des Heiratens nie ausgeführt habe. Ich hätte nicht dafür gepaßt. Ich bin heute noch ein solcher Vagabund, daß ich sogar meine Schießgalerie nicht einen Monat lang führen könnte, wenn es ein regelmäßiges Geschäft wäre oder ich nicht nach Zigeunerart kampieren könnte. Und was ist schließlich daran! Ich mache niemandem Schande und falle niemandem zur Last. Das ist immerhin etwas. Das habe ich seit vielen Jahren nicht getan.

Dann pfeift er sich’s aus dem Sinn und marschiert weiter.

In Lincoln’s-Inn-Fields und an Mr. Tulkinghorns Treppe angekommen, findet er die Saaltür abgesperrt und die Kanzlei geschlossen. Aber da er als Kavallerist wenig von Saaltüren versteht, tastet er, in der Hoffnung, einen Klingelzug zu finden oder die Tür öffnen zu können, noch herum, da kommt Mr. Tulkinghorn – selbstverständlich leise – die Treppe herauf und fragt unwirsch:

»Wer ist da? Was machen Sie da?«

»Entschuldigen Sie, Sir. Ich bin George. Der Sergeant.«

»Und George, der Sergeant, konnte nicht sehen, daß meine Tür verschlossen ist?«

»Nun, nein, Sir. Konnte ich nicht. Jedenfalls hab ich es nicht gesehen«, antwortet der Kavallerist ein wenig gereizt.

»Haben Sie sich anders besonnen oder sind Sie noch derselben Ansicht?« Mr. Tulkinghorn fragt, aber er sieht auf den ersten Blick, woran er ist.

»Ich bin noch derselben Ansicht, Sir.«

»Ich habe mir’s gedacht. Das genügt. Sie können gehen. – Sie sind doch der Mann«, sagt Mr. Tulkinghorn und sperrt seine Tür auf, »in dessen Versteck Mr. Gridley gefunden wurde?«

»Ja, ich bin der Mann«, bestätigt der Kavallerist und bleibt zwei oder drei Stufen tiefer unten stehen. »Warum, Sir?«

»Warum? Ihr Umgang gefällt mir nicht. Ich hätte Sie heute morgen nicht vorgelassen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie der Betreffende sind. Gridley!! Ein gefährlicher mörderischer Kerl!«

Mr. Tulkinghorn geht mit diesen für ihn ungewöhnlich laut gesprochnen Worten in seine Wohnung und wirft die Tür hinter sich zu. Mr. George ärgert sich sehr über diese Manier, sich zu verabschieden. Und umsomehr, als ein die Treppe heraufkommender Schreiber die letzten Worte gehört hat und sie offenbar auf ihn bezieht.

»Hübsche Sachen muß man sich da gefallen lassen«, brummt er und steigt mit einem Fluch die Treppe hinunter. Und als er hinaufblickt, sieht er den Schreiber herunterschauen und ihn, wie er an einer Lampe vorbeigeht, beobachten. Das steigert seinen Ärger so sehr, daß er fünf Minuten lang schlechter Laune ist.

Aber er pfeift sich auch das aus dem Sinn und marschiert durch die Straßen in seine Schießgalerie.

28. Kapitel


28. Kapitel

Der Hüttenbesitzer

Sir Leicester Dedlock hat für diesmal die Familiengicht überstanden und ist abermals in wörtlichem wie figürlichem Sinn auf den Beinen. Er weilt auf seinem Edelsitz in Lincolnshire, aber das Wasser steht wieder in den Niederungen, und die Kälte und Feuchtigkeit dringen trotz der besten Schutzmaßregeln in Chesney Wold ein und in Sir Leicesters Knochen.

Die hellen Feuer von Holz und Steinkohlen – Dedlock-Holz und vorsintflutlicher Wald –, die in den breiten geräumigen Kaminen lodern und im Zwielicht den finster blickenden Wäldern zuzwinkern, die grollend zusehen, wie ihre Bäume geopfert werden, können den Feind nicht vertreiben. Die Röhren mit heißem Wasser, die sich durch das ganze Haus schlängeln, die Polsterung der Türen und Fenster und die Vorhänge und Jalousien ersetzen nicht die Unzulänglichkeit der Feuer und genügen Sir Leicesters Bedürfnissen nicht. Daher verkünden die fashionablen Nachrichten eines Morgens dem lauschenden Erdenrund, daß Lady Dedlock binnen kurzem auf einige Wochen in die Stadt zurückkehren wird.

Es ist eine traurige aber wahre Tatsache, daß selbst große Männer arme Verwandte haben. Ja, große Männer haben oft mehr als den ihnen gebührenden Anteil an armen Verwandten. Und blaues Blut der feinsten Qualität ebenso wie geringes unrechtmäßig vergossenes schreien zum Himmel und wollen gehört sein. Sir Leicesters Vettern bis in den fernsten Grad sind in ihrer Art Mordtaten, die um jeden Preis ans Tageslicht wollen. Unter ihnen sind Vettern von so großer Armut, daß man fast denken könnte, es wäre für sie ein größeres Glück gewesen, sie wären niemals plattierte Glieder an der Dedlock-Goldkette geworden, sondern gleich von Anfang an von gemeinem Eisen und gewöhnlichen Diensten gewidmet gewesen.

Dienen dürfen sie, mit einigen sehr beschränkten, aber auch da keinen Nutzen bringenden Ausnahmen, wegen ihrer hohen Dedlock-Abstammung keinesfalls. Daher besuchen sie ihre reichen Vettern und machen Schulden, wenn sie können, und leben ziemlich schäbig, wenn es ihnen nicht gelingt. Als Frauen finden sie keine Männer und als Männer keine Frauen. Sie fahren in geborgten Wagen und sitzen bei Gastmählern, die sie selbst nie geben, und schlagen sich so durchs Leben. In die große Familiensumme haben sich allzuviele Zahlen geteilt, und sie sind der kleine Rest, mit dem niemand weiß, was anfangen.

Jeder von Sir Leicester Dedlocks Überzeugung und Denkungsart scheint mehr oder weniger sein Vetter zu sein. Von Lord Boodle und Herzog von Woodle bis herab zu Noodle spinnt Sir Leicester wie eine glorreiche Spinne seine Verwandtschaftsfäden. Aber während er großartig jedermanns von seinesgleichen Vetter ist, ist er in seiner würdevollen Weise gütig und großmütig gegen die kleinen Vettern, und gegenwärtig erträgt er trotz der Feuchtigkeit den Besuch mehrerer solcher Verwandten in Chesney Wold mit dem Opfermut eines Märtyrers.

Zu diesen gehört in erster Linie Volumnia Dedlock, eine junge Dame von sechzig Jahren, die in zwiefacher Hinsicht eine vornehme Verwandte ist. Hat sie doch die Ehre, mütterlicherseits mit einer andern großen Familie verschwägert zu sein. Da Miß Volumnia in ihrer Jugend ein hübsches Talent besaß, allerlei nette Ornamente aus buntem Papier auszuschneiden, zur Guitarre spanische Lieder zu singen und auf Herrschaftssitzen französische Wortspiele zum besten zu geben, so verbrachte sie die zwei Dezennien ihres Lebens zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten auf eine hinreichend angenehme Art. Als sie dann aus der Mode kam und ihre spanischen Lieder der Menschheit langweilig wurden, zog sie sich nach Bath zurück, wo sie bescheiden von einem jährlichen Geschenk Sir Leicesters lebt und gelegentlich in den Herrschaftssitzen ihrer Vettern aufersteht. In Bath erfreut sie sich einer ausgedehnten Bekanntschaft unter entsetzlich alten Herrn mit dürren Beinen und Nankinghosen und nimmt in dieser öden Stadt eine hohe Stellung ein. Aber anderwärts fürchtet man sie ein wenig wegen einer gewissen indiskreten Verschwendung von roter Schminke und eines ewigen altmodischen Perlenhalsbandes, das ihr wie ein Rosenkranz aus kleinen Vogeleiern um den Hals hängt.

In jedem Lande mit gesunden Zuständen hätte Volumnia berechtigte Ansprüche auf eine Pension. Man hat Versuche gemacht, sie in die Liste zu bringen, und als William Buffy das Ministerium übernahm, rechnete man sicher darauf, daß ihr Name mit ein paar hundert Pfund jährlich bedacht werden würde. Aber wider alles Erwarten entdeckte William Buffy irgendwie, daß das in solchen Zeitläuften nicht anginge, und das war für Sir Leicester Dedlock das erste deutliche Zeichen von dem bevorstehenden Untergang Englands.

Ferner ist da Bob Stables, Hochwohlgeboren, der mit der Geschicklichkeit eines Veterinärarztes warme Umschläge machen kann und ein besserer Schütze ist als die meisten Hegereiter. Er hat seit einiger Zeit eifrigst gewünscht, seinem Vaterland in einem bezahlten Amt ohne weitere Mühe und Verantwortlichkeit zu dienen. In einem gut geordneten Staatswesen wäre dieser natürliche Wunsch eines strebsamen jungen Mannes von so hohen Beziehungen rasch befriedigt worden. Aber William Buffy entdeckte, als er Minister wurde, daß er in solchen Zeitläuften auch diese kleine Sache nicht deichseln könnte. Und das war für Sir Leicester Dedlock das zweite Zeichen von Englands bevorstehendem Untergang.

Die übrigen Verwandten sind Damen und Herren von verschiedenen Fähigkeiten und Altersstufen. Der größere Teil ist liebenswürdig und verständig und besteht aus Leuten, die aller Wahrscheinlichkeit nach ganz gut im Leben vorwärts gekommen wären, wenn sie sich nur ihre Vetterschaft hätten aus dem Kopf schlagen können. So aber sind sie fast alle deswegen schlechter daran und schlendern auf zweck- und ziellosen Pfaden dahin und stehen sich und andern im Wege.

In dieser Gesellschaft, wie überall, herrscht Lady Dedlock unumschränkt. Schön, elegant, gebildet und tonangebend in ihrer kleinen Welt, trägt sie durch ihren Einfluß in Sir Leicesters Haus, so hochmütig und gleichgültig auch ihre Art ist, nicht wenig dazu bei, den Ton zu heben und zu verfeinern. Die Vettern und Basen, selbst die altern, die ganz erstarrt waren, als Sir Leicester Mylady heiratete, sind ihre Vasallen geworden, und Bob Stahles, Hochwohlgeboren, wiederholt täglich zwischen Frühstück und Lunch gelegentlich seine Lieblingsbemerkung, daß sie die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt sei.

Das sind die Gäste in dem großen Salon in Chesney Wold an diesem unfreundlichen Abend, wo der Schritt auf dem Geisterweg, der nicht bis hierher hörbar ist, gerade so gut der Schritt eines in die Kälte hinausgestoßenen verstorbenen Vetters sein könnte.

Es ist fast Schlafenszeit. Die Schlafzimmerfeuer schimmern hell durch das ganze Haus und beschwören Gespenster grotesker Möbel an Wand und Decke. Schlafzimmerleuchter stehen auf dem Tisch in der Ecke drüben an der Tür, und Vettern und Basen gähnen auf Ottomanen. Vettern und Basen am Piano, Vettern und Basen am Sodawasser-Tablett. Vettern und Basen stehen vom Spieltisch auf, Vettern und Basen sind am Kamin versammelt. Auf der einen Seite seines eigenen Feuers, denn es sind deren zwei im Salon, steht Sir Leicester, und an der andern Kaminseite sitzt Mylady an ihrem Tisch. Volumnia, als eine der begünstigteren Verwandten, ruht in einem üppigen Lehnstuhl zwischen ihnen. Sir Leicester blickt mit vornehmem Mißvergnügen auf die rote Schminke und das Perlenhalsband.

»Zuweilen treffe ich hier auf der Treppe eines der hübschesten Mädchen, das mir jemals vorgekommen ist«, sagt Volumnia gedehnt, deren Gedanken nach dem langen Abend höchst zerfahrner Unterhaltung schon zu Bett hüpfen wollen.

»Eine Protege von Mylady«, bemerkt Sir Leicester.

»Das dachte ich mir. Ich war überzeugt, daß ein ungewöhnlicher Blick das Mädchen ausgewählt haben müßte. Die Kleine ist wirklich ein Wunder. Vielleicht von etwas puppenhafter Schönheit«, sagt Volumnia, sich ihre Eigenart vorbehaltend. »Aber in ihrer Weise vollkommen. Eine solche blühende Frische ist mir noch nie vorgekommen.«

Sir Leicester mit seinem mißvergnügten Blick auf die Schminke scheint ebenfalls dieser Meinung zu sein.

»O«, bemerkt Mylady gelangweilt, »wenn jemand eine ungewöhnliche Hand in der Sache bewiesen hat, so ist es Mrs. Rouncewell gewesen und nicht ich. Sie hat Rosa entdeckt.«

»Rosa ist Ihre Zofe, nicht wahr?«

»Nein, sie ist alles für mich. Liebling – Sekretär – Bote… Ich weiß nicht, was alles.«

»Sie haben sie um sich, wie Sie gern eine Blume oder einen Vogel, ein Bild oder einen Pudel – aber nein, einen Pudel nicht – oder sonst etwas Hübsches um sich sehen würden«, sagt Volumnia verständnisinnig. »Ach, wie reizend das ist, und wie gesund diese liebe alte Mrs. Rouncewell aussieht. Sie muß außerordentlich alt sein, und doch ist sie so rührig und hübsch. Ich bin ihr wirklich von Herzen gut.«

Sir Leicester findet es recht und schicklich, daß die Haushälterin von Chesney Wold eine bemerkenswerte Person ist. Abgesehen davon hat er wirklich Achtung vor Mrs. Rouncewell und hört sie gern loben. Deshalb sagt er: »Sie haben recht, Volumnia«, – was zu vernehmen Volumnia außerordentlich freut.

»Sie selbst hat keine Tochter?«

»Mrs. Rouncewell? Nein, Volumnia. Sie hat einen Sohn. Eigentlich zwei.«

Mylady, deren chronische Langweile diesen Abend durch Volumnia sehr verstärkt wurde, blickt müde nach den Leuchtern und seufzt innerlich.

»Und es ist ein merkwürdiges Beispiel des Verfalles, dem das gegenwärtige Zeitalter entgegengeht, des Verwischens aller Grenzen, des Öffnens der Schleusen und der Mißachtung aller Distinktionen«, sagt Sir Leicester mit vornehmer Melancholie, »daß ich von Mr. Tulkinghorn höre, man habe Mrs. Rouncewells Sohn zur Kandidatur ins Parlament aufgefordert.«

Miß Volumnia läßt ein halblautes Aufkreischen hören.

»Ja, wirklich«, wiederholt Sir Leicester. »Ins Parlament!«

»Da hört sich denn doch alles auf! Gütiger Himmel, was ist denn der Mann?«

»Er ist… Man nennt es, glaube ich, einen Hüttenmeister.« Sir Leicester sagt das langsam und mit ernstem Zweifel, als könne der Mann gerade so gut ein Bleigießer sein oder irgend etwas anderes Rätselhaftes.

Volumnia läßt wieder ein Kreischen vernehmen.

»Er hat den Vorschlag abgelehnt, wenn die mir von Mr. Tulkinghorn mitgeteilte Nachricht richtig ist, was ich nicht im mindesten bezweifle, denn Mr. Tulkinghorn ist stets richtig informiert, aber das vermindert das Ungehörige der Sache durchaus nicht«, sagt Sir Leicester. »Man könnte die sonderbarsten und, wie mir scheint, erschreckendsten Betrachtungen darüber anstellen.«

Da Miß Volumnia mit einem leuchterwärts gerichteten Blick aufsteht, macht Sir Leicester höflich die »große Tour«, das heißt, er geht im Bogen im Salon herum, holt eine Kerze und zündet das Licht an Myladys Lampe an.

»Ich möchte Mylady bitten, noch ein paar Augenblicke zu bleiben«, sagt er dabei. »Denn der Mann, von dem ich sprach, ist heute abend kurz vor dem Essen angekommen und hat – in einem sehr schicklichen Briefe« – schaltet Sir Leicester mit seiner gewohnten Wahrheitsliebe ein – »in einem sehr schicklichen und gut verfaßten Briefe, muß ich sagen – um die Gunst einer kurzen Unterredung mit Mylady und mir wegen dieses jungen Mädchens gebeten. Da es schien, als ob er diesen Abend noch abzureisen wünschte, antwortete ich ihm, daß wir ihm noch vor dem Schlafengehen Audienz geben wollten.«

Miß Volumnia entflieht mit einem dritten leisen Schrei, indem sie ihren Wirten, o Gott, glückliche Befreiung von dem – was ist er? – Hüttenmeister wünscht.

Die andern Vettern und Basen verlieren sich ebenfalls bald. Sir Leicester klingelt.

»Empfehlen Sie mich Mr. Rouncewell unten bei der Haushälterin und sagen Sie ihm, daß ich ihn jetzt empfangen kann.«

Mylady, die all dem äußerlich nur mit geringer Aufmerksamkeit zugehört hat, wirft einen Blick auf Mr. Rouncewell, als er ins Zimmer tritt. Er ist dem Anschein nach ein wenig über fünfzig, gut gewachsen wie seine Mutter, hat eine sonore Stimme, eine breite Stirn, von der das dunkle Haar schon ein wenig zurückgewichen ist, und ein gescheites und offenes Gesicht. Er sieht in seinem schwarzen Rock behäbig aus, aber kräftig und beweglich, wie jemand, der eine gewisse verantwortliche Tätigkeit gewohnt ist. Er benimmt sich vollkommen natürlich und unbefangen und ist nicht im mindesten verlegen.

»Sir Leicester und Lady Dedlock, da ich wegen der Belästigung bereits um Verzeihung gebeten habe, so kann ich nichts Besseres tun, als mich sehr kurz zu fassen. – Ich danke Ihnen, Sir Leicester.«

– Das Familienoberhaupt der Dedlocks hat nämlich mit der Hand auf ein Sofa zwischen sich und Mylady gewiesen. –

Mr. Rouncewell nimmt ruhig Platz.

»In diesen geschäftigen Zeiten, wo so große Unternehmungen im Gange sind, haben Leute wie ich eine solche Menge Arbeiter an so vielen Orten, daß wir beständig unterwegs sind.«

Sir Leicester paßt es, daß der Hüttenbesitzer fühlt, daß hier nichts eilt, hier, in diesem uralten Hause, festgewurzelt in dem stillen Park, wo der Efeu und das Moos Zeit gefunden haben, sich auszubreiten, und die zackigen warzigen Ulmen und die schattigen Eichen tief in hundertjährigem Farnkraut und Laub stehen, wo die Sonnenuhr auf der Terrasse seit Generationen stumm die Zeit gezeigt hat, die ebensosehr das Eigentum jedes Dedlocks war – für Lebenszeit – wie das Haus und die Ländereien. Sir Leicester nimmt in einem Lehnstuhl Platz und setzt seine Ruhe und die ganz Chesney Wolds dem Ungestüm des Eisenwerkbesitzers entgegen.

»Lady Dedlock ist so gütig gewesen«, fährt Mr. Rouncewell mit einem Blick und einer Verbeugung voll Ehrerbietung vor der Dame des Hauses fort, »eine junge Schönheit namens Rosa in ihre Dienste zu nehmen. Nun hat sich mein Sohn in Rosa verliebt und meine Einwilligung verlangt, ihr seine Hand antragen und sich mit ihr verloben zu dürfen, wenn sie ihn haben will, was ich nämlich voraussetze.

Ich habe Rosa heute das erste Mal gesehen, aber ich vertraue auf meines Sohnes richtigen Blick, selbst in der Liebe.

Nach meinem Dafürhalten ist sie wirklich so, wie er sie schildert, und auch meine Mutter ist voll des Lobes über sie.«

»Sie verdient es in jeder Hinsicht«, bestätigt Mylady.

»Es freut mich, daß Sie das auch sagen, Lady Dedlock, und ich brauche wohl nicht erst auseinanderzusetzen, welchen Wert für mich Ihre Meinung über Rosa hat.«

»Das wäre wohl auch ganz unnötig«, bemerkt Sir Leicester unsäglich würdevoll, denn der Eisenwerkbesitzer kommt ihm ein wenig zu zungenfertig vor.

»Ganz unnötig, Sir Leicester. Gewiß. – Nun ist mein Sohn ein sehr junger Mann und Rosa ein sehr junges Mädchen. Wie auch ich mich emporarbeiten mußte, so muß auch mein Sohn es tun, und jetzt zu heiraten, ist für ihn ausgeschlossen. Aber vorausgesetzt, ich gäbe meine Einwilligung zu seiner Verlobung, wenn sich die kleine Schönheit überhaupt mit ihm verloben will, so halte ich es für meine Pflicht, von vornherein aufrichtig zu sagen – und ich bin überzeugt, Sir Leicester und Lady Dedlock, Sie werden mich verstehen und entschuldigen, – daß ich es zur Bedingung machen müßte, daß Rosa nicht in Chesney Wold bleibt. Deshalb, ehe ich die Sache weiter mit meinem Sohn bespreche, nehme ich mir die Freiheit, zu versichern, daß, wenn Ihnen Rosas Entfernung nicht passen sollte oder irgendwie unangenehm wäre, ich die Sache auf einen beliebigen vernünftigen Termin hinausschieben und sie so lassen würde, wie sie gegenwärtig steht.«

Nicht in Chesney Wold bleiben? Es zur Bedingung machen?

Alle alten bösen Ahnungen Sir Leicesters in bezug auf Wat Tyler und die Leute in den Eisendistrikten, die immerwährend bei Fackelschein ausziehen, erwachen wieder in seinem Kopf, so daß sich sein schönes graues Haar samt dem Backenbart vor Entrüstung sträubt.

»Soll ich darunter verstehen, Sir, und soll Mylady darunter verstehen …« – Sir Leicester erwähnt sie erstens aus Galanterie und zweitens aus Klugheit, da er sehr viel von ihrem Verstand hält – »soll ich darunter verstehen, Mr. Rouncewell, und soll Mylady darunter verstehen, Sir, daß Sie das junge Mädchen für zu gut für Chesney Wold halten, oder meinen Sie, ihr Hierbleiben könne ihr vielleicht schaden?«

»Durchaus nicht, Sir Leicester.«

»Es freut mich, das zu hören.« Sir Leicester sieht sehr erhaben drein.

»Bitte, Mr. Rouncewell«, sagt Mylady und scheucht Sir Leicester mit einem leisen Wink ihrer hübschen Hand weg wie eine Fliege. »Erklären Sie mir, was Sie wollen.«

»Mit größter Bereitwilligkeit, Lady Dedlock. Nichts könnte mir erwünschter sein.«

Mylady kehrt ihr unbewegliches Gesicht, dessen Geist jedoch zu rasch und lebendig ist, um sich durch eine einstudierte, wenn auch noch so sehr zur Gewohnheit gewordene Teilnahmslosigkeit verbergen zu lassen, den kräftigen angelsächsischen Zügen des Gastes, der ein Bild von Entschlossenheit und Ausdauer ist, zu, lauscht aufmerksam seinen Worten und neigt gelegentlich ein wenig ihr Haupt.

»Ich bin der Sohn Ihrer Haushälterin, Lady Dedlock, und habe meine Kindheit in diesem Hause verbracht. Meine Mutter hat hier ein halbes Jahrhundert gelebt und wird hier wohl auch sterben. Sie ist eins von den Beispielen – vielleicht eines der besten – von Liebe, Anhänglichkeit und Treue, auf die England wohl stolz sein kann, aber deren Ehre oder Verdienst sich kein Stand allein anmaßen darf, weil ein solches Beispiel hohen Wert auf beiden Seiten voraussetzt. Auf der Seite der Herrschaft gewiß, aber auf der des Untergebenen nicht minder.«

Sir Leicester rümpft ein wenig die Nase, die Tatsachen so ausgelegt zu hören, aber in seiner Ehrenhaftigkeit und Wahrheitsliebe gibt er, wenn auch stumm, die Richtigkeit der Behauptung des Eisenwerkbesitzers zu.

»Verzeihen Sie, daß ich erwähne, was so selbstverständlich ist, aber ich wollte nicht Anlaß zu einer Vermutung geben, als ob ich mich etwa der Stellung meiner Mutter hier schäme oder es sonstwie an gerechter Ehrerbietung vor Chesney Wold und seiner Familie irgendwie fehlen ließe. Gewiß hätte ich wünschen dürfen und habe es auch gewünscht, Lady Dedlock, daß sich meine Mutter nach so vielen Jahren zurückziehe und ihr Leben bei mir beschließen möge. Aber da ich fand, daß die Trennung von hier ihr das Herz brechen würde, habe ich den Gedanken längst aufgegeben.«

Sir Leicester sieht wieder sehr großartig drein bei dem Gedanken, man könne Mrs. Rouncewell ihrer natürlichen Heimat entführen, damit sie ihre Tage bei einem Eisenwerkbesitzer beschließe.

»Ich bin Lehrling und Arbeiter gewesen«, fährt der Besuch in schlichter, klarer Weise fort, »habe viele Jahre lang von meinem Arbeitslohn gelebt und mich bis zu einem gewissen Punkte selbst erziehen müssen. Meine Frau war als die Tochter eines einfachen Werkführers aufgewachsen. Wir haben drei Töchter außer diesem Sohn, den ich bereits erwähnte, und da wir glücklicherweise imstande waren, ihnen günstigere Lebensbedingungen zu schaffen, als wir sie selbst gehabt, so haben sie eine gute, sogar sehr gute Erziehung genossen. Es ist eine unsrer Hauptsorgen und Hauptfreuden gewesen, sie jeder Lebensstellung würdig zu machen.«

Ein wenig Stolz klingt durch seinen väterlichen Ton, als ob er innerlich hinzusetzte: »Würdig selbst für die Chesney-Wold-Stellung.« Deshalb mildert Sir Leicester die Großartigkeit seiner Miene nicht ein bißchen.

»Alles dieses kommt in meiner Gegend und in der Gesellschaftsklasse, zu der ich gehöre, so häufig vor, Lady Dedlock, daß das, was man so landläufig ungleiche Heiraten nennt, nicht so selten ist wie anderswo. Ein junger Mann sagt manchmal seinem Vater, daß er sich in ein Mädchen in der Fabrik verliebt habe. Der Vater, der früher selbst Arbeiter gewesen, wird anfangs ein wenig unzufrieden sein. Sehr möglich. Vielleicht hat er mit seinem Sohn andre Absichten. Wahrscheinlicher aber ist, daß er zu seinem Sohn sagt, nachdem er sich vergewissert hat, daß das Mädchen einen tadellosen Ruf besitzt: Ich muß erst sicher sein, daß es dir ernst ist. Es ist eine wichtige Angelegenheit für euch beide. Deshalb werde ich dieses Mädchen zwei Jahre lang unterrichten lassen oder soundso lange mit deinen Schwestern in ein und dieselbe Schule schicken, und du gibst mir dein Ehrenwort, daß du sie während dieser Zeit nur soundsooft siehst. Wenn das Mädchen nach Verlauf dieser Zeit die Gelegenheit entsprechend wahrgenommen hat, so daß ihr hinsichtlich Bildung auf dem richtigen Fuß miteinander steht, und wenn ihr dann immer noch desselben Sinnes seid, so will ich das Meine tun, um euch glücklich zu machen. Ich kenne mehrere Fälle dieser Art, Mylady, und ich glaube, sie zeigen mir, welchen Weg ich einzuschlagen habe.«

Sir Leicesters Großartigkeit kommt jetzt zum Ausbruch. Ruhig, aber schrecklich.

»Mr. Rouncewell«, sagt er, die rechte Hand in der Brust seines blauen Fracks – die Staatsstellung, in der sein Bild in der Galerie hängt. »Ziehen Sie einen Vergleich zwischen Chesney Wold und einer« – er unterdrückt einen Erstickungsanfall – »einer Fabrik?«

»Ich brauche wohl nicht zu versichern, Sir Leicester, daß die zwei Orte sehr verschieden von einander sind, aber zum Zweck der Beurteilung des vorliegenden Falles glaube ich einen gewissen Vergleich zwischen ihnen immerhin ziehen zu dürfen.«

Sir Leicester läßt seinen majestätischen Blick die eine Seite des langen Salons hinab und die andre heraufschweifen, ehe er glauben kann, daß er wach ist.

»Ist es Ihnen bekannt, Sir, daß dieses junge Mädchen, das Mylady-Mylady! – in ihre Dienste genommen hat, in der Dorfschule draußen erzogen worden ist?«

»Sir Leicester, das ist mir wohl bekannt. Es ist eine sehr gute Schule, und sie wird von Ihrer Familie in nicht genug anzuerkennender Weise unterstützt.«

»Dann muß ich gestehen, Mr. Rouncewell, daß mir Ihre Äußerungen vollkommen unverständlich sind.«

»Werden sie Ihnen begreiflicher sein, Sir Leicester, wenn ich Ihnen sage«, entgegnet der Eisenwerksbesitzer, und das Blut steigt ihm ein wenig ins Gesicht, »daß ich nicht der Meinung bin, die Dorfschule könne alles lehren, was der Gattin meines Sohnes zu wissen wünschenswert ist?«

»Von dem Unterfangen, die bis zu dieser Minute sakrosankt gewesene Dorfschule von Chesney Wold herabzusetzen, bis zu dem ganzen sozialistischen Lattenbau mit seinen Übergriffen, Menschen über ihren Stand zu erziehen und dadurch die Grenzen zu verwischen, die Schleusen zu öffnen und alles andre Übel anzurichten, ist nur ein Schritt.« Das ist der rasche Ideengang im Geiste des Dedlockhauptes.

»Mylady, bitte um Verzeihung! Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick!« – Sie hatte ein leises Zeichen gegeben, daß sie sprechen wollte. – »Mr. Rouncewell, unsere Ansichten von Pflicht und unsere Ansichten von gesellschaftlicher Stellung, unsere Ansichten von Erziehung und unsere Ansichten von… Kurz, alle unsere Ansichten stehen in so entschiednem Gegensatz zueinander, daß eine Verlängerung dieser Unterhaltung Ihre Gefühle ebenso verletzen müßte wie die meinen. Dieses junge Mädchen wird mit Myladys Beachtung und Gunst beehrt. Wenn sie sich dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht oder es vorzieht, sich unter den Einfluß jemandes zu begeben, der infolge seiner eigentümlichen Ansichten – Sie werden mir den Ausdruck eigentümliche Ansichten gestatten, wenn ich auch gern zugestehe, daß ich keinerlei Rechtfertigung derselben zu fordern habe –, der sie infolge seiner eigentümlichen Ansichten dieser Beachtung und Gunst zu entziehen wünscht, so steht das dem Mädchen jeder Zeit frei. Wir sind Ihnen verbunden für die Offenheit, mit der Sie sich ausgesprochen haben. Sie wird an sich in keiner Weise die Stellung des jungen Mädchens hier beeinflussen. Zu etwas weiterem können wir uns nicht verstehen und bitten Sie – wenn Sie so gut sein wollen –, das Thema fallen zu lassen.«

Der Besuch schweigt einen Augenblick, um Mylady Gelegenheit zu geben, das Wort zu ergreifen, aber sie sagt nichts. Dann steht er auf und entgegnet:

»Sir Leicester und Lady Dedlock, erlauben Sie mir, Ihnen für das Gehör, das Sie mir geschenkt haben, zu danken und nur zu bemerken, daß ich meinem Sohn angelegentlichst raten werde, seiner Herzensneigung Herr zu werden. Gute Nacht!«

»Mr. Rouncewell«, sagt Sir Leicester mit dem ganzen Glanz eines vollendeten Gentlemans, »es ist spät, und die Wege sind finster. Ich hoffe, Ihre Zeit ist nicht so kostbar, daß Sie nicht Mylady und mir erlauben würden, Ihnen wenigstens für heute nacht ein gastliches Obdach in Chesney Wold anzubieten.«

»Ich hoffe es ebenfalls«, setzt Mylady hinzu.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, aber ich muß die ganze Nacht durchreisen, um pünktlich morgen früh einen ziemlich weit entlegnen Ort zur festgesetzten Stunde zu erreichen.«

Damit verabschiedet sich der Hüttenbesitzer. Sir Leicester klingelt, und Mylady erhebt sich, als er den Saal verlassen hat.

Als Mylady in ihr Boudoir kommt, setzt sie sich gedankenvoll an den Kamin und beobachtet, ohne auf die Schritte auf dem Geisterweg zu achten, Rosa, die in einem Nebenzimmer schreibt. Nach einer Weile ruft sie das Mädchen:

»Komm herein, Kind! Sag mir offen, bist du verliebt?«

»O Mylady!«

Mylady betrachtet das errötende Gesicht und die niedergeschlagnen Augen und sagt lächelnd:

»Wer ist es? Ist es Mrs. Rouncewells Enkel?«

»Ja, wenn Sie erlauben, Mylady. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn – schon liebe.«

»Schon? Du närrisches kleines Ding! Weißt du, daß er dich – schon liebt?«

»Ich glaube, er hat mich ein wenig gern, Mylady.« Rosa bricht in Tränen aus.

Ist das Lady Dedlock, die jetzt neben der ländlichen Schönheit steht, ihr mit mütterlicher Hand das dunkle Haar zurückstreicht und sie mit Augen so voll nachdenklichen Interesses betrachtet? Ja, wahrhaftig, sie ist es.

»Hör mich an, mein Kind. Du bist jung und treu und hängst, wie ich glaube, an mir.«

»Unendlich, Mylady. Es gibt gewiß nichts in der Welt, was ich nicht tun würde, um zu beweisen, wie sehr.«

»Und ich glaube nicht, daß du mich jetzt schon zu verlassen wünschtest, Rosa, selbst nicht um eines Liebhabers willen.«

»Nein, Mylady, o nein!« Rosa blickt zum ersten Mal auf, ganz erschrocken bei diesem Gedanken.

»Vertraue auf mich, mein Kind! Hab keine Scheu vor mir. Ich wünsche dich glücklich zu sehen und will dich glücklich machen, wenn ich noch jemanden auf dieser Erde glücklich machen kann.«

Mit Tränen in den Augen kniet Rosa vor ihr nieder und küßt ihr die Hand. Mylady nimmt die Hand, mit der das Mädchen die ihre gefaßt hat, und legt sie, ins Feuer starrend, in nachdenklichem Spiel abwechselnd in die linke und rechte und läßt sie dann sinken. Da Rosa sie so vertieft sieht, entfernt sie sich leise. Myladys Augen blicken immer noch ins Feuer.

Was sieht sie dort? Eine Hand, die nicht mehr ist oder nie war, oder eine, deren Berührung wie mit Zauberkraft ihr Leben hätte anders machen können? Oder lauscht sie auf den Schall auf dem Geisterweg und grübelt, was für einem Schritt er am meisten gleicht. Dem eines Mannes? Einer Frau? Dem Trippeln eines kleinen Kindes, das immer näher kommt, näher und näher? Eine melancholische Stimmung beherrscht sie. Oder warum sonst brauchte eine so stolze Dame selbst die Türen zuzumachen und einsam am Kamin zu sitzen?

Volumnia ist am nächsten Morgen abgereist, und alle Vettern und Basen haben sich vor dem Essen verflüchtigt. Alle, ohne Ausnahme, sind erstaunt, bereits beim Frühstück Sir Leicester davon sprechen zu hören, wie sich die Grenzen verwischen, die Schleusen öffnen und die Grundfesten der Gesellschaft ins Wanken kommen, wie das Beispiel des Sohnes von Mrs. Rouncewell zeige. Alle, ohne Ausnahme, sind wirklich entrüstet und schreiben es der Schwäche William Buffys als Minister zu und fühlen sich ihres Rechtes auf das Vaterland – oder einer Pension oder sonst eines Privilegiums – durch Trug und Unrecht beraubt.

Was Volumnia betrifft, geleitet Sir Leicester sie die große Treppe hinab und spricht dabei so beredt über das Thema, als wäre im Norden Englands ein allgemeiner Aufstand ausgebrochen, um ihr den Schminktopf und das Perlenhalsband zu entreißen. Und dann zerstreuen sich die Vettern und Basen unter einem großen Hin- und Herrennen von Zofen und Kammerdienern – denn es ist eine charakteristische Eigenschaft ihrer Vetter- und Basenschaft, stets Zofen und Kammerdiener halten zu müssen, so schwer ihnen auch der eigne Unterhalt werden mag – nach allen vier Himmelsrichtungen, und der Winterwind fegt einen Blätterschauer von den Bäumen an dem verlassnen Hause vorbei, als ob sich sämtliche Vettern und Basen in dürres Laub verwandelt hätten.

29. Kapitel


29. Kapitel

Der junge Mann

Chesney Wold ist zugeschlossen. Teppiche stehen zusammengerollt in den Ecken der ungemütlich aussehenden Zimmer, und der Damast tut Buße in Leinwandüberzügen. Holzschnitzerei und Vergoldung ergeben sich der Abtötung des Fleisches, und die Ahnen der Dedlocks ziehen sich wieder aus dem Tageslicht zurück. Dicht fallen die Blätter rings ums Haus. Dicht und langsam schweben sie mit einer toten melancholischen Leichtigkeit in Kreisen nieder. Der Gärtner mag die Rasenplätze noch so rein fegen und die Blätter in volle Schiebkarren drücken und wegfahren, immer noch liegt das Laub knöcheltief. Der schrille Wind heult um Chesney Wold. Der Regen schlägt scharf ans Haus, die Fenster rasseln, und es saust in den Schornsteinen. Nebel verstecken die Alleen, verschleiern die Aussicht und bewegen sich wie Leichenzüge über die Anhöhen im Park. Im ganzen Hause herrscht ein kalter nichtssagender Geruch, wie der Geruch in der kleinen Kirche, nur etwas trockener. Er erweckt die Vermutung, daß die toten und begrabenen Dedlocks in den langen Nächten hier umherwandern und den Hauch ihrer Gräber zurücklassen.

Aber das Haus in der Stadt, das meist andern Sinnes ist als Chesney Wold und sich freut, wenn jenes trauert – außer wenn ein Dedlock stirbt –, und trauert, wenn jenes sich freut, das Haus in der Stadt ist wieder zum Leben erwacht. So warm und hell, wie Prunk es sein kann, so süß durchzogen von angenehmen Gerüchen, die so wenig an den Winter erinnern, wie Treibhausblumen es nur vermögen. Still und ruhig, daß nur das Ticken der Uhren und das Prasseln des Feuers das allgemeine Schweigen stören, scheint es die fröstelnden Beine Sir Leicesters in regenbogenfarbene Watte zu wickeln.

Und Sir Leicester ist froh, in würdevoller Befriedigung vor dem großen Kamin in der Bibliothek zu ruhen, herablassend die Rücken seiner Bücher zu lesen oder den Kindern der schönen Künste einen billigenden Blick zuzuwerfen. Er besitzt Gemälde, alte und neue. Einige von der Kostümballschule, in der sich die Kunst gelegentlich herabläßt, ein Meister zu werden, und die sich am besten in Kataloge, wie Auktionsartikel, einteilen lassen. Etwa so: Drei Stühle mit hohen Lehnen, ein Tisch mit Decke, langhalsige Flaschen mit Wem, ein Krug, ein spanisches Frauenkleid, Dreiviertelporträt von Miß Jogg, eine Rüstung, Don Quixote enthaltend. Oder: eine steinerne Terrasse (zersprungen), eine Gondel in der Ferne, ein vollständiger Ornat eines venezianischen Senators, ein reichgestickter weißer Atlasanzug mit dem Profil Miß Joggs, ein Scimetar, reich mit Gold und Juwelen ausgelegt, ein kompletter maurischer Anzug (sehr selten) und Othello.

Mr. Tulkinghorn kommt und geht ziemlich häufig, denn es sind Gutsgeschäfte abzuschließen, Pachtverträge zu erneuern und anderes mehr. Er sieht auch Mylady ziemlich oft. Und er und sie sind so ruhig und gleichgültig und geben so wenig acht aufeinander wie je. Aber es könnte doch sein, daß Mylady diesen Mr. Tulkinghorn fürchtet und daß er es weiß. Es könnte möglich sein, daß er sie mit zäher Beharrlichkeit verfolgt, ohne einen Funken von Mitleid, Gewissensbissen oder Erbarmen. Es könnte sein, daß ihm ihre Schönheit und all die Pracht und der Staat ihrer Umgebung nur noch ein größerer Ansporn sind zu dem, was er vorhat, und ihn nur noch unbeugsamer und beharrlicher machen. Mag er nun kalt oder grausam sein oder unerschütterlich in dem, was er zu seiner Pflicht gemacht hat, oder verzehrt von Liebe zur Macht, oder entschlossen, nichts in den Gebieten verborgen sein zu lassen, in denen er sein ganzes Leben lang unter Geheimnissen gewühlt hat, oder mag er in seinem Herzen den Glanz verachten, von dem er selbst einen Strahl im Hintergrunde bildet; oder mag er beständig Vernachlässigung und Kränkung aus der Leutseligkeit seiner prunkvollen Klienten herauslesen und sie heimlich sammeln; mag er eins von diesen oder alles sein, jedenfalls wäre es für Mylady besser, wenn fünftausend Paar fashionable Augen mit argwöhnischer Wachsamkeit sie belauerten, als die beiden Augen dieses rostigen Advokaten mit dem dürftigen Halstuch und den mit Bändern zugebundenen glanzlosen schwarzen Kniehosen.

Sir Leicester sitzt in Myladys Zimmer, in demselben Zimmer, wo Mr. Tulkinghorn das Affidavit in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce gelesen hat, in ganz besonders selbstzufriedner Stimmung. Wie damals sitzt Mylady wieder vor dem Kamin mit ihrem Handschirm. Sir Leicester ist ganz besonders gut aufgelegt, weil er in seiner Zeitung einige Bemerkungen eines Gleichgesinnten über Dämmeeinreißen und sozialistisches Lattenwerk gelesen hat. Sie passen so vortrefflich auf den kürzlich erlebten Fall, daß Sir Leicester aus der Bibliothek eigens zu dem Zweck in Myladys Zimmer gekommen ist, um sie ihr vorzulesen.

»Der Mann, der diese Artikel schrieb«, bemerkt er als Vorrede und nickt das Feuer an, als nicke er dem Autor von Bergeshöhen herab zu, »hat einen sehr gesunden Menschenverstand.«

Der Menschenverstand des Verfassers ist aber nicht so gesund, um nicht Mylady zu langweilen, die nach einem matten Versuch, zuzuhören, oder vielmehr nach einem matten Sichfügen mit dem Anschein, als höre sie zu, sich ganz zerstreut in die Betrachtung des Feuers versenkt, als wäre es ihr Feuer in Chesney Wold und sie sei noch dort.

Ohne das zu merken, liest ihr Sir Leicester weiter durch sein zusammengelegtes Augenglas vor und hält gelegentlich inne, um es wegzunehmen und seine Beistimmung auszudrücken: »Wahrhaftig wahr, sehr gut gesagt, ich habe selbst oft diese Bemerkung gemacht.« Und jedes Mal verliert er die Stelle und muß die Spalten auf- und absuchen, um sie wieder zu finden.

Sir Leicester liest gerade wieder, unendlich ernst und würdevoll, als die Tür aufgeht und der gepuderte Merkur die seltsame Meldung macht:

»Der junge Mann, Mylady, namens Guppy.«

Sir Leicester hält inne, reißt die Augen auf und wiederholt mit verweisender Stimme:

»Der junge Mann namens Guppy?«

Sich umsehend, erblickt er den jungen Mann namens Guppy, der, ganz außer Fassung, durch sein Benehmen sowohl wie durch seine Erscheinung einen keineswegs empfehlenswerten Eindruck macht.

»Bitte, was soll das heißen«, sagt Sir Leicester zu dem Merkur, »daß Sie ohne alle Umstände einen jungen Mann namens Guppy anmelden?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir Leicester, aber Mylady sagte, sie wolle den jungen Mann sprechen; sowie er käme. Ich wußte nicht, daß Sie im Zimmer sind, Sir Leicester.«

Mit dieser Entschuldigung wirft der Merkur einen zornigen und ärgerlichen Blick auf den jungen Mann namens Guppy, der offenbar besagt: Was kommst du hierher und bringst mich in Ungelegenheiten.

»Es ist schon richtig, ich habe es ihm befohlen«, bestätigt Mylady. »Der junge Mann soll warten.«

»Durchaus nicht, Mylady. Da Sie ihn bestellt haben, will ich nicht stören.«

Sir Leicester entfernt sich galant und möchte am liebsten beim Hinausgehen eine Verbeugung des jungen Mannes übersehen, den er in seiner Großartigkeit für irgend einen zudringlichen Schuster hält.

Lady Dedlock blickt gebieterisch ihren Besuch an, als der Bediente das Zimmer verlassen hat, und mustert ihn von Kopf bis Fuß. Sie läßt ihn an der Tür stehen und fragt, was er wünsche.

»Daß Euer Gnaden die Gewogenheit haben mögen, mir eine kurze Unterredung zu gewähren«, antwortet Mr. Guppy verlegen.

»Sie sind natürlich die Person, die mir so viele Briefe geschrieben hat?«

»Verschiedne, Euer Gnaden. Verschiedne, ehe Euer Gnaden mich mit einer Antwort zu beehren geruhten.«

»Und können Sie jetzt nicht wieder dasselbe Mittel wählen, um eine Unterredung unnötig zu machen? Können Sie sich nicht darauf beschränken?«

Mr. Guppy verzieht seine Lippen zu einem stummen Nein und schüttelt den Kopf.

»Sie sind merkwürdig zudringlich gewesen. Wenn es sich nach allem zeigen sollte, daß das, was Sie mir zu sagen haben, mich gar nichts angeht – und ich wüßte auch nicht, wie es mich etwas angehen sollte –, so werden Sie schon gestatten, daß ich die Unterredung ohne weitere Umstände abbreche. Sagen Sie also, was Sie zu sagen haben.«

Mylady bewegt gleichgültig ihren Handschirm, kehrt sich wieder dem Feuer zu und dreht dem jungen Mann namens Guppy beinahe den Rücken.

»So will ich denn mit Euer Gnaden Erlaubnis gleich mit dem Geschäft beginnen«, sagt der junge Mann. »Ehem! Ich bin, wie ich Euer Gnaden in meinem ersten Briefe mitteilte, von der Rechtsbranche. In dieser Eigenschaft habe ich die Gewohnheit angenommen, mich schriftlich nicht bloßzustellen, und erwähnte daher nicht gegen Euer Gnaden den Namen der Firma, bei der ich angestellt bin und bei der meine Position, und ich möchte auch hinzufügen, mein Einkommen, ziemlich gut ist. Ich kann jetzt Euer Gnaden im Vertrauen mitteilen, daß die Firma Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn, lautet. Ein Name, der Euer Gnaden vielleicht in Verbindung mit dem Kanzleigerichtsprozeß Jarndyce kontra Jarndyce nicht ganz unbekannt ist.«

In Myladys Haltung verraten sich Spuren von Aufmerksamkeit. Sie bewegt nicht mehr den Handschirm und scheint sogar zuzuhören.

»Nun kann ich Euer Gnaden wohl auch offen heraussagen«, fährt Mr. Guppy, ein wenig kühner werdend, fort, »daß es keine mit ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ in Verbindung stehende Angelegenheit ist, die mich so sehr wünschen ließ, mit Euer Gnaden zu sprechen und mich im Lichte der Zudringlichkeit, fast der Flegelhaftigkeit, erscheinen ließ und teilweise noch erscheinen läßt.«

Nachdem Mr. Guppy einen Augenblick vergeblich gewartet hat, um eine Versicherung des Gegenteils zu vernehmen, fährt er fort:

»Hätte es sich um ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehandelt, so wäre ich gleich zu Euer Gnaden Solicitor, Mr. Tulkinghorn in Lincoln’s-Inn-Fields, gegangen. Ich habe das Vergnügen, mit Mr. Tulkinghorn bekannt zu sein – wenigstens grüßen wir uns, wenn wir einander begegnen –, und hätte es sich um etwas Derartiges gehandelt, wäre ich gleich zu ihm gegangen.«

Mylady wendet sich ein bißchen vom Kamin weg und sagt: »Setzen Sie sich doch nieder!«

»Danke, Euer Gnaden!« Mr. Guppy nimmt einen Stuhl.

»Also, Euer Gnaden«, – Mr. Guppy wirft einen Blick auf einen kleinen Zettel, auf den er sich offenbar vorher Notizen gemacht hat und der ihn in die tiefste Finsternis zu stürzen scheint, so oft er ihn anblickt… »Also – ich – richtig, ja – gebe mich ganz in die Hand Euer Gnaden. Wenn Euer Gnaden sich bei Kenge & Carboy oder bei Mr. Tulkinghorn wegen meines heutigen Besuches beschweren sollten, käme ich in eine sehr unangenehme Lage. Ich sag’s, wie es ist. Ich verlasse mich also ganz auf die Ehrenhaftigkeit der Allergnädigsten.«

Mylady versichert ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung, daß sie ihn einer Beschwerde nicht für wert halte.

»Ich danke Euer Gnaden«, sagt Mr. Guppy.

»Nun – also… Ich – verdammter Zettel – ich habe mir nämlich die einzelnen Punkte, die ich berühren wollte, hier in Abkürzungen aufgeschrieben und kann jetzt nicht recht herausbringen, was sie bedeuten. Wenn Euer Gnaden mir erlauben wollen, einen Augenblick ans Fenster zu treten, so…«

Mr. Guppy geht ans Fenster und stört dabei ein paar Inseparables in einem Käfig, zu denen er in seiner Verlegenheit stammelt: »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, was die Lesbarkeit seiner Notizen nicht gerade vergrößert. Er murmelt vor sich hin. Es wird ihm heiß. Er errötet, hält den Zettel manchmal dicht an die Augen und dann wieder weit weg von sich. »C. S. Was bedeutet C. S.? Ach ja, so: E. S. Weiß schon! Ja, natürlich!« Und er geht erleuchtet wieder zu seinem Sessel zurück.

»Ich weiß nicht«, sagt er und bleibt zwischen Mylady und seinem Stuhl stehen, »ob Euer Gnaden vielleicht jemals von einer jungen Dame namens Miß Summerson gehört oder sie vielleicht schon gesehen haben.«

Myladys Augen blicken ihn plötzlich fest an:

»Ich sah eine junge Dame dieses Namens vor nicht langer Zeit. Vergangnen Herbst.«

»Nun, und fiel es Euer Gnaden nicht auf, daß sie jemandem ähnlich sieht?« fragt Mr. Guppy, verschränkt die Arme, neigt den Kopf auf die Seite und kratzt sich mit seinem Notizzettel am Mundwinkel.

Mylady wendet keinen Blick mehr von ihm.

»Nein.«

»Nicht Euer Gnaden Familie ähnlich?«

»Nein.«

»Ich glaube, Euer Gnaden werden sich schwerlich an Miß Summersons Gesicht erinnern können.«

»Ich erinnere mich der jungen Dame sehr gut. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Euer Gnaden, ich versichere, daß ich – ich erwähne im tiefsten Vertrauen, daß Miß Summersons Bild in meinem Herzen eingeprägt ist –, als ich während eines kurzen Ausflugs nach Lincolnshire mit einem Freunde nach Chesney Wold kam und die Ehre hatte, Euer Gnaden Landsitz zu besichtigen, eine solche Ähnlichkeit zwischen Miß Esther Summerson und dem Porträt Euer Gnaden fand, daß es mich ordentlich umwarf. Ich habe mir seit jener Zeit oft die Freiheit genommen, Euer Gnaden bei der Ausfahrt in den Park anzusehen, ohne daß es Euer Gnaden wahrscheinlich bemerkt haben, aber jetzt, wo ich die Ehre habe, die Allergnädigste in der Nähe zu sehen, ist die Ähnlichkeit noch überraschender als damals.«

Junger Mann namens Guppy! Es hat Zeiten gegeben, wo Damen in festen Burgen lebten und erbarmungslosen Dienern gebieten konnten, wo dein armseliges Leben, wenn dich schöne Augen so angesehen hätten, wie dich jetzt diese ansehen, keine Minute mehr sicher gewesen wäre!

Mylady, die ihren kleinen Handschirm langsam wie einen Fächer gebraucht, fragt abermals, was das denn sie anginge.

»Euer Gnaden«, entgegnet Mr. Guppy und wirft wieder einen Blick auf seinen Zettel, »ich komme sogleich darauf – verdammt, diese Notizen –, richtig, ja, Mrs. Chadband! Ja, richtig!« Mr. Guppy zieht seinen Stuhl ein wenig weiter vor und setzt sich. Mylady lehnt sich ruhig zurück, wenn auch vielleicht mit ein bißchen weniger graziöser Unbefangenheit als gewöhnlich, aber ihr fester Blick wird niemals unsicher. »Ah, wart ein bissel.« Mr. Guppy zieht wieder den Zettel zu Rate. »E. S. Zwei Mal? Ja, richtig! Jetzt weiß ich schon.«

Er rollt den Zettel zusammen, um ihn als Instrument, seiner Rede Nachdruck zu verleihen, zu benützen, und fährt fort:

»Euer Gnaden, Miß Esther Summersons Geburt und Erziehung sind in Dunkel gehüllt. Ich kenne diese Tatsache, weil – ich erwähne es im Vertrauen – weil sie mir auf geschäftlichem Wege bei Kenge & Carboy zur Kenntnis kam. Es ist nun, wie ich Euer Gnaden bereits bemerkt habe, Miß Summersons Bild tief in meinem Herzen eingegraben. Wenn ich dieses Geheimnis für sie aufklären oder nachweisen könnte, daß sie von guter Familie ist, oder fände, daß sie als Verwandte von Euer Gnaden Familie einen Anspruch auf den Prozeß Jarndyce kontra Jarndyce hätte, so könnte ich sie in gewisser Hinsicht vielleicht bewegen, meine Anträge günstiger, als sie es bisher eigentlich getan hat, aufzunehmen. Genau genommen hat sie sie eigentlich bisher überhaupt nicht begünstigt.«

Eine Art zürnenden Lächelns dämmert über Myladys Gesicht.

»Nun ist es ein seltsames Zusammentreffen, Euer Gnaden, obgleich solche Sachen bei uns von der Rechtsbranche zuweilen vorkommen, zu der ich mich rechnen darf – denn, wenn ich auch noch nicht inskribiert bin, so wollen mir doch Kenge & Carboy meinen Lehrbrief schenken, da meine Mutter von ihrem kleinen Kapital die beträchtlichen Stempelkosten erlegt hat –, nun ist es ein seltsamer Zufall, daß ich mit der Person zusammenkam, die bei der Dame diente, die Miß Summerson erzog, ehe Mr. Jarndyce sie unter seine Obhut nahm. Diese Dame war eine gewisse Miß Barbary, Euer Gnaden.«

Hat die Totenfarbe in Myladys Gesicht ihren Grund in dem Widerschein des grünseidnen Handschirms, oder überzieht wirklich eine schreckliche Blässe ihr Gesicht?

»Haben Euer Gnaden jemals von einer gewissen Miß Barbary gehört?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«

»War Miß Barbary irgendwie mit der Familie Euer Gnaden verwandt?«

Myladys Lippen bewegen sich, sprechen aber nicht. Sie schüttelt den Kopf.

»Nicht verwandt?« fragt Mr. Guppy. »O! Vielleicht wissen es Euer Gnaden nur nicht? So! Aber es könnte doch der Fall sein? Ja.«

Bei jeder dieser Fragen hat Mylady das Haupt geneigt.

»Sehr gut. Nun war diese Miß Barbary merkwürdig verschlossen – sie scheint für eine Frauensperson außergewöhnlich verschwiegen gewesen zu sein, denn Frauen im allgemeinen, wenigstens im bürgerlichen Leben, sprechen gern –, und meine Zeugin hatte nie eine Ahnung, ob sie auch nur eine einzige Verwandte besitze. Bei einer gewissen Gelegenheit und nur ein Mal scheint sie sich zu meiner Zeugin über einen einzigen Punkt vertraulich geäußert zu haben. Sie sagte damals: Des kleinen Mädchens wahrer Name ist nicht Esther Summerson, sondern Esther Hawdon.«

»Mein Gott!«

Mr. Guppy reißt die Augen auf. Lady Dedlock sitzt vor ihm, sieht ihn mit durchbohrendem Blick an, mit demselben grünen Schatten auf ihrem Gesicht, erstarrt selbst die Hand, die den Schirm hält, die Lippen ein wenig geöffnet, die Stirn ein wenig gerunzelt, sieht sie aus wie scheintot.

Er sieht ihr Bewußtsein zurückkehren, ein Zittern über ihre Gestalt laufen, wie ein Kräuseln über eine Wasserfläche, sieht ihre Lippen zuhalten und sich gewaltsam wieder zusammenpressen und sieht, wie sie sich zum Bewußtsein seiner Gegenwart und alles dessen, was er gesagt hat, zurückzwingt. Alles dieses geschieht so rasch, daß ihr Ausruf und ihr scheintoter Zustand verflogen zu sein scheinen, wie die Züge gewisser in Gräbern gefundener Leichen an der Luft, wie von einem Blitz getroffen, sich im Nu verändern.

»Euer Gnaden kennen den Namen Hawdon?«

»Ich habe ihn früher gehört.«

»Ist es der Name eines entfernten Zweigs der Familie Euer Gnaden ?«

»Nein.«

»Nun, Euer Gnaden«, fährt Mr. Guppy fort, »komme ich zu dem letzten Punkt dieser Angelegenheit, soweit ich sie bis jetzt kenne. Sie ist noch in ihrer Entwicklung begriffen, und ich werde mehr und mehr von ihr erfahren, je weiter sie sich entwickelt. Gnädigste müssen wissen – wenn es nicht Euer Gnaden vielleicht schon durch Zufall erfahren haben –, daß man vor einiger Zeit in dem Hause eines gewissen Krook in der Nähe von Chancery-Lane einen Schreiber in den ärmlichsten Umständen tot auffand. Wegen dieses Schreibers tagte eine Totenschau, und dieser Mann war eine anonyme Person, deren Namen niemand wußte. Ich habe nun, Euer Gnaden, vor ganz kurzer Zeit entdeckt, daß der Name des Verstorbenen Hawdon war.«

»Aber was geht das mich an?«

»Ja, Euer Gnaden, das ist es eben! Gnädigste müssen wissen, daß sich nach dem Tod dieses Mannes etwas sehr Sonderbares ereignete. Eine Dame tauchte auf, eine verkleidete Dame, Euer Gnaden, die sich die Orte ansah, wo Hawdon gelebt und wo er begraben liegt. Sie mietete als Führer einen Jungen, der einen Straßenübergang kehrt. Wenn ihn Euer Gnaden zum Beweis der Richtigkeit meiner Angaben zu sehen wünschen, so kann ich ihn jeder Zeit stellig machen.«

Der arme Junge ist Mylady ganz gleichgültig, und sie wünscht nicht, ihn zu sehen.

»O, ich versichere Euer Gnaden, es ist das eine sehr seltsame Geschichte. Wenn Sie ihn erzählen hören könnten von den Ringen, die an den Fingern der Dame funkelten, als sie den Handschuh auszog, würde es Ihnen ganz romantisch vorkommen.«

Es funkeln Diamanten an der Hand, die den Schirm hält. Mylady spielt mit dem Schirm und läßt sie noch mehr funkeln, wieder mit dem Ausdruck im Gesicht, der in alten Zeiten für den jungen Mann namens Guppy hätte den Tod bedeuten können.

»Man glaubt, Euer Gnaden, er habe keinen Fetzen Papier und keinen einzigen Zettel hinterlassen, auf Grund dessen man ihn hätte möglicherweise identifizieren können. Ich meine Hawdon. Aber es war doch der Fall. Er hinterließ ein Bündel alter Briefe.«

Der Handschirm bewegt sich immer noch wie vorhin. Die ganze Zeit über wendet Mylady keinen Blick von Mr. Guppy.

»Es hat sie jemand an sich genommen und sie versteckt. Aber morgen abend werden sie in meinem Besitz sein.«

»Ich frage Sie abermals, was geht das alles mich an?«

»Euer Gnaden, ich habe weiter nichts zu sagen.« Mr. Guppy steht auf. »Wenn Sie glauben, daß in dieser geschlossenen Kette von Umständen, in der unzweifelhaft großen Ähnlichkeit der jungen Dame mit Euer Gnaden, was eine Tatsache in Augen von Geschworenen sein müßte, in dem Umstand, daß Miß Barbary sie erzogen hat – daß Miß Barbary angab, Miß Summersons wirklicher Name sei Hawdon –, daß Euer Gnaden die beiden Namen sehr gut kennen und daß Hawdon so gestorben ist, wie er starb, noch nicht genug Veranlassung für Euer Gnaden liegt, aus Familieninteresse die Angelegenheit genauer zu prüfen, so will ich die Papiere hierher bringen. Ich weiß weiter nichts von ihnen, als daß es alte Briefe sind. Ich habe sie noch nie in Händen gehabt. Ich will diese Papiere herbringen, sowie sie in meinen Besitz kommen, und sie mit Euer Gnaden zum ersten Mal durchgehen. Ich habe Euer Gnaden den Zweck meines Hierseins mitgeteilt. Ich habe Euer Gnaden gesagt, daß ich in eine sehr unangenehme Lage kommen würde, wenn man sich über mich beschwerte, und alles in tiefstem Vertrauen berichtet.«

Ist das der ganze Zweck des jungen Mannes namens Guppy, oder hat er noch einen andern?

Enthüllen seine Worte den ganzen Umfang des Zweckes oder Verdachtes, die ihn hierher geführt haben, oder verbergen sie noch etwas? Das zu erraten, ist Sache Myladys. Sie kann ihn ansehen, aber er kann den Tisch anblicken, ohne in seinem Gesicht etwas zu verraten.

»Sie können die Briefe bringen«, sagt Mylady, »wenn Sie wollen.«

»Euer Gnaden drücken sich nicht sehr ermutigend aus, mein Ehrenwort!« sagt Mr. Guppy ein wenig verletzt. »Aber es soll geschehen. Ich wünsche Euer Gnaden guten Tag.«

Auf einem Tisch in der Nähe steht ein reichverziertes Kästchen, beschlagen und verriegelt wie eine alte Geldkassette. Ohne den Blick von Mr. Guppy zu wenden, nimmt es Lady Dedlock und schließt es auf.

»O, ich versichere Euer Gnaden, Motive dieser Art haben mich durchaus nicht bestimmt«, wehrt Mr. Guppy ab. »Und ich könnte nicht das mindeste dieser Art annehmen. Ich empfehle mich Euer Gnaden und bin Ihnen auch trotzdem sehr verpflichtet.«

Der junge Mann verbeugt sich und geht die Treppe hinab, wo sich der Merkur mit dem geringschätzigen Blick nicht im geringsten berufen fühlt, seinen Olymp am Kaminfeuer in der Vorhalle zu verlassen, um dem Besuch die Tür zu öffnen.

Geht nicht etwas, während Sir Leicester sich in seiner Bibliothek dehnt und über seiner Zeitung dröselt, durch das Haus, das ihn aufschreckt? Etwas, das selbst die Bäume in Chesney Wold veranlassen könnte, ihre knorrigen Arme gen Himmel zu strecken, ja, selbst die Ahnenbilder zürnen und die Rüstungen rasseln machen könnte?

Nein. Worte, Seufzer und Wehgeschrei sind nur Luft. Und Luft ist im ganzen Stadthaus so ein- und ausgeschlossen, daß Mylady in ihrem Zimmer mit Posaunenzungen rufen müßte, ehe ein schwacher Widerhall davon zu Sir Leicesters Ohren dränge. Und dennoch vibriert ein Jammerruf im Hause, den eine verzweifelte Gestalt auf ihren Knien zum Himmel sendet.

»O mein Kind, mein Kind! Also nicht gestorben in der ersten Stunde seines Lebens, wie meine grausame Schwester mir sagte, sondern in finsterer Strenge von ihr auferzogen, nachdem sie mich und meinen Namen von sich gestoßen! O mein Kind, o mein Kind!«

3. Kapitel


3. Kapitel

Die Geschichte einer Jugend

Es wird mir sehr schwer, den Anfang zu finden, um meinen Teil der Geschichte niederzuschreiben, denn ich weiß, daß ich nicht besonders gescheit bin. Ich wußte das immer. Schon als ganz kleines Mädchen pflegte ich zu meiner Puppe zu sagen, wenn wir allein beisammen waren: Liebe Puppe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und mußt mit mir Geduld haben, Herzchen. Und dann saß sie in einen großen Armstuhl gelehnt mit dem rot und weißen Gesicht und den rosigen Lippen da und starrte mich an – oder vielmehr ins Leere –, während ich emsig nähte und ihr alle meine Geheimnisse erzählte.

Meine liebe alte Puppe!

Ich war als Kind so in mich gekehrt und scheu, daß ich selten den Mund auftat und niemandem mein Herz auszuschütten wagte. Ich muß fast weinen, wenn ich daran denke, welcher Trost es für mich war, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, hinauf in mein Kämmerchen laufen und sagen konnte: »O du gute treue Puppe, ich wußte, daß du mich erwartest.« Und dann setzte ich mich auf den Boden, stützte den Ellbogen auf ihren großen Lehnstuhl und erzählte ihr alles, was ich erlebt hatte, seit wir uns nicht gesehen.

Von jeher besaß ich einen Hang zu beobachten, aber ich faßte nicht rasch auf. Durchaus nicht. Ich beobachtete still, was vorging, und wünschte nur, ich könnte es besser verstehen. Ich war keineswegs scharfsinnig. Wenn ich jemanden gern habe, scheint mein Verstand klarer zu werden. Aber vielleicht ist das nur Eitelkeit und Einbildung von mir.

Mein Patin erzog mich, soweit ich mich zurückerinnern kann, wie eine der Prinzessinnen in den Feenmärchen; nur daß ich nicht so schön war. Ich wußte bloß, daß sie meine Patin war und eine gute, gute Frau. Sie ging dreimal am Sonntag in die Kirche und Mittwochs und Freitags zur Frühmesse und in die Betstunden, so oft welche gehalten wurden. Sie hatte ein schönes Gesicht, und wenn sie nur einmal gelächelt haben würde, so hätte sie wie ein Engel aussehen müssen; – aber sie lächelte nie. Sie war immer ernst und streng, aber immer so außerordentlich gütig, daß wohl nur die Schlechtigkeit anderer Menschen die Schuld trug, daß sie ihr ganzes Leben so finster war.

Ich kam mir so ganz anders geartet vor als sie, selbst wenn ich den Unterschied zwischen Kind und Erwachsener in Abzug brachte, kam mir so unbedeutend und armselig und ihr so fernstehend vor, daß ich niemals rechtes Vertrauen zu ihr fassen, ja, sie nicht einmal so lieben konnte, wie ich gewünscht hätte. Mir machte der Gedanke viel Schmerz, wie gut sie und wie unwürdig ich ihrer sei; und ich nährte in meinem Innern eine inbrünstige Hoffnung, mein Herz möge mit der Zeit besser werden. Und ich sprach darüber sehr oft mit meiner lieben Puppe. Aber ich liebte meine Patin eben doch nie so, wie ich hätte sollen und müssen, wenn ich ein besseres Kind gewesen wäre.

Da ich mir dies beständig vorhielt, wurde ich noch schüchterner und stiller, als ohnehin schon in meiner Natur lag; und meine einzige Freundin war die Puppe, bei der allein ich mich wohl fühlte. Aber, als ich noch ein ganz kleines Ding war, geschah außerdem noch etwas, was mich darin noch bestärkte.

Ich hatte nie von meiner Mutter sprechen hören. Ebensowenig von meinem Vater; aber meine Mutter interessierte mich sehr. Ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Trauerkleid getragen zu haben. Man hatte mir niemals meiner Mutter Grab gezeigt und mir nie gesagt, wo es sei, mich auch nie für eine andere Verwandte als für meine Patin beten gelehrt. Mehr als einmal erwähnte ich diesen Gegenstand meines beständigen Grübelns gegen Mrs. Rachael, die immer mein Licht fortnahm, wenn ich zu Bette gegangen, und unsere einzige Dienerin war. Aber sie sagte jedes Mal nur: »Esther, gute Nacht!« und ging fort und ließ mich allein.

Obgleich sich sieben Mädchen in der nahen Schule befanden, wo ich Unterricht erhielt, und sie mich die kleine Esther Summerson nannten, so war ich doch bei keinem von ihnen je zu Besuch gewesen. Alle waren weitaus älter als ich, aber es schien noch eine andere Scheidewand zwischen uns zu bestehen außer dem Umstande, daß sie, älter und klüger als ich, mehr wußten. Eine von ihnen lud mich in der ersten Woche meiner Schulzeit, wie ich mich noch genau erinnere, zu meiner großen Freude zu einem kleinen Fest ein. Aber meine Patin schrieb einen steifen Absagebrief, und ich durfte nicht hingehen. Ich kam nie auf Besuch in andere Häuser.

Mein Geburtstag war wieder gekommen. Den andern bedeuteten Geburtstage Feiertage – mir niemals; die andern hatten bei solchen Gelegenheiten Festlichkeiten zu Hause, wie ich sie einander erzählen hörte; – ich niemals. Mein Geburtstag war die langen Jahre hindurch der trübste Tag meines Lebens.

Wenn mich meine Eitelkeit nicht täuscht, was wohl der Fall sein kann, denn so etwas weiß man nicht selber, so wird meine Fassungskraft mit meiner Zuneigung geweckt. Ich habe ein liebebedürftiges und weiches Gemüt, und vielleicht würde ich noch heute eine solche Wunde, wie ich sie damals an meinem Geburtstag empfing, wenn man sie mehr als einmal überhaupt erleiden kann, ebenso tief fühlen wie zu jener Zeit.

Das Mittagessen war vorüber, und meine Patin und ich saßen am Tisch vor dem Feuer. Die Uhr tickte, das Feuer knisterte, und kein anderer Ton war hörbar im Zimmer und im Hause –, ich weiß nicht, wie lange Zeit schon. Ich erhob zufällig die Augen schüchtern von meiner Näharbeit und sah, wie mich meine Patin über den Tisch hinweg trübe anblickte, als wollte sie sagen: Es wäre viel besser, kleine Esther, wenn du niemals einen Geburtstag gehabt hättest und niemals geboren worden wärest.

Ich fing an zu schluchzen und zu weinen: »Ach liebe Patin, sage mir, bitte, sage mir, starb Mama an meinem Geburtstag?«

»Nein«, war die Antwort. »Frage mich nicht weiter, Kind.«

»Bitte, sage mir etwas von ihr! Nur ein Wort! Ich bitte dich, liebe Patin! Was hab ich ihr getan? Wie hab ich sie verloren? Warum bin ich so verschieden von andern Kindern, und was kann ich dafür, liebe Patin? Nein, nein, nein, geh nicht fort! O sag es mir!«

Eine Angst, die größer war als mein Schmerz, hatte mich befallen, und ich hielt meine Patin am Kleide fest und kniete vor ihr nieder.

Bis jetzt hatte sie fortwährend gesagt: »Laß mich gehen«, aber plötzlich blieb sie stehen.

Der finstere Ausdruck ihres Gesichtes übte eine solche Gewalt auf mich aus, daß ich mitten in meiner Verzweiflung innehielt. Ich wollte mit meiner zitternden Hand die ihre fassen und von ganzer Seele um Verzeihung bitten, zog sie aber bei ihrem Blick schnell wieder zurück, und das Herz klopfte mir. Sie hob mich auf, setzte sich in ihren Stuhl und sprach in kaltem gedämpftem Ton zu mir – ich sehe sie mit gerunzelter Stirn und strafend erhobenem Finger noch heute vor mir –:

»Deine Mutter, Esther, ist deine Schande, und du warst ihre. Die Zeit wird früh genug kommen, wo du das besser verstehen und auch fühlen wirst, wie es nur ein Weib kann. Ich habe ihr verziehen« – das Gesicht meiner Patin zeigte nicht den geringsten Zug von Versöhnlichkeit- »ich habe ihr verziehen, was sie mir Böses getan hat, und spreche nicht mehr davon, obgleich ihr Unrecht größer war, als du jemals erfahren wirst oder irgend jemand außer mir, die ich davon betroffen wurde, ahnen kann. Was dich betrifft, unglückliches Kind, warst du verwaist und beschimpft vom ersten unseligen Geburtstag an; bete du täglich, daß die Sünden anderer nicht auf dein Haupt kommen mögen, wie es geschrieben steht. Vergiß deine Mutter und hindere nicht, daß die Menschen es tun; deinetwegen. Jetzt geh.«

Sie hielt mich, als ich wortlos gehen wollte – so bis ins Innere erstarrt war ich – noch einmal fest und setzte hinzu:

»Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung, Fleiß sind die Wegzeichen für ein Leben, das mit einem solchen Flecken begonnen hat. Du bist anders als die andern Kinder, Esther, weil du nicht wie sie in gemeinsamer Sündhaftigkeit und im Zorne geboren bist. Du bist gezeichnet.«

Ich schlich in mein Kämmerchen hinauf und kroch ins Bett und legte das Gesicht meiner Puppe an meine tränennasse Wange, und mit dieser einzigen Freundin an der Brust weinte ich mich in Schlaf. So wenig ich mir auch über meinen Schmerz klar werden konnte, so wußte ich doch, daß ich zu keiner Zeit jemand eine Freude gewesen, und niemand auf Erden mich so lieb hatte wie ich meine Puppe.

Ach Gott, ach Gott, wie oft und lange wir später allein miteinander verbrachten und ich der Puppe die Geschichte meines Geburtstages erzählte und ihr anvertraute, wie sehr ich mich bemühen wollte, den Fehler, der mir mit meiner Geburt anhaftete, wieder gutzumachen und mich zu bestreben, mit den Jahren fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu werden und mir eines Menschen Liebe zu gewinnen, wenn es mir gelingen sollte, und ihm alles nur mögliche Gute zu tun! Vielleicht ist es selbstgefällig, wenn ich bei dem Gedanken daran jetzt noch Tränen vergießen muß. Ich denke mit großer Dankbarkeit zurück und bin fröhlich, aber doch kann ich nicht verhindern, daß sie mir in die Augen treten.

– So! Jetzt hab ich sie weggewischt und kann wieder fortfahren.

Ich war mir der großen Kluft zwischen meiner Patin und mir seit jenem Geburtstag nur noch mehr bewußt und empfand so sehr, in ihrem Hause einen Platz einzunehmen, der leer hätte sein sollen, daß es mir schwerer wurde, mich ihr zu nähern als je, so innig verpflichtet ich mich ihr im Herzen auch fühlte.

Genau so empfand ich gegen meine Mitschülerinnen und gegen Mrs. Rachael, die Witwe war, und gegen ihre Tochter, auf die sie sehr stolz war und die sie einmal alle vierzehn Tage besuchte. Ich blieb sehr schüchtern und still und bemühte mich nach Kräften, fleißig zu sein.

An einem sonnigen Nachmittag, als ich eben mit meiner Mappe ans der Schule gekommen war und den langen Schatten neben mir beobachtete und wie gewöhnlich die Treppe hinauf in mein Kämmerchen eilen wollte, öffnete meine Patin die Wohnzimmertür und rief mich hinein. Bei ihr saß ein Fremder, was etwas sehr Ungewöhnliches war: ein behäbiger, wichtig aussehender Herr, ganz schwarz gekleidet, mit einer weißen Halsbinde, großen goldnen Petschaften an der Uhrkette, einer goldnen Brille und einem großen Siegelring am kleinen Finger.

»Das ist das Kind«, sagte meine Patin mit verhaltener Stimme zu ihm. Dann setzte sie mit ihrem gewöhnlichen ernsten Ton hinzu:

»Das ist Esther, Sir.«

Der Herr setzte seine Brille auf, sah mich an und sagte:

»Komm zu mir, liebes Kind!«

Er reichte mir die Hand und hieß mich den Hut abnehmen und betrachtete mich unablässig dabei. Als ich seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er: »Ah! Ja!« nahm seine Brille ab, steckte sie in ein rotes Futteral, lehnte sich in den Armstuhl zurück und nickte meiner Patin zu und spielte mit dem Etui. Darauf fing meine Patin wieder an:

»Du kannst hinaufgehen, Esther.« Ich machte dem Herrn meinen Knicks und ging.

Es muß zwei Jahre später gewesen sein, und ich war fast vierzehn Jahre alt, als ich an einem Abend, an den ich voll Entsetzen zurückdenken muß, mit meiner Patin vor dem Kamine saß. Ich las ihr vor. Ich war, wie immer, um neun Uhr heruntergekommen, um ihr aus der Bibel vorzulesen, und hielt gerade bei der Stelle im Evangelium Johannis, wo es heißt, daß unser Erlöser sich niederbückte und mit dem Finger auf die Erde schrieb, als sie die Ehebrecherin vor ihn brachten: Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Ich hielt inne, denn meine Patin stand auf, legte ihre Hand an die Stirn und rief mit schrecklicher Stimme den Satz aus der Bibel: So wachet nun, auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend. Was ich aber euch sage, das sage ich euch allen: wachet.

Sie stand vor mir und wiederholte diese Worte. Dann brach sie plötzlich zusammen. Ich brauchte nicht um Hilfe zu rufen; ihre Stimme war durch das ganze Haus gedrungen und bis auf die Straße gehört worden.

Man legte sie auf ihr Bett. Länger als eine Woche lag sie dort, äußerlich nur wenig verändert. Das alte schöne entschlossene Stirnrunzeln, das ich so gut kannte, war auf ihrem Gesicht erstarrt. Viele, viele Male bei Tag und bei Nacht legte ich meinen Kopf auf das Kissen neben sie, damit sie mein Flüstern besser verstünde, und küßte sie und dankte ihr, betete für sie, bat sie um ihren Segen und ihre Verzeihung und flehte sie an, mir nur ein einziges Zeichen zu geben, daß sie mich erkenne oder höre. Nichts, nichts, nichts! Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Bis zuletzt. Und selbst dann wich der finstere Ausdruck nicht von ihrer Stirn.

Am Tag nach dem Begräbnis meiner guten Patin stellte sich der schwarze Herr mit dem weißen Halstuch wieder ein. Mrs. Rachael schickte nach mir, und ich fand ihn auf derselben Stelle, als wäre er niemals weggegangen.

»Ich heiße Kenge«, sagte er. »Merk dir den Namen, liebes Kind; Kenge & Carboy, Lincoln’s-Inn.«

Ich gab zur Antwort, daß ich mich erinnerte, den Herrn schon früher einmal gesehen zu haben.

»Bitte, setz dich – hier neben mich. Weine nicht, es nützt nichts. Mrs. Rachael! Ich brauche Ihnen, die Sie mit der seligen Miß Barbary Angelegenheiten bekannt waren, nicht erst zu sagen, daß ihr Einkommen mit ihrem Leben zu Ende ging und daß diese junge Dame jetzt nach dem Tode ihrer Tante -«

»Meiner Tante, Sir?«

»Es hat ja doch keinen Zweck, eine Täuschung aufrecht zu erhalten, die keinen Sinn mehr hat«, sagte Mr. Kenge besänftigend. »Tatsächlich war sie deine Tante, wenn auch nicht vor dem Gesetze. Aber weine doch nicht. Weine nicht! Beruhige dich! – Mrs. Rachael, unsere junge Freundin hat zweifellos gehört – von – der – hm – Sache Jarndyce kontra Jarndyce?«

»Nie«, sagte Mrs. Rachael.

»Ist es denn möglich«, fuhr Mr. Kenge fort und setzte seine Brille auf, »daß unsere junge Freundin – aber geh, weine doch nicht – niemals von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘ gehört hat?«

Ich schüttelte den Kopf und hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handelte.

»Nichts von ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘?« wiederholte Mr. Kenge, blickte mich über die Brille hinweg an und liebkoste das Futteral mit den Händen. »Nichts von einem der größten aller bekannten Kanzleigerichtsprozesse, nichts von dem Fall ‚Jarndyce kontra Jarndyce‘, – der für sich schon – hm – ganz für sich allein ein Denkmal in der Kanzleigerichtspraxis bedeutet? – In dem, möchte ich sagen, jede Schwierigkeit, jede Möglichkeit, jede Rechtsfiktion, jede Prozeßform, die bei diesem Gerichtshof bekannt ist, sich immer und immer wieder verkörpert? Es ist ein Rechtsfall, der nirgends als in unserm großen und freien Lande existieren könnte! Ich möchte behaupten, daß die Gesamtkosten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce – Mrs. Rachael – ich fürchte –« er wendete sich von mir ab, weil ich mich unaufmerksam zeigte – »sich gegenwärtig auf sechzig- bis siebzigtausend Pfund belaufen«, ergänzte Mr. Kenge, in seinen Stuhl zurückgelehnt.

Der Gegenstand war mir so gänzlich unbekannt, daß ich damals auch nicht das Allergeringste davon verstand.

»Und sie hat wirklich nie etwas von der Sache gehört? Höchst erstaunlich!«

»Miß Barbary, Sir«, erklärte Mrs. Rachael, »die jetzt unter den Seraphim weilt –«

»Das hoffe ich zuversichtlich«, unterbrach Mr. Kenge höflich.

»– wünschte, daß Esther nur lerne, was ihr von Nutzen sein könne. Und sie ist hier auch weiter nichts gelehrt worden.«

»Hm«, sagte Mr. Kenge. »Das ist im großen ganzen sehr richtig. Aber jetzt zur Sache!« fuhr er zu mir gewendet fort. »Miß Barbary, deine einzige Verwandte – tatsächlich nämlich – denn ich muß dir bemerken, daß du von Gesetzes wegen keine Verwandten hast –, ist jetzt tot, und da man natürlich von Mrs. Rachael nicht erwarten kann –«

»O Gott nein«, fiel Mrs. Rachael schnell ein.

»Sehr richtig!« – daß sie die Sorge für deinen Lebensunterhalt auf sich nimmt, so sehe ich mich veranlaßt, ein Anerbieten zu erneuern, das ich schon vor ungefähr zwei Jahren Miß Barbary zu machen beauftragt war und das damals abgelehnt wurde. Wir hatten uns jedoch dahin geeinigt, daß es für den Fall des Todes deiner Tante wiederholt werden sollte. Ich glaube nun, nicht im geringsten gegen die in meinem Berufe übliche Reserve zu verstoßen, wenn ich verrate, daß ich in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce und auch in anderer Hinsicht einen sehr menschenfreundlichen, wenn auch zugleich sehr eigentümlichen Mann vertrete.« Mr. Kenge lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sah uns beide ruhig an.

Der Klang seiner eigenen Stimme schien ihn über die Maßen zu freuen. Ich sah darin nichts Wunderbares, denn sie war weich und wohlklingend und verlieh jedem Worte, das er aussprach, den Anschein großer Wichtigkeit. Er hörte sich mit sichtlicher Befriedigung zu und schlug manchmal zu seiner eigenen Musik mit dem Kopfe den Takt oder rundete einen Satz mit einer gefälligen Handbewegung ab. Selbst damals schon, als ich noch gar nicht wußte, daß er sich nach dem Muster des hohen Lords, der sein Klient war, herangebildet hatte und allgemein »Konversationskenge« genannt wurde, machte er einen großen Eindruck auf mich.

»Da Mr. Jarndyce«, fuhr er fort, »von der – ich möchte sagen, verzweifelten – Lage unserer jungen Freundin unterrichtet ist, so bietet er ihr an, sie in einer Anstalt ersten Ranges unterbringen zu wollen, wo ihre Erziehung vollendet, ihr gutes Auskommen gesichert, für alle ihre Bedürfnisse, soweit sie vernünftig und nötig sind, gesorgt und sie selbst endlich befähigt werden soll, ihre Pflicht in der Lebensstellung zu erfüllen, die ihr anzuweisen – darf ich wohl sagen, der Vorsehung – gefallen hat.«

Mein Herz war so tief ergriffen von dem, was er sagte, wie auch von der liebreichen Weise, in der er es tat, daß ich beim besten Willen kein Wort sprechen konnte.

»Mr. Jarndyce stellt keinerlei Bedingungen und spricht nur die Erwartung aus, daß unsere junge Freundin die fragliche Anstalt ohne sein Wissen und Zutun nicht verlassen und sich mit Fleiß der Erwerbung der Kenntnisse und Fertigkeiten widmen werde, durch deren Anwendung und Ausübung sie sich später soll erhalten können – und daß sie auf dem Pfade der Tugend und Ehre bleiben möge und – daß – hm – und so weiter.«

Ich konnte noch weniger sprechen als vorher.

»Nun, was sagt unsere junge Freundin?« fuhr Mr. Kenge fort. »Laß dir Zeit, laß dir Zeit. Ich warte auf deine Antwort. Laß dir nur Zeit.«

Was ich zu diesem Anerbieten zu sagen versuchte, brauche ich nicht zu wiederholen. Was ich wirklich sagte, ist kaum des Erzählens wert. Und was ich fühlte und bis zu meiner letzten Stunde fühlen werde, das könnte ich nicht in Worte bringen.

Diese Unterredung fand in Windsor statt, wo ich mein ganzes Leben zugebracht hatte, soweit ich zurückdenken konnte. Acht Tage später verließ ich, reichlich mit allem Notwendigen versehen, den Ort, um mit der Landkutsche nach Reading zu fahren.

Mrs. Rachael war zu gut, um beim Abschied bewegt zu sein. Aber ich war nicht so gut und weinte bitterlich. Ich dachte, daß ich sie nach so vielen Jahren eigentlich besser kennen und mich bei ihr so in Gunst gesetzt haben sollte, daß ihr der Abschied weh tun müsse.

Als sie mir einen so kalten Abschiedskuß auf die Stirne drückte, als ob ein großer Tropfen von dem Eise oben an dem steinernen Torgewölbe niedertaute, fühlte ich mich so elend und schuldbewußt, daß ich sie umarmte und ihr sagte, ich wisse wohl, es sei meine Schuld, daß ihr der Abschied von mir so leicht werde.

»Nein, Esther«, entgegnete sie. »Dein Unglück ist schuld daran.«

Die Kutsche stand vor der kleinen Gartenpforte – wir waren erst aus dem Hause getreten, als wir sie hatten kommen hören –, und so verließ ich Mrs. Rachael mit bekümmertem Herzen. Sie ging hinein, ehe noch mein Koffer auf die Kutsche gehoben worden, und machte die Türe zu.

Solange ich das Haus sehen konnte, blickte ich mit Tränen in den Augen aus dem Fenster zurück. Meine Patin hatte Mrs. Rachael ihr ganzes kleines Vermögen vermacht, und es sollte Auktion sein; ein alter Kaminteppich mit Rosen darauf, der mir immer als das Schönste auf Erden vorgekommen war, hing draußen in Frost und Schnee. Ein oder zwei Tage vorher hatte ich meine liebe Puppe in ihren Schal gewickelt und sie – fast schäme ich mich, es zu erzählen – im Garten unter dem Baum begraben, der das Fenster meines Kämmerchens beschattete. Ich hatte keinen Freund als einen Vogel, und den trug ich in seinem Käfig bei mir.

Als ich das Haus aus dem Gesicht verlor, setzte ich mich, den Käfig vor mir im Stroh, auf den niedrigen Vordersitz, um durch das Fenster hinauszuschauen auf die bereiften Bäume, die wie schöne Stücke Kalkspat aussahen. Die Felder hatte der Schnee in der Nacht glatt und weiß gemacht. Rot und kalt stand die Sonne am Himmel, und das Eis lag schwarz wie poliertes Eisen da, von den Schlittschuhläufern und Schlittenfahrern reingefegt.

Mir gegenüber saß ein Herr, der in einer Menge Umhüllungen sehr umfangreich aussah; aber er blickte zum andern Fenster hinaus und nahm keine Notiz von mir.

Ich dachte an meine tote Patin – an den Abend, wo ich ihr vorgelesen, an das erstarrte, zürnende Gesicht, mit dem sie auf dem Bette gelegen, an den fremden Ort, dem ich entgegenfuhr, an die Leute, die ich dort finden sollte, und wie sie wohl aussehen und zu mir sein würden, da machte mich eine Stimme in der Kutsche vor Schrecken auffahren.

»Warum, zum Teufel, weinst du denn!«

Ich erschrak so sehr, daß mir die Stimme versagte, und ich nur flüsternd fragen konnte:

»Ich, Sir?«

Natürlich konnte nur der Herr in den vielen Umhüllungen gesprochen haben, obgleich er immer noch zum Fenster hinaussah.

»Ja, du«, sagte er und drehte sich um.

»Ich wußte nicht, daß ich weinte, Sir«, stammelte ich.

»Aber du weinst. Sieh selbst.«

Er rutschte aus der andern Ecke des Wagens auf den Platz mir gegenüber, fuhr mir mit einem seiner großen Pelzaufschläge sanft über die Augen und zeigte mir dann, daß er naß war.

»Da! Jetzt weißt du’s. Nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Und warum weinst du? Gehst du nicht gern dorthin?«

»Wohin, Sir?«

»Wohin? Nun dahin, wohin du eben gehst.«

»Ich gehe sehr gern hin, Sir.«

»Nun also! Mach doch ein freundliches Gesicht!«

Der Herr kam mir höchst sonderbar vor; wenigstens was ich von ihm sehen konnte, war sehr merkwürdig. Bis ans Kinn eingehüllt, verschwand sein Gesicht fast unter einer Pelzmütze mit breiten Pelzohrklappen. Ich hatte mich wieder gefaßt und fürchtete mich nicht mehr vor ihm. Ich sagte ihm, ich hätte wegen des Todes meiner Patin geweint, und weil Mrs. Rachael der Abschied von mir so leicht geworden sei.

»Der Kuckuck soll Mrs. Rachael holen!« brummte der Herr. »Soll sie beim nächsten Sturmwind auf einem Besenstiel wegfliegen!«

Ich fing jetzt an, mich doch wieder vor ihm zu fürchten, und betrachtete ihn mit größter Verwunderung. Aber er hatte freundliche Augen, wenn er auch fortfuhr, ärgerlich vor sich hinzubrummen und auf Mrs. Rachael zu schimpfen.

Nach einer kleinen Weile öffnete er seine oberste Hülle, die groß genug zu sein schien, um die ganze Kutsche damit zu bedecken, und fuhr mit dem Arm tief in seine Seitentasche.

»Da schau einmal!« sagte er. »In diesem Papier ist ein Stück von der besten Pflaumentorte, die für Geld zu haben ist – mit einem Zuckerüberguß, zolldick wie Fett auf einer Hammelkeule. Hier ist ein Pastetchen, ein Juwel an Größe und Beschaffenheit, aus Frankreich. Und woraus glaubst du wohl, ist es gemacht? Aus Leber von fetten Gänsen! Das ist eine Pastete! Wollen mal sehen, wie sie dir schmeckt.«

»Ich danke Ihnen bestens, Sir«, gab ich zur Antwort. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, aber, – ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel – es ist zu schwer für mich.«

»Wieder einmal abgefahren!« sagte der Gentleman – ich verstand nicht, was er damit meinte – und warf beides zum Fenster hinaus.

Er sprach kein Wort mehr mit mir, bis er kurz vor Reading die Kutsche verließ und mir sagte, ich solle ein gutes Mädchen sein und recht fleißig lernen. Dann schüttelte er mir die Hand. Ich muß gestehen, ich fühlte mich erleichtert, als er ausstieg. Wir ließen ihn an einem Meilenstein zurück. Oft später ging ich an dieser Stelle vorüber und mußte dabei noch lange Zeit an ihn denken, und immer erwartete ich so halb und halb, ihn wieder dort zu treffen. Aber er erschien nie, und so verschwand er allmählich aus meiner Erinnerung.

Als der Wagen anhielt, blickte eine sehr nette Dame zum Fenster herein und sagte:

»Miß Donny.«

»Nein, Maam. Esther Summerson.«

»Ja, ja, schon richtig«, sagte die Dame, »Miß Donny.«

Ich erriet jetzt, daß sie sich unter diesem Namen vorstellte, und entschuldigte mich wegen meines Irrtums. Auf ihren Wunsch zeigte ich ihr mein Gepäck. Unter der Leitung eines sehr saubern Dienstmädchens wurden meine Koffer auf eine winzige grüne Kutsche gepackt, und dann stiegen Miß Donny, das Mädchen und ich hinein und fuhren fort.

»Alles ist für Sie bereit, Esther«, wandte sich Miß Donny an mich, »und Ihr Stundenplan ist genau nach den Wünschen Ihres Vormunds Mr. Jarndyce festgesetzt.«

»Meines – wie sagten Sie, Maam?«

»Ihres Vormunds Mr. Jarndyce.«

Ich war so verwirrt, daß Miß Donny wahrscheinlich glaubte, die Kälte sei für mich zu groß gewesen, und mir ihr Riechfläschchen anbot.

»Kennen sie Mr. Jarndyce, meinen – Vormund, Maam?« fragte ich nach ziemlich langem Zögern.

»Nicht persönlich, Esther, nur durch seine Rechtsanwälte, die Herren Kenge & Carboy in London. Ein wirklich ausgezeichneter Gentleman, der Mr. Kenge. Diese Beredsamkeit! Sein Satzbau ist wahrhaft majestätisch.«

Ich wußte vollkommen die Wahrheit dieser Bemerkung zu würdigen, war aber zu verwirrt, um zu antworten. Unsere schnelle Ankunft an unserm Bestimmungsort, ehe ich Zeit hatte, mich zu fassen, vermehrte noch meine Verwirrung, und nie werde ich vergessen, welch unwirklichen und traumhaften Eindruck an jenem Nachmittage alles in Greenleaf – Miß Donnys Haus – auf mich machte.

Aber bald lebte ich mich ein und war in Greenleafs Stundenplan bald so zu Hause, als ob ich schon lange dort gewesen wäre. Mein altes Leben bei meiner Patin kam mir wie ein Traum vor. Alles ging hier nach dem Glockenschlag. Um das ganze Zifferblatt herum hatte alles seine festgesetzte Zeit und wurde genau in dem festgesetzten Augenblick verrichtet.

Wir waren zwölf Schülerinnen, und zwei Misses Donny – Zwillinge – standen uns vor. Man setzte voraus, daß ich später von meinen Kenntnissen als Gouvernante werde leben müssen, und ich wurde nicht nur in allem unterrichtet, was man in Greenleaf lehrte, sondern mußte auch sehr bald selbst Unterricht erteilen.

Obgleich man mich in jeder andern Hinsicht wie die übrigen Schülerinnen behandelte, so machte man diesen einzigen Unterschied doch von allem Anfang an. Je mehr ich selbst lernte, desto mehr gab ich Unterricht und bekam dadurch im Lauf der Zeit sehr viel zu tun. Das machte mir große Freude, und die Mädchen gewannen mich lieb. So oft eine neue Schülerin niedergeschlagen ankam und sich unglücklich fühlte, erwählte sie mich so sicher – die Ursache weiß ich nicht – zu ihrer Freundin, daß schließlich alle neuen Ankömmlinge mir anvertraut wurden. Sie sagten, ich sei so gut gegen sie, aber eigentlich waren sie gut gegen mich. Ich dachte oft an den an meinem Geburtstag gefaßten Entschluß, fleißig, zufrieden und freundlichen Herzens zu sein. Gutes zu tun und mir Liebe zu erwerben, wo ich könnte; und wahrhaftig, ich schämte mich fast, so wenig getan und soviel gewonnen zu haben.

Ich verlebte in Greenleaf sechs glückliche stille Jahre. Dort las ich, Gott sei Dank, an meinem Geburtstag in keinem Gesicht, daß es besser gewesen, wenn ich nie geboren worden wäre. So oft der Tag erschien, brachte er mir soviel Zeichen liebreicher Aufmerksamkeit, daß mein Zimmer geschmückt war vom Neujahrstag bis zu Weihnachten.

In diesen sechs Jahren war ich nie von Hause weggewesen außer auf Besuchen in der Nachbarschaft während der Feiertage.

Nach dem Schluß des ersten halben Jahres hatte ich Miß Donny um Rat gefragt, ob es schicklich sei, an Mr. Kenge zu schreiben, daß ich glücklich und voll Dankes wäre, und verfaßte dann mit ihrer Billigung einen solchen Brief. Ich erhielt eine formelle Antwort, die mit den Worten schloß:

»Wir notierten den Inhalt Ihres Geschätzten, den wir seinerzeit unserm Klienten mitzuteilen nicht verabsäumen werden.«

Hie und da hörte ich Miß Donny und ihre Schwester davon sprechen wie regelmäßig meine Rechnungen bezahlt würden, und ungefähr zweimal des Jahres wagte ich einen ähnlichen Brief zu schreiben. Ich empfing stets umgehend genau dieselbe Antwort mit derselben Kanzlistenschrift, unterschrieben »Kenge & Carboy« von einer andern Hand, von der ich annahm, sie müßte Mr. Kenges Handschrift sein.

Es kommt mir so seltsam vor, daß ich alles dieses von mir erzähle, als ob diese Geschichte die Geschichte meines Lebens wäre! Aber mein unbedeutendes Ich wird jetzt bald in den Hintergrund treten.

Sechs stille Jahre verlebte ich in Greenleaf, wie ich schon sagte, und wuchs mit meinen Freundinnen auf, als ich an einem Novembermorgen folgenden Brief empfing:

»Old Square Lincoln’s Inn.
In Sachen Jarndyce kontra Jarndyce.
Madam!

Unser Klient, Mr. Jarndyce, der im Begriff steht, in Verfolg eines Dekretes des Kanzleigerichtshofs ein Mündel dieses Gerichts in schwebender Sache in sein Haus aufzunehmen, für das er eine passende Gesellschafterin wünscht, beauftragt uns, Sie zu benachrichtigen, daß er sich freuen würde, von Ihren Diensten in der gedachten Eigenschaft Gebrauch machen zu können.

Wir haben beordert, daß Sie franko Reisespesen nächsten Montag morgens mit der Achtuhrkutsche von Reading nach dem »Weißen Roß«, Piccadilly, London, befördert werden, wo einer unserer Schreiber Sie erwarten wird, um Sie nach unserer oben bezeichneten Kanzlei zu begleiten.

Wir empfehlen uns, Madam,
als Ihre gehorsamsten Diener
Kenge & Carboy
An Miß Esther Summerson.«

O nie, nie, nie werde ich vergessen, welche Aufregung dieser Brief im Hause verursachte! Es war so gut von ihnen, daß sie sich soviel mit mir befaßten, – so liebevoll von der Hand des Schicksals, meinen verwaisten Lebensweg so zu ebnen und mir so viele junge Herzen zugeneigt zu machen, daß ich es kaum ertragen konnte. Nicht, daß ich gewünscht hätte, es möchte ihnen weniger leid getan haben – das fürchte ich, war nicht der Fall –, aber Wonne und Schmerz, Stolz und Freude darüber und das Leid zugleich waren so miteinander verwoben, daß es mir fast das Herz brach, während es voller Entzücken überfloß.

Der Brief ließ mir nur fünf Tage Frist. Jede Minute in diesen fünf Tagen häufte neue Beweise von Liebe und Zuneigung auf mein Haupt, und als endlich der Morgen des Abschieds kam, da begleiteten mich meine Freundinnen durch alle Zimmer, der Erinnerung wegen.

»Liebste Esther, sage mir Lebewohl hier an diesem Bett, wo du mir zum ersten Mal so freundlich zusprachst!« bat mich eine Freundin, und einer andern mußte ich auf ein Blatt Papier ihren Namen schreiben und darunter: »In Liebe, Deine Esther.«

Und alle umringten mich mit ihren Abschiedsgeschenken, hingen weinend an mir und jammerten: »Was sollen wir nur anfangen, wenn unsere liebe, liebe Esther fort ist?« und ich versuchte, ihnen zu sagen, wie dankbar ich ihnen sei für ihre Güte und Nachsicht gegen mich und wie ich sie alle segnete.

Wie ergriff es mich, als ich sah, wie bekümmert die beiden Miß Donnys mich scheiden ließen und die Dienstmädchen sagten: »Gott behüte Sie, Miß, wohin Sie auch immer gehen mögen.«

Und der häßliche lahme Gärtner, von dem ich gar nicht glaubte, daß er mich überhaupt kenne oder mich jemals gesehen habe, kam hinter der Kutsche nachgekeucht, um mir ein Geraniumsträußchen zu geben und zu sagen, ich sei das Licht seiner Augen gewesen. – Wirklich und wahrhaftig, der alte Mann sagte das.

Ich war in meiner Kutsche förmlich erdrückt vor Glück von alledem, und als ich an der Kinderschule vorbeikam und die Kleinen ihre Hüte schwenkten und ein grauköpfiger Herr und eine Dame, deren Tochter ich hatte unterrichten helfen und in deren Hause ich auf Besuch gewesen – sie galten für die stolzesten Leute in der ganzen Gegend –, immer und immer wieder riefen: »Leben Sie wohl, Esther, mögen Sie immer glücklich sein!« da mußte ich viele, viele Male sagen: »Oh, ich bin so dankbar, so von Herzen dankbar.«

Aber bald sah ich ein, daß ich nach allem, was man für mich getan, an den Ort, wohin ich gehen sollte, keine Tränen mitbringen dürfe. Deshalb bezwang ich mich und redete mir selbst zu: Esther, du mußt dich fassen, das geht so nicht! Ich kühlte mir die Augen mit Lavendelwasser, und es war höchste Zeit, wie ich dachte, denn wir mußten meiner Ansicht nach jede Minute in London sein.

Ich war vollständig überzeugt, wir seien bereits dort, als wir noch zehn Meilen Weges vor uns hatten, und daß wir niemals hinkommen würden, als wir bereits mitten drin waren. Wie wir über das Steinpflaster holperten und, wie ich immerwährend fürchtete, alle Augenblicke mit andern Wagen zusammenstoßen mußten, fing ich endlich an zu glauben, wir näherten uns dem Ende unserer Reise. Bald darauf hielten wir.

Ein tintenbespritzter junger Mann redete mich auf dem Trottoir mit den Worten an:

»Ich bin von Kenge & Carboy, Miß, von Lincoln’s Inn.«

»Sie erwarten mich wohl, Sir?«

Der junge Mann war sehr höflich, und als er mir in einen Fiaker half und die Besorgung meines Gepäcks veranlaßt hatte, fragte ich ihn, ob in der Nähe ein großes Feuer sei, denn die Straßen waren so voll von dickem braunem Qualm, daß man kaum etwas erkennen konnte.

»O nein, Miß.Das ist Londoner ‚Echter‘.«

Ich hatte diesen Ausdruck noch nie gehört.

»Nebel, Miß.«

Wir fuhren langsam durch die schmutzigsten und dunkelsten Straßen, die es meiner Meinung nach in der Welt geben konnte, und durch ein so lärmendes Gewühl, daß ich mich wunderte, wie die Leute ihre fünf Sinne beisammenhalten konnten, bis wir durch einen alten Torweg über einen stillen Platz in eine sonderbare Ecke kamen, wo breite steile Stufen zu einem Tor führten wie zu einer Kirchentür. Und wirklich war auch daneben ein Friedhof hinter Klostergebäuden; ich konnte die Grabsteine durch das Treppenfenster sehen.

Hier war Kenge & Carboys Kanzlei. Der junge Mann führte mich durch die Schreibstube in Mr. Kenges Privatzimmer – es war niemand drin – und rückte mir höflich einen Lehnstuhl an den Kamin. Dann machte er mich auf einen kleinen Wandspiegel aufmerksam.

»Im Falle Sie nach der Reise einmal hineinzuschauen wünschten, Miß, ehe Sie vor dem Kanzler erscheinen. Nicht daß es im geringsten nötig wäre«, setzte er höflich hinzu.

»Vor dem Kanzler erscheinen?« sagte ich, einen Augenblick ganz erschrocken.

»Eine bloße Formsache, Miß! Mr. Kenge ist jetzt bei Gericht. Er läßt sich Ihnen empfehlen, und wenn Sie vielleicht etwas genießen wollen: – Backwerk und eine Karaffe mit Wein stehen dort auf dem kleinen Tischchen, und hier ist die Zeitung –« der junge Mann überreichte sie mir. Dann schürte er das Feuer und ließ mich allein.

Alles war so seltsam – um so seltsamer, da bei Tag die Lichter brannten mit weißer Flamme und trotz des Feuers eine fröstelnde Temperatur herrschte –, daß ich die Worte in der Zeitung las, ohne sie zu erfassen, und mich dabei ertappte, daß ich dieselben Sätze immer wieder von vorn anfing.

Ich legte die Zeitung hin, sah in den Spiegel, ob mein Hut noch in Ordnung sei, betrachtete das nur halb erhellte Zimmer, die schlechten staubigen Tische und die Aktenstöße und einen Bücherschrank voll von so ausdruckslos aussehenden Büchern, als ob gar nichts in ihnen stünde. Und dann dachte ich weiter und weiter und weiter, und das Feuer brannte und brannte, und die Lichter qualmten und flackerten – und es war keine Lichtschere da –, bis der junge Mann endlich eine sehr schmutzige brachte, wohl zwei volle Stunden lang.

Endlich erschien Mr. Kenge. Er sah ganz aus wie früher, aber er wunderte sich, mich so verändert zu finden, und schien sich darüber zu freuen.

»Da Sie die Gesellschafterin der jungen Dame werden sollen, die sich jetzt im Privatzimmer des Kanzlers befindet, Miß Summerson«, sagte er, »so glaubten wir, es sei gut, wenn Sie ebenfalls da wären. Sie werden sich doch vor dem Lordkanzler nicht fürchten, hoffe ich?«

»Nein, Sir«, sagte ich. »Ich glaube nicht.«

Bei einiger Überlegung sah ich auch wirklich nicht ein, warum ich mich hätte fürchten sollen.

Mr. Kenge reichte mir seinen Arm, und wir gingen um die Ecke herum unter einer Kolonnade zu einer Seitentür hinein. Durch einen Korridor kamen wir in ein behagliches Zimmer, wo eine junge Dame und ein junger Herr an einem großen Kamin standen, in dem das Feuer laut prasselte. Ein Schirm stand zwischen ihnen und dem Kamin, und sie lehnten sich daran und plauderten miteinander.

Sie sahen beide auf, als ich eintrat. Die junge Dame war ein sehr schönes Mädchen mit reichem goldblondem Haar, sanften blauen Augen und einem heitern, unschuldigen, vertrauensvollen Gesicht.

»Miß Ada«, stellte mich Mr. Kenge vor, »hier ist Miß Summerson!«

Die junge Dame streckte mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen, schien aber im Augenblick andern Sinnes zu werden, kam auf mich zu und küßte mich; kurz, sie hatte ein so natürliches und gewinnendes Wesen, daß wir nach wenigen Minuten im Schein des Feuers zusammen am Fenster saßen und so ungeniert und heiter wie nur möglich miteinander plauderten.

Eine Last war von meinem Herzen genommen. Ich fühlte mich so glücklich, daß sie Vertrauen zu mir fassen und Gefallen an mir finden konnte.

Es war so gut von ihr und so ermutigend für mich.

Der junge Herr, ein entfernter Vetter von ihr, wie sie mir sagte, hieß Richard Carstone. Er war ein hübscher junger Mann mit einem intelligenten Gesicht und einem sehr gewinnenden Lachen; und nachdem sie ihn zu uns ans Fenster gerufen hatte, plauderte er so lustig wie ein leichtherziger Knabe. Er mußte sehr jung sein, höchstens neunzehn, war aber fast zwei Jahre älter als sie. Beide waren sonderbarerweise Waisen und hatten sich vorher nie gesehen. Daß wir uns alle drei zum ersten Mal an diesem ungewöhnlichen Orte trafen, war allein schon wert, daß man davon redete, und wir unterhielten uns darüber. Das Feuer hatte aufgehört, so laut zu prasseln, und zwinkerte uns mit seinen roten Augen zu – wie sich Richard ausdrückte – wie ein schläfriger alter Gerichtslöwe.

Wir unterhielten uns ziemlich leise, weil ein Herr in Kniehosen und Schuhen und einer Zopfperücke häufig ins Zimmer kam, wobei wir beim Aufgehen stets ein schläfriges Summen in der Ferne hörten. Es stammte, wie er uns sagte, von einem Advokaten, der gerade in unserer Sache vor dem Lordkanzler plädierte.

Fast gleich darauf öffnete er wieder die Tür und ließ Mr. Kenge eintreten. Sodann begaben wir uns alle in das nächste Zimmer: voran Mr. Kenge mit – meinem Liebling; der Ausdruck ist mir so natürlich geworden, daß er mir von selbst in die Feder kommt.

Dort saß, einfach in Schwarz gekleidet, in einem Lehnstuhl vor einem Tisch am Kamin Seine Lordschaft. Sein Gerichtstalar, mit schönen Goldtressen besetzt, lag auf einem Stuhl daneben. Er warf einen forschenden Blick auf uns, als wir eintraten, aber sein Benehmen war höflich und gütig.

Der Herr mit der Perücke legte Akten auf den Tisch, und Seine Lordschaft suchte schweigend ein Heft heraus und blätterte darin.

»Miß Clare«, begann der Lordkanzler, »Miß Ada Clare?«

Mr. Kenge stellte sie vor, und Seine Lordschaft bat sie, neben ihm Platz zu nehmen. Daß er sie bewunderte und großes Interesse an ihr nahm, konnte sogar ich auf den ersten Blick sehen.

Es tat mir weh, daß eine kahle trockene Beamtenstube das Vaterhaus eines so schönen und jungen Geschöpfes sein sollte. Der Lord-Oberkanzler erschien mir trotz seines guten Willens ein armseliger Ersatz für liebende Eltern zu sein.

»Der in Frage kommende Jarndyce«, fragte der Lordkanzler, immer noch in dem Hefte blätternd, »ist Jarndyce von Bleakhaus?«

»Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, bestätigte Mr. Kenge.

»Ein trauriger Name, Mr. Kenge.«

»Aber jetzt kein trauriger Ort mehr, Mylord.«

»Und Bleakhaus«, sagte Seine Lordschaft, »liegt in –?«

»Hertfordshire, Mylord.«

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus ist unverheiratet?«

»Ja, Mylord.«

Eine Pause.

»Der junge Mr. Richard Carstone ist anwesend?« warf der Lordkanzler einen Blick auf den jungen Mann.

Richard verbeugte sich und trat vor.

»Hm«, sagte der Lordkanzler und blätterte weiter.

»Mr. Jarndyce von Bleakhaus, Mylord«, erklärte Mr. Kenge mit leiser Stimme, »sucht, wenn ich mir erlauben darf, Ew. Lordschaft daran zu erinnern, eine geeignete Gesellschafterin für –«

»Für Mr. Richard Carstone?« glaubte ich den Lordkanzler mit einem Lächeln sagen zu hören.

»Für Miß Ada Clare! Hier ist die junge Dame! Miß Summerson!«

Seine Lordschaft schenkte mir einen freundlich herablassenden Blick und erwiderte meine Verbeugung sehr gnädig.

»Miß Summerson ist, glaube ich, mit keiner der Parteien in dieser Sache verwandt?«

»Nein, Mylord.«

Mr. Kenge beugte sich, ehe er dies sagte, ein wenig vor und flüsterte etwas. Der Kanzler hörte zu, die Augen auf seine Akten geheftet, nickte zwei oder dreimal, blätterte um und blickte mich nicht wieder an, bis wir uns verabschiedeten.

Mr. Kenge trat jetzt mit Richard wieder zurück zu mir in die Nähe der Tür und ließ Ada neben dem Lordkanzler sitzen. Seine Lordschaft sprach mit ihr eine Weile allein, fragte sie, wie sie mir später erzählte, ob sie den Schritt, den sie zu tun im Begriffe stehe, sich auch wohl überlegt habe und glaube, sie werde sich bei Mr. Jarndyce von Bleakhaus glücklich fühlen, und weshalb sie das denke. Gleich darauf erhob er sich höflich grüßend und sprach ein paar Minuten lang mit Richard Carstone im Stehen und mit viel mehr Ungeniertheit und weniger Förmlichkeit, als ob er trotz seines Ranges als Lordkanzler immer noch wüßte, wie man den geraden Weg zu dem Herzen eines jungen Mannes findet.

»Sehr gut«, sagte er dann laut. »Ich werde das Dekret ausfertigen lassen. Mr. Jarndyce von Bleakhaus hat, soweit ich beurteilen kann«, – er sah mich dabei an – »eine sehr gute Gesellschafterin für die junge Dame gefunden, und das erscheint mir als das beste, was unter den gegebenen Umständen geschehen kann.«

Er entließ uns freundlich, und wir alle waren ihm für seine Leutseligkeit und Höflichkeit, durch die er gewiß nichts an Würde verloren, sondern nur gewonnen hatte, sehr verbunden.

Als wir in den Säulengang kamen, erinnerte sich Mr. Kenge, daß er noch einmal zurück müsse, um sich nach etwas zu erkundigen, und ließ uns in dem Nebel stehen, wo des Lordkanzlers Wagen und Bediente warteten.

»Nun, das wäre überstanden«, sagte Richard Carstone. »Und wo gehen wir jetzt hin, Miß Summerson?«

»Wissen Sie es nicht?«

»Nicht im mindesten.«

»Und Sie auch nicht, liebe Ada?« fragte ich.

»Nein, wenn Sie es nicht wissen, Miß Summerson.«

»Ich durchaus nicht.«

Wir sahen einander an und lachten, daß wir dastanden wie Kinder, die sich im Walde verirrt haben, als eine seltsame kleine Alte mit einem zerdrückten Hut und einem großen Strickbeutel knicksend und lächelnd sich uns mit höchst feierlicher Miene näherte.

»Oh«, sagte sie. »Die Mündel in Sachen Jarndyce! Schätze mich sehr glücklich, die Ehre zu haben. Ein gutes Omen für Jugend, Hoffnung und Schönheit, an diesem Ort zusammenzukommen und nicht zu wissen, was daraus werden soll.«

»Verrückt!« flüsterte uns Richard zu, in dem Glauben, sie könne es nicht hören.

»Sehr richtig! Verrückt, junger Herr!« antwortete die Alte so rasch, daß Richard wie begossen dastand. »Ich war selbst einst ein Mündel. Damals war ich nicht verrückt«, setzte sie mit einer tiefen Verbeugung und einem Lächeln nach jedem kleinen Satz hinzu. »Ich war jung und voll Hoffnung. Ich glaube, ich war auch schön. Darauf kommt es jetzt aber sehr wenig an. Weder Jugend noch Hoffnung noch Schönheit halfen mir etwas. Ich habe die Ehre, den Gerichtssitzungen regelmäßig beizuwohnen. Mit meinen Dokumenten. Ich erwarte ein Urteil. Binnen kurzem. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ich habe entdeckt, daß das sechste Siegel in der Offenbarung das Große Siegel ist. Es ist schon seit langer Zeit geöffnet. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Glück wünsche.«

Da Ada etwas erschrocken war, sagte ich, um der armen Alten nicht weh zu tun, daß wir ihr sehr verbunden wären.

»Ja-a!« antwortete sie geziert. »Das glaube ich. Und hier kommt ‚Konversationskenge‘. Mit seinen Dokumenten. Wie geht es Ew. Würden?«

»Danke, danke. Aber bitte, belästigen Sie uns nicht, gute Frau«, sagte Mr. Kenge, indem er uns zurückgeleitete.

»O gewiß nicht«, entschuldigte sich die arme Alte, neben Ada und mir hergehend. »Will durchaus nicht belästigen. Ich werde beiden Güter schenken; was doch gewiß keine Belästigung ist. Ich erwarte ein Urteil. Am Tage des Jüngsten Gerichts. Ein gutes Omen für Sie. Nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen.«

Sie blieb unten an der steilen, breiten Treppe stehen, und als wir uns beim Hinaufgehen umsahen, stand sie immer noch da und sagte immer noch mit einem Knicks und einem Lächeln bei jedem kleinen Satz:

»Jugend! Und Hoffnung! Und Schönheit! Und Kanzleigericht! Und Konversationskenge! Ha! Bitte, nehmen Sie meinen Glückwunsch entgegen!«

30. Kapitel


30. Kapitel

Esthers Erzählung

Richard war bereits einige Zeit fort, da bekamen wir für ein paar Tage Besuch. Von einer ältlichen Dame. Es war Mrs. Woodcourt aus Wales, die während eines Besuches bei Mrs. Bayham Badger, »auf Wunsch ihres Allan«, an meinen Vormund geschrieben hatte, sie habe Nachricht von ihrem Sohn erhalten und er befände sich wohl »und lasse uns allen seine freundlichsten Grüße senden«. Mein Vormund hatte sie daraufhin nach Bleakhaus eingeladen, und sie blieb fast drei Wochen bei uns. Sie schloß sich sehr an mich an, und so ausnehmend vertraulich, daß es mich manchmal in eine recht unbehagliche Stimmung versetzte. Ich wußte ganz gut, ich hatte kein Recht, mich darüber unbehaglich zu fühlen, und es war unverständig von mir, aber trotz aller Bemühungen konnte ich mir nicht helfen.

Sie war eine so lebhafte kleine Dame, pflegte, die Hände gefaltet, mich oft so aufmerksam zu beobachten beim Sprechen, daß mir vielleicht das etwas lästig wurde. Vielleicht war es auch ihre Gewohnheit, immer so aufrecht dazusitzen, aber ich glaube, das konnte nicht gut die Ursache sein, denn es kam mir manchmal recht drollig und nett vor. Auch kann es nicht an ihrem Gesichtsausdruck gelegen haben, der für eine alte Dame sehr lebendig und hübsch war. Ich weiß nicht, woran es lag. Oder wenigstens wußte ich es damals nicht. Oder wenigstens… Aber darauf kommt es nicht an.

Manchmal, wenn ich hinauf zu Bett gehen wollte, lud sie mich in ihr Zimmer ein, setzte sich in einen großen Lehnstuhl an den Kamin und erzählte mir – o Gott, o Gott – von Morgan ap Kerrig, bis ich ganz tiefsinnig wurde. Manchmal sagte sie eine Anzahl Verse aus Crumlinwallinwer und Mewlinwillinwodd, wenn das wirklich die Namen waren, her und wurde ordentlich leidenschaftlich dabei. Ich verstand ihre Bedeutung nicht, denn sie waren in welscher Sprache, und wußte nur, daß sie das Geschlecht Morgan ap Kerrig in den Himmel hoben.

»Sie sehen, Miß Summerson, wie groß das Erbe meines Sohnes ist«, pflegte sie triumphierend zu mir zu sagen. »Überall, wohin er auch kommt, kann er sich auf seine Abstammung von Morgan ap Kerrig berufen. Er wird vielleicht nie ein Vermögen haben, aber stets wird er besitzen, was so unendlich viel mehr wert ist, nämlich Familie, mein Kind.«

Ich hatte so meine Zweifel, ob sie sich in Indien und China drüben besonders um Morgan ap Kerrig kümmern würden, aber natürlich sprach ich es nicht aus. Ich sagte gewöhnlich nur, es sei eine große Sache, von so hoher Abkunft zu sein.

»Es ist auch wirklich eine große Sache, liebes Kind«, pflegte in solchen Fällen Mrs. Woodcourt zur Antwort zu geben. »Sie hat allerdings ihre Nachteile. So ist zum Beispiel mein Sohn in der Wahl einer Gattin sehr dadurch beschränkt. Aber auch die ehelichen Verbindungen der königlichen Familie sind schließlich in ähnlicher Weise beeinträchtigt.«

Dann klopfte sie mir wohl auf den Arm und strich mir das Kleid glatt, als wolle sie mir versichern, daß sie trotz des Abstandes zwischen uns beiden eine gute Meinung von mir habe.

»Mein armer seliger Mann, Mr. Woodcourt, liebes Kind«, sagte sie auch oft nicht ohne Rührung, denn neben ihrem vornehmen Stammbaum besaß sie ein sehr gefühlvolles Herz, »stammte von einer großen hochländischen Familie ab, den Mac Courts von Mac Court. Er diente seinem Könige und seinem Vaterlande als Offizier bei den königlichen Highlanders und fiel auf dem Schlachtfeld. Mein Sohn ist einer der letzten Repräsentanten zweier alter Familien. So Gott will, wird er sie wieder zur Geltung in der Welt bringen und sie mit einer andern alten Familie vereinigen.«

Vergebens in solchen Fällen versuchte ich dem Gespräch eine andre Richtung zu geben – nur der Abwechslung wegen – oder vielleicht, weil… Aber ich brauche mich nicht so in Einzelheiten zu verlieren. Kurz, Mrs. Woodcourt wollte nie von etwas anderm sprechen.

»Liebes Kind«, sagte sie eines Abends. »Sie sind so verständig und sehen die Welt mit so ruhigen und für Ihre Jahre so überlegnen Augen an, daß es für mich eine wahre Erleichterung ist, mit Ihnen diese Familienverhältnisse zu besprechen. Sie wissen nicht viel von meinem Sohn, mein Kind, aber Sie kennen ihn, möchte ich sagen, doch genug, um sich seiner erinnern zu können?«

»Gewiß, Maam, erinnere ich mich seiner.«

»Gut, liebes Kind. Und nun, mein Kind, muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen viel Menschenkenntnis zutraue und gerne wissen möchte, was Sie von ihm halten.«

»O, Mrs. Woodcourt, das ist so schwer.«

»Warum sollte es schwer sein, liebes Kind? Ich sehe dann keine Schwierigkeit.«

»Ein Urteil abzugeben…«

»Nach so oberflächlicher Bekanntschaft, liebes Kind? Das ist allerdings wahr.«

Das meinte ich nicht, denn Mr. Woodcourt war im großen ganzen ziemlich viel in unserm Haus gewesen und mit meinem Vormund sehr vertraut geworden. Ich äußerte das und setzte hinzu, daß er sehr talentvoll in seinem Beruf zu sein scheine, und beispielsweise seine Güte und Freundlichkeit gegen Miß Flite über allem Lobe stünden.

»Sie lassen ihm Gerechtigkeit widerfahren«, sagte Mrs. Woodcourt und drückte mir die Hand. »Sie schildern ihn wirklich treffend. Allan ist ein lieber Junge und in seinem Beruf ohne Tadel. Ich gebe es zu, wenn ich auch seine Mutter bin. Dennoch muß ich gestehen, daß er nicht frei von Fehlern ist, meine Liebe.«

»Das ist keiner von uns«, sagte ich.

»Ja! Aber seine Fehler sind von der Art, daß er sie ablegen könnte und sollte«, erwiderte die muntere alte Dame und schüttelte lebhaft den Kopf. »Ich habe Sie so gern, daß ich Ihnen, liebes Kind, als einer dritten unbeteiligten Person in allem Vertrauen sagen kann, daß er die Unbeständigkeit selbst ist.«

Ich bemerkte, ich könnte es bei dem Ruf, den er sich erworben, kaum für möglich halten, daß er in seinem Beruf nicht beständig und nicht von jeher eifrig auf seine Ausbildung bedacht gewesen sei.

»Da haben Sie wieder Recht, liebes Kind; aber ich spreche nicht von seinem Beruf, müssen Sie wissen.«

»O!«

»Nein. Ich meine sein Benehmen in gesellschaftlicher Beziehung, mein Kind. Er macht stets jungen Damen harmlos den Hof und hat es seit seinem achtzehnten Jahr getan. Aber, liebes Kind, er hat sich dabei niemals etwas Ernstes gedacht und auch nichts Böses damit gemeint. Er hat nie etwas andres als Höflichkeit und Freundlichkeit damit ausdrücken wollen, aber dennoch ist es nicht recht, nicht wahr?«

»Nein«, sagte ich, da sie diese Antwort zu erwarten schien.

»Und es könnte leicht zu Irrtümern führen, sehen Sie.«

Ich gab das zu.

»Deshalb habe ich ihm oft gesagt, er solle sich sowohl aus Rücksicht gegen sich selbst wie gegen andre wirklich mehr in acht nehmen. Und stets hat er versprochen: ‚Mutter, das will ich. Aber du kennst mich am besten von allen Menschen und weißt, daß meine Absichten ganz harmlos sind, wenn ich mir überhaupt etwas dabei denke.‘ Alles das ist ja recht hübsch, mein Kind, kann sein Benehmen jedoch nicht rechtfertigen. Da er aber jetzt so weit von uns und auf unbestimmte Zeit weggegangen ist und es ihm drüben an guten Gelegenheiten und Bekanntschaften nicht fehlen wird, können wir das ja als vorbei und abgemacht betrachten. Und nun, liebes Kind«, sagte die alte Dame und wurde plötzlich ganz Nicken und Lächeln, »was nun Sie selbst betrifft, liebes Kind…«

»Mich, Mrs. Woodcourt?«

»Um nicht immer selbstsüchtigerweise von meinem Sohn zu sprechen, der uns verlassen hat, um sein Glück zu versuchen und eine Gattin zu finden, wann gedenken Sie Ihr Glück zu versuchen und einen Gatten zu finden, Miß Summerson? Ah, sehen Sie! Jetzt werden Sie rot.«

Ich glaube nicht, daß ich rot wurde – jedenfalls hatte es nichts zu bedeuten, wenn es geschah –, und ich sagte, daß ich mit meinem gegenwärtigen Los vollkommen zufrieden sei und mir kein besseres wünsche.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich immer von Ihnen und Ihrem zukünftigen Schicksal denke, meine Liebe?«

»Wenn Sie glauben, eine gute Prophetin zu sein.«

»Nun, ich glaube, daß Sie einen sehr reichen und sehr würdigen Mann heiraten werden, der viel älter als Sie – vielleicht fünfundzwanzig Jahre älter ist. Und Sie werden eine vortreffliche Gattin sein, auf den Händen getragen werden und sich sehr glücklich fühlen.«

»Das ist ein sehr beneidenswertes Los«, sagte ich. »Aber warum soll es mir zufallen?«

»Liebes Kind, weil es eben ganz für Sie paßt. Sie sind so häuslich und sauber und im übrigen in so einer ganz besondern Lage, daß es bestimmt so kommen wird. Und niemand, liebes Kind, wird Ihnen aufrichtiger zu einer solchen Heirat Glück wünschen als ich.«

Es war merkwürdig, daß mich diese Rede in eine unbehagliche Stimmung versetzte, aber ich glaube, es war tatsächlich der Fall. Ich weiß es sogar. Es verstimmte mich einen Teil der Nacht lang außerordentlich. Ich schämte mich meiner Torheit so sehr, daß ich sie selbst nicht Ada bekennen mochte, und das vermehrte meine Mißstimmung noch. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn mich die lebhafte alte Dame nicht so sehr ins Vertrauen gezogen hätte. Es verleitete mich zu den widersprechendsten Urteilen über sie. Manchmal erschien sie mir als geschwätzig und aufschneiderisch, manchmal wieder als ein Muster von Wahrheitsliebe. Kaum hatte ich sie im Verdacht, listig und verschlagen zu sein, erschien mir im nächsten Augenblick wieder ihr ehrliches welsches Herz vollkommen unschuldig und schlicht. Und was im Grunde kümmerte es mich und warum kümmerte es mich etwas! Warum sollte ich, wenn ich mit meinem Schlüsselkorb abends hinauf in mein Zimmer ging, nicht ein bißchen bei ihr vorsprechen, mich mit ihr ans Feuer setzen und mich eine kurze Zeit lang in ihre kleinen Eigenheiten fügen, wie ich es bei jedem andern machte, und warum sollte ich mich wegen der harmlosen Dinge, die sie mir erzählte, verstimmen lassen? Da es mich nun ein Mal, wie es der Fall war, zu ihr hinzog, denn es lag mir außerordentlich viel daran, ihre Neigung zu gewinnen, und es machte mir große Freude, daß ich ihr gefiel, warum sollte ich mich nachher mit wirklichem Schmerz und Leid über jedes ihrer Worte zergrübeln und es aber- und abermals auf der Goldwaage abwägen ? Warum war es mir so peinlich, sie als Gast bei uns zu haben und jeden Abend mit ihrem Vertrauen beschenkt zu werden? Das waren Verwicklungen und Widersprüche, die ich mir nicht erklären konnte. Wenigstens, wenn ich’s gekonnt hätte… Aber ich werde nach und nach alles erzählen, und es ist ganz überflüssig, jetzt sich damit abzugeben.

Es tat mir wirklich ehrlich leid, als Mrs. Woodcourt uns verließ, aber ich fühlte mich zugleich wie befreit. Und dann besuchte uns Caddy Jellyby und brachte einen solchen Stoß häuslicher Neuigkeiten mit, daß wir reichlich beschäftigt waren.

Erstens erklärte Caddy, und wollte anfangs überhaupt nichts anderes erzählen, daß ich die beste Ratgeberin von der Welt sei. Mein Liebling meinte, das sei durchaus nichts Neues, und ich sagte natürlich, es sei Unsinn. Dann teilte uns Caddy mit, daß sie sich nächsten Monat verheiraten werde und sich für das glücklichste Mädchen unter der Sonne halte, wenn Ada und ich ihre Brautjungfern sein wollten. Das war allerdings eine große Neuigkeit, und ich glaube, wir hätten am liebsten nie aufgehört, darüber zu reden, soviel hatte Caddy uns und wir ihr zu erzählen.

Wie es schien, war Caddys unglücklicher Vater dank der Nachsicht und der mitleidigen Teilnahme aller seiner Gläubiger durch den Bankrott »hindurchgerutscht«, wie Caddy sich ausdrückte – als ob es ein Tunnel wäre –, und war auf irgendeine segensreiche Weise seine Angelegenheiten losgeworden, ohne jemals Einsicht in sie erlangt zu haben. Er hatte alles, was er besaß – nach dem Zustand der Möbel zu urteilen, konnte das nicht sehr viel gewesen sein –, hergegeben und jedem Gläubiger nachgewiesen, daß er nicht mehr tun könne. Der Arme. So hatte man ihm in Ehren seine Schulden erlassen und ihn seinem Bureau zurückgegeben, damit er das Leben von neuem beginne. Was er in seinem Bureau eigentlich tat, habe ich nie erfahren. Caddy sagte, er sei Zollhaus- und Generalagent, und das einzige, was ich jemals von diesem Geschäft erfuhr, war, daß er immer in die Docks ging, wenn er Geld noch notwendiger als gewöhnlich brauchte, um welches auf zutreiben, daß es ihm aber kaum jemals gelang.

Sobald er ein solch geschorenes Lamm geworden und damit seine Seelenruhe verhältnismäßig wieder gewonnen hatte und die Familie in eine möblierte Wohnung in Hatton-Garden übersiedelt war, wo ich bei einem spätem Besuch die Kinder beschäftigt fand, das Roßhaar aus den Stuhlsitzen zu schneiden, um sich gegenseitig damit den Mund zu verstopfen, brachte Caddy zwischen ihm und dem alten Mr. Turveydrop eine Zusammenkunft zustande, und der arme Mr. Jellyby hatte sich in seiner Demut und Bescheidenheit vor Mr. Turveydrops Allüren so unterwürfig gebeugt, daß sie vortreffliche Freunde geworden waren. Der alte Mr. Turveydrop, auf diese Weise mit dem Gedanken an seines Sohnes Verheiratung vertraut gemacht, hatte allmählich seine väterlichen Gefühle bis zu der Höhe gesteigert, daß er sich das Ereignis als nahe bevorstehend denken konnte und dem jungen Paare seine gnädige Erlaubnis erteilte, in der Akademie der Newmanstreet zu wirtschaften anzufangen, sobald sie wollten.

»Und dein Papa, Caddy? Was sagt er dazu?«

»Ach, der arme Papa weinte nur und sagte, er hoffe, wir würden glücklicher miteinander sein als er und Ma. Er sagte das nicht vor Prince, sondern bloß zu mir und setzte hinzu: ‚Mein armes Kind, man hat dich zu Hause nicht besonders gut unterwiesen, wie du deinem Gatten eine Häuslichkeit bereiten sollst, aber wenn du nicht mit ganzem Herzen bestrebt bist, es zu tun, so ermorde ihn lieber, als daß du ihn heiratest, wenn du ihn wirklich gern hast.’«

»Und hast du ihn beruhigt, Caddy?«

»Ach, es war natürlich sehr schmerzlich, den armen Papa so niedergeschlagen zu sehen und ihn so schreckliche Dinge sagen zu hören, und ich mußte selbst mitweinen. Ich sagte ihm, daß es mein aufrichtigster Herzenswunsch sei und daß ich hoffte, unser Haus werde für ihn ein Ort werden, wo er des Abends eine gemütliche Umgebung finden könnte, und daß ich hoffte und glaubte, ich werde ihm dort eine bessere Tochter sein können als daheim. Dann erwähnte ich, daß Peepy zu mir kommen würde, und da fing Papa wieder an zu weinen und sagte, die Kinder wären Indianer.«

»Indianer, Caddy?«

»Ja, wilde Indianer. Und Papa sagte, er sehe ein, das Beste, was ihnen geschehen könnte, wäre, wenn man sie allesamt mit dem Tomahawk erschlüge.«

Ada meinte, es sei ein Trost, zu wissen, daß es Mr. Jellyby mit seinen Zerstörungsgelüsten nicht ernst sei.

»Natürlich weiß ich, daß Papa nicht wünscht, seine Familie sich in ihrem Blut wälzen zu sehen«, sagte Caddy. »Aber er meint, daß es ein Unglück für die Kinder ist, eine solche Mutter zu haben, und ein Unglück für ihn, Mas Gatte zu sein. Und das ist gewiß wahr, wenn es auch unnatürlich klingt, daß ich es bestätige.«

Ich fragte Caddy, ob Mrs. Jellyby wisse, daß der Hochzeitstag bereits festgesetzt sei.

»Ach, du weißt, wie Ma ist, Esther«, antwortete sie. »Es ist rein unmöglich zu sagen, ob sie es weiß oder nicht. Man hat es ihr oft genug erzählt, aber so oft man darauf zu sprechen kommt, wirft sie nur einen friedlichen Blick auf mich, als wäre ich – ich weiß nicht was – ein Kirchturm in der Ferne. Und dann schüttelt sie den Kopf und sagt: ‚O Caddy, o Caddy, wie du mich quälst!‘ und arbeitet an ihren Borriobula-Briefen weiter.«

»Und wie steht’s mit deiner Garderobe, Caddy?« – Sie brauchte sich uns gegenüber ja nicht zu genieren. –

»Ach, liebe Esther«, entgegnete sie und trocknete sich die Augen, »ich muß es machen, so gut ich kann, und meinem lieben Prince vertrauen, er werde nie unfreundlich daran zurückdenken, daß ich so schäbig zu ihm gekommen bin. Wenn es sich um eine Ausstattung für Borriobula-Gha handelte, so würde Ma alles ganz genau wissen und im höchsten Grad aufgeregt darüber sein. Aber so weiß sie nichts und kümmert sich um nichts.«

Es fehlte Caddy durchaus nicht an natürlicher Liebe zu ihrer Mutter, und sie erwähnte nur die nackte Tatsache mit Tränen in den Augen. Uns tat das arme gute Mädchen so leid, und wir mußten ihre gute natürliche Veranlagung, die trotz so entmutigender Verhältnisse nicht zugrunde gegangen war, so bewundern, daß wir beide zugleich, nämlich Ada und ich, einen kleinen Plan in Vorschlag brachten, der Caddy in größte Freude versetzte. Er bestand darin, daß sie uns auf drei Wochen und ich sie auf eine Woche besuchen sollte und daß wir uns alle drei bemühen wollten, durch Schneidern, Ausbessern, Nähen und dergleichen unser möglichstes für ihre Garderobe zu tun.

Da mein Vormund sich über den Plan ebenso freute wie Caddy, begleiteten wir sie der nötigen Vorbereitungen wegen am nächsten Tag schon nach London und brachten sie im Triumph mit ihren Schachteln und all den Einkäufen für eine Zehnpfundnote, die Mr. Jellyby vermutlich in den Docks gefunden hatte, ihr aber jedenfalls schenkte, zurück.

Was mein Vormund ihr erst alles geschenkt hätte, wenn wir ihn dazu aufgemuntert hätten, wäre schwer zu sagen, aber wir hielten es für recht, ihm nicht mehr als ein Hochzeitskleid und einen Hut zu gestatten. Er ging auf den Vergleich ein, und Caddy war überglücklich, als wir uns zur Arbeit hinsetzten.

Sie war anfangs ungeschickt genug mit der Nadel, das arme Kind, und stach sich jetzt so oft in die Finger, wie sie sich früher mit Tinte beschmiert hatte. Sie wurde dann meistens ein wenig rot, teils vor Schmerz, teils aus Verdruß über ihre Ungeschicklichkeit, gewöhnte sich das aber bald ab und machte rasche Fortschritte. So saßen sie und mein Liebling, meine kleine Zofe Charley und eine Putzmacherin aus der Stadt und ich Tag für Tag in eifriger Arbeit und so gemütlich wie möglich beisammen.

Außerdem war Caddy sehr besorgt, »wirtschaften zu lernen«, wie sie es nannte. Nun war aber, gütiger Himmel, der Gedanke, sie könnte von einer Person von meiner unermeßlichen Erfahrung wirtschaften lernen, ein solcher Spaß, daß ich lachte und rot wurde und über ihren Vorschlag in Verlegenheit geriet. Ich sagte: »Caddy, gewiß will ich dich alles lehren, was du von mir lernen kannst, liebes Kind«, und ich zeigte ihr alle meine Bücher und Methoden und alle meine kleinen Einrichtungen. Wie sie zuhörte und zusah, hätte man meinen können, ich offenbarte ihr die wundervollsten Erfindungen, und wer sie hätte jedes Mal aufstehen und mit mir kommen sehen, so oft ich mit meinen Wirtschaftsschlüsseln klingelte, hätte gewiß gedacht, daß es nie einen größeren Charlatan gegeben als mich und einen blindem Anhänger als Caddy Jellyby.

So vergingen mit Arbeiten und Wirtschaften, Unterrichtsstunden für Charley und dem Pochbrettspielen abends mit meinem Vormund und Duetten mit Ada die drei Wochen schnell genug. Dann begleitete ich Caddy nach Hause, um zu sehen, was sich dort tun lasse, und Ada und Charley blieben zurück, um für meinen Vormund zu sorgen.

Wenn ich sage, ich begleitete Caddy nach Hause, so meine ich damit die möblierte Wohnung in Hatton-Garden. Wir gingen zwei oder drei Mal nach Newmanstreet, wo ebenfalls allerlei Vorbereitungen im Gange waren. Ziemlich viel, wie ich bemerkte, um die Behaglichkeit des alten Mr. Turveydrop zu vermehren, und einige wenige, um das junge Paar billig im obersten Stock des Hauses unterzubringen. Unser Hauptziel jedoch war, die möblierte Wohnung für das Hochzeitsfrühstück anständig herzurichten und Mrs. Jellyby vorher ein schwaches Bewußtsein von der kommenden Feier einzuimpfen.

Letzteres war das schwerste von beiden, weil Mrs. Jellyby und ein kränklicher, blasser Knabe das vordere Wohnzimmer inne hatten – das rückwärtige war bloß eine Kammer. Der Fußboden war mit einer dichten Schicht von Papierfetzen und Borriobula-Dokumenten bedeckt wie ein liederlich gehaltner Stall mit Streu. Mrs. Jellyby saß hier den ganzen Tag, trank starken Kaffee, diktierte und hielt Borriobula-Konferenzen ab. Der kränkliche blasse Knabe, der im ersten Stadium der Schwindsucht zu stehen schien, aß außer Hause.

Wenn Mr. Jellyby heim kam, stöhnte er gewöhnlich und ging hinab in die Küche. Dort bekam er etwas zu essen, wenn die Köchin ihm etwas gab, und dann fühlte er, daß er im Wege war, und ging draußen in der Nässe in Hatton-Garden spazieren. Die armen Kinder kletterten und purzelten im Hause herum, wie sie es von jeher gewohnt gewesen.

Die armen kleinen Opfer in der kurzen Frist einer Woche in einen nur irgend präsentablen Zustand zu versetzen, war einfach unmöglich, und ich schlug Caddy daher vor, sie an ihrem Hochzeitsmorgen in der Dachkammer – wo sie alle schliefen – so glücklich wie möglich zu machen und unser Hauptaugenmerk auf ihre Mama und deren Zimmer und die Vorbereitungen für ein reinliches Hochzeitsfrühstück zu beschränken. Wirklich erforderte Mrs. Jellyby ziemlich viel Aufmerksamkeit, denn das Gitterwerk auf ihrem Rücken hatte sich seit dem Tag unsrer ersten Bekanntschaft erheblich vergrößert und ihr Haar sah aus wie die Mähne eines Kehrichtwagenpferdes. Da mir eine allgemeine Besichtigung von Caddys Garderobe das beste Mittel zu sein schien, mich dem Thema auf Schleichwegen zu nähern, lud ich Mrs. Jellyby eines Abends, als der kränkliche Knabe fortgegangen war, ein, sich die Sachen, die auf Caddys Bett ausgebreitet waren, anzusehen.

»Meine liebe Miß Summerson«, sagte sie und stand mit ihrer gewohnten freundlichen Gelassenheit vom Schreibtisch auf, »das sind wahrhaft lächerliche Vorbereitungen, wenn es auch ein Beweis Ihrer Güte ist, daß Sie sich so sehr darum bemühen. Es liegt für mich etwas unaussprechlich Absurdes in dem Gedanken, daß Caddy heiratet. O Caddy, du törichtes, törichtes, törichtes Gänschen!«

Nichtsdestoweniger begleitete sie mich hinauf und besah sich die Kleider in ihrer gewohnten geistesabwesenden Art. Sie gaben ihr sogar einen bestimmten Gedanken ein, denn sie sagte mit ihrem friedlichen Lächeln kopfschüttelnd: »Meine gute Miß Summerson, mit dem halben Gelde hätte man ein Kind für Afrika ausstatten können.«

Wir gingen dann wieder hinunter, und Mrs. Jellyby fragte mich, ob das störende Geschäft des Heiratens wirklich nächsten Mittwoch stattfinden sollte. Als ich bejahte, sagte sie: »Wird man mein Zimmer brauchen, liebe Miß Summerson? Es ist mir ganz unmöglich, meine Papiere wegzuschaffen.«

Ich nahm mir die Freiheit, zu bemerken, daß wir das Zimmer jedenfalls brauchen würden und die Papiere irgendwohin schaffen müßten.

»Nun, Sie müssen es am besten wissen, liebe Miß Summerson«, sagte Mrs. Jellyby. »Aber dadurch, daß mich Caddy genötigt hat, einen Knaben aufzunehmen, hat sie mich bei meiner Überbürdung mit Geschäften für das öffentliche Wohl so in Verlegenheit gebracht, daß ich nicht weiß, wohin ich mich wenden soll. Wir haben überdies Mittwoch nachmittag Zweigvereinsversammlung, und die Störung durch die Hochzeit kommt daher recht ungelegen.

»Es wird so leicht nicht wieder vorkommen«, tröstete ich sie lächelnd. »Caddy wird sich wahrscheinlich nur ein Mal verheiraten.«

»Das ist richtig«, gab Mrs. Jellyby zu. »Das ist richtig, liebes Kind. Wir müssen uns also wohl, so gut es eben geht, hinein schicken.«

Die nächste Frage war, was Mrs. Jellyby zu der Feierlichkeit anziehen sollte. Es war so seltsam, wie sie von ihrem Schreibtisch herüber uns so heiter und ruhig anblickte, während Caddy und ich darüber zu Rate gingen, und gelegentlich mit einem vorwurfsvollen Lächeln den Kopf schüttelte wie ein überlegner Geist, der langmütig solche Tändeleien duldet.

Der Zustand, in dem sich ihre Kleider befanden, und das außerordentliche Durcheinander, in dem sie sie aufbewahrte, vermehrten nicht wenig die Schwierigkeit unsres Unternehmens. Aber schließlich brachten wir doch etwas zustande, was dem, was eine Durchschnittsmutter bei einer solchen Veranlassung getragen haben würde, nicht direkt unähnlich sah.

Die Geistesabwesenheit, mit der Mrs. Jellyby sich ihr Kleid von der Putzmacherin anprobieren ließ, und die Freundlichkeit, mit der sie sodann zu mir äußerte, wie leid es ihr tue, daß ich meine Gedanken nicht lieber Afrika gewidmet habe, paßten so recht zu ihrem ganzen übrigen Benehmen.

Die Wohnung war hinsichtlich Raum ziemlich beschränkt; aber ich glaube, die St. Pauls- oder St. Peterskirche in ihrer ganzen gewaltigen Größe hätte für Mrs. Jellybys Haushalt höchstens auch nur dazu ausgereicht, um darin mehr Schmutz entfalten zu können. Ich glaube nicht, daß irgend etwas überhaupt Zerbrechliches aus dem Familienbesitz zur Zeit dieser Hochzeitsvorbereitungen noch nicht zerbrochen war. Nichts, was irgendwie verderben konnte, war unverdorben. Kein häuslicher Gegenstand, vom Knie eines lieben Kindes an bis zu einem Türschild, der überhaupt schmutzig werden konnte, war ohne soviel Schmutz, als sich nach physikalischen Gesetzen darauf ansammeln konnte.

Der arme Mr. Jellyby, der sehr selten sprach und zu Hause fast stets mit dem Kopf an die Wand gelehnt dasaß, faßte ein lebhaftes Interesse, als er Caddy und mich bemüht sah, einigermaßen Ordnung inmitten dieser Verwirrung und Zerrüttung herzustellen, und zog seinen Rock aus, um mitzuhelfen. Aber so wunderbare Dinge kamen in den Schränken zum Vorschein –verschimmelte Stückchen von Pasteten, versäuerte Flaschen, Mrs. Jellybys Mützen, Briefe, Tee, Gabeln, einzelne Kinderstiefel und Schuhe, Unterzünder, Oblaten, Topfdeckel, naßgewordner Zucker in einer Anzahl Papiertüten, Fußschemelbestandteile, Stiefelbürsten, Brot, Damenhüte, Bücher, auf deren Einband Butter klebte, – Lichtstümpfe, die man verkehrt in zerbrochne Leuchter gesteckt hatte, um sie auszulöschen, – Nußschalen, Köpfe und Schwänze von Krebsen, Tischdecken, Handschuhe, Kaffeesatz, Regenschirme –, daß er ein erschrockenes Gesicht machte und es aufgab. Aber regelmäßig kam er jeden Abend herein und setzte sich in Hemdsärmeln, den Kopf an die Wand gelehnt, hin, als hätte er uns gern geholfen und wüßte nur nicht, wie.

»Armer Papa«, sagte Caddy am Abend vor dem großen Tag zu mir, als wirklich ein wenig Ordnung hergestellt war. »Es ist eigentlich grausam, ihn zu verlassen, Esther. Aber was könnte ich tun, wenn ich bliebe? Seit ich dich kennen gelernt habe, habe ich immer und immer wieder aufgeräumt und geputzt, aber es half nichts. Ma vereint mit Afrika stellt das ganze Haus auf den Kopf. Wir haben nie einen Dienstboten, der nicht tränke. Ma verdirbt alles.«

Mr. Jellyby konnte nicht gehört haben, was sie sagte, aber er war sehr niedergeschlagen und weinte, wie mir schien.

»Mir tut das Herz weh, wenn ich an ihn denke, wahrhaftig!« schluchzte Caddy. »Ich kann mich heute abend des Gedankens nicht erwehren, wo ich doch von ganzer Seele hoffe, mit Prince glücklich zu werden, daß gewiß auch Papa einst wähnte, mit Ma glücklich zu sein. Was für ein Leben voller Enttäuschungen!«

»Meine liebe Caddy«, sagte Mr. Jellyby und kehrte uns langsam sein Gesicht von der Wand her zu. Ich glaube, es war das erste Mal, daß ich drei zusammenhängende Worte von ihm hörte.

»Ja, Papa?« rief Caddy, ging zu ihm hin und umarmte ihn liebreich.

»Meine liebe Caddy, nimm niemals…«

»Niemals Prince, Pa?« stotterte Caddy. »Niemals…«

»Doch, liebes Kind«, sagte Mr. Jellyby. »Nimm ihn jedenfalls. Aber nimm niemals…«

Ich erinnerte mich, daß schon bei unserm ersten Besuch in Thavies Inn Richard von Mr. Jellyby behauptet hatte, er pflege häufig den Mund aufzumachen, ohne etwas zu sagen. Es war wirklich seine Gewohnheit. Er machte jetzt viele Male den Mund auf und schüttelte trübsinnig den Kopf.

»Was soll ich niemals nehmen, was denn, lieber Papa?« fragte Caddy und hing liebkosend an seinem Hals.

»Nimm nie eine Mission auf dich, mein liebes Kind.«

Er stöhnte und lehnte den Kopf wieder an die Wand. Es war das erste Mal, daß ich von ihm eine Meinungsäußerung über die Borriobula-Frage hörte. Ich glaube, er muß in früheren Zeiten gesprächig und lebhaft gewesen sein, aber er schien es lange, bevor ich ihn kennen lernte, ganz und gar aufgegeben zu haben.

Ich glaubte, Mrs. Jellyby wollte diese Nacht überhaupt nicht aufhören, mit heiter ruhigem Blick ihre Papiere durchzusehen und dabei Kaffee zu trinken. Es schlug zwölf Uhr, ehe wir von dem Zimmer Besitz ergreifen konnten, und das Aufräumen war so entmutigend, daß Caddy, sowieso schon ganz erschöpft, sich mitten in den Staub hinsetzte und weinte. Aber sie wurde bald wieder fröhlich, und wir verrichteten wahre Wunder in der Stube, ehe wir zu Bett gingen.

Des Morgens früh sah es mit Hilfe einiger Blumen, eines großen Aufwandes von Seife und Wasser und ein bißchen Aufräumens ganz freundlich aus. Der einfache Frühstückstisch nahm sich recht hübsch aus, und Caddy war wirklich entzückend. Aber als mein Liebling kam, glaubte ich und glaube es noch jetzt, noch nie etwas Schöneres als Ada gesehen zu haben.

Für die Kinder machten wir ein kleines Festmahl zurecht, übergaben Peepy den Vorsitz an der Tafel und zeigten ihnen Caddy in ihrem Brautkleid. Und sie klatschten in die Hände und riefen: »Hurra!« Nur Caddy weinte bei dem Gedanken, sie jetzt verlassen zu müssen, und drückte sie immer und immer wieder ans Herz, bis wir Prince heraufkommen ließen, um sie abzuholen. Leider, wie ich gestehen muß, biß ihn Peepy bei dieser Gelegenheit.

Unten fanden wir den alten Mr. Turveydrop in unbeschreiblich vornehmer Haltung. Er segnete Caddy huldreich und gab meinem Vormund zu verstehen, daß seines Sohnes Glück sein väterliches Werk sei und er persönliche Rücksichten ganz aus dem Spiel lasse, um es zu sichern.

»Wertgeschätzter Herr«, sagte er, »die jungen Leute werden bei mir wohnen. Mein Haus ist groß genug für sie. Und es soll ihnen nicht an Schutz und Obdach unter meinem Dache fehlen. Ich hätte es gerne gesehen – Sie werden die Andeutung verstehen, Mr. Jarndyce, denn Sie erinnern sich noch meines hohen Gönners, des Prinzregenten –, ich hätte es gerne gesehen, daß mein Sohn in eine Familie mit vornehmeren Allüren geheiratet hätte, aber der Wille des Himmels geschehe!«

Mr. und Mrs. Pardiggle waren ebenfalls eingeladen. – Mr. Pardiggle, ein eigensinnig aussehender Mann mit einer langen Weste und struppigem Haar, sprach beständig mit tiefer Baßstimme von seinem Scherflein, Mrs. Pardiggles Scherflein und seiner fünf Knaben Scherflein. Mr. Quale, das Haar wie gewöhnlich zurückgebürstet und die Beulen an den Schläfen glänzend wie immer, war gleichfalls gekommen, nicht als enttäuschter Liebhaber, sondern als Erklärter einer jungen – besser gesagt, unverheirateten – Dame, einer gewissen Miß Wisk. Miß Wisks Mission war, der Welt zu zeigen, daß die Mission des Weibes die Mission des Mannes sei und daß die einzig echte Mission von Mann und Weib sei, in öffentlichen Versammlungen über allgemeine Grundsätze rastlos erklärende Behauptungen aufzustellen.

Es waren nur wenig Gäste, aber sie widmeten sich sämtlich, wie man nicht anders erwarten konnte, der öffentlichen Wohlfahrt. Außer den bereits erwähnten war eine außerordentlich schmutzige Dame anwesend mit ganz schiefem Hut, den Preiszettel noch am Kleid, deren Haus, wie mir Caddy erzählte, die reinste Wildnis sei. Ein sehr streitsüchtiger Herr, dessen Mission, wie er sagte, war, jedermanns Bruder zu sein, was ihn aber nicht hinderte, mit seiner ganzen großen Weltfamilie auf gespanntem Fuß zu stehen, vervollständigte die Gesellschaft. Eine weniger zu einer solchen Festlichkeit passende Gästeschar hätte selbst das größte Genie nicht zusammenstellen können. Eine so gewöhnliche Mission wie die Mission der Häuslichkeit war das allerletzte, was sie hätten ertragen können, und Miß Wisk äußerte mit größter Empörung vor dem Frühstück, daß die Zumutung, die Mission des Weibes läge hauptsächlich in der engen Sphäre der Häuslichkeit, eine niederträchtige Herabwürdigung von seiten der Tyrannen, nämlich der Männer, bedeute. Eine andre Eigentümlichkeit war, daß kein mit einer Mission behafteter – außer Mr. Quale, dessen Mission, wie bereits früher erwähnt, war, von der anderer begeistert zu sein – sich auch nur im mindesten um die Mission seines Nebenmenschen bekümmerte.

Mrs. Pardiggle war genau so davon durchdrungen, daß der einzig unfehlbare Beruf der ihre sei, über Arme herzufallen und ihnen Wohltaten zu applizieren wie eine Zwangsjacke, wie Miß Wisk überzeugt war, daß das einzig richtige für die Welt die Emanzipation der Frau von dem Joche ihres Tyrannen, des Mannes, sei. Mrs. Jellyby lächelte die ganze Zeit über die Beschränktheit eines Blickes, der etwas anderes als Borriobula-Gha sehen konnte.

Aber ich spreche schon von unsrer Unterhaltung auf der Heimfahrt.

Vorher gingen wir alle in die Kirche, und Mr. Jellyby gab Caddy das Geleit. Von der Grazie, mit der der alte Mr. Turveydrop seinen Zylinder unter dem linken Arm trug, das Innere dem Geistlichen wie eine Kanonenmündung zugekehrt, und mit Augen, die fast unter seiner Perücke verschwanden, steif und hochschultrig während der Feierlichkeit hinter uns Brautjungfern stand und uns nachher küßte, werde ich nie entsprechend schildern können. Miß Wisk, von der ich nicht behaupten kann, daß ihr Äußeres besonders anziehend gewesen wäre, hörte der Zeremonie als einem neuen Beweis der Sklaverei des Weibes mit verachtungsvoller Miene zu. Mrs. Jellyby mit ihrem ruhigen Lächeln und ihren heitern Augen war sichtlich die Unbeteiligste von der ganzen Gesellschaft.

Wir fuhren zum Frühstück wieder in die Wohnung zurück, und Mr. und Mrs. Jellyby setzten sich an die beiden Schmalenden der Tafel. Caddy hatte sich vorher hinauf geschlichen, um die Kinder nochmals zu umarmen und ihnen zu sagen, sie heiße jetzt Turveydrop. Aber diese Nachricht verursachte Peepy, anstatt auf ihn wohltätig zu wirken, einen derartigen Schmerz, daß er sich auf den Rücken warf und mit den Beinen strampelte. Als man mich zu Hilfe holte, konnte ich auch nichts weiter tun, als dem Vorschlag, ihn mit zur Frühstückstafel zu nehmen, beizustimmen. So kam er denn herunter und setzte sich auf meinen Schoß, und Mrs. Jellyby war, nachdem sie in bezug auf den Zustand seines Lätzchens gesagt hatte: »Du nichtsnutziger Peepy, was für ein abscheuliches kleines Schwein du bist!« nicht im mindesten aus der Fassung gebracht. Er benahm sich im allgemeinen sehr gut, nur bestand er darauf, daß er den Noah – aus seiner Arche, die ich ihm vor dem Kirchgang gekauft – in die Weingläser tunken und dann in den Mund stecken durfte.

Mein Vormund verstand es mit seiner guten Laune, seinem feinen Takt und seinem liebenswürdigen Benehmen, selbst aus der ungemütlichsten Gesellschaft etwas Angenehmes zu machen. Keiner der Gäste schien von etwas anderm als von seiner eignen Mission sprechen zu können, aber mein Vormund wußte alles in heiterer Weise zu Ehren der Feier und zur Aufmunterung Caddys zu drehen und steuerte uns sicher durch die Gefahren des Frühstücks. Was wir ohne ihn gemacht hätten, fürchte ich mich fast auszudenken, denn da jeder auf Braut und Bräutigam von oben herabsah und sich der alte Mr. Turveydrop infolge seines vornehmen Anstandes und seiner Allüren der ganzen Gesellschaft unendlich überlegen hielt, war es ein geradezu verzweifelter Fall.

Endlich kam die Zeit, wo die arme Caddy Abschied nehmen mußte und ihr ganzes Hab und Gut auf den gemieteten Zweispänner, der sie und ihren Gatten nach Gravesend bringen sollte, gepackt wurde.

Es war rührend, wie sie sich jetzt gar nicht von dem Vaterhaus, das ihr so jämmerlich wenig geboten, trennen konnte und mit der größten Zärtlichkeit am Halse der Mutter hing.

»Es tut mir so leid, daß ich nicht länger diktando schreiben konnte, Ma«, schluchzte sie. »Ich hoffe, du verzeihst mir jetzt.«

»Ach Caddy, Caddy«, seufzte Mrs. Jellyby. »Ich habe dir doch oft genug gesagt, daß ich einen Knaben aufgenommen habe, und damit ist’s abgemacht.«

»Bist du auch ganz gewiß nicht ein bißchen böse mehr auf mich, Ma? Sage, daß du’s nicht bist, ehe ich weggehe, Ma!«

»Du närrische Caddy«, entgegnete Mrs. Jellyby. »Sehe ich böse aus oder neige ich überhaupt zum Bösesein? Oder habe ich Zeit dazu?«

»Gib ein bißchen auf Papa acht, wenn ich fort bin, Ma!«

Mrs. Jellyby lachte geradezu über diesen Einfall. »Du romantisches Kind!« sagte sie und klopfte Caddy auf den Rücken. »Geh nur. Es liegt nicht der geringste Schatten zwischen uns. Jetzt leb wohl, Caddy, und sei recht glücklich.«

Dann umarmte Caddy ihren Vater und legte seine Wange an ihre, als wäre er ein krankes Kind, und konnte sich gar nicht von ihm losreißen.

Alles dies spielte sich in der Vorhalle ab. Der Vater ließ sie los, zog sein Taschentuch heraus, setzte sich auf die Treppe und lehnte den Kopf an die Wand. Ich hoffe, daß ihn das einigermaßen getröstet hat. Ich glaube es sogar.

Und dann nahm Prince ihren Arm und wandte sich in großer Ergriffenheit und Verehrung zu seinem Vater, dessen Anstand und Allüren in diesem Augenblick sich in geradezu überwältigender Weise entfalteten.

»Ich danke dir aber- und abermals, Vater«, sagte Prince und küßte ihm die Hand. »Ich bin dir unendlich dankbar für all deine Güte und deine Rücksicht betreffs unsrer Heirat. Und dasselbe, kann ich dir versichern, fühlt auch Caddy.«

»Sehr«, schluchzte Caddy, »seh-e-r.«

»Mein lieber Sohn«, antwortete Mr. Turveydrop, »und du, meine liebe Tochter, ich habe meine Pflicht getan. Wenn der Geist der Verewigten über uns schwebt und jetzt herabblickt, so ist das und eure beständige Liebe mein Dank, mein Sohn. Ihr werdet euere Pflicht, mein Sohn und meine Tochter, doch niemals vergessen?«

»Teurer Vater, nie!« rief Prince.

»Nie, nie, lieber Mr. Turveydrop!« beteuerte auch Caddy.

»So sei es! Meine Kinder, mein Haus gehört euch, mein Herz ist euer. Und alles, was mein ist. Ich will euch nie verlassen, und nur der Tod soll uns scheiden. Mein lieber Sohn, gedenkst du wirklich, eine ganze Woche wegzubleiben?«

»Eine Woche, lieber Vater. Wir kommen heute über acht Tage wieder nach Hause.«

»Mein liebes Kind, ich muß dir selbst unter den gegenwärtigen Ausnahmeverhältnissen strengste Pünktlichkeit empfehlen. Es ist von höchster Wichtigkeit, mit der Kundschaft in Fühlung zu bleiben. Wenn man Schulen auch nur im mindesten vernachlässigt, so rächt sich das leicht.«

»Heute über acht Tage, Vater, sind wir gewiß zum Mittagessen wieder zu Hause.«

»Gut«, sagte Mr. Turveydrop. »Euer Zimmer wird geheizt sein, liebe Caroline, und das Essen in meinem eignen Appartement bereit stehen. Ja, ja, Prince«, kam er einem bescheidnen Einwand von Seiten seines Sohns mit einer großartigen Geste zuvor, »Du und unsre Caroline werden sich im obern Teil des Hauses noch nicht heimisch fühlen, und ich will deshalb, daß ihr für diesen Tag in meinem Appartement diniert. Und nun behüt euch Gott!«

Sie fuhren fort. Ob ich mich mehr über Mrs. Jellyby oder über Mr. Turveydrop wundern sollte, wußte ich nicht. Mein Vormund und Ada sprachen darüber, und es ging ihnen ebenso.

Ehe wir uns empfahlen, machte mir Mr. Jellyby ein höchst unerwartetes und beredtes Kompliment. Er kam im Vorzimmer auf mich zu, ergriff meine beiden Hände, drückte sie und machte zwei Mal den Mund auf und zu.

Ich wußte so genau, was er meinte, daß ich ganz verlegen abwehrte: »Bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir.«

»Ich hoffe, diese Heirat fällt gut aus, Vormund«, sagte ich, als wir drei nach Hause fuhren.

»Ich hoffe, Mütterchen! Geduld. Wir werden sehen!«

»Ist heute Ostwind?« wagte ich zu fragen.

Er lachte herzlich und verneinte.

»Aber diesen Morgen muß Ostwind gewesen sein, glaube ich?«

Er verneinte wieder, und dieses Mal sagte auch mein Liebling ganz zuversichtlich nein und schüttelte das hübsche Köpfchen, das mit den Blumen in dem blonden Haar wie der Lenz selbst aussah.

»Was weißt du denn von Ostwind, mein häßlicher Liebling«, sagte ich und mußte sie in meiner Bewunderung küssen – ich konnte mir nicht helfen.

Ach, ich weiß gar wohl, daß nur die Liebe der beiden zu mir die Ursache war, daß sie mir das sagten. Ich muß es hinschreiben, selbst wenn ich es wieder ausstreichen sollte, weil es mir soviel Freude macht: Sie sagten mir, es könne kein Ostwind sein, wo ein gewisser Jemand sei. Wo Mütterchen Hubbart sei, da sei Sonnenschein und Sommerluft.

31. Kapitel


31. Kapitel

Wärterin und Kranke

Ich war noch nicht viele Tage wieder zu Hause, als ich eines Abends hinauf in mein Zimmer ging, um Charley über die Schulter zu gucken und zu sehen, wie sie mit ihren Schreibübungen vorankäme. Schreiben war eine harte Arbeit für Charley. Sie schien keine Macht über die Feder zu haben, die in ihrer Hand ein widerspenstiges Leben zu bekommen schien, ausglitschte, krumm ging, stehen blieb, spritzte und sich in die Ecken drängte wie ein Reitesel. Es war seltsam, was für alte Buchstaben Charleys junge Hand machte. Buchstaben, so runzlig und verschrumpft und schlottrig, und die Hand so voll und rund! Und wie ungewöhnlich geschickt Charley in andern Dingen war! Sie hatte so gewandte kleine Finger wie nur irgend jemand.

»Nun, Charley, wir machen Fortschritte«, ermutigte ich sie, als ich eine ganze Seite voll Os betrachtete, auf der alle möglichen drei- und viereckigen, birnenförmigen und schiefstehenden Formen zu sehen waren. »Wenn es uns erst einmal gelingt, sie rund zu kriegen, sind wir Meister, Charley.«

Dann machte ich ein O, und Charley machte eins. Charleys Feder wollte es aber nicht zusammenschließen, sondern geruhte, es zu einem Knoten zu wirbeln.

»Tut nichts, Charley. Wir werden es mit der Zeit schon lernen.«

Charley war mit ihrem Pensum fertig, legte die Feder hin, machte das steifgewordne Händchen auf und zu, besah mit ernstem Gesicht, halb stolz, halb zweifelhaft, die Seite, stand auf und knickste.

»Ich danke Ihnen, Miß. Wenn Sie erlauben, Miß, haben Sie nicht eine arme Frau namens Jenny gekannt?«

»Die Frau eines Ziegelstreichers, Charley«

»Ja. Sie redete mich vor kurzem an, als ich ausging, und sagte, sie kenne Sie, Miß. Sie fragte mich, ob ich nicht die kleine Zofe der jungen Dame sei – sie meinte Sie, Miß –, und ich sagte ja, Miß.«

»Ich dachte, sie wäre weggezogen, Charley.«

»Sie war auch weg, Miß, aber ist wieder in ihre alte Wohnung zurückgekommen – sie und Liz. Haben Sie die andre arme Frau namens Liz gekannt, Miß?«

»Ich glaube wohl, wenn auch nicht dem Namen nach.«

»Sie hat das auch gesagt«, entgegnete Charley. »Sie sind beide zurückgekehrt, Miß, und haben sich weit und breit herumgetrieben.«

»Weit und breit herumgetrieben haben sie sich, Charley?«

»Ja, Miß.«

Wenn Charley die Buchstaben in ihrem Schreibheft nur so rund hätte machen können wir ihre Augen, als sie mich dabei ansah, wären sie vortrefflich gewesen.

»Und diese arme Frau kam vor drei oder vier Tagen hierher ins Haus in der Hoffnung, Sie zu sehen, Miß. Weiter wollte sie nichts, sagte sie. Aber Sie waren nicht da. Sie sah mich herumgehen, Miß«, sagte Charley und lachte voll Freude und Stolz, »und meinte, ich sähe ganz wie Ihre Zofe aus.«

»Meinte sie das wahrhaftig, Charley?«

»Ja, Miß, wirklich und wahrhaftig.«

Charley machte wieder kreisrunde Augen, lachte fröhlich auf und sah dann so ernsthaft drein, wie es sich für meine Zofe schickte. Ich konnte mich nie satt an Charley im Vollgenuß ihrer großen Würde sehen, wenn sie mit ihrem jungen Gesicht, ihrer kindlichen Gestalt und doch so gesetztem Ausdruck vor mir stand und ihre kindliche Freude dann und wann auf das reizendste die Hülle durchbrach.

»Und wo hast du sie gesehen, Charley?«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe trübte sich, als sie zur Antwort gab: »Vor der Apotheke, Miß«, denn sie trug noch ihren schwarzen Trauerrock.

Ich fragte, ob die Frau des Ziegelstreichers krank sei, aber Charley sagte: »Nein. Jemand anders. Ein armer Junge in ihrer Hütte, der sich bis St. Albans geschleppt hat und ohne Ziel herumgewandert ist. Ein armer Junge! Ohne Vater, ohne Mutter und ohne sonst jemanden auf Erden. So, wie Tom gewesen wäre, Miß, wenn Emma und ich nach dem Vater gestorben wären«, sagte Charley, und ihre runden Augen füllten sich mit Tränen.

»Und sie holte Arznei für ihn, Charley?«

»Sie sagte, Miß, daß er das einmal auch für sie getan hätte.«

Das Gesicht meiner kleinen Zofe glühte so vor Eifer, und ihre sonst so ruhigen Hände verkrampften sich so fest, als sie vor mir stand und mich ansah, daß ich unschwer ihre Gedanken erriet.

»Ich glaube, Charley, wir könnten beide nichts Besseres tun, als hinüberzugehen und nachzusehen, was es gibt.«

Die Schnelligkeit, mit der Charley mir Hut und Schleier brachte, mir beim Ankleiden half, sich in ihr Umschlagtuch hüllte und sich wie eine kleine alte Frau zurechtputzte, verrieten genügend ihre Bereitwilligkeit. Und so gingen Charley und ich, ohne weiter ein Wort darüber zu verlieren, aus.

Es war ein kalter unwirtlicher Abend, und die Bäume schauerten im Wind. Es hatte seit vielen Tagen unaufhörlich stark geregnet. Soeben erst hatte es nachgelassen. Der Himmel, zum Teil aufgehellt, war noch sehr dunkel, selbst über uns, wo ein paar Sterne schimmerten. Im Norden und Nordwesten, wo die Sonne vor drei Stunden untergegangen war, lag ein bleiches totes Licht, schön und grauenhaft zugleich. Und in dasselbe hinein ragten lange schwere Wolkenreihen wie ein Meer, das im Wogen erstarrt ist. In der Richtung von London breitete sich ein fahlroter Schimmer über die ganze dunkle Himmelswüste, und der Gegensatz zwischen diesen beiden Lichtern und der Gedanke, daß der rote Schein von einem unirdischen Feuer herrühren könne und auf alle die unsichtbaren Gebäude der Stadt und die Gesichter der vielen tausend staunenden Bewohner herabscheinen, war im höchsten Grade feierlich.

Ich hatte an diesem Abend keine Ahnung – keine, ich weiß es gewiß –von dem, was mir bald zustoßen sollte. Aber ich habe mich seitdem oft erinnert, daß mich, wie wir an der Gartentür stehen blieben, um den Himmel anzusehen, und dann unsern Weg einschlugen, für einen Augenblick ein unbeschreibliches Gefühl beschlich, ich sei etwas andres, als ich damals war. Ich weiß, daß damals und an jenem Ort, den wir besuchten, dieser Gedanke über mich kam. Seitdem ist dieses Gefühl mit diesem Ort und dieser Zeit in mir verknüpft und mit allem, was damit in Verbindung steht, bis hinab zu den Stimmen im Dorf, dem Bellen eines Hundes und dem Rollen von Rädern, die die aufgeweichte Straße bergab kamen.

Es war ein Samstagabend, und die meisten Leute aus der Gegend, in die wir gingen, saßen in den Schenken. Der Ort war ruhiger, als ich ihn von früher her kannte, aber immer noch so ärmlich und elend. Die Ziegelöfen brannten, und ein erstickender Rauch wälzte sich blau und grau auf uns zu.

Wir erreichten die Hütte, in deren Fenster ein schwacher Lichtschein glänzte, klopften an die Tür und traten ein. Die Mutter, der das kleine Kind gestorben war, saß auf einem Stuhl an der Seite des kärglichen Feuers neben dem Bett, und ihr gegenüber hockte ein zerlumpter Knabe auf dem Fußboden, an den Herd gelehnt. Unter dem Arm hielt er die letzten zerfetzten Reste einer Pelzmütze, und wie er sich zu wärmen versuchte, klapperte er mit den Zähnen wie die Türe und das Fenster. Die Stube war dumpfiger noch als früher, und es herrschte in ihr ein ungesunder eigentümlicher Geruch.

Ich hatte den Schleier nicht zurückgeschlagen, als ich die Frau beim Eintreten anredete. Sogleich fuhr der Junge mit wankenden Beinen in die Höhe und starrte mich mit einem merkwürdigen Ausdruck von Überraschung und Entsetzen an.

Seine Bewegung war so rasch und ich so offenkundig die Ursache, daß ich nicht näher trat, sondern stehen blieb.

»I mag net noch amal aufn Friedhof gehn«, murmelte der Junge vor sich hin. »I mag net, hören S.«

Ich schlug den Schleier zurück und sprach mit der Frau. Sie sagte zu mir halblaut: »Achten Sie nicht auf ihn, Maam. Er wird bald wieder zu sich kommen«, und zu dem Jungen: »Jo, Jo, was ist denn?«

»I weiß schon, warum s kommen is.«

»Wer?«

»Die Dame dorten. I soll mit ihr aufn Friedhof gehn. ’s gfallt mir net dorten. Sie könnten mich dorten begrabn.«

Sein Schüttelfrost kam wieder, und wie er sich an die Wand lehnte, teilte sich sein Zittern der ganzen Hütte mit.

»Das und ähnliches hat er den ganzen Tag über gesprochen, Maam«, flüsterte mir Jenny zu. »Was machst du denn für Augen! Das ist doch meine Dame, Jo.«

»Das is sie?« antwortete der Junge zweifelnd und betrachtete mich, wobei er den Arm schützend über seine fiebrigen Augen hielt. »Schaut grad aus wie die andre. S is net der Hut und a net des Kleid, aber anschaun tut s mich wie die andre.«

Meine kleine Charley, erfahren in Krankheit und Sorge, hatte Hut und Schal abgelegt, ging jetzt still mit einem Stuhl zu ihm hin und hieß ihn sich niedersetzen, wie eine alte Krankenwärterin. Nur hätte eine solche ihm vielleicht nicht so viel Vertrauen eingeflößt wie Charley mit ihrem jugendlichen Gesicht.

»Hören S«, sagte der Junge. »Is die Dame wirklich net die andre Dame?«

Charley schüttelte den Kopf und wickelte methodisch seine Lumpen um ihn und hüllte ihn so warm ein wie nur möglich.

»So. Dann kann sie’s wohl net sein.«

»Ich komme, um zu sehen, ob ich etwas für dich tun kann«, sagte ich. »Was fehlt dir?«

»Mir is kalt«, antwortete der Knabe heiser, und sein hohler Blick musterte mich ruhelos. »Und dann is mir wieder heiß, und das wechselt so miteinander. Im Kopf is mir so dumm, und i glaub, i werd verrückt. Und dann is mir so trocken, und alle Knochen im Leib tun mir weh.«

»Seit wann ist er hier?« fragte ich die Frau.

»Seit heut morgen, Maam. Ich hab ihn in einem Winkel im Dorf gefunden. Ich kenn ihn von London her. Nicht wahr, Jo?«

»Toms Einöd«, bestätigte er.

So oft sich seine Aufmerksamkeit oder seine Augen auf etwas richteten, geschah es nur für kurze Zeit. Bald ließ er wieder den Kopf sinken, wiegte ihn schwer hin und her und redete halb wie im Schlaf.

»Wann ist er von London gekommen?«

»Gestern«, antwortete der Junge selbst, jetzt ganz rot und fieberheiß. »I geh irgendwohin.«

»Wohin denn?«

»Irgendwohin«, wiederholte er lauter. »Marsch vorwärts! ham s mir öfter als je zuvor gsagt, seitdem mir die, was die andre is, den Sovring geben hat. Mrs. Sangsby hetzts gegen mi auf-, und ich hab doch nix angestellt, und sie beobachtens und hetzens mi alle. Alle ohne Ausnahm. Von der Stund an, wo ich net aufsteh, bis zu Stund, wo i net schlafn geh. I geh irgendwohin. Dahin geh i. Unten in Toms Einöd hat s zu mir gsagt, daß s von St. Albans kommen is, und so bin i auf d St. Albansstraßn gangen. S is so gut wie alles andre.«

Bei den letzten Worten wendete er sich an Charley.

»Was soll man mit ihm anfangen?« fragte ich und nahm die Frau beiseite. »In diesem Zustand kann er seine Reise unmöglich fortsetzen, selbst wenn er ein Ziel hätte.«

»Ich weiß nicht mehr als die Toten, Maam«, entgegnete sie und sah ihn mitleidig an. »Vielleicht wissen es die Toten besser, wenn sie’s uns nur sagen könnten. Ich hab ihn aus Barmherzigkeit den Tag über hier behalten und ihm eine Suppe und Arznei gegeben, und Liz ist fort, um zu versuchen, ob ihn nicht jemand zu sich nehmen will. Hier liegt mein kleiner Liebling im Bett, es ist ihr Kind, aber ich nenne es das meine. Aber ich kann den Jungen nicht lang hier behalten, denn wenn mein Mann nach Hause kommt und findet ihn hier, wird er ihn hinauswerfen und könnte ihm was antun. Horch! Da kommt Liz zurück.«

Die andre Frau hastete bei diesen Worten herein, und der Junge stand mit dem dunkeln Bewußtsein, gehen zu müssen, auf. Wann das kleine Kind aufwachte, wann und wieso Charley es aus dem Bette nahm, um, es beruhigend, auf und ab zu gehen, weiß ich nicht, aber sie tat das alles in einer ruhigen mütterlichen Weise, als ob sie wieder mit Tom und Emma in Mrs. Blinders Dachstübchen sei.

Liz war da und dort gewesen, von einem zum andern gewiesen worden und kam unverrichteter Dinge wieder. Anfangs war es zu zeitig für die Aufnahme des Knaben in das Armenspital gewesen und dann wieder zu spät. Ein Beamter schickte sie zu einem andern, und der wieder zum ersten zurück, und so war es reihum gegangen, als wären beide nur wegen ihrer Geschicklichkeit, mit der sie ihren Obliegenheiten auszuweichen verstanden, anstatt ihnen nachzukommen, angestellt.

»Jenny«, sagte Liz keuchend, denn sie war gelaufen und hatte große Angst. »Jenny, dein Mann ist auf dem Heimweg, und meiner kommt auch gleich, und Gott helfe dem Jungen. Wir können nicht mehr für ihn tun.«

Sie brachten ein paar Halfpence zusammen und drückten sie ihm eilig in die Hand, und dann wankte er halb bewußtlos, halb dankbar aus dem Hause.

»Gib mir das Kleine, liebes Kind«, sagte die Mutter zu Charley. »Und ich dank dir auch schön. Und gute Nacht, liebe Jenny. – Fräulein, wenn mein Mann mich läßt, will ich nachher unten am Ziegelofen nachschauen, wo der Junge wahrscheinlich sein wird, und auch wieder morgen früh.«

Sie eilte fort, und gleich darauf sahen wir sie, das Kind in ihren Armen einsingend, an ihrer Tür stehen und voll Spannung die Straße hinunterschauen, die ihr betrunkner Mann kommen mußte.

Ich wagte nicht, mich aufzuhalten oder mit einer der beiden Frauen zu sprechen, um sie nicht in Ungelegenheiten zu bringen, aber ich sagte Charley, wir dürften den Knaben hier nicht ohne Hilfe sterben lassen. Charley, die viel besser als ich wußte, was not tat, und ebenso rasch wie geistesgegenwärtig war, eilte vor mir her, und gleich darauf holten wir Jo unmittelbar am Ziegelofen ein.

Ich glaube, er mußte seine Wanderung mit einem kleinen Bündel unter dem Arm begonnen haben, das man ihm vermutlich gestohlen hatte, denn er trug immer noch die zerlumpten Reste einer Pelzmütze wie ein Bündel unter dem Arm und wankte barhäuptig in dem jetzt wieder heftig gießenden Regen einher. Als wir ihn riefen, blieb er stehen, und wieder erwachte seine Furcht vor mir. Er starrte mich mit seinen fieberglänzenden Augen an, und sogar sein Frösteln hörte auf.

Ich forderte ihn auf, mit uns zu kommen, und sagte, wir würden Sorge tragen, daß er für die Nacht ein Obdach fände.

»I brauch ka Obdach«, antwortete er. »I kann mi auf die warmen Ziegel legn.«

»Aber weißt du denn nicht, daß die Leute dort sterben?« wendete Charley ein.

»Sterben tuns überall. Sie sterben in ihnere Stuben – sie weiß schon wo, ich habs ihr zeigt – und sterben tuns in Toms Einöd haufenweis. Sterben tuns mehr, als s leben, was i weiß.« Dann flüsterte er Charley heiser zu: »Wanns nicht die andre is, is a net die Ausländerin. Gibt’s denn drei?«

Charley sah mich erschrocken an. Ich fürchtete mich förmlich vor mir selbst, als mich der Knabe so anstarrte.

Aber er wendete sich um und folgte mir, als ich ihm winkte, und da ich sah, daß mein Einfluß auf ihn soweit reichte, führte ich ihn graden Wegs nach Hause. Es war nicht weit. Nur den Hügel hinauf. Wir trafen bloß einen Mann unterwegs. Ich bezweifle, ob wir ohne Beistand nach Hause gekommen wären, so unsicher und schwankend war der Gang des Jungen. Aber er ließ keinen Laut der Klage hören und war seltsam unbekümmert um sich, wenn ich mich so ausdrücken darf.

Ich ließ ihn einen Augenblick in der Vorhalle stehen, wo er sich in eine Ecke des Fenstersitzes drückte und mit mehr Teilnahmslosigkeit als Verwunderung den Komfort der Umgebung anstarrte. Dann ging ich in das Besuchszimmer, um mit meinem Vormund zu sprechen. Dort fand ich Mr. Skimpole, der mit der Landkutsche angekommen war, ohne vorher jemanden verständigt zu haben, wie das so seine Gewohnheit war. Nie pflegte er sich in solchen Fällen Kleider mitzubringen, sondern stets alles, was er brauchte, zu borgen.

Sie kamen gleich mit mir heraus, um den Jungen zu besichtigen. Auch die Dienerschaft hatte sich in der Vorhalle versammelt. Jo kauerte, von Fieber geschüttelt, in der Fensternische wie ein verwundetes Tier, das man in einem Graben gefunden hat, und Charley stand bei ihm.

»Das ist ein trauriger Fall«, sagte mein Vormund, nachdem er ihm einige Fragen gestellt, ihm den Puls gefühlt und seine Augen untersucht hatte. »Was meinen Sie, Harold?«

»Das Beste ist, Sie schicken ihn fort«, riet Mr. Skimpole.

»Was meinen Sie?« fragte mein Vormund fast zornig.

»Mein lieber Jarndyce«, entschuldigte sich Mr. Skimpole, »Sie wissen doch, was ich bin. Ich bin ein Kind. Schelten Sie mich nicht aus, wenn ich es vielleicht verdiene. Aber ich habe eine angeborne Abneigung gegen dergleichen. Ich hatte sie stets, als ich noch Arzt war. Er ist krank, müssen Sie wissen. Er hat ein sehr bösartiges Fieber.«

Mr. Skimpole hatte sich wieder aus der Vorhalle in das Besuchszimmer zurückgezogen, sich auf den Musikstuhl gesetzt und sagte dies, während wir um ihn herumstanden, in seiner gewohnten leichtherzigen Weise.

»Sie werden sagen, das sei kindisch. Gut, ich gebe das zu. Aber ich bin eben ein Kind und beanspruche auch nicht, etwas andres zu sein. Wenn Sie ihn auf die Straße hinausschicken, schicken Sie ihn nur dorthin, wo er schon früher war. Er wird sich da nicht schlimmer befinden als früher. Sogar besser, wenn Sie wollen. Geben Sie ihm sechs Pence oder fünf Schilling oder fünf Pfund zehn Schilling – Sie sind ja Rechenkünstler und ich nicht – und schicken Sie ihn fort.«

»Und was soll er dann anfangen?« fragte mein Vormund.

»Meiner Seel.« Mr. Skimpole zuckte mit seinem gewinnendsten Lächeln die Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er dann anfangen soll. Aber ich zweifle nicht, daß er irgend etwas anfangen wird.«

»Ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, sagte mein Vormund, als ich ihm in kurzen Worten von den vergeblichen Bemühungen der zwei Frauen erzählte, »ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke«, – er schritt dabei auf und nieder und fuhr sich in den Haaren herum – »daß, wenn dieses unglückliche Kind ein Verbrecher wäre, ihm das Gefängnisspital weit offen stünde und er so gut wie jeder andre Junge im ganzen Königreich gepflegt werden würde?«

»Mein lieber Jarndyce«, entgegnete Mr. Skimpole, »Sie werden mir die Albernheit der Frage verzeihen, da sie von einem Menschen kommt, der von den Dingen dieser Welt gar nichts versteht, – aber warum ist er denn also kein Verbrecher?«

Mein Vormund blieb stehen und sah Mr. Skimpole mit einer Mischung von Ergötzen und Entrüstung an.

»Ich sollte meinen, man brauchte unsern jungen Freund nicht wegen allzu großen Zartgefühls im Verdacht zu haben«, sagte Mr. Skimpole aufrichtig und ohne im geringsten zu erröten. »Ich glaube, wenn er mehr falsch angewendete Energie, die ihn ins Gefängnis gebracht hätte, gezeigt haben würde, so wäre er weiser und vielleicht auch anständiger gewesen. Das hätte mehr Unternehmungsgeist und daher eine gewisse Art Poesie verraten.«

»Ich glaube wirklich«, entgegnete mein Vormund und ging jetzt wieder unruhig auf und ab, »daß es auf der Welt kein zweites Kind wie Sie gibt.«

»Meinen Sie im Ernst? Wohl möglich. Aber ich kann wirklich nicht einsehen, warum unser junger Freund in seiner Weise nicht versuchen sollte, sich mit soviel Poesie, als ihm zu Gebote steht, zu umgeben. Sicherlich ist er mit Appetit begabt. Wahrscheinlich ist, wenn er sich in einem bessern Gesundheitszustand befindet als jetzt, sein Appetit vortrefflich. Also gut. Wenn die Eßstunde unsres jungen Freundes kommt – wahrscheinlich gegen Mittag –, soll unser junger Freund zur menschlichen Gesellschaft sagen: ‚Ich habe Hunger, möchten Sie nicht die Gewogenheit haben, mir Ihren Löffel zu geben und mich zu füttern.‘ Die menschliche Gesellschaft, die doch das ganze Löffelsystem eingeführt hat und keinen Löffel für unsern Freund zu haben behauptet, gibt diesen Löffel nicht heraus, daher soll unser junger Freund sagen: ‚Sie werden schon entschuldigen, wenn ich mir einen nehme.‘ Dies erscheint mir als ein Fall falsch angewendeter Energie, aber es liegt eine gewisse Vernunft und eine gewisse Romantik drin. Und ich weiß nicht, ob mich nicht unser junger Freund als Illustration eines solchen Falles mehr interessieren würde als als armer Vagabund. Das kann schließlich jeder sein.«

»Unterdessen verschlimmert sich sein Zustand«, erlaubte ich mir einzuwenden.

»Unterdessen«, sagte Mr. Skimpole heiter, »verschlimmert sich sein Zustand, wie Miß Summerson mit ihrem praktischen gesunden Sinn sehr richtig bemerkt. Um so mehr empfehle ich Ihnen, ihn fortzuschicken, ehe sich sein Zustand verschlimmert.«

– Das liebenswürdige Gesicht, mit dem er das sagte, werde ich wohl nie vergessen. –

»Natürlich, Mütterchen«, wendete sich mein Vormund zu mir, »kann ich seine Aufnahme an den Ort, wo er hingehört, schon dadurch erzwingen, daß ich hingehe und darauf dringe. Aber schlimm genug ist es, wenn so etwas überhaupt nötig ist. Es ist schon spät, und das Wetter sehr schlecht, und der Junge scheint ganz erschöpft zu sein. In der Dachkammer über dem Schuppen steht ein Bett. Es ist wohl das beste, wir lassen ihn dort bis morgen früh liegen, und dann kann man ihn einwickeln und fortschaffen. Das wollen wir tun.«

»O«, sagte Mr. Skimpole, dessen Hände auf den Tasten des Klaviers ruhten, während wir uns von ihm wieder zu dem Knaben wendeten. »Wollen Sie wieder zu unserm jungen Freund gehen?«

»Ja.«

»Nein, wie ich Sie um Ihre Konstitution beneide! Sie machen sich nichts aus solchen Dingen, und Miß Summerson auch nicht. Sie sind immer bereit, irgendwohin zu gehen oder irgend etwas zu tun. Das ist das Wollen! – Ich habe überhaupt kein Wollen – und kein Nichtwollen –, nur ein Nichtkönnen.«

»Sie können dem Jungen nichts verschreiben, vermute ich?« fragte mein Vormund und sah sich über die Schulter halb ärgerlich nach Mr. Skimpole um. Nur halb ärgerlich, denn er schien ihn niemals als ein zurechnungsfähiges Wesen zu betrachten.

»Lieber Jarndyce, ich bemerkte eine Flasche kühlender Medizin in seiner Tasche, und er kann nichts Besseres tun, als sie einnehmen. Sie können auch in seiner Schlafstube ein wenig Essig sprengen lassen und das Zimmer mäßig kühl und ihn mäßig warm halten. Aber es wäre eine Anmaßung von mir, einen Rat geben zu wollen, wo Miß Summerson eine solche Detailkenntnis besitzt und eine solche Fähigkeit, sich um jede Kleinigkeit zu kümmern.«

Wir kehrten wieder in die Vorhalle zurück und setzten Jo auseinander, was wir vorzunehmen gedächten, und Charley machte es ihm dann noch ein Mal klar. Er hörte uns mit schlaffer Teilnahmslosigkeit an und sah müde allen Vorbereitungen zu, als geschähen sie für einen ganz Fremden. Da die Dienerschaft großes Mitleid für seinen jammervollen Zustand an den Tag legte und voll Eifer half, war die Stube über dem Schuppen bald fertig, und ein paar Leute trugen ihn, gut eingehüllt, über den nassen Hof. Sie waren sehr freundlich gegen ihn, munterten ihn auf und nannten ihn »alter Knabe«. Charley leitete das Ganze und war immer unterwegs zwischen Krankenstube und dem Haus mit Stärkungsmitteln und was wir ihm sonst einzugeben wagten. Mein Vormund sah selbst nach ihm, ehe man ihn für die Nacht allein ließ, und berichtete mir, als er in sein Brummstübchen ging, um an das Krankenhaus einen Brief zu schreiben, den ein Bote am nächsten Morgen mit Tagesanbruch besorgen sollte, daß der Patient ruhiger sei und schlafen zu wollen scheine. Sie hätten die Tür von außen verschlossen, im Falle er delirieren sollte, aber alles wäre so eingerichtet, daß er sofort gehört werden würde, wenn er riefe oder sonst Lärm machen sollte.

Da Ada wegen einer Erkältung das Zimmer hütete, war Mr. Skimpole die ganze Zeit über allein und vertrieb sich die Zeit mit Klavierspielen, mit Bruchstücken von rührenden Liedern, zu denen er, wie wir aus der Ferne hörten, mit großem Ausdruck und Gefühl sang.

Als wir wieder in den Salon zurückkehrten, sagte er, er wolle uns eine kleine Ballade vorsingen, zu der ihn unser junger Freund »angeregt« habe. Und er sang ein paar Strophen von einem Betteljungen, der

»Vereinsamt, verwaist, verstoßen, verlassen
durch die Welt sich schleppt, ziellos, durch die Gassen«.

Ein Lied, das ihn stets zum Weinen brächte, sagte er.

Er war den ganzen übrigen Abend außerordentlich fröhlich. – Er »zirpe« geradezu, wie er sich lustig ausdrückte, wenn er bedächte, von welch geschäftigen Geistern er umgeben sei. Er trank ein Glas Glühwein auf die »Genesung unsres jungen Freundes« und malte in heitern Farben die Möglichkeit aus, daß es Jo wie Whittington vielleicht bestimmt sein könnte, Lordmayor von London zu werden. Er würde dann gewiß eine Jarndyce-Stiftung und ein Summerson-Armenhaus und eine kleine jährliche Prozession des ganzen Gemeinderats nach St. Albans ins Leben rufen. Er bezweifle nicht, sagte er, daß unser junger Freund in seiner Art ein vortrefflicher Junge sei. Aber seine Art sei nicht Harold Skimpoles Art, und was Harold Skimpole sei, habe Harold Skimpole zu seiner größten Überraschung selbst erst entdeckt, als er zuerst seine eigne Bekanntschaft gemacht habe. Er habe sich mit allen seinen Fehlern ohne Widerspruch hingenommen und es für die gesündeste Philosophie gehalten, sich in die Umstände zu fügen, und er hoffe, wir würden dasselbe tun.

Charleys letzter Bericht lautete, daß der Knabe sich ruhig verhalte. Ich konnte aus meinem Fenster die Laterne, die sie bei ihm gelassen hatten, brennen sehen und legte mich zu Bett, ganz glücklich bei dem Gedanken, daß der Arme wenigstens ein Obdach habe.

Noch vor Tagesanbruch war mehr Unruhe und Gerede im Haus als gewöhnlich und weckte mich. Ich zog mich an, blickte zum Fenster hinaus und fragte einen unsrer Leute, ob ein Unglück geschehen sei. Die Laterne brannte immer noch in dem Fenster über dem Schuppen.

»Der Junge, Miß!«

»Geht es ihm schlechter?«

»Fort, Miß.«

»Tot!«

»Tot, Miß? Nein. Fort. – Verschwunden.«

Jemals zu erraten, um welche Stunde der Nacht Jo sich davon gemacht hatte oder wie und warum, schien eine hoffnungslose Sache zu sein. Die Tür war noch ganz so, wie wir sie verlassen hatten, die Laterne stand immer noch im Fenster, und man konnte nur vermuten, er sei durch eine Falltür im Fußboden, die in den leeren Schuppen hinunterführte, entflohen. Aber wenn das der Fall war, hatte er sie wieder sorgfältig zugemacht, und sie sah aus, als habe man sie nie berührt. Vermißt wurde nicht das mindeste. Wir mußten uns also zu der Ansicht entschließen, er habe in der Nacht das Delirium bekommen und sei von irgend einer Einbildung verlockt oder aus gegenstandsloser Furcht in seinem mehr als hilflosen Zustand entflohen. So dachten wir alle, mit Ausnahme Mr. Skimpoles, der wiederholt sorglos äußerte, es sei unserm jungen Freund wahrscheinlich durch den Kopf gegangen, er wäre mit seinem bösartigen Fieber ein gefährlicher Hausgenosse, weshalb er sich mit großem natürlichem Takt empfohlen habe.

Man stellte jede mögliche Nachforschung an und fragte an allen möglichen Orten nach. Man untersuchte die Ziegelöfen, ging nach den Hütten und verhörte die beiden Frauen aufs gründlichste, aber sie wußten nichts von ihm, und niemand konnte an der Echtheit ihres Erstaunens zweifeln. Die Witterung war schon seit einiger Zeit sehr naß gewesen, und es hatte auch während der Nacht selbst zu sehr geregnet, als daß sich seine Fußstapfen hätten verfolgen lassen. Hecken, Gräben, Mauern, Heustadel und Schober wurden von unsern Leuten in weitem Umkreis untersucht, ob sich der Junge nicht vielleicht an einem dieser Orte bewußtlos oder tot auffände, aber auch nicht die geringste Spur war von ihm zu entdecken. Von der Stunde an, wo man ihn in der Kammer allein gelassen hatte, blieb er verschwunden.

Fünf Tage lang dauerten die Nachforschungen fort. Ich meine nicht, daß sie dann aufhörten, aber meine Aufmerksamkeit wurde damals in einer für mich sehr einschneidenden Weise abgelenkt.

Als Charley nämlich wieder des Abends in meinem Zimmer ihre Schreibaufgaben machte und ich ihr gegenüber arbeitete, fühlte ich, daß plötzlich der Tisch zitterte. Ich blickte auf und sah, daß meine kleine Zofe ein Schüttelfrost vom Kopf bis zur Zehe durchlief.

»Charley«, fragte ich, »frierst du so?«

»Ich glaube ja, Miß. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann mich nicht ruhig verhalten. Es war mir schon gestern so zumute. Ziemlich um dieselbe Stunde, Miß. Erschrecken Sie nicht, aber ich fürchte, ich bin krank.«

Ich hörte Adas Stimme draußen und eilte sogleich an die Verbindungstür zwischen dem gemeinschaftlichen Salon und meinem Zimmer. Ich verschloß sie gerade noch rechtzeitig, denn während meine Hand noch den Schlüssel umdrehte, hörte ich klopfen.

Ada rief mir zu, ich solle sie hereinlassen, aber ich sagte:

»Jetzt nicht, Liebste. Geh lieber. Es ist nichts. Ich werde gleich hinüberkommen.«

Ach, es dauerte lange, lange Zeit, ehe mein Liebling und ich wieder zusammenkamen.

Charley wurde krank. Im Verlauf von zwölf Stunden war sie schwerkrank. Ich ließ sie in mein Zimmer tragen, legte sie in mein Bett und setzte mich ruhig daneben, um sie zu pflegen. Ich unterrichtete meinen Vormund von allem, und warum ich es für notwendig halte, mich abzuschließen, und weshalb ich meinen Liebling durchaus nicht sehen wollte. Anfangs kam sie sehr oft an die Tür und rief mich und machte mir schluchzend und weinend Vorwürfe, aber ich schrieb ihr einen langen Brief, sagte ihr, daß sie mir damit Sorge und Schmerz bereite, und bat sie, wenn sie mich liebe und mir keinen Kummer zu machen wünsche, mir nicht näher als bis zum Garten zu kommen. Daraufhin trat sie oft unter das Fenster, und wenn ich schon vorher, wo wir kaum je getrennt gewesen, ihre liebe süße Stimme so sehr und von Herzen lieben gelernt hatte, wie teuer wurde sie mir jetzt, wo ich, ohne hinauszublicken, hinter dem Vorhang stand und ihr lauschte. Wie sehr lernte ich sie erst später lieben, als die schwere Zeit kam.

Man schlug in unserm gemeinsamen Salon ein Bett für mich auf, und durch Offenstehenlassen der Tür machte ich aus den beiden Zimmern eins, nachdem Ada diesen Flügel des Hauses ganz geräumt hatte. So war die Krankenstube stets frisch und luftig. Nicht ein Dienstbote war im Hause, der nicht mit größter Bereitwilligkeit und ohne die mindeste Furcht zu jeder Stunde des Tags oder der Nacht mir geholfen hätte, aber ich hielt es für das beste, eine einzige sehr gewissenhafte Frau auszuwählen, die Ada nie sehen durfte, wie ich anordnete, und von der ich wußte, daß sie keine Vorsichtsmaßregel außer acht lassen werde. Das ermöglichte mir, daß ich zuweilen in den Garten gehen konnte, um in Gesellschaft meines Vormunds frische Luft zu schöpfen, wenn wir nicht Gefahr liefen, Ada zu begegnen.

Die arme Charley wurde schwerkrank und schwebte in Lebensgefahr. Eine lange Reihe von Tagen und Nächten lag sie danieder. So geduldig war sie, klagte so wenig und war so sanft und ergeben, daß ich oft, wenn ich bei ihr saß und ihren Kopf auf meinem Arm ruhen ließ, denn das war manchmal das einzige Mittel, sie einschlummern zu machen, unsern Vater im Himmel im stillen bat, mich die Lehre, die mir diese kleine Schwester gab, nicht vergessen zu lassen.

Viel Sorgen machte mir der Gedanke, daß Charleys hübsches Gesicht entstellt sein würde, wenn sie wieder genesen sollte, aber meistens verdrängte ich die Angst, daß sie in weit größerer Gefahr schwebe. Als es am schlimmsten mit ihr stand und sie von ihren Sorgen um ihre kleinen Geschwister und von dem Krankenbett ihres Vaters phantasierte, kannte sie mich doch immer noch soweit, daß sie ruhiger wurde, wenn ich sie in die Arme nahm, weil nichts andres mehr half. In solchen Stunden pflegte ich mir mit Qual vorzustellen, wie ich jemals den zwei verwaisten Kleinen mitteilen sollte, daß das Kind, das von seinem eignen treuen Herzen gelernt hatte, ihnen in ihrer Not Mutter zu sein, gestorben sei.

In Stunden, wo das Fieber nachließ, kannte Charley mich recht gut und sprach mit mir, ließ Tom und Emma vielmals grüßen und sagte, sie sei überzeugt, Tom werde zu einem tüchtigen Mann heranwachsen. In solchen Augenblicken erzählte sie mir von dem, was sie ihrem Vater vorgelesen hatte, um ihn zu trösten: Von dem Jüngling, den sie hinaus zum Begräbnis trugen und der der einzige Sohn seiner verwitweten Mutter gewesen. Und von der Tochter des Hauptmanns, die die Hand der Barmherzigkeit auf dem Totenbett wieder zum Leben erweckte. – Sie sagte mir, sie sei niedergekniet, als ihr Vater gestorben war, und habe in ihrem ersten Schmerz gebetet, auch er möge auferweckt und seinen armen Kindern zurückgegeben werden, und daß sie glaube, auch Tom werde dasselbe Gebet für sie zum Himmel schicken, falls sie nie wieder genesen und sterben sollte. Und dann müßte ich Tom auslegen, wie diese Menschen in den alten Zeiten wieder zum irdischen Leben erweckt worden wären, auf daß wir ein Pfand der ewigen Fortdauer im Himmel hätten.

In keinem ihrer Krankheitsstadien verlor sie auch nur ein einziges Mal ihre sanften liebenswürdigen Eigenschaften.

Charley starb nicht. Langsam, langsam überwand sie die Krisis, und dann fing es an, besser mit ihr zu werden. Die Furcht, ihr Gesicht könne entstellt sein, wich bald von mir, und auch hierin ging es immer besser, und ich sah sie wieder zu ihrem früheren kindlichen Ebenbilde werden.

Es war ein großer Morgen, als ich Ada, die unten im Garten stand, alles das berichten konnte. Und ein großer Abend, als Charley und ich endlich zusammen im anstoßenden Zimmer Tee tranken. Aber an demselben Abend fühlte ich, daß ein Fieber über mich kam. Zum Glück für uns beide fiel es mir erst, nachdem Charley wieder ruhig im Bett lag, ein, ich könnte mich von ihr angesteckt haben. Während des Tees hatte ich meinen Zustand noch unterdrücken können, aber damit war es jetzt bereits vorbei, und ich begriff, daß ich in Charleys Fußstapfen trat.

Ich war jedoch noch kräftig genug, zeitig früh aufzustehen und den fröhlichen Gruß meines Herzenslieblings aus dem Garten erwidern und mit ihr so lange wie gewöhnlich sprechen zu können. Aber ich war nicht ganz frei von dem Eindruck, während der Nacht fiebernd und außer mir in den beiden Zimmern herumgegangen zu sein. Und manchmal wurde es mir wirr im Kopf, und ich hatte ein seltsames Gefühl der Vollheit, so, als ob ich viel größer sei als sonst.

Des Abends wurde es mir soviel schlimmer, daß ich beschloß, Charley vorzubereiten, und ihr sagte:

»Du fühlst dich jetzt wieder viel kräftiger, Charley, nicht wahr?«

»O, gewiß.«

»Kräftig genug, um ein Geheimnis zu hören, Charley?«

»O, kräftig genug, Miß!« rief sie. Aber mitten in ihrer Freude trübte sich ihre Miene, denn sie las das Geheimnis auf meinem Gesicht. Sie stand aus dem Lehnstuhl auf, fiel mir um den Hals und sagte:

»O Miß, daran bin ich schuld. Ich schuld!« Und noch vieles mehr aus der Fülle ihres dankbaren Herzens heraus.

»Nun höre, Charley«, sagte ich, nachdem ich sie eine Weile hatte gewähren lassen, »wenn ich krank werde, setze ich mein größtes Vertrauen von allen Menschen auf dich. Und wenn du nicht so ruhig und gefaßt für mich bist, wie du es immer für dich selbst warst, kannst du mir nicht beistehen, Charley!«

»Lassen Sie mich nur noch ein wenig mich ausweinen, Miß«, jammerte Charley. »O, mein Gott, o Gott, o Gott! Ich werde mich gleich wieder beruhigt haben, o Gott!« An den innigen Ton, wie sie das sagte, während sie an meinem Halse hing, kann ich nie ohne Tränen zurückdenken.

So ließ ich sie sich denn ein wenig ausweinen, und es tat uns beiden wohl.

»Verlassen Sie sich auf mich, Miß!« sagte Charley dann ruhig. »Ich höre jetzt genau zu.«

»Vorderhand ist es sehr wenig, Charley. Ich werde dem Doktor heute abend sagen, daß ich mich nicht recht wohl fühle und daß du meine Wärterin sein sollst.«

Dafür dankte mir das arme Kind mit ganzem Herzen.

»Und morgen in der Frühe, wenn du Miß Ada im Garten hörst und ich nicht mehr imstande sein sollte, wie gewöhnlich an den Fenstervorhang zu kommen, so gehe du hin, Charley, und sag, ich schliefe noch und wäre etwas erschöpft. Die ganze Zeit über bleibst du im Zimmer, wie ich darin geblieben bin, Charley, und läßt niemanden herein.«

Charley versprach es mir, und ich legte mich nieder, denn der Kopf war mir sehr schwer. Ich sprach an diesem Abend den Arzt und bat ihn darum, nichts im Hause von meiner Erkrankung verlauten zu lassen. Ich habe eine sehr undeutliche Erinnerung von dem Hinüberschwimmen dieser Nacht in den Tag und dem des Tags wieder in die Nacht. Am ersten Morgen war ich gerade noch knapp imstande, an das Fenster zu gehen und mit meinem Liebling zu sprechen.

Am zweiten Morgen hörte ich ihre Stimme draußen und bat Charley mit Anstrengung, denn das Reden wurde mir schwer, ihr zu sagen, ich schliefe. Ich hörte sie leise antworten: »Störe sie nicht, Charley, um alles in der Welt nicht!«

»Und wie sieht mein Herzenskind aus, Charley?«

»Enttäuscht, Miß«, berichtete Charley, durch den Vorhang lugend.

»Aber ich weiß, sie ist heute morgen wieder sehr schön.«

»Ja, das ist sie, Miß. Sie sieht immer noch zum Fenster herauf.«

Mit ihren klaren blauen Augen, Gott segne sie!

Ich rief Charley zu mir und gab ihr einen letzten Auftrag:

»Jetzt höre, Charley! Wenn sie erfährt, daß ich krank bin, wird sie versuchen, in das Zimmer zu dringen. Laß sie nicht herein, Charley, wenn du mich wirklich lieb hast, Charley. Wenn sie auch nur ein einziges Mal hereinkommt, um mich anzusehen, während ich hier liege, ist es mein Tod.«

»Ich werde es nie tun! Niemals!«

»Ich vertraue dir, meine gute Charley. Und jetzt komm her und setz dich eine Weile neben mich und gib mir die Hand, denn ich kann dich nicht sehen, Charley. Ich bin blind!«

18. Kapitel


18. Kapitel

Lady Dedlock

Es war nicht so leicht, wie es anfangs geschienen hatte, für Richard in Mr. Kenges Kanzlei eine Probezeit auszumachen. Richard selbst war das Haupthindernis. Kaum stand es in seiner Macht, Mr. Badger jeden Augenblick zu verlassen, fing er an zu zweifeln, ob er denn das überhaupt wünsche. Er wisse es selbst nicht recht, sagte er. Medizin sei immerhin kein übler Beruf. Er könne nicht sagen, daß er ihm mißfalle. Vielleicht gefalle er ihm so gut wie jeder andere… Wir sollten es ihn nur noch einmal versuchen lassen.

Hierauf schloß er sich ein paar Wochen lang mit einigen Büchern und ein paar Knochen ein und schien sich mit großer Schnelligkeit eine ziemliche Menge Kenntnisse anzueignen. Nachdem seine Begeisterung ungefähr einen Monat gedauert, fing sie an, sich abzukühlen, und als sie ganz kalt geworden, fing sie an, sich noch einmal zu erwärmen. Sein Hin- und Herschwanken zwischen Jus und Medizin dauerte so lang, daß der Hochsommer herankam, ehe er von Mr. Badger schied und seine Probezeit bei Kenge & Carboy antrat.

Bei aller dieser Flatterhaftigkeit bildete er sich sehr viel darauf ein, daß er es »diesmal« außerordentlich ernst nähme. Und er war so gutmütig und so fröhlich gelaunt und liebte Ada so sehr, daß es sehr schwer war, ihm böse zu sein.

»Was Mr. Jarndyce betrifft«, der, wie ich hier erwähnen will, während dieser ganzen Zeit sehr viel über Ostwind klagte, »was Mr. Jarndyce betrifft«, sagte Richard zu mir, »so ist es der prächtigste Kerl unter der Sonne, Esther. Schon ihm zuliebe muß ich mich diesmal fest ins Zeug legen und die Sache ordentlich ins Geleise bringen.«

Sein Vorhaben, sich tüchtig ins Zeug zu legen, stach von seinem lustigen Gesicht, seiner sorglosen Art und seiner Sprunghaftigkeit, mit der er alles erfaßte, aber nichts festhalten konnte, komisch ab. Dennoch sagte er uns zuweilen, er nähme es so ernst, daß er sich wundere, wieso sein Haar nicht grau werde.

Also, wie bereits erwähnt, im Hochsommer trat er bei Mr. Kenge ein, um zu versuchen, wie ihm der Beruf gefalle.

Die ganze Zeit über war er in Geldsachen, wie ich ihn schon früher beschrieben habe: freigebig, verschwenderisch, unglaublich sorglos, aber immer überzeugt, daß er eher berechnend und überlegt sei.

Um die Zeit, wo er in die Kanzlei eintreten sollte, sagte ich einmal in seiner Anwesenheit halb im Scherz, halb ernsthaft zu Ada, er müsse Fortunas Säckel haben, so leichtsinnig gehe er mit Geld um. Und er gab darauf zur Antwort:

»Mein Juwel von einer lieben Kusine, man höre diese alte Frau! Warum sagt sie das? Weil ich vor ein paar Tagen acht Pfund oder so etwas für eine gewisse hübsche Weste und Knöpfe gegeben habe. Wenn ich nun bei Badger geblieben wäre, hätte ich auf einen Sitz zwölf Pfund für eine Reihe herzzerbrechender Vorlesungen bezahlen müssen. So spare ich vier Pfund rund bei dem Geschäft.«

Zwischen ihm und meinem Vormund wurde viel betreffs der Arrangements, die seinetwegen in London, während er es mit der Jurisprudenz versuchen wollte, getroffen werden mußten, erörtert. Wir waren nämlich schon seit längerer Zeit nach Bleakhaus zurückgekehrt, und es lag zu weit entfernt, als daß er öfter als einmal in der Woche hätte hinauskommen können. Mein Vormund sagte mir, wenn Richard sich entschließen sollte, bei Mr. Kenge zu bleiben, wolle er ihm eine größere Wohnung, in der auch wir manchmal ein paar Tage bleiben könnten, mieten. »Aber, kleines Frauchen«, setzte er hinzu und rieb sich sehr bedeutsam den Kopf, »er hat sich noch nicht fest entschlossen.«

Die Beratungen endeten damit, daß wir für ihn gegen monatliche Kündigung eine hübsche kleine möblierte Wohnung in einem stillen alten Hause in der Nähe von Queens-Square mieteten. Er fing gleich damit an, all sein Geld zum Ankauf der wunderlichsten kleinen Ausschmückungen für diese Wohnung auszugeben, und so oft es Ada und mir gelungen war, ihm irgendeine besonders unnütze und kostspielige Ausgabe auszureden, schrieb er sich die Summe gut und hielt es für eine Ersparnis des Restes, wenn er etwas weniger für irgend etwas andres aufwendete.

Solang diese Angelegenheit noch in Schwebe war, blieb unser Besuch bei Mr. Boythorn aufgeschoben. Endlich zog Richard in seine neue Wohnung ein, und nichts stand unsrer Abreise mehr im Weg. Er hätte uns ganz gut um diese Jahreszeit begleiten können, aber er war von dem Reiz der Neuheit seiner Stellung zu sehr in Anspruch genommen und machte höchst energische Anläufe, den Geheimnissen des verhängnisvollen Prozesses auf die Spur zu kommen. Daher gingen wir ohne ihn, und mein Liebling war voll Freude, ihn seines Fleißes wegen loben zu können.

Wir hatten in der Landkutsche eine angenehme Fahrt nach Lincolnshire und in Mr. Skimpole einen unterhaltenden Reisegefährten. Wie wir erfuhren, hatte ihm die Person, die am Geburtstage seiner blauäugigen Tochter seine Wohnung mit Beschlag belegt, sein ganzes Mobiliar ausräumen lassen. Aber es schien ihm eine große Erleichterung zu sein, daß es fort war. Tische und Stühle, sagte er, seien langweilige Gegenstände und wirkten monoton. Sie gewährten keine Abwechslung und brächten den Menschen um sein seelisches Gleichgewicht. Wie angenehm wäre es, an keine bestimmten Stühle und Tische gebunden zu sein und wie ein Schmetterling unter gemieteten Möbeln herumzugaukeln, von Rosenholz zu Mahagoni, von Mahagoni zu Nußbaum und von dieser zu jener Form zu flattern, wie es gerade die Laune eingäbe.

»Das Komische bei der Sache ist«, erzählte er mit seinem geschärften Sinn für das Lächerliche, »daß meine Stühle und Tische noch gar nicht bezahlt sind und dennoch mein Hauswirt mit der ruhigsten Miene von der Welt mit ihnen abzieht. Ist das nicht komisch? Es liegt etwas Groteskes darin. Der Möbelhändler hat sich doch niemals verpflichtet, dem Hauswirt meinen Zins zu zahlen. Wenn ich eine Warze auf der Nase habe, die meines Hauswirts Begriffe von Schönheit verletzt, so hat er doch kein Recht, an der Nase meines Möbelhändlers, der keine Warze hat, zu kratzen. Seine Logik scheint recht mangelhaft zu sein.«

»Nun«, sagte mein Vormund gutgelaunt, »es ist ziemlich klar, daß der die Stühle und Tische zu bezahlen hat, der sie schuldig ist.«

»Natürlich!« entgegnete Mr. Skimpole. »Das ist der Gipfelpunkt von Unverstand in dieser Geschichte. Ich sagte zu meinem Hauswirt: ‚Mein Bester, Sie wissen wohl nicht, daß mein vortrefflicher Freund Jarndyce diese Dinge zu bezahlen haben wird, die Sie so unzarterweise wegschaffen lassen. Haben Sie denn gar keine Rücksicht für sein Eigentum ?‘ Er hatte nicht die mindeste.«

»Und wies alle Vermittlungsvorschläge zurück?« fragte mein Vormund.

»Wies alle Vorschläge zurück. Ich machte ihm ganz kühle geschäftliche Vorschläge. Ich nahm ihn beiseite und sagte zu ihm: ‚Sie sind doch Geschäftsmann, glaube ich.‘ ‚Ja‘, gab er zur Antwort. ‚Also gut, so wollen wir die Sache geschäftsmäßig behandeln. Hier ist Tinte. Hier sind Federn und Papier und hier Oblaten. Was wünschen Sie eigentlich? Ich habe Ihr Haus seit ziemlich langer Zeit bewohnt und, wie ich glaube, zu unsrer beiderseitigen Zufriedenheit, bis dieses unangenehme Mißverständnis entstand; wollen wir also die Sache in aller Freundschaft und ganz geschäftsmäßig abmachen. Was wünschen Sie denn eigentlich?« Als Antwort darauf bediente er sich des bildlichen Ausdrucks – der etwas Orientalisches an sich hat –, daß er nie die Farbe meines Geldes gesehen hätte.

‚Lieber Freund‘, erklärte ich ihm, ‚ich habe nie Geld. Ich verstehe nichts von Geld.‘ – ‚Gut, Sir, was bieten Sie also, wenn ich Ihnen Zeit lasse ?‘ fragte er. ‚Mein Bester, Sie müssen wissen, ich habe keinen Begriff von Zeit, aber Sie sagen, Sie seien Geschäftsmann, und was in geschäftsmäßiger Form mit Feder, Tinte, Papier und Oblaten getan werden kann, bin ich bereit zu tun. Machen Sie sich nicht auf Kosten eines Fremden bezahlt – das ist töricht –, sondern verfahren Sie geschäftsmäßig!‘ Aber er wollte nicht, und das war das Ende vom Lied.«

Wenn das die Nachteile von Mr. Skimpoles Kindlichkeit waren, so hatte sie doch auch für ihn ihre gewissen Vorteile. Auf der Reise entwickelte er einen sehr guten Appetit bei jeder Erfrischung, die uns angeboten wurde, zum Beispiel bei einem Korb köstlicher Treibhauspfirsiche. Ans Zahlen dachte er nie. So fragte er den Kutscher, als dieser das Fahrgeld einsammeln kam, was er für ein gutes Fahrgeld halte – für ein reichliches –, und sagte auf die Antwort: »Eine halbe Krone für jeden Passagier«, daß das wenig genug sei, wenn man bedenke… und überließ das Zahlen Mr. Jarndyce.

Es war herrliches Wetter. Die grünen Getreidefelder wogten so schön, die Lerchen sangen so fröhlich, die Hecken waren so bunt von wilden Blumen, das Laub der Bäume stand so dicht, und die Bohnenfelder, über die ein leichter Wind dahinstrich, erfüllten die Luft mit köstlichem Wohlgeruch! Spät nachmittags erreichten wir den Marktflecken, wo wir die Kutsche verlassen sollten, einen ausgestorbnen kleinen Ort mit einem Kirchturm, einem Marktplatz mit einem Kreuz, einer sonnenbestrahlten Straße und einem Teich, in dem sich ein altes Pferd die Beine kühlte, und ein paar Menschen, die schläfrig in kleinen Schattenflecken lagen oder herumstanden. Nach dem Rauschen der Blätter und dem Wogen des Korns den ganzen Weg entlang sah es wie die stillste, heißeste, regungsloseste kleine Stadt in ganz England aus.

Vor dem Wirtshaus wartete Mr. Boythorn zu Pferd mit einem offnen Wagen auf uns, der uns nach seinem noch einige Meilen entfernten Hause bringen sollte. Er war außer sich vor Freude, uns zu sehen, und stieg behende aus dem Sattel.

»Bei Gott!« sagte er, nachdem er uns höflich begrüßt hatte. »Das ist eine ganz niederträchtige Kutsche. Sie ist das schlagendste Beispiel eines abscheulichen öffentlichen Vehikels, das jemals die Oberfläche der Erde verunstaltet hat. Fünfundzwanzig Minuten zu spät gekommen! Der Kutscher verdiente hingerichtet zu werden.«

»Ist sie zu spät gekommen?« fragte Mr. Skimpole, an den er sich bei diesen Worten gewendet hatte. »Sie kennen meine Schwäche.«

»Fünfundzwanzig Minuten! Sogar sechsundzwanzig Minuten!« entgegnete Mr. Boythorn und sah auf die Uhr. »Mit zwei Damen im Wagen hat dieser Halunke seine Ankunft absichtlich um sechsundzwanzig Minuten verzögert. Absichtlich! Ein Zufall ist ausgeschlossen. Schon sein Vater – und sein Onkel waren die liederlichsten Kutscher, die jemals auf einem Bock saßen.« Während er dies mit einem Ton höchster Entrüstung ausrief, half er uns mit größter Höflichkeit und mit freudestrahlendem Gesicht in seinen kleinen Phaethon.

»Es tut mir leid, meine Damen«, sagte er, entblößten Hauptes am Wagenschlag stehend, als alles fertig war, »daß ich leider einen Umweg von fast zwei Meilen machen muß, da der nächste Weg durch Sir Leicester Dedlocks Park führt. Ich habe geschworen, den Grund und Boden dieses Kerls nie mit meinem oder meines Pferdes Fuß zu betreten, während der gegenwärtigen Verhältnisse und solange ich atmen kann.« Als er dabei den Blicken meines Vormundes begegnete, brach er in eins seiner fürchterlichen Gelächter aus, daß es selbst den regungslosen Marktflecken in Aufruhr zu versetzen schien.

»Die Dedlocks sind hier, Lawrence?« fragte mein Vormund, als wir auf der Straße dahinfuhren und Mr. Boythorn auf dem grünen Rasen daneben trabte.

»Sir Arrogant Strohkopf ist hier«, antwortete Mr. Boythorn. »Hahaha! Sir Arrogant ist hier, und ich freue mich, denn die Gicht hat ihn bei den Beinen erwischt. Mylady« – immer, wenn er sie nannte, machte er eine höfliche Handbewegung, als wolle er sie von dem Streite ausschließen – »wird, glaube ich, täglich erwartet. Es wundert mich nicht im geringsten, daß sie ihr Erscheinen so lang wie möglich hinausschiebt. Was dieses herrliche Weib veranlaßt haben mag, dieses Gestell mit Kopf von einem Baronet zu heiraten, ist eines der unfaßbarsten Geheimnisse, die jemals der menschliche Geist zu lösen versucht hat. Hahahaha!«

»Ich nehme an«, sagte mein Vormund lachend, »daß wir den Park doch während unsres Aufenthaltes hier betreten dürfen? Das Verbot erstreckt sich doch nicht auf uns; oder doch?«

»Ich kann meinen Gästen nichts verbieten…« Mr. Boythorn verbeugte sich gegen Ada und mich mit seiner gewinnenden ritterlichen Höflichkeit, die ihm so gut stand. »Außer ihre Abreise. Es tut mir nur leid, daß ich nicht das Glück haben kann, sie in Chesney Wold herumzuführen, das wirklich sehr schön ist. Aber trotz der Sonne dieser Sommertage, Jarndyce, werdet ihr, wenn ihr den Besitzer besucht, wahrscheinlich sehr kühl empfangen werden. Er benimmt sich jederzeit wie eine Achttageuhr, wie eine von den Achttageuhren in prachtvollen Gehäusen, die nie gehen und nie gegangen sind… Hahaha! Aber er wird eine Extrasteifheit den Freunden seines Freundes und Nachbarn Boythorn gegenüber an den Tag legen. Soviel kann ich euch versprechen.«

»Wir werden es nicht darauf ankommen lassen«, sagte mein Vormund. »Er schätzt die Ehre, mich zu kennen, wahrscheinlich ebensowenig, darf ich wohl sagen, wie ich die Ehre seiner Bekanntschaft. Die Luft der Parkanlagen und vielleicht eine Besichtigung des Hauses, wie sie jeder beliebige Neugierige haben kann, genügen mir vollkommen.«

»Gut«, sagte Mr. Boythorn. »Das freut mich. Man betrachtet mich hier als einen zweiten Ajax, der den Blitz herausfordert. Hahahaha. Wenn ich sonntags in unsre kleine Kirche gehe, so erwartet ein beträchtlicher Teil der unbeträchtlichen Gemeinde, mich, von dem Blitz des Dedlock-Zornes getroffen und zu Asche verbrannt, niederstürzen zu sehen. Hahahaha! Ich glaube, Sir Leicester wundert sich selbst, daß es nicht geschieht. Denn er ist, bei Gott, der selbstgefälligste, hohlköpfigste, geckenhafteste und gehirnloseste aller Esel.«

Wir kamen jetzt an den Kamm des Hügels, und Mr. Boythorn konnte uns Chesney Wold zeigen, was seine Aufmerksamkeit von seinem Feinde ablenkte.

Es war ein malerisches altes Haus mitten in einem schönen baumbestandnen Park. Aus den Gipfeln, nicht weit von dem Herrschaftssitz, lugte die Turmspitze der von ihm erwähnten kleinen Kirche hervor. Wie schön sie aussahen, die feierlich stillen Wälder, über die Licht und Schatten wie himmlische Fittiche mit barmherzigen Botschaften durch die Sommerluft rasch dahinglitten –, der grüne Samtrasen der Abhänge, das glitzernde Wasser und der Garten mit seinen reichfarbigen, in symmetrische dichte Gruppen gedrängten Blumenbeeten –, das Haus mit Giebel und Schornstein und Turm, mit seinem dunklen Torweg und der geräumigen Terrasse, um deren Balustraden sich, die Pfeiler erkletternd und die Vasen füllend, eine Glut von Rosen schlang. Alles schien in seiner Solidität und in der heiteren, friedlichen Stille, die ringsum herrschte, kaum mehr Wirklichkeit zu sein. Auf Ada und mich machte es einen tiefen Eindruck. Über allem, über Haus, Garten und Terrasse, über den Abhängen, dem Wasser, den alten Eichen, dem Farnkraut und Moos, der Waldung und weithinaus durch die Lichtungen in der Ferne, die in einem purpurnen Nebel vor uns lag, schien ungestörte Ruhe zu herrschen.

Als wir das kleine Dorf erreichten und an einer kleinen Schenke vorbeifuhren, die das Wappen der Dedlocks trug, grüßte Mr. Boythorn einen jungen Mann, der auf einer Bank vor der Wirtshaustür saß und Angelgeräte neben sich liegen hatte.

»Das ist der Enkel der Wirtschafterin, Mr. Rouncewell«, sagte er. »Er hat sich in ein hübsches Mädchen oben im Edelhof verliebt. Lady Dedlock hat Gefallen an dem hübschen Mädchen gefunden und will sie um ihre eigne schöne Person behalten, eine Ehre, die mein junger Freund durchaus nicht zu würdigen weiß. Da er sein Röschen jetzt sowieso nicht heiraten kann, selbst wenn sie wollte, so muß er sich’s gefallen lassen und schauen, wie er am besten dabei fährt. Mittlerweile kommt er ziemlich oft auf einen oder zwei Tage her, um – zu fischen. Hahahaha!«

»Ist er mit dem hübschen Mädchen verlobt, Mr. Boythorn?« fragte Ada.

»Nun, meine liebe Miß Clare, ich glaube, sie verstehen einander. Sie werden sie ja in Bälde selbst sehen, und in solchen Sachen muß ich von Ihnen lernen – nicht Sie von mir.«

Ada errötete, und Mr. Boythorn, der uns auf seinem hübschen Grauschimmel vorausgetrabt war, stieg vor seiner Haustür ab und stand mit dargebotnem Arm und entblößtem Haupt da, bereit, uns zu empfangen.

Er bewohnte ein hübsches Haus, ein ehemaliges Pfarrhaus mit einem Rasenplatz davor, einem bunten Blumengarten an den beiden Seiten, und das ganze Grundstück umschlossen von einer ehrwürdigen alten Mauer von fruchtreifem, rötlichem Aussehen.

Übrigens hatte so ziemlich alles in der Nähe des Hauses einen Anstrich der Reife und des Überflusses. Die alte Lindenallee sah aus wie ein grüner Klostergang, die Kirsch- und Apfelbäume waren von Früchten schwer, die Stachelbeerbüsche trugen so reichlich, daß sich die Zweige bogen und auf die Erde senkten, Erdbeeren und Himbeeren gediehen in demselben Überfluß, und die Pfirsiche glühten zu Hunderten an der Mauer in der Sonne. Unter den ausgespannten Netzen und den in der Sonne funkelnden und glitzernden Glasrahmen häufte sich ein solcher Berg von Schoten und Hülsenfrüchten und Gurken, daß jeder Fußbreit Erdboden wie eine Schatzkammer von Pflanzen erschien, während der Duft von Gewürzkräutern und allerlei nützlichen Gewächsen die Luft zu einem großen Blumenstrauß machte; ganz zu schweigen von dem Heugeruch, der von den benachbarten Wiesen herüberwehte.

Eine solche Stille und Ruhe herrschte innerhalb der alten roten Mauer, daß selbst die zur Verscheuchung der Vögel in Girlanden ausgehängten Federn sich kaum bewegten, und die Mauer hatte ein so Reife beförderndes Aussehen, daß, wo hie und da hoch oben ein unbenutzter Nagel oder ein Stück Leiste hängen geblieben war, man sich leichter denken konnte, sie wären mit den wechselnden Jahreszeiten reif geworden als nach dem Lauf der Dinge verrostet und verwittert.

Das Haus, im Vergleich zu dem Garten ein wenig unordentlich, war so ein richtiges altes Haus, mit Sitzen am Kamin, die Küche mit Ziegeln gepflastert und große Balken quer über der Decke. Auf der einen Seite des Gebäudes lag der schreckliche strittige Fleck, und Mr. Boythorn hatte Tag und Nacht eine Schildwache in einem Fuhrmannskittel dort stehen, die beauftragt war, im Falle eines Angriffs augenblicklich eine eigens zu diesem Zweck aufgehängte große Glocke zu läuten und eine in einer Hundehütte angekettete große Bulldogge zur Vernichtung des Feindes loszulassen. Noch nicht zufrieden mit diesen Vorsichtsmaßregeln, hatte Mr. Boythorn auf Schildern, auf denen sein Name in großen Buchstaben stand, die schreckliche Warnung angeschrieben: »Achtung vor der Bulldogge. Bissig im höchsten Grade. Lawrence Boythorn.«

»Die Muskete ist mit Rehposten geladen. Lawrence Boythorn.«

»Fußeisen und Selbstschüsse sind hier zu allen Zeiten Tag und Nacht gelegt. Lawrence Boythorn.«

Dann: »Achtung: Wer sich frecherweise erlaubt, ohne Erlaubnis dieses Grundstück zu betreten, verfällt der schärfsten körperlichen Züchtigung und wird außerdem mit der äußersten Strenge des Gesetzes verfolgt. Lawrence Boythorn.«

Diese Tafeln zeigte er uns von seinem Fenster aus, während ihm dabei sein Vogel auf dem Kopf herumhüpfte, und er lachte sein: Hahahaha! Hahahaha! so laut und heftig, daß ich wirklich glaubte, er werde sich einen Schaden tun.

»Aber das nenne ich, sich recht viel Unannehmlichkeiten bereiten«, meinte Mr. Skimpole in seiner gewöhnlichen leichtherzigen Weise, »wo es Ihnen doch nicht ernst damit ist.«

»Nicht ernst?« rief Boythorn mit unbeschreiblicher Wärme. »Nicht ernst? Ich hätte einen Löwen gekauft, wenn Aussicht gewesen wäre, ihn abzurichten, anstatt dieses Hundes, und ihn auf den ersten dieser widerwärtigen Räuber gehetzt, der sich eine Verletzung meiner Rechte erlaubt haben würde. Wenn Sir Leicester Dedlock sich übrigens dazu verstehen will, die Frage durch ein Duell zu entscheiden, so bin ich bereit, ihm mit jeder Waffe, die der Menschheit in irgendeinem Land oder zu irgendeiner Zeit bekannt gewesen ist, entgegenzutreten. So sehr ist’s mir ernst. Ich dächte, das genügt.«

Wir waren an einem Samstag in seinem Hause angekommen und machten uns Sonntag morgens alle nach der kleinen Kirche im Park auf den Weg. Wir betraten den Park fast unmittelbar von dem strittigen Grundstück aus und gingen einen hübschen Fußweg über den grünen Rasen und unter schönen Bäumen hinweg, bis wir den Eingang zur Kirche erreichten.

Die Gemeinde war sehr klein und bestand aus lauter Bauern, mit Ausnahme der ziemlich großen Menge Dienerschaft des Herrschaftssitzes. Einige waren bereits auf ihren Plätzen, während andre noch nachkamen. Es befanden sich einige sehr stattliche Bediente darunter und ein wahres Bild von einem alten Kutscher, der aussah, als ob er der offizielle Repräsentant allen Pompes und Glanzes, der jemals auf einem Bock gesessen, wäre. Auch eine hübsche Kette von jungen Mädchen war zugegen, und über ihnen thronte das schöne alte Gesicht und die würdige behäbige Gestalt der Wirtschafterin. Das Mädchen, von dem Mr. Boythorn gesprochen, saß neben ihr. Sie war so außerordentlich hübsch, daß ich sie an ihrer Schönheit erkannt haben würde, selbst wenn ich nicht gesehen hätte, wie verschämt sie sich der Blicke des jungen Fischers bewußt war, den ich nicht weit davon entdeckte.

Ein Gesicht, und zwar kein angenehmes, obgleich es schön war, schien außerdem dieses hübsche Mädchen und überhaupt alles und jedes tückisch zu belauern. Es war das Gesicht einer Französin.

Die Glocke läutete noch, die vornehmen Herrschaften waren auch noch nicht da, und so hatte ich Zeit, mich in der Kirche umzusehen, die so modrig wie ein Grab roch. Was für eine dunkle, altertümliche, feierliche kleine Kirche es war! Die von Bäumen dicht beschatteten Fenster ließen ein gedämpftes Licht herein, das die Gesichter rings um mich her bleich erscheinen ließ und die alten Erzplatten auf dem Fußboden und die von der Zeit und Feuchtigkeit zerfressenen Denkmäler verdunkelte und das Stückchen Sonnenschein auf der Schwelle der kleinen Eingangspforte, wo ein Glockenstrang einförmig die Glocke in Bewegung setzte, glänzend machte wie einen Edelstein.

Eine gewisse Bewegung unter den Leuten, die Miene ehrfürchtiger Scheu auf den Gesichtern der Bauern und ein höflich grimmiger Ausdruck Mr. Boythorns, als ob er unerschütterlich entschlossen sei, die Anwesenheit eines gewissen jemand unter gar keinen Umständen zur Kenntnis zu nehmen, verrieten mir, daß die hohen Herrschaften gekommen waren und der Gottesdienst beginnen konnte.

»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Diener, denn vor dir…«

Werde ich jemals vergessen, wie heftig mein Herz klopfte, als mich beim Aufstehen jener Blick traf? Werde ich jemals vergessen, wie die schönen stolzen Augen aus ihrem gleichgültig schmachtenden Schlummer plötzlich zu erwachen und mich fast zu bannen schienen? Es dauerte nur eine Sekunde, dann waren meine Augen wieder freigelassen –wenn ich es so nennen kann –, und ich sah auf mein Buch nieder. Aber das schöne Gesicht stand im Geiste haarscharf vor mir.

Und merkwürdig, es regte sich in mir etwas, was mich an die einsamen Tage bei meiner Patin erinnerte. Ja, selbst an die längst entschwundne Zeit, wo ich auf den Zehen vor meinem kleinen Spiegel gestanden, um mich anzukleiden, nachdem ich vorher meine Puppe angezogen hatte. Und trotzdem wußte ich genau, daß ich das Gesicht dieser Dame niemals vorher in meinem Leben gesehen hatte.

Es war nicht schwer zu erraten, daß der zeremoniöse, gichtische, grauköpfige Herr, der allein mit der Dame im Kirchenstuhl saß, Sir Leicester Dedlock war und sie Lady Dedlock. Aber warum ihr Gesicht so sonderbar auf mich wirkte, wie ein zerbrochener Spiegel, in dem ich einzelne Bruchstücke alter Erinnerungen sah, und warum ich so aufgeregt und unruhig war, weil zufällig ihr Blick auf mir geruht hatte, das konnte ich mir nicht erklären.

Ich empfand es als eine ganz unbegreifliche Schwäche und trachtete, sie dadurch zu überwinden, daß ich aufmerksam den Worten der Predigt folgte. Und da kam es mir sonderbarerweise vor, als hörte ich nicht den Geistlichen sprechen, sondern die unvergeßliche Stimme meiner Patin. Das brachte mich auf den Gedanken, ob Lady Dedlock ihr nicht vielleicht zufällig ähnlich sähe. Vielleicht war das wirklich ein wenig der Fall, aber der Ausdruck war so ganz anders, und die finstere Strenge, die sich in die Züge meiner Patin eingefressen hatte, wie Witterung in Felsgestein, fehlte so vollständig in diesem Gesicht, daß von einer Ähnlichkeit nicht gut die Rede sein konnte. Ebensowenig hatte ich jemals in irgend einem Antlitz einen derartig stolzen und hochmütigen Ausdruck wie bei Lady Dedlock gesehen, und doch schien ich, ich, die kleine Esther Summerson, als Kind, das ein Leben für sich geführt hatte und dessen Geburtstag nie ein Festtag gewesen, vor meinen eignen Augen emporzusteigen, aus der Vergangenheit heraufbeschworen wie durch eine seltsame Macht dieser vornehmen Dame, von der ich genau wußte, daß ich sie bis zu dieser Stunde niemals gesehen hatte.

Ich war so unerklärlich aufgeregt, daß mir selbst die beobachtenden Blicke der französischen Zofe weh taten, die doch schon von ihrem ersten Erscheinen in der Kirche an ununterbrochen lauernd umhergeblickt hatte. Allmählich, wenn auch nur sehr langsam, wurde ich meiner seltsamen Bewegung Herr. Nach einer Weile sah ich mich wieder nach Lady Dedlock um. Sie stand gerade auf, um in den Gesang vor der Predigt einzustimmen. Sie beachtete mich nicht, und mein Herzklopfen hatte aufgehört. Es kam auch nicht wieder außer auf ein paar Augenblicke, als sie später ein oder zwei Mal Ada und mich durch ihre Lorgnette musterte.

Nach Beendigung des Gottesdienstes reichte Sir Leicester Lady Dedlock höchst zeremoniell und feierlich den Arm – obgleich er selbst nur mit Hilfe eines dicken Stockes gehen konnte – und führte sie aus der Kirche an den Ponywagen, in dem sie gekommen waren. Die Dienerschaft zerstreute sich und ebenso die Gemeinde, die, wie Mr. Skimpole zu Mr. Boythorns unendlichem Vergnügen äußerte, Sir Leicester die ganze Zeit über betrachtet hätte, als wäre er Großgrundbesitzer im Paradiese.

»Das glaubt er nämlich wirklich«, sagte Mr. Boythorn. »Er ist fest davon überzeugt. Auch sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater waren es.«

»Wissen Sie«, fuhr Mr. Skimpole ganz unerwartet zu Mr. Boythorn fort, »daß ich sehr gern einen solchen Mann sehe.«

»So? Ah. Was Sie sagen!«

»Nehmen Sie an, er wünsche mich zu begönnern. Sehr gut, ich würde nicht widersprechen.«

»Aber ich«, rief Mr. Boythorn mit großer Entschiedenheit.

»Wirklich?« entgegnete Skimpole leichthin. »Aber das würde Ihnen doch Mühe machen. Warum sollten Sie sich Mühe machen? Hier bin ich, zufrieden, was da kommt, über mich ergehen zu lassen, und gebe mir nie Mühe. Ich komme also hierher und finde einen mächtigen, Huldigung heischenden Potentaten. Gut. Ich sage: Mächtiger Potentat, hier meine Huldigung! Es ist leichter, sie darzubringen, als sie zu verweigern. Hier ist sie. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu zeigen haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzusehen. Wenn Sie mir irgend etwas Angenehmes zu geben haben, werde ich mich glücklich schätzen, es anzunehmen. Der mächtige Potentat antwortet: ‚Das ist ein verständiger Mensch. Ich finde, er wirkt günstig auf meine Verdauung und mein galliges Naturell. Er zwingt mir nicht die Notwendigkeit auf, mich zusammenzurollen wie ein Stacheligel. Im Gegenteil, ich breite mich aus, ich entfalte mich und wende mein silbernes Futter nach außen, wie Miltons Wolke, und das ist angenehmer für uns beide.‘ So sehe ich die Sache an, wenn ich als Kind spreche.«

»Aber angenommen, Sie gingen morgen irgendwo anders hin«, sagte Mr. Boythorn, »wo Sie das gerade Gegenteil eines solchen Kerls fänden; was dann?«

»Was dann?« sagte Mr. Skimpole mit einer Miene kindlicher Einfalt und Aufrichtigkeit. »Ganz dasselbe dann! Ich würde sagen: Mein verehrter Boythorn – wenn Sie der Betreffende wären –, mein verehrter Boythorn, Sie wollen von dem mächtigen Potentaten nichts wissen? Sehr gut. Ich auch nicht. Ich halte es für meinen Beruf im sozialen System, mich angenehm zu machen; ich halte es für jedermanns Beruf im sozialen System, sich angenehm zu machen. Es soll doch ein System der Harmonie sein. Deshalb, wenn Sie gegen den Potentaten sind, bin ich auch gegen ihn. Und jetzt, mein trefflicher Boythorn, lassen Sie uns zu Tisch gehen.«

»Aber der treffliche Boythorn könnte sagen«, entgegnete unser Wirt und wurde blutrot vor Zorn, »ich will ver…«

»Ich verstehe schon«, unterbrach ihn Mr. Skimpole. »Sehr wahrscheinlich würde er das sagen.«

»…sein, wenn ich zu Tische gehe«, ergänzte Mr. Boythorn mit großer Heftigkeit, blieb stehen und stieß mit dem Stock auf den Boden. »Und er würde wahrscheinlich hinzusetzen, gibt es nicht etwas, was Prinzip heißt, Mr. Harold Skimpole?«

»Worauf Harold antworten würde«, erwiderte Mr. Skimpole in seiner fröhlichsten Weise und mit seinem naivsten Lächeln: »Bei meinem Leben, ich habe nicht den mindesten Begriff davon. Ich weiß nicht, was Sie Prinzip nennen, wo es ist oder wer es hat. Wenn Sie es haben und es angenehm finden, freut mich das sehr, und ich gratuliere Ihnen von Herzen. Aber ich weiß nichts davon, das versichere ich Ihnen, denn ich bin ein reines Kind und lege keinen Wert darauf und brauche es nicht. Und dann, sehen Sie, würden der treffliche Boythorn und ich dennoch zu Tisch gehen.«

Das war eins von den vielen kleinen Zwiegesprächen zwischen den beiden, bei denen ich immer fürchtete, sie würden mit einem heftigen Ausbruch von Seiten unsres Wirtes enden. Das wäre unter allen Umständen auch sicher der Fall gewesen, wenn nicht Mr. Boythorn eine so hohe Auffassung von Gastfreundschaft gehabt hätte. Überdies lachte mein Vormund so herzlich über Mr. Skimpole wie über ein Kind, das den ganzen Tag Seifenblasen macht, daß die Sache nie über diesen Punkt hinausging. Mr. Skimpole, der es nie zu wissen schien, wenn er einen gefährlichen Gegenstand berührte, fing dann vielleicht eine Skizze im Park an, die er nie fertig machte, oder spielte Melodien auf dem Piano, sang Bruchstücke von Liedern oder legte sich unter einen Baum auf den Rücken und schaute in den Himmel und hielt alles das für seinen wirklichen Beruf, weil es ihm so ausgezeichnet paßte.

»Unternehmungsgeist und Anstrengung«, pflegte er in solchen Fällen zu uns zu sagen, »sind mir eine wahre Lust. Ich glaube, ich bin ein echter Kosmopolit. Ich habe die größten Sympathien für sie. Ich liege an einem schattigen Platz wie diesem hier und denke an die Wagehälse, die den Nordpol suchen oder bis in das Herz der heißen Zone eindringen, mit Bewunderung. Habsüchtige, geldgierige Leute fragen: Was trägt es ihm ein, nach dem Nordpol zu fahren. Wozu ist das gut? Ich weiß es nicht, aber jedenfalls, wenn der Wagehals es auch nicht weiß, gibt er meinen Gedanken, während ich hier liege, angenehm Nahrung. Aber vielleicht fährt er wirklich hin – unbewußt natürlich –, um meine Gedanken angenehm zu beschäftigen, während ich hier liege. Nehmen wir einen extremen Fall: Nehmen wir die Sklaven in den amerikanischen Plantagen. Ich gebe zu, daß sie hart arbeiten müssen. Ich gebe zu, daß ihnen das nicht besonders gefällt. Ich gebe ohne weiteres zu, daß sie ihr Dasein im großen ganzen recht unangenehm empfinden, aber sie beleben die Landschaft für mich, stimmen sie poetisch für mich, und vielleicht ist das einer der angenehmeren Zwecke ihres Daseins. Ich empfinde es jedenfalls so und würde mich nicht wundern, wenn es sich auch in Wirklichkeit so verhielte.«

Ich fragte mich bei solchen Gelegenheiten immer, ob er wohl jemals an seine Frau und Kinder denke und von welchem Gesichtspunkt aus er sie in seiner kosmopolitischen Weltanschauung wohl betrachte. Soweit ich übrigens beurteilen konnte, dachte er fast niemals an sie.

Wieder war eine Woche bis zum Samstag nach jenem Kirchgang verflossen, und jeder Tag war so hell und blau gewesen, daß im Wald herumzustreifen und das Sonnenlicht zwischen den durchscheinenden Blättern hereinfallen und in den schönen Verschlingungen der Schatten der Bäume glänzen zu sehen, während die Vögel sangen und die Luft schlief bei dem Gesumme der Insekten, eine wahre Freude war. Wir hatten uns ein Lieblingsplätzchen tief in Moos und altem abgefallnem Laub, wo ringsum einige gefällte, ganz aus der Rinde geschälte Bäume lagen, ausgesucht. Wenn wir dort saßen, blickten wir durch einen grünen Prospekt, getragen von tausend natürlichen Säulen, den weißschimmernden Stämmen der Bäume, in eine Ferne, die durch ihren Gegensatz zu dem Schatten, in dem wir saßen, und die Laubwölbung, durch die wir auf sie hinsahen, so hell erstrahlte, daß sie wie ein Blick ins Jenseits war.

An diesem Samstag saßen Mr. Jarndyce, Ada und ich dort, bis wir dumpf in der Ferne den Donner rollen und große Regentropfen auf die Blätter klatschen hörten.

Die ganze Woche über war es außerordentlich schwül gewesen, aber das Gewitter kam so plötzlich – wenigstens für uns an dieser geschützten Stelle –, daß, ehe wir noch den Saum des Waldes erreichten, Blitz auf Blitz zuckte und der Regen schwer durch die Blätter rauschte, als wäre jeder Tropfen eine Bleikugel.

Da das kein Wetter war, um unter den Bäumen Schutz zu suchen, liefen wir aus dem Wald heraus und die moosbewachsenen Stufen, die an den Umzäunungen entlang führten, hinauf und hinab und eilten zu einem Parkwächterhäuschen in der Nähe hin. Schon oft war uns die düstere romantische Schönheit dieser Hütte in dem dunkeln Zwielicht der Bäume aufgefallen. Von Efeu dicht umwuchert, stand sie an einem steilen Abhang, und einmal hatten wir den Hund des Parkhüters in das tiefe Farnkraut untertauchen sehen wie in einen grünen See.

Es war so dunkel in der Hütte bei dem ganz mit Wolken bedeckten Himmel, daß wir nur den Mann unterscheiden konnten, der, als er uns sah, an die Tür kam und zwei Stühle für Ada und mich hinsetzte.

Die Jalousien waren in die Höhe gezogen, und wir saßen im Flur und sahen auf das Gewitter hinaus. Es war grandios, wie sich der Wind erhob und die Bäume niederbog und den Regen vor sich hertrieb wie eine Rauchwolke, den feierlichen Donner zu hören und das Blitzen zu sehen und dabei mit Schauer an die gewaltigen Mächte denken zu müssen, von denen unser unbedeutendes Leben umgeben ist, Zeuge zu sein, wie wohltätig sie wirkten und auf Blätter und Blüten eine Frische ausschütteten, die alles neu zu machen schien.

»Ist es nicht gefährlich, an einer so offnen Stelle zu sitzen?«

»O nein, liebe Esther«, antwortete Ada ruhig.

Ada sagte das zu mir, aber ich hatte kein Wort gesprochen.

Mein Herzklopfen kam wieder. Ich hatte die Stimme nie gehört, wie ich auch das Gesicht vorher nie gesehen hatte, aber sie machte denselben seltsamen Eindruck auf mich. In einem Augenblick erzeugte sie unzählige Bilder vor meiner Seele: Lady Dedlock hatte vor uns Schutz in der Hütte gesucht und war aus dem Dunkel drinnen hervorgetreten. Sie stand hinter meinem Stuhl und hatte die Hand auf die Lehne gelegt. Ich sah ihre Hand ganz dicht an meiner Schulter, als ich mich umdrehte.

»Ich habe Sie erschreckt?« sagte sie.

Nein. Ich war nicht erschrocken. Warum hätte ich auch erschrecken sollen.

»Ich glaube«, wendete sich Lady Dedlock zu meinem Vormund, »ich habe das Vergnügen mit Mr. Jarndyce.«

»Ihr Gedächtnis erweist mir mehr Ehre, als ich hätte vermuten dürfen, Lady Dedlock«, entgegnete er.

»Ich erkannte Sie am Sonntag in der Kirche. Es tut mir leid, daß Streitigkeiten Sir Leicesters – sie sind, ich glaube, nicht von ihm ausgegangen – es so lächerlich schwierig machen, Ihnen hier unsre Gastfreundschaft anbieten zu können.«

»Ich bin in die Verhältnisse eingeweiht«, antwortete mein Vormund mit einem Lächeln, »und ich fühle mich auch ohne dies verpflichtet.«

Sie hatte ihm in einer gewissen kühlen Gleichgültigkeit, die ihr Gewohnheit geworden zu sein schien, die Hand gereicht und sprach in einem ebensolchen Ton, obgleich ihre Stimme etwas außerordentlich Gewinnendes hatte. Sie war ebenso anmutig wie schön, ungemein sicher und sah aus, wie ich mir dachte, als könnte sie das Herz jedes Menschen gefangen nehmen, wenn sie es der Mühe wert halte.

Der Parkhüter brachte ihr einen Stuhl heraus, und sie setzte sich in die Mitte des Eingangs zwischen uns.

»Haben Sie den jungen Herrn untergebracht, von dem Sie uns schrieben, dessen Wünsche in irgendeiner Weise zu fördern aber leider nicht in Sir Leicesters Macht stand?« fragte sie über die Schulter meinen Vormund.

»Ich hoffe ja.«

– Sie schien eine hohe Meinung von Mr. Jarndyce zu haben und zu wünschen, mit ihm auf gutem Fuß zu stehen. Es lag etwas sehr Gewinnendes in ihrem stolzen Wesen, und sie wurde vertraulicher – besser gesagt, unbefangener, wenn das überhaupt noch möglich war, wie sie mit ihm über ihre Schulter hinüber sprach. –

»Ich vermute, dies ist Ihr anderes Mündel, Miß Clare?«

Er stellte ihr Ada vor.

»Man wird Ihnen trotz Ihres Don-Quichote-Charakters Ihre Uneigennützigkeit nicht mehr glauben, wenn Sie nur Schönheiten unter Ihren Schutz nehmen. Aber stellen Sie mich auch dieser jungen Dame vor«, sagte sie und sah mir voll ins Gesicht.

»Miß Summerson ist wirklich mein Mündel«, erklärte Mr. Jarndyce. »Für sie bin ich beim Lordkanzler verantwortlich.«

»Hat Miß Summerson ihre beiden Eltern verloren?«

»Ja.«

»Sie hat es sehr gut mit der Wahl ihres Vormunds getroffen.«

Lady Dedlock sah mich an, und ich stimmte ihr bei, daß das allerdings in ganz hervorragender Weise der Fall sei. Plötzlich wendete sie sich mit einer Hast von mir ab, die fast wie Abneigung oder Mißfallen aussah, und sprach wieder mit ihm über die Achsel.

»Jahre sind vergangen, seit wir zusammengekommen sind, Mr. Jarndyce.«

»Eine sehr lange Zeit. Wenigstens glaubte ich, es sei lange her, bis ich Sie vorigen Sonntag sah.«

»Was, selbst Sie sind ein Schmeichler oder halten es für notwendig, mir gegenüber einer zu werden«, sagte sie mit leichter Geringschätzung. »Einen solchen Ruf habe ich mir erworben?«

»Sie haben soviel erworben, Lady Dedlock«, sagte mein Vormund, »daß Sie wohl eine kleine Strafe bezahlen müssen. Wenn auch nicht mir.«

»Soviel!« wiederholte sie leise lachend. »Ja!« In ihrer Überlegenheit und Macht und Faszinationsgabe und, ich weiß nicht, was alles, schien sie in Ada und mir wenig mehr als Kinder zu sehen. Wie sie leise lachte und dann nachdenklich in den Regen hinausschaute, war sie so unbefangen und sicher und hing ihren Gedanken so ungeniert nach, als ob sie allein wäre.

»Ich glaube, Sie kannten meine Schwester besser als mich, als wir zusammen im Ausland waren?« fragte sie und blickte wieder auf.

»Ja, wir trafen uns öfter.«

»Wir sind unsre eignen Wege gegangen«, sagte Lady Dedlock, »und hatten selbst, ehe wir noch uneins zu werden für gut fanden, wenig miteinander gemein. Es ist bedauerlich, aber es konnte nicht anders sein.«

Wieder sah sie in den Regen hinaus. Das Gewitter zog schnell vorüber. Der Regenschauer ließ stark nach, das Blitzen hörte auf, der Donner rollte in der Ferne über den Hügeln, und die Sonne fing an, auf die nassen Blätter und den dünn rieselnden Regen zu glitzern.

Während wir schweigend dasaßen, sahen wir einen kleinen Pony-Phaethon in munterm Trab auf uns zufahren.

»Der Bote kommt mit dem Wagen zurück, Mylady«, meldete der Parkhüter.

Als der Phaethon vorfuhr, bemerkten wir, daß zwei Personen drin saßen. Mit einigen Mänteln und Tüchern im Arm stieg zuerst die Französin aus, die ich in der Kirche gesehen hatte, und dann das hübsche Mädchen. Die Französin mit einer gewissen trotzigen Zuversicht, das Mädchen verlegen und zögernd.

»Was heißt das?« fragte Mylady. »Zwei?!«

»Ich bin für jetzt noch Ihre Kammerfrau, Mylady«, sagte die Französin. »Der Bote verlangte nach der Zofe.«

»Ich fürchtete, Sie könnten mich meinen, Mylady«, entschuldigte sich das hübsche Mädchen.

»Ich meinte auch dich, mein Kind«, entgegnete Lady Dedlock ruhig. »Gib mir diesen Schal um.«

Sie bückte sich ein wenig, und das hübsche Mädchen ließ das Tuch leicht auf ihre Schultern fallen. Die Französin stand unbeachtet daneben und sah mit krampfhaft zusammengepreßten Lippen zu.

»Es tut mir leid«, wendete sich Lady Dedlock zu Mr. Jarndyce, »daß wir unsre frühere Bekanntschaft wahrscheinlich nicht erneuern können. Sie werden mir erlauben, den Wagen für Ihre beiden Mündel wieder herzuschicken. Er wird gleich zurück sein.«

Da mein Vormund um keinen Preis dieses Anerbieten annehmen wollte, verabschiedete sie sich mit Anmut von Ada – nicht von mir –, legte ihre Hand auf seinen dargebotnen Arm und stieg in den Wagen, der eine kleine, niedrige Parkchaise mit einem Halbdach war.

»Steig ein, Kind«, sagte sie zu dem hübschen Mädchen. »Ich werde dich brauchen. Fahren Sie zu.«

Der Wagen fuhr fort, und die Französin, die mitgebrachten Plaids auf dem Arm, blieb stehen, wo sie ausgestiegen war.

Ich glaube, Stolz kann nichts so wenig vertragen als wieder Stolz, und sie war bestraft für ihr herrisches Wesen. Ihre Rache war das eigentümlichste, was ich mir denken kann. Sie blieb regungslos stehen, bis der Wagen in die Auffahrt eingebogen war, und zog dann, ohne eine Miene zu verziehen, die Schuhe aus, ließ sie auf dem Rasen stehen und ging langsam und wohlüberlegt gerade durch die nassesten Stellen des Grases dem Wagen nach.

»Ist das Mädchen verrückt?« fragte mein Vormund.

»O nein, Sir«, sagte der Parkhüter, der ihr mit seiner Frau nachsah. »Hortense ist gar nicht verrückt. Sie ist so klar im Kopf wie irgendeine, aber schrecklich obenhinaus und leidenschaftlich. – Sie ist furchtbar wütend, weil man ihr gekündigt hat und ihr andre vorgezogen werden.«

»Aber warum geht sie ohne Schuhe durch das Wasser?«

»Nun, vielleicht um sich abzukühlen«, meinte der Mann.

»Oder vielleicht bildet sie sich ein, es sei Blut«, sagte die Frau. »Die würde ebensogut durch Blut wie durch alles andre gehen, wenn es ihr einmal in den Kopf steigt.«

Wenige Minuten später kamen wir in der Nähe des Herrenhauses vorbei. Es sah jetzt, wo überall ringsum Diamantentropfen glitzerten, ein leichter Wind wehte, die Vögel nicht mehr ängstlich schwiegen und wieder laut sangen und alles von dem Regen erfrischt war und der Wagen auf der Auffahrt glänzte wie ein Feenwagen aus Silber, noch friedlicher aus.

Immer noch voll Fassung und Ruhe, auch eine friedliche Gestalt nach ihrer Art in der Landschaft, ging Mademoiselle Hortense ohne Schuhe durch das nasse Gras.