Einleitung.


Einleitung.

Nach »Klein Dorrit«, dem Roman, der sich ganz mit dem Privatleben befaßt, nämlich mit der Seele eines reinen Kindes und seiner armen Umwelt, ließ Dickens 1859 die Erzählung »Zwei Städte« ( Tale of two cities) folgen, die der Geschichte große Gegenstände zum Hintergrund der Handlung hat. Die zwei Städte sind London und Paris im Zeitalter der französischen Revolution, und wie nun Dickens diese schicksalsschwere Epoche, erlebt durch einzelne Menschen, darstellt, wie er den Widerhall dieses elementaren Gesellschaftsereignisses in London und in seiner Umwelt wiedergibt, das zeugt von einer schlechterdings kaum zu überbietenden Meisterschaft. Darum gibt es viele Literaturkenner, die dieses Werk Dickens‘ als seine beste Leistung überhaupt ansprechen.

Das tragische »Muß« der Revolution, ihre furchtbare Notwendigkeit wird von Dickens mit tiefem historischen Verständnis in seiner Darstellung aufgezeigt. Wenn die geduldigen unterdrückten Volksmassen nirgends Recht finden können, weil die herrschende Klasse in bösestem Egoismus ihnen keinen Raum zum Atmen läßt, dann wiederholt sich im Wandel der Jahrhunderte immer wieder das Phänomen der gewaltsamen Umwälzung und Befreiung. Dann aber springt mit dem Genius der Freiheit auch der Dämon der Gier und die Bestie im Menschen aus der Volksseele hervor, und die Ideen der Gleichheit und der Brüderlichkeit können sich nicht sündlos halten von pöbelhafter Blutgier. Die Sünde der Reichen wird heimgesucht an deren unschuldigen Kindern, und aus eben jener Sünde der Reichen erwächst die Sünde der Armen in Formen furchtbarer Rache. Das Geschlecht der Evrémondes hat in frivoler Genußsucht entsetzlich an den Untergebenen gesündigt, und nun führt Dickens aus, wie die Strafe oder die Vergeltung deren schuldlose Nachfahren trifft. Dickens zeigt, welche verheerende Wendung die Revolution bei den rasenden Volksmassen nimmt. Er malt die furchtbaren Tage, da die Guillotine ihre Triumphe feiert; aber er zeigt auch dem Adel, dessen Sittenlosigkeit und Tyrannei zu alledem führte, seine Schuld, seine Riesenschuld. Er schildert zuständlich; er ist mit ganzem Herzen dabei, ohne einseitig Partei zu nehmen. Er ist Dichter und »steht auf einer höhern Warte, als auf der Zinne der Partei«. Er ist »dichterisch-objektiv«, und darum ergreift dieses Werk den Leser in so besonderem Maße, weil dieser dadurch unmittelbar in die Tragik des Menschenlebens geschichtlich großen Stils geführt wird. Der Roman bietet hier dasselbe Beste, was das Drama hervorragenden Formats zu bieten hat: die Frage an das Weltenschicksal, das Warum, das uns auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, erschüttert und erhebt. – Nur am Rande angemerkt sei auch hier wieder die meisterliche Zeichnung der lebensechten Figuren. – Dadurch, daß das Ganze durch die Bande der Liebe nach England hinüberspielt, erhalten wir zugleich ein eindrucksvolles Spiegelbild der französischen Revolution im englischen Geistes- und Kulturleben.

Bei diesem vorletzten Band der Dickens-Werke aus dem Gutenberg-Verlag hat ebenso wie bei dem letzten Band, der die Weihnachtserzählungen bringt, Frau Clara Weinberg dem Herausgeber bei der Textrevision freundlichst mitgeholfen.

P. Th. H.

Erstes Kapitel. Die damalige Zeit.


Erstes Kapitel. Die damalige Zeit.

 

Es war die beste und die schönste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis. Es war der Frühling der Hoffnung und der Winter des Verzweifelns. Wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, die Periode glich der unsrigen so wenig, daß ihre lärmendsten Tonangeber im Guten wie im Bösen nur den Superlativgrad des Vergleichens auf sie angewendet wissen wollten.

Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem mächtigen Kieferwerk und eine Königin mit einem einfachen Gesicht. Den Thron von Frankreich zierte ein Herrscherpaar von ganz den nämlichen Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es der königlichen Umgebung, Mundschenk, Truchseß und so weiter, klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.

Es war das Jahr unseres Herrn Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade geistiger Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag zurückgelegt, auf dessen erhabenes Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt halten, daß London und Westminster von der Erde verschlungen werden würden. Sogar der Hahnengassengeist war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem er seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letztabgelaufenen Jahr noch getan, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im irdischen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen und haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluß auf das menschliche Geschlecht geübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.

Mit Frankreich, das, was geistige Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt ist als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und hurtig bergab, indem es Papiergeld machte und es verjubelte. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Belustigungen, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der unter strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Staub knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Zunge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der bäuerlichen Gehöfte von ländlichem Staub bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnersteigen dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution herbeizuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit; aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser, denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.

In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, nicht aufs Land zu ziehen, ohne daß sie vorher ihre Einrichtung in einem Speditionsgeschäft geborgen hatten. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als »Kapitän« anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihn ritterlich durch den Kopf und spornte sein Roß weiter. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Führer schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den andern vieren, »weil ihm die Munition ausgegangen war«, und nun erst konnte der Wagen mit Behaglichkeit geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber standhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg. Musketiere zogen nach St. Giles, um nach Schleichwaren zu fahnden, und wurden von einem Pöbelhaufen, den sie ihrerseits in der gleichen Weise bearbeiteten, mit Schüssen empfangen. Das waren lauter Dinge, die man für nichts Außerordentliches ansah. Dabei hatte der Henker alle Hände voll zu tun, indem er das eine Mal die unterschiedlichen Verbrecher in langen Reihen aufknüpfte, ein andermal sein Amt Samstags an einem einzelnen Hauseinbrecher übte, der am Dienstag ergriffen worden war, heute in Newgate dem Dutzend nach Leuten die Hand brandmarkte. Morgen vor dem Tor von Westminsterhall Flugschriften den Flammen übergab, und dann wieder einen trotzigen Mörder und einen armen Strauchdieb, der einem Bauernbuben ein Sechspencestück abgejagt hatte, in die Ewigkeit beförderte.

Alles dies und noch tausend ähnliche Dinge geschahen, begannen und endigten in dem lieben alten Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig. Und auf dem Schauplatz dieser Ereignisse traten, während der Holzhauer und der Bauer unbeachtet fortarbeiteten, jene beiden mächtigen Kieferwerke und jenes Paar einfacher schöner Frauengesichter geräuschvoll genug auf und behaupteten ihre göttlichen Rechte mit gewaltiger Hand. So führte das Jahr Eintausendsiebenhundertundfünfundsiebenzig ihre Majestäten sowohl wie die Myriaden kleiner Wesenheiten, darunter auch die Personen unserer Geschichte, dahin auf den vor ihnen liegenden Pfaden.

Viertes Kapitel. Glückwünsche.


Viertes Kapitel. Glückwünsche.

Aus den trübbeleuchteten Gängen des Gerichtshofes suchte der letzte Rest des menschlichen Bratens, der da den ganzen Tag über geschmort hatte, herauszukommen, als Doktor Manette, seine Tochter Lucie Manette, Mr. Lorry, der Verteidiger Mr. Stryver und dessen Adjunkt um den eben auf freien Fuß gesetzten Mr. Darnay herstanden und ihm zu seiner Bewahrung vor dem Tode Glück wünschten.

Es wäre auch bei weit hellerer Beleuchtung schwer gewesen, in Doktor Manette, seinem geistvollen Gesicht und seiner aufrechten Haltung den Schuhmacher aus dem Dachstübchen in Paris zu erkennen. Doch konnte niemand zweimal nach ihm Hinsehen, ohne es wieder und wieder zu tun, selbst wenn sich die Gelegenheit der Wahrnehmung auch nicht auf den wehmütigen Klang seiner leisen, ernsten Stimme und auf den Zug von Zerstreutheit ausdehnte, der in Anfällen ohne einen erkennbaren Grund sein Gesicht umwölkte. Während äußerliche Ursachen, sofern sie in Beziehung zu seinem nachhaltigen Wehe traten, wie zum Beispiel der Kriminalprozeß, stets diesen Zustand aus den Tiefen seiner Seele hervorriefen, konnte er auch von selbst entstehen und ein Düster über ihn hinbreiten, das für die mit seiner Geschichte nicht Bekannten so unbegreiflich war, als hätten sie in einer Sommersonne den Schatten der wirklichen, dreihundert Meilen entlegenen Bastille auf ihm bemerkt.

Nur seine Tochter vermochte dieses finstere Brüten aus seiner Seele zu bannen. Sie war der goldene Faden, der ihn mit einer Vergangenheit jenseits und einer Gegenwart diesseits seines Elends in Verbindung brachte, und der Ton ihrer Stimme, das Leuchten ihres Antlitzes oder die Berührung ihrer Hand übte fast immer einen sehr wohltätigen Einfluß auf ihn. Freilich, unfehlbar war dieser Einfluß nicht, denn sie konnte sich mancher Anlässe erinnern, bei denen er nichts ausrichtete; doch kamen solche Anwandelungen jetzt nur noch selten und in so leichtem Grade vor, daß sie dieselben für überwunden hielt.

Mr. Darnay hatte mit warmem Dank ihre Hand geküßt und dann sich an seinen Verteidiger gewendet, dem er gleichfalls aus tiefer Seele dankte. Mr. Stryver, ein Mann von wenig mehr als dreißig, obschon er um zwanzig Jahre älter aussah, war ein derber, stämmiger, lärmender, rotgesichtiger Mann, dem das Zartgefühl nicht eben viel zu schaffen machte, und er hatte eine Art an sich, moralisch und physisch sich in Gesellschaften und Unterhaltungen hineinzuschultern, die ihm beim Vorwärtskommen in der Welt nicht übel zustatten kam.

Er hatte noch seine Perücke auf und den Mantel an, als er sich neben seinem Klienten in einer Weise aufpflanzte, daß der unschuldige Mr. Lorry ganz aus der Gruppe hinausgeschultert wurde.

»Es freut mich, daß ich Euch mit Ehren davon gebracht habe, Mr. Darnay«, begann er. »Es war ein schändlicher und schamloser Versuch, der aber demungeachtet hätte gelingen können.«

»Ich bin Euch für mein Leben auf dessen ganze Dauer verpflichtet«, sagte der Klient, ihn bei der Hand nehmend.

»Ich habe mein Bestes für Euch getan, Mr. Darnay, und mein Bestes ist, glaube ich, so gut als das irgendeines andern Menschen.«

Da es jetzt irgend jemand oblag zu sagen: »Viel besser«, so übernahm Mr. Lorry diesen Dienst, vielleicht nicht ganz uneigennützig, sondern in der Absicht, sich wieder in die Gesellschaft hineinzubringen.

»Meint Ihr so?« versetzte Mr. Stryver. »Nun, Ihr seid den ganzen Tag zugegen gewesen und müßt es wissen. Schon als Geschäftsmann steht Euch ein Urteil zu.«

»Und als Geschäftsmann«, sagte Mr. Lorry, den der Rechtsgelehrte jetzt wieder in die Gruppe hinein-, wie zuvor hinausgeschultert hatte, »als Geschäftsmann ersuche ich Doktor Manette, diese Konferenz abzubrechen und uns alle nach Haus zu kommandieren. Miß Lucie sieht sehr übel aus, Mr. Darnay hat einen schrecklichen Tag gehabt, und auch wir sind erschöpft.«

»Ihr müßt nur von Euch selber sprechen, Mr. Lorry«, versetzte Stryver, »denn was mich betrifft, so habe ich noch die ganze Nacht durchzuarbeiten.«

»Ich spreche allerdings von mir selber«, antwortete Mr. Lorry, »und auch für Mr. Darnay und Miß Lucie und – glaubt Ihr nicht, Miß Lucie, daß ich von uns allen reden kann?«

Er brachte diese Frage mit besonderem Nachdruck vor und warf dabei einen Blick auf ihren Vater.

Das Gesicht des letzteren war gewissermaßen in der Anschauung von Mr. Darnay erstarrt; es lag ein Zug darauf, in welchem Abneigung, Mißtrauen und sogar Furcht sich zu mischen schien. Und während noch dieser befremdliche Ausdruck auf seiner Stirn lag, waren seine Gedanken weitergewandert.

»Vater«, sagte Lucie, ihre Hand sanft auf die seinige legend.

Er schüttelte langsam den Schatten ab und wandte sich ihr zu.

»Wollen wir nicht nach Hause gehen, Vater?«

Nach einem tiefen Atemzuge antwortete er mit Ja.

Die Freunde des losgesprochenen Angeklagten hatten sich unter dem falschen Eindruck zerstreut, zu dem er selbst Anlaß gegeben, daß er nicht noch am selben Abend auf freien Fuß gesetzt werden dürfte. Die Lichter in den Gängen waren meist erloschen, die eisernen Tore mit großem Lärm geschlossen worden, und der unheimliche Platz schien verödet, bis am andern Morgen das Interesse für Galgen, Pranger, Stäupepfahl und Brandeisen ihn aufs neue bevölkerte, Zwischen ihrem Vater und Mr. Darnay gehend, gelangte Lucie Manette ins Freie. Es wurde eine Mietkutsche angerufen, in der der Doktor mit seinem Kinde von hinnen fuhr.

Mr. Stryver war in dem Gang zurückgeblieben und schickte sich jetzt an, das Ankleidezimmer aufzusuchen. Eine weitere Person, die sich weder der Gruppe angeschlossen noch mit irgend jemand aus derselben ein Wort gewechselt, sondern im tiefsten Schatten des Ganges an der Wand gelehnt hatte, war schweigend den übrigen gefolgt und Zeuge gewesen, wie die Kutsche von dannen rasselte. Jetzt trat sie auf den Platz zu, wo Mr. Lorry und Mr. Darnay beisammenstanden.

»So, Mr. Lorry – können jetzt Geschäftsleute wieder mit Mr. Darnay sprechen?«

Bei Mr. Carton (er war es) hatte sich niemand für seine Beteiligung an dem Gange des Prozesses bedankt, ja, niemand von ihr auch nur etwas gewußt. Er war nicht mehr in seiner Dienstkleidung, und seine Außenseite wurde durch diesen Umstand sicherlich nicht gehoben.

»Ihr würdet lachen müssen, Mr. Darnay«, fuhr er fort, »wenn Ihr wüßtet, zu welchen Kämpfen es bisweilen in einem Geschäftsgeist kommt, wenn dieser zwischen einer Regung der Gutmütigkeit und dem Schein, den der Geschäftsmann wahren soll, in die Klemme kommt.«

Mr. Lorry errötete und entgegnete mit Wärme:

»Ihr habt dies früher schon angedeutet, Sir. Aber Geschäftsleute, die einem Hause dienen, sind nicht ihre eigenen Herren. Sie haben mehr an ihr Haus als an sich selbst zu denken.«

»Ich weiß das, ich weiß das«, versetzte Mr. Carton unbekümmert. »Ihr müßt nicht ärgerlich werden, Mr. Lorry. Ich zweifle nicht, daß Ihr so gut seid wie nur einer, vielleicht sogar besser.«

»Und in der Tat, Sir«, fuhr Mr. Lorry fort, ohne auf ihn zu achten, »ich weiß wahrhaftig nicht, was Euch die Sache angeht. Ihr werdet mir’s zugut halten, wenn ich, der ich so viel älter bin als Sie, mir diese Bemerkung erlaube, denn ich sehe wirklich nicht ein, was Sie für ein Geschäft dabei haben.«

»Geschäft! Gott behüt‘ Euch – ich kein Geschäft!« sagte Mr. Carton.

»Es ist wirklich schade, daß Sie keines haben, Sir.«

»Kommt mir auch so vor.«

»Denn in diesem Falle würden Sie ihm vielleicht nachgehen«, fügte Mr. Lorry bei.

»Gott steh‘ Euch bei, nein, das tät‘ ich nicht«, sagte Mr. Carton.

»Wohlan, Sir«, rief Mr. Lorry, der ob der Gleichgültigkeit des andern ins Feuer geriet, »um ein Geschäft ist es etwas sehr Gutes, etwas sehr Achtbares. Und, Sir, wenn das Geschäft einem Zwang und Schweigen auferlegt oder andere artige Hindernisse bietet, so weiß ein hochherziger junger Gentleman wie Mr. Darnay diesem Umstande Rechnung zu tragen. Mr. Darnay, gute Nacht; Gott behüte Euch, Sir. Ich hoffe, daß mit diesem Tag ein Leben voll Glück und Wohlfahrt für Sie beginnt. – He, eine Sänfte hierher!«

Vielleicht ein wenig ärgerlich über sich selbst wie über den Advokaten, stürmte Mr. Lorry in seine Sänfte hinein und ließ sich zu Tellsons tragen. Carton, der nach Portwein roch und augenscheinlich nicht mehr ganz nüchtern war, lachte ihm nach und wandte sich gegen Darnay:

»Es ist ein seltsamer Zufall, daß wir beide, ich und Ihr, so zusammengeworfen wurden. Oder kommt es Euch nicht auch seltsam vor, daß Ihr in dieser Nacht allein mit Eurem Ebenbild hier auf dem Straßenpflaster steht?«

»Es ist mir noch immer«, erwiderte Charles Darnay, »als gehöre ich noch nicht dieser Welt an.«

»Das nimmt mich nicht wunder, sofern Ihr auf Eurem Weg nach der andern schon ziemlich vorgerückt wart. Eure Stimme klingt schwach.«

»Ich fange an zu fühlen, daß ich selbst auch schwach bin,«

»Dann, warum zum Teufel nehmt Ihr nichts zu Euch? Ich habe gespeist, während jene Hohlschädel miteinander in Erwägung nahmen, welcher Welt sie Euch zuweisen sollen, dieser oder einer andern. Ich will Euch nach einem Gasthaus in der Nähe führen, wo man trefflich bedient wird.«

Er nahm den Arm des anderen und führte ihn Ludgatehill hinab in die Fleetstraße und durch einen gedeckten Gang nach einem Wirtshause, wo ihnen sofort ein kleines Extrazimmer angewiesen wurde. Charles Darnay stärkte sich nun durch ein gutes einfaches Diner und ein Glas guten Weins, wahrend Carton mit seinem halbunverschämten Wesen am nämlichen Tisch hinter seiner eigenen Flasche Portwein ihm gegenüber Platz nahm.

»Fühlt Ihr jetzt, daß Ihr wieder dem irdischen System angehöret, Mr. Darnay?«

»In Beziehung auf Zeit und Ort bin ich noch schrecklich verwirrt: aber es hat sich schon so weit gebessert, daß ich dies fühle.«

»Das muß ein ungemeiner Trost sein.«

Er sprach dies mit Bitterkeit und füllte sein Glas wieder, das zu den großen gehörte.

»Was mich betrifft«, fuhr er fort, »so wünsche ich nichts sehnlicher, als zu vergessen, daß ich auch ein Glied dieses Systems bin; denn mir bietet es – etwa mit Ausnahme dieses Weines – nichts Gutes und ich ihm nichts. In dieser Beziehung sind wir einander ziemlich gleich. Indes fange ich an zu glauben, daß wir beide, Ihr und ich, in keiner Beziehung eine große Ähnlichkeit haben.«

Noch von der Aufregung des Tages verwirrt und seinem rohen Doppelgänger gegenüber sich wie in einem Traume befangen fühlend, wußte Charles Darnay nicht, wie er antworten sollte, weshalb er es lieber ganz unterließ.

»Ihr seid jetzt fertig mit Eurem Diner«, fuhr Carton fort. »Warum bringt Ihr nicht eine Gesundheit, einen Toast aus, Mr. Darnay?«

»Wessen Gesundheit – was für einen Toast?«

»Ei, er liegt Euch auf der Zungenspitze – es muß so sein: ich will darauf schwören.«

»Miß Manette also.«

»Ja, Miß Manette.«

Carton schleuderte, seinem trinkenden Gefährten voll ins Gesicht sehend, das geleerte Glas über seine Schultern gegen die Wand, wo es in hundert Stücke zersplitterte, rührte dann die Klingel und ließ sich ein anderes bringen.

»’s ist was drum, im Dunkeln einer schönen Dame in die Kutsche zu helfen, Mr. Darnay«, sagte er, sein neues Glas füllend.

Ein leichtes Stirnrunzeln und ein lakonisches Ja war die Antwort.

»’s ist was drum, von einer schönen jungen Dame bemitleidet und beweint zu werden. Wie fühlt man sich dabei? Verlohnt sich’s, um der Gegenstand solcher Teilnahme und solchen Mitgefühls zu werden, der Mühe, einen Halsprozeß durchzumachen, Mr. Darnay?«

Abermals blieb Darnay die Antwort schuldig.

»Sie war ungemein erfreut über das, was ich ihr in Eurem Namen ausrichtete. Nicht daß sie dies äußerlich gezeigt hätte; aber ich vermute es.«

Diese Anspielung diente dazu, Darnay rechtzeitig daran zu erinnern, daß der widerwärtige Gefährte doch aus freien Stücken ihm in der Not des Tages Beistand geleistet hatte; er brachte deshalb das Gespräch auf diesen Gegenstand und drückte ihm seinen Dank aus.

»Ich verlange keinen Dank und verdiene auch keinen«, lautete die unbekümmerte Erwiderung. »Erstlich kostete mich’s keine Mühe, und zweitens weiß ich nicht, warum ich’s tat. Mr. Darnay, erlaubt mir eine Frage.«

»Recht gerne; es ist ein karger Lohn für Eure guten Dienste.«

»Glaubt Ihr, daß ich einen besonderen Gefallen an Euch finde?«

»In der Tat, Mr. Carton«, entgegnete der andere verblüfft, »ich habe mir diese Frage selbst noch nicht vorgelegt.«

»So tut es jetzt.«

»Ihr habt gehandelt, als ob es der Fall sei; und doch glaube ich nicht recht daran.«

»Ich auch nicht«, sagte Carton. »Ich fange an, eine sehr gute Meinung von Eurem Verstand zu gewinnen.«

»Es liegt jedoch, hoff‘ ich, nichts Arges darin«, fuhr Darnay fort, indem er sich erhob, um die Klingel zu ziehen, »wenn ich die Rechnung verlange, damit wir beide ohne Groll voneinander scheiden können.«

Carton entgegnete: »Nicht im geringsten«, und Darnay klingelte. – »Verlangt Ihr die ganze Rechnung?« fragte Carton – und fuhr auf das Ja des andern fort: »So bringt mir noch eine Pinte von diesem Wein, Kellner, und kommt um zehn Uhr zurück, um mich zu wecken.«

Nach Berichtigung der Rechnung erhob sich Charles Darnay und wünschte ihm gute Nacht. Ohne den Wunsch zu erwidern, stand Carton gleichfalls auf und sagte mit einem Anflug von Trotz oder Drohung:

»Noch ein letztes Wort, Mr. Darnay – haltet Ihr mich für betrunken?«

»Ich glaube, Ihr habt getrunken, Mr. Carton».«

»Glauben? Ihr wißt ja, daß ich getrunken habe.«

»Wenn Ihr es durchaus verlangt, so kann ich ja sagen, daß ich es weiß.«

»Und Ihr sollt nun auch erfahren, warum. Ich bin ein in seinen Hoffnungen getäuschtes Lasttier. Ich kümmere mich um keinen Menschen auf Erden, und kein Mensch auf Erden kümmert sich um mich.«

»Das ist sehr zu bedauern. Ihr hättet Eure Talente besser verwenden sollen.«

»Kann sein, Mr. Darnay; vielleicht auch nicht. Indes braucht Ihr Euch wegen Eures nüchternen Gesichtes nicht zu überheben; Ihr wißt nicht, was noch darüber kommen kann. Gute Nacht.«

Sobald dieses seltsame Wesen allein war, nahm es ein Licht auf, trat damit vor den Spiegel an der Wand und betrachtete sich dann aufs genaueste.

»Gefällt dir der Mensch so besonders?« murmelte er seinem Bilde zu. »Warum solltest du eine besondere Zuneigung zu einem Menschen haben, der dir ähnlich ist? Du weißt, du hast nichts Liebenswürdiges an dir. Ah, hol‘ dich der Henker, welche Veränderung hast du mit dir vorgenommen! Ein guter Grund, dich an einen Menschen zu halten, um stets vor Augen zu haben, wie tief du gesunken bist, und was du hättest sein können! Hättest du an seiner Stelle gestanden, hätten dich dann jene blauen Augen auch so angeblickt und das aufgeregte Gesicht so bemitleidet? Na, sprich’s nur aus in einfachen Worten – du hassest diesen Kerl,«

Er erholte sich weiteren Trostes bei seiner Pinte Wein, die er in wenigen Minuten leerte; dann schlief er ein, den Kopf auf die Arme gesenkt und das Haar über den Tisch hinstrobelnd, während nach seiner Seite hin ein langes Leichentuch von der Kerze abtropfte.

Fünftes Kapitel. Der Schakal.


Fünftes Kapitel. Der Schakal.

Es war eine trinklustige Zeit, und die meisten Männer tranken. Seitdem ist es in dieser Beziehung so viel besser geworden, daß in unsern Tagen eine mäßige Angabe der Menge von Wein und Punsch, die einer im Laufe der Nacht zu sich nehmen durfte, ohne den Ruf eines vollkommenen Gentleman zu schädigen, als eine lächerliche Übertreibung erscheinen würde. Die Rechtsgelehrsamkeit blieb in ihrer Liebhaberei für den Bacchusdienst hinter keiner der übrigen gelehrten Berufsarten zurück, und auch Mr. Stryver, der sich bereits in eine schöne und einträgliche Praxis hineingeschultert hatte, stand in dieser Beziehung seinen Kollegen so wenig nach als in den trockenen Partien des juridischen Wettrennens.

Ein Liebling zu Old Bailey und sogar in den Sessionen, hatte Mr. Stryver vorsichtig angefangen, die niederen Sprossen der Leiter, auf der er hinanstieg, abzubrechen. Die Sessionen und Old Bailey mußten namentlich jetzt die sehnsüchtigen Arme nach dem Liebling ausstrecken, und man konnte mit jedem Tag Mr. Stryvers rotem Gesicht begegnen, wie es aus dem Beet von Perücken, einer großen Sonnenblume ähnlich, die aus einem Garten voll grellfarbiger Kameraden dem Gestirn des Tages entgegenschoß, sich vor das Antlitz des Lord Oberrichters in dem Gerichtshof des Kings-Bench hinschulterte.

Seine Zunftgenossen wollten einmal die Wahrnehmung gemacht haben, Mr. Stryver sei zwar ein glatter, schnellfertiger, kühner und keine Skrupel kennender Mann; aber es fehle ihm doch an dem für einen Advokaten so wichtigen und notwendigen Geschick, aus einer Summe von Angaben das Wesentliche zusammenzufassen. In dieser Hinsicht hatte er sich jedoch merkwürdig vervollkommnet. Je mehr er ins Geschäft hineinkam, desto mehr schien sein Vermögen, aufs Mark einer Sache einzugehen, zuzunehmen, und wie spät er auch in die Nacht hinein mit Sydney Carton zechte, ging es bei ihm des andern Morgens doch wie am Schnürchen.

Sydney Carton, ein Faulpelz, von dem sich kein Mensch etwas versprach, war Stryvers großer Bundesgenosse. Was von den beiden zwischen Sankt Hilari und Michaelis zusammengetrunken wurde, hätte ein Kriegsschiff flottmachen können. Stryver hatte nie eine Verhandlung, ohne daß Carton mit den Händen in den Rocktaschen dabei war und die Decke des Gerichtssaals anstierte. Sie trennten sich selbst bei den Wander-Assisen nicht und hielten auch während dieser ihre gewöhnlichen Orgien bis tief in die Nacht hinein: ja, man sagte Carton sogar nach, daß man ihn gelegentlich bei hellem Tag unsteten Tritts und verstohlen wie einen ausschweifenden Kater nach Hause habe schleichen sehen. Endlich begann unter denen, die sich für die, Sache interessierten, die Ansicht in Umlauf zu kommen, Sydney Carton werde zwar nie einen Löwen geben, sei aber ein erstaunlich guter Schakal und leiste Mr. Stryver in dieser bescheidenen Eigenschaft Dienst und Folge.

»Zehn Uhr, Sir«, sagte der mit dem Wecken beauftragte Kellner. »Zehn Uhr, Sir.«

»Was gibt’s?«

»Zehn Uhr, Sir.«

»Was meint Ihr damit? Zehn Uhr nachts?«

»Ja, Sir. Euer Ehren haben befohlen. Euch zu wecken.«

»Ah, ich erinnere mich. Gut; sehr gut.«

Nach einigen trägen Versuchen, wieder einzuschlafen, die der Kellner geschickt durch ein anhaltendes und fleißiges Schüren im Feuer bekämpfte, stand er auf, drückte sich den Hut auf den Kopf und ging fort. Er bog gegen den Temple hin ein und begab sich, nachdem er, um sich aufzufrischen, zweimal den Spazierweg an dem Kings-Bench abgeschritten hatte, nach Stryvers Wohnung.

Stryvers Schreiber, der den nächtlichen Konferenzen nie beiwohnte, war nach Hause gegangen, und der Prinzipal öffnete selbst die Tür. Letzterer hatte Pantoffeln und einen weiten Schlafrock an und trug größerer Bequemlichkeit halber kein Halstuch. Er hatte einen gewissen wilden, schlaffen, welken Zug um die Augen, den man bei allen Libertinen seiner Klasse wahrnimmt, und der sich von dem Porträt des Jeffrins abwärts unter verschiedenen künstlerischen Verhüllungen durch alle Porträte jener trinkseligen Periode verfolgen läßt.

»Du bist ein wenig spät gekommen, Memory«, sagte Stryver.

»Um die gewöhnliche Zeit; vielleicht ein Viertelstündchen später.«

Sie begaben sich in ein rauchbraunes, von einem lodernden Feuer erwärmtes Zimmer mit Büchersimsen und umhergestreuten Akten. Ein Kessel dampfte auf dem Feuer, und mitten in dem Aktenwust stand einladend ein Tisch mit einem reichlichen Vorrat von Wein, Branntwein, Rum, Zucker und Zitronen.

»Ich sehe, du führst schon deine Flasche, Sydney.«

»Ihrer zwei sogar, heute abend, denk‘ ich. Ich habe mit dem Klienten des Tags diniert, oder doch seinem Diner zugesehen – es kommt auf eins hinaus.«

»Das war ein feiner Zug, Sydney, den du für die Identifizierung einführtest. Wie bist du darauf gekommen? Wann fiel dir’s ein?«

»Ich dachte, er sei ein ziemlich hübscher Bursche, und es kam mir dabei der Gedanke, ich könnte nahezu auch so ein Kerl sein, wenn ich nur ein bißchen Glück gehabt hätte.«

Mr. Stryver lachte, daß ihm der frühreife Bauch schütterte. »Du und dein Glück, Sydney! Komm – ans Werk, ans Werk.«

Mit ziemlich verdrießlicher Miene erleichterte sich der Schakal seines Anzugs, ging in ein anstoßendes Zimmer und kam mit einem großen Krug kalten Wassers, einem Becken und ein paar Handtüchern wieder zurück. Er tauchte letztere ins Wasser, wrang sie ein wenig aus, belegte sich damit den Kopf, daß er ganz abscheulich anzusehen war, nahm an dem Tisch Platz und sagte:

»So; jetzt bin ich bereit.«

»Heute nacht gibt’s nicht viel zu kochen, Memory«, sagte Mr. Stryver heiter, während er sich unter seinen Papieren umsah.

»Wieviel?«

»Nur zwei Gänge.«

»Gib mir den schlimmsten zuerst.«

»Hier ist er, Sydney. Losgefeuert!«

Der Löwe machte sich’s auf einem Sofa hinter dem Trinktisch bequem, während der Schakal an einem andern sich niederließ, der mit Papieren bestreut war, aber doch in handgerechter Nähe der Flaschen und Gläser stand. Beide langten nicht kärglich zu, doch jeder in einer andern Weise. Der Löwe war meist zurückgelehnt, hatte die Hände in der Hosentasche stecken und schaute ins Feuer oder kokettierte gelegentlich mit einem kleineren Aktenstück; der Schakal dagegen war bald mit den gefurchten Zügen gespannter Aufmerksamkeit so sehr in sein Geschäft vertieft, daß seine Augen nicht der nach dem Glas sich ausstreckenden Hand folgten und er oft lange umhertasten mußte, bis er es an die Lippen führen konnte. Zwei- oder dreimal wurde der Gegenstand der Beschäftigung so schwierig, daß der Schakal die gebieterische Notwendigkeit einsah, aufzustehen und seine Tücher frisch anzufeuchten. Von diesen Wallfahrten zum Krug und Becken kehrte er mit einem so merkwürdigen feuchten Kopfzierat zurück, daß keine Worte ihn zu beschreiben vermögen; er nahm sich darin um so komischer aus, als das ernste, nachdenkende Gesicht so schroff dagegen abstach.

Endlich hatte der Schakal einen soliden Imbiß für den Löwen beisammen und bot ihm denselben an. Der Löwe nahm ihn bedächtig und vorsichtig hin, traf da und dort eine Auswahl und machte seine Bemerkungen darüber, wobei der Schakal treulich Beihilfe leistete. Nachdem der Imbiß gehörig bearbeitet war, steckte der Löwe seine Hände wieder in die Hosentasche und legte sich nieder, um nachzudenken. Der Schakal bediente jetzt seine Kehle mit ordentlichen Zügen und seinen Kopf mit einer frischen Anfeuchtung, worauf er ein zweites Mahl zu sammeln sich anschickte. Dieses präsentierte er schließlich dem Löwen in der früheren Weise, und es wurde drei Uhr morgens, bis auch das zweite versorgt war.

»Und nun wir fertig sind, füllst du deinen Humpen mit Punsch, Sydney,« sagte Mr. Stryver.

Der Schakal nahm die Tücher von seinem dampfenden Kopf, schüttelte sich, gähnte, schauderte und tat, wie ihm geheißen worden.

»Du bist heute in der Sache jener Kronzeugen sehr gut gewesen, Sydney. Jede Frage hat verfangen.«

»Bin ich nicht immer gut?«

»Dem will ich nicht widersprechen. Doch warum bist du heute so rauhborstig? Hilf mit Punsch nach, daß du geschmeidiger wirst.«

Der Schakal ließ ein verwahrendes Grunzen vernehmen und gehorchte abermals.

»Der alte Sydney Carton von der alten Shrewsbury-Schule«, sagte Stryver, mit dem Kopfe nickend, als er die Gegenwart seines Gefährten mit dessen Vergangenheit verglich, »die alte Schaukel Sydney. In der einen Minute oben, in der andern drunten, in dem einen Augenblicke heiter, im andern verzweifelnd.«

»Ach«, entgegnete der andere seufzend, »freilich derselbe Sydney mit dem nämlichen Glück. Damals schon machte ich andern Knaben ihre Aufgaben und kam selten an die meinigen.«

»Und warum nicht?«

»Das weiß Gott. Ich glaube, es lag in meiner Natur.«

Er steckte die Hände in die Taschen, streckte die Füße vor sich aus und sah ins Feuer.

»Carton«, sagte sein Freund, sich mit einer eisenfresserischen Miene erhebend, als sei der Kaminrost die Esse, in der feste Entschlüsse geschmiedet würden, und als fordere es die Freundschaftspflicht von ihm, den alten Sydney Carton von der alten Shrewsbury-Schule hineinzuschultern. »Deine Natur ist und war immer eine lahme. Du bietest keine Willenskraft, keine Energie auf. Sieh mich an.«

»Pah, Possen!« entgegnete Sydney mit einem leichteren und gutmütigeren Lachen; » du wirst doch nicht moralisieren wollen?« »Wie hab‘ ich’s gemacht um durchzugreifen?« sagte Stryver. »Und wie mach‘ ich’s noch immer?«

»Ich denke, du bezahlst mich, daß ich dir helfe. Aber es ist in die Luft gesprochen, wenn du mir mit solchen Vorstellungen kommst. Was du von mir verlangst, das tu‘ ich. Du warst immer in der Vorderreihe und ich in der hintern.«

»Ich mußte in die Vorderreihe zu kommen suchen; wurde ich denn darin geboren?«

»Ich bin bei der Feierlichkeit nicht zugegen gewesen, möchte es aber fast glauben«, sagte Carton. Er lachte wieder, und sein Kamerad lachte mit.

»Vor Shrewsbury, in Shrewsbury und seit Shrewsbury«, fuhr Carton fort, »bist du immer vorn gewesen. Selbst als wir im Quartier latin miteinander Französisch, französisches Recht und anderes französisches Zeug studierten, aus dem wir nicht eben viel Gutes holten, warst du immer irgendwo, und ich immer nirgends.«

»An wem lag die Schuld?«

»Meiner Seele, ich weiß nicht, ob ich sie nicht dir zuschreiben muß. Du hast immer so für dich gedrängt, getrieben und geschultert, daß mir nichts übrig blieb als Rost und Ruhe, ’s ist übrigens etwas Trübseliges, bei anbrechendem Tag von seiner Vergangenheit zu reden. Bring‘ mich in eine andere Stimmung, eh‘ ich gehe.«

»Wohlan denn, stoß‘ mit mir an – der schöne Zeuge!« sagte Stryver, ihm das Glas hinhaltend. »Bringt dich dies nicht in einen angenehmeren Humor?« Augenscheinlich nicht, denn er wurde immer düsterer.

»Schöner Zeuge«, brummte er, in sein Glas hineinsehend. »Ich habe den Tag über und heute nacht genug mit Zeugen zu schaffen gehabt. Wer ist dein schöner Zeuge?«

»Die malerische Doktorstochter, Miß Manette.«

»Die und schön?« ‚

»Ist sie’s nicht?«

»Nein.«

»Ei, Mensch, was fällt dir ein? Sie war ja ein Gegenstand der Bewunderung für das ganze Gericht!«

»Zur Hölle mit der Bewunderung des ganzen Gerichts! Was versteht Old Bailey von Schönheit? Sie war eine goldhaarige Puppe.«

»Laß dir was sagen, Sydney«, bemerkte Mr. Stryver, ihn scharf ansehend und mit der Hand langsam über sein blühendes Gesicht fahrend, »laß dir was sagen: es kam mir einmal vor, als sympathisiertest du mit der goldhaarigen Puppe. Hast du nicht im Augenblick bemerkt, was der goldhaarigen Puppe zustieß?«

»Was willst du damit? Wenn einem ein Mädel, sei’s eine Puppe oder nicht, einen Schritt oder zwei vor der Nase in Ohnmacht fallen will, so sieht man dies ohne ein Perspektiv. Ich stoße mit dir an, stelle aber die Schönheit in Abrede. Und nun mag ich nicht mehr trinken; ich will zu Bett gehen.«

Als ihm sein Wirt nach der Treppe hinausleuchtete, schaute der Tag bereits frostig durch die matten Fensterscheiben herein. Draußen war die Luft kalt und traurig, der Himmel grau überlaufen, der Fluß trübe, und die ganze Umgebung nahm sich wie eine leblose Wüste aus. Im Morgenwind wirbelten Staubkreise dahin, als habe in der Ferne der Wüstensand sich erhoben und beginne mit seiner ersten Sprüh die Stadt zu überschütten.

Öd liegende Kräfte in seinem Innern und eine Öde rings um ihn her. Er blieb auf seinem Weg über eine stille Terrasse stehen und erschaute in der Wüste vor ihm für einen Augenblick eine Luftspiegelung von ehrenhaftem Streben, Selbstverleugnung und Beharrlichkeit. In der schönen Stadt, die als Fata Morgana vor ihm schwebte, gab es luftige Galerien, von denen Amoretten und Grazien auf ihn niederschauten, Gärten, in denen die Früchte des Lebens reiften, und Springquellen, die vor lauter Hoffnung funkelten. Einen Augenblick, und es war vorbei. Er stieg in einem Häuserbrunnen nach einer hohen Kammer hinan, warf sich angekleidet auf ein vernachlässigtes Bett und netzte das Kissen mit fruchtlosen Tränen.

Traurig ging die Sonne auf: aber sie erhob sich über keinen traurigeren Anblick als über den Mann von guten Anlagen und edlen Gefühlen, der seine Fähigkeiten nicht zu verwenden und sich selbst nicht zu helfen vermochte, sondern im Bewußtsein des auf ihm haftenden Moders sich darein ergab, vollends von ihm aufgezehrt zu werden.

Sechstes Kapitel. Hunderte von Leuten.


Sechstes Kapitel. Hunderte von Leuten.

Die ruhige Wohnung des Doktors Manette befand sich an der Ecke einer stillen Straße, nicht weit von Soho-Square. An einem schönen Sonntagnachmittag – es waren bereits die Wellen von vier Monaten über den Hochverratsprozeß dahingegangen und hatten ihn, sofern das öffentliche Interesse und die Erinnerung daran in Frage kam, weit in die hohe See entführt – wanderte Mr. Jarvis Lorry von seiner Wohnung in Klerkenwall aus durch die sonnigen Straßen, um bei dem Doktor zu speisen. Nach mehreren Rückfällen ausschließlicher Vertiefung ins Geschäft war Mr. Lorry endlich des Doktors Freund geworden, und die stille Straßenecke bildete den sonnigen Teil seines Lebens.

An dem gedachten schönen Sonntag wanderte Mr. Lorry aus drei Gewohnheitsgründen früh am Nachmittag Soho zu: erstlich weil er gerne an schönen Sonntagen vor dem Diner mit dem Doktor und Lucie einen Spaziergang zu machen pflegte; zweitens weil er an unschönen Sonntagen daran gewöhnt war, als Hausfreund mit ihnen zu plaudern, zu lesen, zum Fenster hinauszuschauen und so in der Regel den ganzen Tag hinzubringen: und drittens, weil er zufällig einige eigene schlaue Zweifel zu lösen hatte und ihm bekannt war, daß er in der Weise, wie man im Hause des Doktors lebte, wahrscheinlich dort am ehesten Zeit für diese Lösung fand.

Ein niedlicheres Eckhaus als das, in dem der Doktor wohnte, gab es in ganz London nicht. Es ging kein Weg da durch, und die Vorderfenster von des Doktors Wohnung beherrschten eine angenehme kleine Aussicht auf eine Straße, die so recht gemütlich abgeschieden aussah. Nördlich von dem Oxforder Wege standen damals noch nicht viele Häuser, und auf den jetzt verschwundenen Feldern sah man Waldbäume sich erheben, wilde Blumen aufschießen und den Weißdorn blühen. Eine Folge davon war, daß in Soho die Landluft in kräftigender Freiheit sich umtrieb und nicht in das Kirchspiel hineinschlich wie verirrte obdachlose Arme. Auch sah man manche südlich gelegene Mauer, an deren Spalieren zur geeigneten Jahreszeit Pfirsiche hingen.

In der früheren Tageszeit hatte die Ecke eine prächtige Sommerbeleuchtung, aber wenn die Straßen heiß wurden, trat sie in den Schatten, doch nicht so sehr, daß man nicht darüber Hinaus in ein Lichtmeer hätte schauen können. Es war ein kühles Plätzchen, gesetzt, aber doch zugleich heiter, ein wundervoller Platz für Widerhalle und ein wahrer Sicherheitshafen gegen die tobenden Wogen in den Straßen.

An einem solchen Ankerplatz konnte man mit Recht eine ruhige Barke erwarten, und sie war auch vorhanden. Der Doktor bewohnte zwei Stockwerke eines großen stillen Hauses, in dem den Tag über angeblich mehrere Berufsarten verfolgt wurden, obschon man nur wenig davon hörte, und nachts alles ausgeflogen zu sein schien. In einem Gebäude an der Hinterseite, zu dem man über einen Hof mußte, wo die grünen Blätter einer Platane im Wind rauschten, wurde, wie es den Anschein hatte, Kirchenorgelbau betrieben und Silberschmelz gefertigt, ferner Gold geschlagen von einem geheimnisvollen Riesen, der mit einem goldenen Arme durch die Vordermauer durchgefahren war, als habe er sich selbst so kostbar zerklopft und drohe allen Besuchern mit einer ähnlichen Umwandlung. Doch sah oder hörte man nur wenig von diesen Gewerben, ebensowenig wie von dem einsamen Mietsmann, der eine Treppe hoch wohnte, oder von dem blödsichtigen Kutschenstaffierer, der unten sein Kontor haben sollte. Hin und wieder legte wohl ein einzelner Arbeiter seinen Rock an und kam durch die Halle, sah sich zufälligerweise ein Fremder darin um, vernahm man über den Hof herüber ein fernes Klimpern oder hörte man einen Puff des goldenen Riesen. Dies waren jedoch nur Ausnahmen, die zur Bestätigung der Regel dienten, daß auf der Platane hinter dem Haus das Volk der Sperlinge und an der Ecke vor demselben das Echo unbestrittene Herrschaft übte, vom Sonntagmorgen an bis zum Samstagabend.

Doktor Manette empfing hier die Patienten, die ihm sein alter Ruf oder die Wiederbelebung desselben durch die umlaufenden Gerüchte über seine Schicksale zuführte. Sein Wissen, seine Aufmerksamkeit und sein Geschick in Durchführung sinnreicher Versuche führte ihm auch in anderer Beziehung einige Kundschaft zu, so daß er bald verdiente, was er brauchte.

Von alledem hatte Mr. Jarvis Lorry Kunde, und seine Gedanken waren eben damit beschäftigt, als er an dem schönen Sonntagnachmittag die Klingel vor der Tür des stillen Eckhauses anzog.

»Doktor Manette zu Hause?«

Wurde zurückerwartet.

»Miß Proß zu Hause?«

Möglich; doch wußte das Stubenmädchen nicht im voraus, ob Miß Proß den Tatbestand zuzugeben oder abzuleugnen geneigt war.

»Ich bin selbst hier zu Haus und werde hinaufgehen«, sagte Mr. Lorry.

Obschon die Tochter des Doktors nichts von ihrem Geburtslande gesehen hatte, schien doch das Geschick, aus wenigem viel zu machen – ein ebenso angenehmer wie nützlicher Zug im Charakter der Französinnen – mit der Luft ihr angeflogen zu sein. Das Möbelwerk wurde bei all seiner Einfachheit sehr gehoben durch unterschiedliche kleine Verzierungen, die nur durch die geschmackvolle Anordnung Wert erhielten und einen recht angenehmen Eindruck machten. Die Aufstellung der Gegenstände in den Zimmern, vom größten an bis zum kleinsten, die Verteilung der Farben und die zierliche Abwechslung, die eine geschickte Hand, ein klares Auge und ein feiner Sinn durch den Gegensatz selbst mit Kleinigkeiten zu erzielen gewußt hatten, wirkten so gewinnend und verdankten dem Geist der Ordnerin ein so eigentümliches Gepräge, daß sogar die Stühle und die Tische unsern Freund Lorry, wie er umherschauend dastand, mit einem Anflug von jenem ihm mit der Zeit so geläufig gewordenen Gesichtsausdruck zu fragen schienen, wie es ihm hier gefalle.

Es waren drei ineinandergehende Zimmer auf dem Boden, und ihre Türen standen offen, damit die Luft frei durchstreichen konnte. Mr. Lorry trat von dem einen ins andere und machte sich lächelnd Gedanken über die Ähnlichkeit, die er in allem um ihn her mit Miß Manette zu finden glaubte. Das erste Zimmer war das beste; in ihm befanden sich Luciens Vögel, ihre Blumen und Bücher, ihr Schreibpult und Arbeitstisch und ein Kistchen mit Wasserfarben. Das zweite diente dem Doktor als Ordinationszimmer und wurde außerdem zum Speisen benutzt. In dem dritten, in welches die rauschende Platane ihre zitternden Schatten warf, stand das Bett des Doktors,, und dort in einer Ecke die nicht mehr gebrauchte Schuhmacherbank mit dem Handwerkszeug, gerade so wie wir sie im fünften Stock jenes unheimlichen Hauses neben dem Weinschank in der Vorstadt Saint Antoine zu Paris gesehen haben.

»Es wundert mich«, sagte Mr. Lorry, davor stehenbleibend, »daß er diesen Mahner an seine Leiden beibehält.«

»Was ist da zu verwundern?« lautete eine Frage, die so plötzlich sein Ohr traf, daß er darob zusammenfuhr.

Sie ging von Miß Proß aus, der wildaussehenden und selbst bis auf die Haare roten Weibsperson mit der kräftigen Hand, deren Bekanntschaft er ursprünglich zu Dover im Hotel König Georg gemacht und seitdem weiter ausgebildet hatte.

»Ich meinte«, begann Mr. Lorry.

»Pah, wer wird meinen«, unterbrach ihn Miß Proß, und Mr. Lorry enthielt sich einer weiteren Kundgebung.

»Wie geht’s Euch?« fragte sodann die Dame in einem scharfen Tone, zugleich aber mit einem Beiklang, der andeutete, daß sie keinen Groll gegen ihn hege.

»Ziemlich gut; ich danke Euch«, antwortete Mr. Lorry bescheiden. »Und wie befindet Ihr Euch?«

»Kann’s nicht rühmen«, versetzte Miß Proß.

»Wirklich?«

»Jawohl!« erwiderte Miß Proß. »Ich bin sehr in Not wegen meinem Täubchen.«

»Wirklich?«

»Um’s Himmels willen, sagt doch einmal etwas anderes als ‚wirklich‘, oder Ihr bringt mich damit unter den Boden«, entgegnete Miß Proß kurz angebunden.

»In der Tat also?« sagte Mr. Lorry, um seine Sache besser zu machen.

»In der Tat ist schlimm genug, aber ich will mir’s gefallen lassen«, versetzte Miß Proß. »Ja, ich bin sehr bekümmert.«

»Darf ich um den Grund fragen?«

»Ich brauche nicht die Dutzende von Leuten hier, die meines Täubchens gar nicht würdig sind, aber gleichwohl herkommen, um nach ihm zu sehen«, sagte Miß Proß.

»Finden sich denn so viele in dieser Absicht ein?«

»Hunderte«, sagte Miß Proß.

Die Dame hatte die Eigenheit, der man auch sonst häufig genug begegnet, daß sie eine ursprüngliche Behauptung, wenn man sie in Zweifel zog, erst recht übertrieb.

»Du mein Himmel!« rief Mr. Lorry, der nichts Besseres darauf zu erwidern wußte.

»Ich lebte von ihrem zehnten Jahre an bei dem Herzblättchen – oder vielmehr, das Herzblättchen hat so lang bei mir gelebt und mich dafür bezahlt, was sie sicherlich – Ihr könnt einen Eid darauf ablegen – nun und nimmermehr hätte tun sollen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie und mich auch so fortzubringen. Und das ist in der Tat sehr hart«, sagte Miß Proß.

Mr. Lorry, der nicht recht darüber ins klare kommen konnte, was sehr hart war, schüttelte den Kopf, indem er sich dieses wichtigen Teils seines Ichs sozusagen als eines Feenmantels bediente, der überall paßte.

»Stets tauchen Leute aller Art auf, die meines Täubchen« durchaus nicht würdig sind«, sagte Miß Proß. »Als Ihr damit anfingt–«

»Ich hätte damit angefangen, Miß Proß?«

»Etwa nicht? Wer hat denn ihren Vater wieder unter die Lebendigen gebracht?«

»Oh! Wenn dies der Anfang ist –« sagte Mr. Lorry.

»Es war doch nicht das Ende, schätz‘ ich. Ich sage, als Ihr damit anfingt, war es schon hart genug. Nicht daß ich etwas anderes gegen ihn auszusetzen hätte, als daß er eine solche Tochter nicht verdient, und dies ist keine üble Nachrede, denn es stand nicht zu erwarten, daß irgendein Mensch wert sein konnte, ihr Vater zu heißen. Aber zwei- und dreimal hart ist’s, daß nach ihm, dem ich noch hätte vergeben können, ganze Schwärme von Leuten hierherkamen, um mir die Liebe meines Täubchens zu entziehen.«

Mr. Lorry wußte, daß Miß Proß sehr eifersüchtig war, hatte aber auch unter der rauhen Oberfläche eines von jenen uneigennützigen Geschöpfen kennengelernt, die man nur bei dem Frauengeschlecht findet, und die sich freiwillig aus lauterer Anhänglichkeit und Liebe sklavisch fesseln an die Jugend, die für sie entschwunden ist, an die Schönheit, die sie nie besaßen, an Vollkommenheiten, die zu erringen sie nie so glücklich waren, und an glänzende Hoffnungen, die nie den düstern Pfad ihres eigenen Lebens erhellten. Er kannte die Welt hinreichend, um zu wissen, daß nichts über den treuen Dienst des Herzens geht, und da ihm derselbe hier so rein und fleckenlos entgegentrat, so zollte er ihm auch eine so hohe Verehrung, daß er in der Vergeltungsstufenleiter, die er in seinem Innern sich ausdachte – wir alle entwerfen uns solche Skalen –, Miß Proß den niederen Engeln viel näher stellte als viele durch Natur und Kunst unendlich mehr begünstigte Damen, die ein Konto bei Tellsons hatten.

»Es hat nur einen einzigen Mann gegeben, und außer ihm gibt’s keinen mehr, der meines Täubchens würdig gewesen wäre«, sagte Miß Proß; »ich meine damit meinen Bruder Salomon und beklage nur, daß ihm ein Unglück passiert ist.«

Auch in diesem Punkt hatte Mr. Lorry durch Erkundigungen über Miß Proß‘ persönliche Geschichte die Tatsache ermittelt, daß ihr Bruder Salomon ein herzloser Wicht war, der sie durch törichte Spekulationen um ihr ganzes Vermögen gebracht und ohne Gewissensbisse für immer der Armut preisgegeben hatte. Der treue Glaube der Miß Proß an Salomon aber, der nur durch das kleine Ungeschick einen leichten Abtrag erlitten, erschien in Mr. Lorrys Augen als ein ernster Umstand und trug nicht wenig dazu bei, seine gute Meinung von ihr zu erhöhen.

»Da wir im Augenblick allein und beide Geschäftsleute sind«, sagte er, als sie in das erste Zimmer zurückgekehrt waren und sich freundschaftlich einander gegenübergesetzt hatten, »so erlaubt Ihr mir wohl eine Frage: kommt der Doktor, wenn er mit Lucie spricht, nie auf die Zeit seiner Schuhmacherei zu reden?«

»Nie!«

»Und doch behält er jene Bank und das Handwerkszeug bei sich?«

»Ja«, entgegnete Miß Proß, den Kopf schüttelnd: »aber aus seinem Schweigen folgt noch nicht, daß er sich nicht in Gedanken damit zu schaffen macht.«

»Glaubt Ihr, daß er oft daran zurückdenkt?«

»Ja«, sagte Miß Proß.

»Und bildet Ihr Euch ein –« begann Mr. Lorry aufs neue, wurde aber hastig von Miß Proß unterbrochen. »Ich bilde mir nie etwas ein – habe keine Einbildungskraft.« »Ich lasse mich zurechtweisen. Vermutet Ihr –so weit kommt’s doch hin und wieder bei Euch, daß Ihr vermutet?«

»Bisweilen«, sagte Miß Proß.

»Vermutet Ihr also«, fuhr Mr. Lorry mit einem heitern Zwinkern seines hellen Auges fort, wahrend er sie zugleich freundlich ansah, »daß Doktor Manette aus dieser langen Zeit sich die Erinnerung an die Ursache seiner Unterdrückung bewahrt oder wohl gar den Namen seines Bedrückers behalten hat?«

»Ich vermute hierüber nichts, als was mir mein Täubchen sagt.«

»Das wäre?«

»Sie glaubt, daß dies wirklich der Fall ist.«

»Seid nicht ungehalten, daß ich alle diese Fragen an Euch richte, denn ich bin nur ein einfältiger Geschäftsmann, und Ihr seid eine Geschäftsfrau.«

»Auch einfältig?« fragte Miß Proß heiter.

Mr. Lorry, der gern das bescheidene Beiwort weggewünscht hätte, entgegnete:

»Nein, nein: gewiß nicht. Um auf die Sache zurückzukommen – ist es nicht merkwürdig, daß Doktor Manette, von dem wir alle vollkommen überzeugt sind, daß er kein Verbrechen begangen haben kann, nie auf diesen Punkt eingeht? Ich will nicht sagen, gegen mich, obschon er viele Jahre vorher zu mir in Geschäftsbeziehung stand und wir jetzt sehr vertraut miteinander sind, sondern gegen seine schöne Tochter, die er so innig liebt und die auch ihm so innig zugetan ist? Glaubt mir, Miß Proß, ich habe diesen Gegenstand nicht aus Neugierde, sondern aus eifriger Teilnahme in Anregung gebracht.«

»Wohlan«, sagte Miß Proß, durch den Ton besänftigt, in dem diese Verwahrung vorgebracht wurde, »er fürchtet sich vor der ganzen Sache.«

»Er fürchtet sich?«

»Der Grund davon ist einfach genug, sollt‘ ich denken«, sagte Miß Proß. »Es ist eine schreckliche Erinnerung, und außerdem ging der Verlust seiner selbst daraus hervor. Da er nicht weiß, wie er seinen Verstand verlor und wie er wieder zu sich kam, so mag er wohl in Angst leben, er könnte wieder irre werden. Schon dieser Umstand, denk‘ ich, könnte ausreichen, um die Sache zu einer gar nicht angenehmen zu machen.«

Mr. Lorry hatte keine so tiefe Bemerkung erwartet.

»Ihr habt recht«, sagte er, »es ist ein schrecklicher Gedanke. Doch bin ich ein wenig zweifelhaft, Miß Proß, ob es für Doktor Manette auch gut sei, daß er ihn so in sich verschlossen trägt. Und wirklich ist das Bedenken und die Unruhe, die dieser Umstand bisweilen in mir erregt, der Anlaß zu unserm gegenwärtigen vertraulichen Gespräch.«

»Das läßt sich nicht ändern«, sagte Miß Proß mit Kopfschütteln. »Wenn man diese Saite berührt, so hört man nichts als Mißklang, und es ist am besten, man läßt ihn gehen; mit einem Wort, das muß man tun, mag man wollen oder nicht. Bisweilen steht er mitten in der Nacht auf, und wir hören dann, wie er über unsern Häuptern in seinem Zimmer auf und ab, auf und ab geht. Mein Täubchen hat herausgebracht, daß dann sein Geist in dem alten Gefängnis umherwandelt. Sie eilt zu ihm hinauf, und sie gehen dann miteinander auf und ab, auf und ab, bis er ruhig geworden ist. Aber er läßt nie ein Wort über die wahre Ursache gegen sie fallen, und sie findet es als das beste, wenn sie nichts davon gegen ihn berührt. So wandeln sie denn schweigend im Zimmer auf und ab, auf und ab, bis ihre Liebe und ihre Gesellschaft ihn wieder zu sich gebracht hat.«

Miß Proß hatte zwar geleugnet, daß sie Einbildungskraft besitze; doch lag in der Wiederholung der Phrase »auf und ab« eine Auffassung der Pein, eintönig stets von demselben traurigen Gedanken verfolgt zu werden, die bewies, daß doch etwas von diesem Vermögen in ihr lebte.

Wie bereits bemerkt wurde, war die Ecke wegen ihres Widerhalls merkwürdig: er hatte eben jetzt den Tritt kommender Füße so volltönig eingeführt, daß es den Anschein gewann, als seien sie durch die bloße Erwähnung des Aufundabwandelns in Bewegung gesetzt worden.

»Da sind sie!« sagte Miß Proß, indem sie aufstand, um die Unterhaltung abzubrechen, »und nun werben wir gar bald Hunderte von Leuten hier haben.«

Die Ecke hatte so besondere akustische Eigentümlichkeiten, war sozusagen das leibhaftige Ohr eines Platzes, daß Mr. Lorry, als er an dem offenen Fenster stand und nach dem Vater und der Tochter aussah, deren Schritte er bereits hörte, sich einbildete, sie würden gar nie kommen. Nicht nur erstarb das Echo, als seine Tritte vorüber, sondern man hörte auch statt ihrer den Widerhall anderer Tritte, die nie kamen und die plötzlich verstummten, wenn man sie in unmittelbarster Nähe zu haben meinte. Gleichwohl kamen Vater und Tochter endlich doch, und Miß Proß stand an der Haustür bereit, um sie zu empfangen.

Trotz ihres abenteuerlichen roten Äußeren bot doch Miß Proß einen erquicklichen Anblick, als sie ihrem die Treppe heraufsteigenden Liebling den Hut abnahm, mit den Zipfeln ihres Taschentuch« darüber hinstrich, den Staub abblies, den Mantel in die zum Ablegen gerechten Falten brachte und ihr das reiche Haar mit soviel Stolz glättete, wie es nur die schönste und eitelste der Frauen mit ihrem eigenen tun konnte. Auch ihr Liebling bot einen erfreulichen Anblick, indem er die treue Pflegerin umarmte, ihr dankte und durchaus nicht haben wollte, daß man sich um ihretwillen so viel Mühe gebe – letzteres natürlich nur im Scherz, da sonst Miß Proß sich ernstlich beleidigt gefühlt hätte und in ihr Zimmer zurückgegangen wäre, um zu weinen. Nicht minder bot der Doktor einen wohltuenden Anblick, als er Miß Proß erklärte, daß sie Lucie verwöhne, aber in den Ton, mit dem er dies sagte, und in die Blicke, mit denen er die beiden betrachtete, ebensoviel Verhätschelndes legte wie Miß Proß, wenn sie sich Mühe gab. Und endlich war auch Mr. Lorry lieblich anzusehen, wie er unter seiner kleinen Perücke all dies strahlend beobachtete und seinen Junggesellensternen dankte, daß sie ihm am Abend seines Lebens nach einer Heimat geleuchtet hatten. Aber es kamen keine Hunderte von Leuten, um sich dieses Anblicks zu erfreuen, und Miß Lorry sah sich vergeblich um, wann einmal diese Prophezeiung der Miß Proß in Erfüllung gehen würde.

Dinerzeit, und noch keine Hunderte von Leuten.

Zur Führung des kleinen Haushalts verwaltete Miß Proß die unteren Regionen und benahm sich dabei stets außerordentlich gut. Ihre Diners waren zwar sehr bescheiden in Qualität, aber trefflich gekocht und in ihrer halb englischen, halb französischen Anordnung so zierlich und appetitlich serviert, daß man sich’s nicht besser wünschen konnte. Miß Proß, die sich in ihrer Freundschaft durchaus praktisch erwies, hatte nämlich Soho und seine ganze Umgegend durchstöbert, bis es ihr gelungen war, einen oder den andern verarmten Franzosen aufzufinden, den sie durch Schillinge und Halbkronen verführte, sie in die Geheimnisse der französischen Küche einzuweihen. Von diesen heruntergekommenen Söhnen und Töchtern Galliens hatte sie sich so wunderbare Kunststücke angeeignet, daß die Magd und die Ausläuferin, die den Stab des Hausgesindes bildeten, sie für eine Zauberin oder gar für Aschenbrödels Patin ansahen, die sich ein Huhn, ein Kaninchen oder ein paar Sorten Gemüse aus dem Garten holen lassen durfte, um sie in alles Beliebige umzuwandeln.

An den Sonntagen speiste Miß Proß mit am Tische des Doktors, an Werktagen aber ließ sie sich’s nicht nehmen, ihre Mahlzeiten zu unbekannten Stunden entweder in den unteren Regionen oder auf ihrem im zweiten Stock gelegenen Stübchen (ein blautapeziertes Gelaß, zu dem niemand als das Täubchen Zutritt hatte) zu versorgen. Bei dem gegenwärtigen Anlaß verlief auch das Diner gar gemütlich und im Einklang mit Täubchens lieblichem Gesicht und dessen lieblichem Bemühen, Miß Proß zu gefallen, die darob ganz strahlend wurde.

Es war ein schwüler Tag, und Lucie machte deshalb nach dem Essen den Vorschlag, den Wein draußen in freier Luft unter der Platane zu genießen. Da sich nun alles nach ihr richtete und um sie drehte, so begab man sich nach der Platane hinunter, und sie selbst trug Mr. Lorry die Flasche nach. Sie hatte sich nämlich schon vor einiger Zeit zu Mr. Lorrys Mundschenk ernannt, und während man unter der Platane plauderte, sorgte sie dafür, daß sein Glas nicht leer wurde.

Dennoch wollten die Hunderte von Leuten noch immer nicht kommen. Wahrend sie unter der Platane saßen, stellte sich zwar Mr. Darnay ein; aber das war nur einer.

Doktor Manette empfing ihn freundlich, und Lucie tat desgleichen; Miß Proß dagegen wurde plötzlich von einem Reißen im Kopf und im Leibe befallen und kehrte in das Haus zurück. Sie war diesem Übel nicht selten ausgesetzt und bezeichnete es in der vertraulichen Unterhaltung als »ihre Umstände«.

Der Doktor war in seiner besten Stimmung und sah ganz besonders jugendlich aus. In solchen Zeiten fiel die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr namentlich in die Augen, und es gewährte einen Genuß, sie bis in die einzelnen Züge zu verfolgen, während beide nebeneinander saßen, sie an seine Schulter gelehnt und er den Arm auf die Lehne seines Stuhles stützend.

Er hatte den ganzen Tag über viele Gegenstände mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit gesprochen.

»Erlaubt mir die Frage, Doktor Manette«, sagte Mr. Darnay, während sie unter der Platane saßen, in natürlicher Anknüpfung an das eben behandelte Gesprächsthema, das sich um die alten Gebäude von London drehte, »ob Sie viel von dem Tower gesehen haben?«

»Ich bin mit Lurie schon dort gewesen, aber nur gelegentlich. Wir haben soviel davon gesehen, um daraus den Schluß zu ziehen, daß er reich an Interesse ist, weiter nicht.«

»Auch ich war dort, wie Sie sich erinnern werden«, versetzte Darnay mit einem Lächeln, obschon zugleich ein unmutiges Rot leicht über sein Antlitz glitt, »freilich in einer Eigenschaft, die mir keine Gelegenheit gab, viele Wahrnehmungen zu machen. Indes wurde mir während meines dortigen Aufenthalts eine merkwürdige Geschichte erzählt.«

»Und die war?« fragte Lucie.

»Bei Gelegenheit vorzunehmender Veränderungen stießen die Werkleute auf einen alten Kerker, der vor vielen Jahren gebaut und vergessen worden war. In seinem Innern konnte man auf jedem Mauerstein von den Gefangenen eingegrabene Inschriften lesen – Daten, Namen, Klagen und Gebete. Auf einen Eckstein in einem Mauerwinkel hatte ein Gefangener, der wahrscheinlich hingerichtet wurde, als letzte Arbeit drei Buchstaben eingeritzt. Der Ausführung sah man die Flüchtigkeit, die unstete Hand und das dürftige Werkzeug an. Anfangs hatte man gelesen: D. I. C.; bei sorgfältigerer Untersuchung aber erkannte man in dem letzten Buchstaben ein G. Da man von einem Gefangenen, dessen Namen diese Anfangsbuchstaben hatte, nichts wußte, so erschöpfte man sich in allerlei Mutmaßungen, bis endlich jemand auf die Ansicht kam, daß man hier keine Initialen, sondern das Wort Dig (grabe) vor sich habe. Sofort wurde der Boden unter der Inschrift bedächtig untersucht, und man fand richtig unter einem Stein, einem Ziegel oder einem Pflasterbruchstück die Asche von Papier, gemischt mit der eines kleinen Lederfutterals oder eines Beutels. Was der Gefangene geschrieben, wird nie mehr ans Licht kommen; aber geschrieben hatte er etwas und es versteckt, damit es von seinem Schließer nicht aufgefunden würde.«

»Mein Vater!« rief Lucie, »Du bist unwohl!«

Er war plötzlich aufgefahren und hatte die Hand an seinen Kopf gelegt. Sein Blick und sein ganzes Wesen beunruhigte sie alle.

»Nein, mein Kind, nicht unwohl. Es sind große Regentropfen gefallen, und sie haben mich erschreckt. Laßt uns lieber hineingehen.«

Er hatte sich schnell wieder gefaßt. Der Regen fiel wirklich in großen Tropfen, und er zeigte sie auf der Rückenfläche seiner Hand. Über die Entdeckung aber, von der die Rede gewesen, verlor er kein Wort, und während sie ins Haus hineingingen, machte Mr. Lorry geschäftsmäßiges Auge die Wahrnehmung, oder glaubte wenigstens sie gemacht zu haben, daß auf dem Gesicht des Doktors, als er sich gegen Charles Darnay hinwandte, jener eigentümliche Ausdruck zu bemerken war, mit dem er in den Gängen des Gerichtshauses nach ihm hingesehen hatte.

Dies war jedoch nur so flüchtig gewesen, daß Mr. Lorry die Verläßlichkeit seines Geschäftsauges fast bezweifelte. Der Arm des goldenen Riesen in der Halle erschien nicht ruhiger als der Doktor, der, während er unter demselben haltmachte, die Bemerkung hinwarf, daß er gegen kleine Erschütterungen noch nicht gehörig gestählt sei, vielleicht es auch nie werde, und der Regen habe ihn wirklich erschreckt.

Teezeit. Miß Proß bereitete den Tee unter einer abermaligen Wiederkehr ihrer Umstände; aber noch immer keine Hunderte von Leuten. Mr. Carton hatte sich eingefunden; doch machte er erst zwei.

Der Abend war so übermäßig schwül, daß sie vor Hitze fast verschmachteten, obschon die Türen und Fenster offen standen. Nachdem der Teetisch abgeräumt war, traten sie an eines der Fenster und schauten in die düstere Dämmerung hinaus, Lucie saß neben ihrem Vater, Darnay neben Lucie, und Carton lehnte sich auf den Sims. Die Vorhänge waren lang und weiß, und einige von den Windstößen, die in die Ecke hereinwirbelten, hatten sie an die Decke hinaufgerissen, daß sie wehten wie Gespensterflügel.

»Noch immer fallen die Tropfen spärlich, groß und schwer«, sagte Doktor Manette. »Es kommt langsam.«

»Aber sicher«, bemerkte Carton.

Sie sprachen leise, wie wartende Leute gewöhnlich zu tun pflegen, namentlich wenn sie in einem dunklen Zimmer sitzen und des Blitzstrahls harren.

In den Straßen wurde es sehr rührig, und Leute eilten, um sich vor dem Losbrechen des Gewitters ein Unterkommen zu suchen. Die durch ihren Widerhall so merkwürdige Ecke führte wohl das Echo von kommenden und gehenden Fußtritten her, aber keine Fußtritte.

»Eine Menge Volks und doch eine solche Abgeschiedenheit«, sagte Darnay, nachdem sie eine Weile gehorcht hatten.

»Ist dies nicht eindrucksvoll, Mr. Darnay?« fragte Lucie. »Hin und wieder habe ich den ganzen Abend hier gesessen, bis ich mir einbildete – aber heute, wo alles so schwarz und feierlich ist, macht sogar der Schatten einer törichten Vorstellung mich schaudern –«

»So wollen wir mitschaudern. Dürfen wir wissen, was Ihnen Ihre Phantasie vorführte?«

»Es wird Ihnen wohl als nichts erscheinen. Ich glaube, solche Grillen machen nur im Augenblick ihres Entstehens einen Eindruck; er läßt sich nicht übertragen. Ich habe bisweilen in den Abendstunden allein hier gesessen und habe gelauscht, bis es mir vorkam, die Echos, die ich vernähme, seien der Widerhall aller der Fußtritte, die bestimmt sind, uns in unserm Leben zu begegnen.«

»Wenn dies zur Wirklichkeit würde, müßte es eines Tages in unserm Leben ein starkes Gedränge geben«, fiel Sydney Carton in seiner mürrischen Weise ein.

Die Tritte hörten nicht auf und wurden immer schneller und schneller. Die Ecke echote und echote wider von Schritten, einige, wie es schien, unter den Fenstern, andere im Zimmer, die einen kommend, die andern gehend, die einen innehaltend, die andern ganz aufhörend – alles dies in den fernen Straßen, ohne daß man eines Menschen ansichtig wurde.

»Ist die Gesamtheit dieser Fußtritte für uns alle bestimmt oder werden wir uns darin teilen müssen, Miß Manette?«

»Ich weiß es nicht, Mr. Darnay. Ich sagte Ihnen ja, es sei eine törichte Vorstellung; aber Sie haben sie wissen wollen. Als ich mich in sie hineinträumte, war ich allein, und ich bildete mir ein, es seien die Fußtritte von Menschen, die in mein und meines Vaters Leben hereinkämen.«

»Ich nehme sie für das meinige in Anspruch«, sagte Carton, »und ich stelle keine Fragen und mache keine Bedingungen. Da kommt eine schwere Menge auf uns herunter, Miß Manette, und ich sehe sie – ein Leuchten des Blitzes.« Letztere Worte fügte er nach einem heftigen Blitzstrahl hinzu, bei dessen Licht man ihn, auf den Fenstersims gelehnt, hatte sehen können.

»Und ich höre sie«, fuhr er fort, als das Rollen des Donners aufhörte. »Da kommen sie, rasch, wild und wütend.«

Er hatte damit das Ungestüm des Regens versinnbildlichen wollen, der jetzt so übermächtig geworden war, daß man keine Stimme mehr hören konnte. Die Regengüsse wurden von unablässigem Blitzen und Donnergekrach begleitet und ließen erst nach, als gegen Mitternacht der Mond aufging.

Die große Glocke von Saint Paul rief eben ein Uhr in die geklärte Luft hinaus, als Mr. Lorry, von dem hochgestiefelten, mit einer Laterne versehenen Jerry begleitet, den Rückweg nach Klerkenwall antrat. Zwischen dem letzteren Platze und Soho gab es einige kaum besuchte Wegstriche, und Mr. Lorry, der allen Respekt vor Räubern hatte, mietete Jerry regelmäßig für diesen Abendgang, obschon dieser sonst seinen Dienst gut um ein paar Stunden früher erfüllen durfte.

»Was ist das für eine Nacht gewesen, Jerry«, sagte Mr. Lorry. »Fast eine Nacht wie die, die die Toten wieder aus den Gräbern ruft.«

»Eine solche Nacht habe ich nie erlebt, Herr, und ich hoffe sie auch nicht wieder zu erleben«, entgegnete Jerry.

»Gute Nacht, Mr. Carton«, sagte der Geschäftsmann. »Gute Nacht, Mr. Darnay. Werden wir wohl je miteinander wieder eine solche Nacht erleben?«

Vielleicht. Vielleicht sehen sie auch das schwere Menschengedränge stürmend und tobend auf sich niederkommen.

Siebentes Kapitel. Ein vornehmer Herr in der Stadt.


Siebentes Kapitel. Ein vornehmer Herr in der Stadt.

Monseigneur, einer der Mächtigen bei Hof, hielt zu Paris in seinem prachtvollen Palast seinen vierzehntägigen Empfang. Monseigneur befand sich in seinem innern Zimmer, dem Heiligtum der Heiligtümer, zu dem von den äußern her der Schwarm andächtiger Verehrer wallfahrtet. Monseigneur war im Begriff, Schokolade zu trinken. Monseigneur konnte ungeheuer viel schlucken, und einige mißgünstige Geister sagten ihm nach, er werde bald sogar mit ganz Frankreich fertig werden; aber die Morgenschokolade brachte Monseigneur nicht durch seinen Schlund hinunter ohne die Beihilfe von vier starken Männern, den Koch nicht mitgerechnet.

Ja. Vier Männer waren dazu nötig, alle vier funkelnd von prächtiger Vergoldung, und der oberste darunter wäre außerstande gewesen, ohne ein paar goldene Uhren in der Tasche, die mit der edlen, reinen, von Monseigneur aufgebrachten Mode wetteiferten, die glückliche Schokolade zu Monseigneurs Lippen zu führen. Ein Lakai brachte die Schokoladekanne in die hochheilige Gegenwart; ein zweiter schlug und quirlte die Schokolade mit dem kleinen Instrument, das er für diesen Zweck mit sich führte; ein dritter präsentierte das begünstigte Tellertuch, und ein vierter, der mit den zwei Uhren, schenkte die Schokolade ein. Es war unmöglich für Monseigneur, einen dieser Schokoladebeamten zu missen und sein Haupt hochzutragen unter dem bewundernden Himmel; ein schwerer Flecken hätte seinen Wappenschild betroffen, wenn seine Schokolade unedel nur von drei Mann wäre serviert worden; von nur zweien hätte Monseigneur den Tod gehabt.

Monseigneur war die letzte Nacht bei einem kleinen Souper gewesen, bei welchem die Komödie und die große Oper ihre zauberhaften Vertreter hatte. Der gnädige Herr liebte es, an solchen kleinen Abendpartien mit hinreißender Gesellschaft teilzunehmen, und war überhaupt so artig und für Eindrücke empfänglich, daß ihm unter den ermüdenden Stoffen der Staatsangelegenheiten und Staatsgeheimnisse die Komödie und die große Oper weit höher standen als die Not von ganz Frankreich. Ein glücklicher Umstand für das letztere, wie überhaupt für alle in derselben Weise begünstigten Länder! Zum Beispiel auch für England in den unvergeßlichen Tagen des fröhlichen Stuart, der es verkaufte.

Monseigneur hatte eine wahrhaft adlige Idee vom öffentlichen Geschäftsgang im allgemeinen, indem er wollte, daß alles seinen eigenen Weg gehe; in Beziehung auf öffentliche Geschäfte im besonderen aber hegte er die gleichfalls echt adelige Idee, daß alles jenen Weg gehen müsse, der zur Vergrößerung seiner Macht und seines Vermögens beitrug. Eine weitere von seinen echt adeligen Ideen war, daß die Welt im allgemeinen sowohl wie im besonderen nur seinem Wohlergehen zu dienen habe. Sein Wahlspruch lautete nur mit einer unbedeutenden Variante für das persönliche Hauptwort im Original: »Die Erde und ihre Fülle sind mein, sagt Monseigneur«.

Monseigneur hatte indes allmählich die Entdeckung gemacht, daß sich in seine Angelegenheiten, die eigenen sowohl wie die öffentlichen, auch gemeine Verlegenheiten einschlichen, und sich deshalb mit einem Generalpächter zu verbünden genötigt gesehen; denn was die öffentlichen Finanzen betraf, so konnte er nicht alles und alles damit machen und mußte sie deshalb jemand überlassen, der dies besser verstand; bei der Rücksicht auf die Privatfinanzen dagegen erschien der Umstand maßgebend, daß Generalpächter reich waren und Monseigneur nach Generationen des Luxus und der Verschwendung arm zu werden begann. Monseigneur hatte daher seine Schwester, als es noch rechte Zeit war, den Schleier, dieses wohlfeilste Gewand, das sie tragen konnte, abzuwehren, aus dem Kloster geholt, um mit diesem Preis einen sehr reichen Generalpächter, der arm an Familie war, zu beglücken. Besagter Generalpächter, der stets einen passenden Stock mit goldenem Knopf bei sich führte, befand sich eben unter der Gesellschaft in den Vorzimmern, hochgefeiert von der ganzen Menschheit, mit Ausnahme der höheren Menschheit von Monseigneurs Blut, das einschließlich seiner eigenen Frau mit der stolzesten Verachtung auf ihn niederschaute.

Der Generalpächter war ein Mann, der etwas ausgeben konnte. Dreißig Rosse standen in seinen Ställen, vierundzwanzig männliche Dienstleute saßen in seinen Hallen, und sechs Wärterinnen bedienten seine Gemahlin. Als ein Mann, von dem man annahm, sein ganzes Geschäft bestehe im Zugreifen und Plündern, wo es nur immer etwas gab, war der Generalpächter, welchen Einfluß auch seine ehelichen Beziehungen auf die gesellschaftliche Moral üben mochten, wenigstens die größte Realität unter den Personen, die an jenem Tage im Palast von Monseigneur ihre Aufwartung machten.

Denn die Gemächer, wie schön sie sich auch ausnahmen und in dem Geschmack und der Kunstfertigkeit jener Zeit prunkten, waren in Wirklichkeit wenigstens keine gesunde Realität, und wenn man sie mit den Vogelscheuchen in Lumpen und Nachtkappen anderswo nicht einmal weit davon, denn von den Wachtürmen der Notre-Dame-Kirche aus konnte man in gleichen Abständen die Gegensätze überschauen verglich, so boten sie, falls im Hause von Monseigneur jemand sich damit abgeben mochte, sogar den Anblick einer recht unbehaglichen Realität. Offiziere vom Heer ohne militärische Kenntnisse, Flottenoffiziere ohne eine Vorstellung von einem Schiffe, Zivilbeamte ohne einen Begriff vom öffentlichen Dienst, keckstirnige Geistliche von der schlimmsten weltlichen Welt mit sinnlichen Augen, frechen Zungen und noch frecheren Sitten, alle insgesamt für ihre Berufszweige unpassend, trieben sich zu Dutzend und Dutzenden in den Vorzimmern herum und wurden fett im Genusse aller einträglichen Stellen, die ihnen zufielen, bloß weil sie zum Kreise von Monseigneur gehörten. Ferner sah man viele, die nicht unmittelbar zu Monseigneur oder dem Staate, gleichwohl aber auch nicht zu irgend etwas Realem oder einem Leben in Beziehung standen, das seine irdischen Zwecke auf einem offenen, geraden Wege anstrebt. Ärzte, die reich geworden waren von leckeren Heilmitteln gegen eingebildete, nie vorhanden gewesene Krankheiten, lächelten ihren kurfähigen Patienten in Monseigneurs Antichambres zu. Projektmacher, die aller Art Rezepte erfunden hatten gegen die kleinen, dem Staate anhaftenden Schäden, aber keines, durch das im Ernst auch nur eine einzige Sünde ausgerottet worden wäre, schütteten ihr zur Verzweiflung bringendes Gefasel in jedes Ohr, dessen sie bei Monseigneurs Empfang habhaft werden konnten. Ungläubige Philosophen, die die Welt mit Worten ummodelten und aus Kartenblättern babylonische Türme zur Erstürmung des Himmels bauten, unterhielten sich in der wundervollen Versammlung bei Monseigneur mit ungläubigen Chemikern, die ein Auge auf die Umwandlung der Metalle hatten. Feine Herren, die ihre vorzügliche Bildung schon in jener denkwürdigen Zeit, wie noch heute, durch ihre völlige Gleichgültigkeit gegen alles kundgaben, was sonst naturgemäß das menschliche Interesse anspricht, trugen einen Zustand der musterhaftesten Langeweile im Palast Monseigneurs zur Schau. Diese verschiedenen Notabilitäten aus der feinen Welt von Paris hatten ein so eigentümliches Familienleben hinter sich, daß es die Spione unter den versammelten Anhängern Monseigneurs, aus denen wohl eine gute Hälfte dieser hochgebildeten Gesellschaft bestand, schwer gefunden haben würden, unter den Engeln dieser Sphäre auch nur ein einziges weibliches Wesen zu entdecken, das durch ihr Aussehen und Benehmen hätte merken lassen, daß es eine Mutter sei. In der Tat war eine solche Stellung in der Frauenwelt, mit Ausnahme des bloßen Akts, ein lustiges Geschöpf ins Leben einzuführen und dieser geht noch nicht weit, um den Namen einer Mutter zu etwas Reellem zu machen dem vornehmen Kreise etwas ganz Unbekanntes. Bauernweiber blieben bei ihren ungeleckten Kindern und zogen sie groß; bezaubernde Großmütter aber von sechzig kleideten sich und machten Abendpartien mit wie in ihrem zwanzigsten Jahr.

Die höchste Unrealität entstellte jedes Menschenwesen in der bunten Mischung, die Monseigneur ihre Aufwartung machte. In dem äußersten Zimmer befand sich ein halbes Dutzend exzeptioneller Personen, die seit ein paar Jahren sich mit der unbestimmten Ahnung trugen, daß der Gang der Dinge im allgemeinen doch nicht der rechte sei. Um in einer hoffnungsvollen Weise ihn zu bessern, hatte sich die Hälfte dieses halben Dutzends zu der phantastischen Sekte der Konvulsionäre geschlagen, und sie gingen eben mit sich zu Rat, ob sie nicht auf der Stelle schäumen, toben, brüllen und in epileptische Zuckungen verfallen sollten, um so als Richtschnur für Monseigneur einen höchst verständlichen Fingerzeig für die Zukunft zu geben. Die übrigen drei neben diesen Derwischen waren zu einer andern Sekte übergegangen, die die Welt durch einen Gallimathias über »das Zentrum der Wahrheit« zu bessern beabsichtigte, indem sie behauptete, die Menschheit sei (was allerdings keines Beweises bedurfte) aus diesem Zentrum gewichen, aber noch nicht über die Peripherie hinausgelangt letzteres müsse man verhindern oder wohl durch die Zurückführung nach dem Mittelpunkt erwirken durch Fasten und Geisterseherei. Natürlich fand unter diesen ein starrer Verkehr mit Geistern statt, der für die Welt wunderbar viel Gutes wirkte, obschon es leider nie bekannt geworden ist.

Einen Trost bot wenigstens die Gesellschaft in Monseigneurs prächtigem Palast man sah überall eine vollkommen tadellose Kleidung. Hätte es sich nur beweisen lassen, daß der Tag des Gerichts bloß ein großer Galatag, sei, so würde hier gewiß männiglich als für alle Ewigkeit fehlerfrei erfunden worden sein. Das Gekräusel, Gepuder und Aufsteifen des Haars, die seine künstlich erhaltene und aufgefrischte Gesichtsfarbe, die ritterlich anzusehenden Degen und die Ehren, die man dem Geruchssinn erwies, mußten zuverlässig alles für immer und immer im besten Gang erhalten. Die feinen Herren von der ausgesuchtesten Bildung trugen kleine Gehänge, die klimperten, wenn ihre Inhaber erschöpft sich vorüber bewegten; die goldenen Fesseln klangen wie kostbare Glöcklein, und dieses Klingen bildete in Verbindung mit dem Rauschen von Seide, Perkal und seiner Leinwand in der Luft ein Fächeln, das Saint Antoine und seinen verzehrenden Hunger weit von hinnen scheuchte.

Der Putz war der einzige unfehlbare Talisman und Zauber, um alle Dinge an ihrem Platz zu erhalten. Jedermann war für einen Ball in Kostüme gekleidet, der nie aufhören sollte. Von dem Palast der Tuilerien an durch Monseigneur und den ganzen Hof, durch die Kammern, die Gerichtsbehörden und die ganze Gesellschaft (die Vogelscheuchen ausgenommen) lief der kostümierte Ball hinab bis zum Scharfrichter, der zur Aufrechterhaltung des Zaubers »frisiert und gepudert, in goldgesticktem Rock; Tanzschuhen und weißseidenen Strümpfen« seinen Dienst versehen mußte. Vor Galgen und Rad das Beil war eine Seltenheit hatte Monsieur Paris, wie die Hauptstadt von ihren untergeordneten Kollegen nach bischöflichem Vorgang betitelt wurde, in seiner gewähltesten Gala den Vorsitz. Und wer von der Gesellschaft aus Monseigneurs Empfangszimmern in dem Jahre unseres Herrn Siebzehnhundertachtzig konnte möglicherweise zweifeln, daß je ein System ein Ende nehmen konnte, das seine Wurzel in einem frisierten, gepuderten und goldbetreßten Henker mit Tanzschuhen und weißseidenen Strümpfen hatte!

Nachdem Monseigneur seine vier Mann ihrer Bürde entledigt und seine Schokolade eingenommen hatte, ließ er die Tür des Heiligtums der Heiligtümer öffnen und trat hinaus. Welche Unterwürfigkeit jetzt, welches Katzenbuckeln und Wedeln, welche Kriecherei und Wegwerfung! Da beugte man sich körperlich und geistig in einer Ausdehnung, daß nichts mehr für den Himmel übrigblieb dies vielleicht einer der Gründe, warum ihn die Verehrer Monseigneurs nie behelligten.

Dahin ein Versprechen, dorthin ein Lächeln entsendend, hier einem glücklichen Sklaven ein Wort zuflüsternd, dort einem andern mit der Hand zuwinkend, schritt Monseigneur leutselig durch die Salons bis in die entfernte Region des Zentrums der Wahrheit. Dort wandte er sich, kehrte zurück, erreichte im Laufe der Zeit abermals das Heiligtum mit den dienenden Schokoladegeistern, ließ die Türen schließen und wurde nicht mehr gesehen.

Die Schaustellung war vorüber, das Fächeln in der Luft wurde zu einem kleinen Sturm, und die kostbaren Glöcklein klingelten die Treppen hinunter. Bald war von dem ganzen Gedränge nur noch eine einzige Person übrig, die, den Hut unter dem Arme und die Schnupftabakdose in der Hand, an den Spiegeln vorbei langsam gleichfalls sich nach dem Ausgang hin bewegte.

»Hole dich der Teufel!« sagte die also beschriebene Persönlichkeit, indem sie an der letzten Tür haltmachte und sich gegen das Heiligtum umdrehte. Zugleich schüttelte sie den Schnupftabak von ihren Fingern, als sei er der Staub ihrer Füße, und schritt ruhig die Treppe hinab.

Die Person war ein Mann von ungefähr sechzig, schön gekleidet, von stolzem Wesen und mit einem Gesicht, das einer seinen Maske glich. Ein Gesicht von durchscheinender Nässe, jeder Zug darin klar bestimmt, und nur ein einziger markierter Ausdruck auf demselben. Die sonst schön geformte Nase war an der Spitze der Nasenlöcher etwas eingedrückt, und in diese beiden Gruben schien das einzige Wandelbare, das in dem Gesicht je bemerklich wurde, sich geflüchtet zu haben. Sie wechselten nämlich bisweilen die Farbe und zeigten gelegentlich eine Ausdehnung und ein Zusammenziehen, als ob sie leicht pulsierten: dadurch verliehen sie den Zügen einen Ausdruck von Tücke und Grausamkeit. Bei aufmerksamer Prüfung konnte man wahrnehmen, wie zu Herstellung dieses Ausdrucks namentlich auch der Umstand mitwirkte, daß die Linien des Mundes und der Augenkreise viel zu dünn und wagerecht waren; gleichwohl konnte nach dem Gesamteindruck das Gesicht als schön und merkwürdig bezeichnet werden.

Der Inhaber desselben ging die Treppe nach dem Hofe hinunter, stieg in seinen Wagen und fuhr von hinnen. Bei dem Empfang hatten nur wenige mit ihm gesprochen: er war beiseite gestanden, und Monseigneur hätte wohl in seinem Benehmen gegen ihn ein wenig wärmer sein können. Den Umständen nach schien es ihm ein angenehmes Schauspiel zu gewähren, wie das gemeine Volk vor seinen Pferden auseinanderstob und oft kaum dem Niedergetretenwerden entrann. Der Kutscher hieb auf seine Tiere los, als, griffe er einen Feind an; aber die wütende Rücksichtslosigkeit des Dieners brachte nicht die mindeste Veränderung hervor in dem Gesicht oder an den Lippen seines Herrn. Bisweilen wurde selbst in jener tauben Stadt und in jener stummen Zeit die Klage laut, daß in den engen Straßen ohne Seitenwege für die Fußgänger der wilde adelige Brauch des raschen Fahrens das gemeine Volk gefährde und oft in barbarischer Weise verstümmele; aber wenige kümmerten sich darum so viel, um zum zweitenmal daran zu denken, und so überließ man es auch hier wie in allem andern der Kanaille, sich aus ihrer Bedrängnis zu helfen, so gut sie konnte.

In tollem Rasseln und einer unmenschlichen Unbekümmertheit, die man in unsern Tagen unbegreiflich fände, jagte der Wagen durch die Straßen und um die Ecken, während die Weiber schreiend davor ausrissen und Männer gegenseitig sich oder Kinder aus dem Wege zerrten. Endlich fegte er um einen Eckbrunnen; eines der Räder hüpfte leicht auf, und alsbald brach aus vielen Kehlen ein lautes Geschrei los, vor dem die Rosse stampfend und ausschlagend stehenblieben.

Ohne die letztere Unbequemlichkeit würde der Wagen wahrscheinlich nicht haltgemacht haben. Wagen fuhren so oft weiter und ließen Verwundete hinter sich warum auch nicht? Aber der erschreckte Kammerdiener war hurtig abgestiegen, und zwanzig Hände hatten die Pferde bei den Zügeln gefaßt.

»Was hat’s gegeben?« fragte Monsieur, ruhig hinausschauend. Ein großer Mann mit einer Nachtmütze hatte unter den Pferdehufen hervor ein Bündel hervorgelangt und auf die Brunnenfliesen gelegt: er kniete davor im Schlamm und in der Nässe und heulte darüber wie ein wildes Tier.

»Verzeihung, Monsieur le Marquis«, sagte ein zerlumpter, unterwürfiger Mann, »es ist ein Kind.«

»Warum macht der Mann diesen abscheulichen Lärm? Ist es sein Kind?«

»Entschuldigt, Monsieur le Marquis leider ja.«

Der Brunnen stand etwas an der Seite, denn die Straße mündete hier in einen Platz ein, der seine zehn oder zwölf Schritte im Geviert maß. Als der große Mann plötzlich vom Boden aufsprang und auf den Wagen zugelaufen kam, fuhr Monsieur le Marquis für einen Augenblick mit der Hand an seinen Degenknopf.

»Umgebracht!« schrie der Mann in wilder Verzweiflung, aus hohlen Augen zu ihm hinstarrend und die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. »Tot!«

Die Leute drängten sich näher heran und schauten auf Monsieur le Marquis. Und in den vielen Augen, die auf ihm hafteten, gab sich nur der Ausdruck der Hast und der Aufmerksamkeit kund; nirgends ein Zeichen von Drohung oder Zorn. Auch wurde nicht gesprochen; nach dem ersten Schrei war das Volk verstummt. Die Stimme des unterwürfigen Mannes, der geantwortet hatte, klang matt und zahm in ihrer äußersten Untertänigkeit. Monsieur le Marquis ließ die Blicke über die Menge hingleiten, als bestände sie nur aus Ratten, die aus ihren Löchern hervorgekommen wären.

Er nahm seine Börse heraus.

»Es ist außerordentlich«, sagte er, »daß die Leute so wenig auf sich selbst und ihre Kinder achtgeben. Eines oder das andere von euch ist einem immer im Weg. Wie weiß ich, ob nicht meine Pferde Schaden genommen haben? Sieh nach. Gib ihm dies.«

Er warf dem Kammerdiener ein Goldstück zu, und alle Köpfe streckten sich vorwärts, um es allen Augen möglich zu machen, zu sehen, wo es niederfiel. Abermals rief der große Mann in einem unbeschreiblichen Ton: »Tot!« Er wurde angehalten durch einen rasch herbeikommenden andern Mann, dem der Haufe Platz machte. Als der unglückliche Vater ihn erkannte, fiel er ihm um den Hals, weinte und schluchzte und deutete nach dem Brunnen, wo einige Weiber sich über dem regungslosen Bündel niederbeugten und sorgsam sich damit zu schaffen machten. Auch sie verhielten sich so still wie die Männer.

»Ich weiß alles, weiß alles«, sagte der letzte Ankömmling. »Sei ein Mann, Gaspard. Für die arme kleine Puppe da ist es besser, so zu sterben, als zu leben. Sie ging ohne Schmerz aus der Welt: hätte sie auch nur eine Stunde glücklich in ihr leben können?«

»Ah, Ihr seid ein Philosoph«, sagte der Marquis lächelnd. »Wie heißt Ihr?«

»Defarge.«

»Euer Gewerbe?«

»Weinhändler.«

»Lest dies auf, Philosoph und Weinhändler«, sagte der Marquis, indem er auch ihm ein Goldstück hinwarf, »und tut Euch damit gütlich. Wie steht’s mit den Pferden alles in Ordnung?«

Ohne die Menge eines weiteren Blicks zu würdigen, lehnte sich Monsieur le Marquis auf seinen Sitz zurück und wollte eben mit der Miene eines Mannes, der zufällig etwas zerbrochen und als zahlungsfähige Person den Preis dafür erlegt hat, von hinnen fahren, als seine Ruhe plötzlich durch ein Geldstück zerstört wurde, das in den Wagen hineinflog und klingend zu Boden fiel.

»Halt!« sagte Monsieur le Marquis. »Haltet die Pferde! Wer hat geworfen?««

Er blickte nach der Stelle zurück, wo einen Augenblick vorher Defarge, der Weinhändler, gestanden hatte, sah aber nur noch den unglücklichen Vater, der, das Antlitz im Staub, am Boden lag, und neben ihm die Gestalt eines braunen stämmigen Weibes, das ihr Strickzeug in der Hand hatte.

»Ihr Hundepack!« sagte der Marquis ruhig und mit unverändertem Gesichtsausdruck, die bekannten Stellen an seiner Nase ausgenommen, wie gern würde ich über jeden von euch wegfahren, um euch von der Erde zu vertilgen. Wüßte ich, welcher Schuft in den Wagen geworfen, und hätte ich ihn nahe genug, so ließe ich ihn unter die Räder schleudern.«

Die Lage des Volkes war so gedrückt, und es hatte so viel von dem erleben müssen, was ein solcher Mann innerhalb und außerhalb des Gesetzes mit ihm anfangen durfte, daß keine Stimme, keine Hand, ja, nicht einmal ein Auge sich erhob. Unter den Männern wenigstens nicht. Nur das Weib mit dem Strickzeug warf einen festen Blick auf den Marquis. Es war aber unter seiner Würde, dies zu bemerken, sein Auge glitt verächtlich hin über sie und über die andern Ratten: dann lehnte er sich wieder in seinen Sitz zurück und gab Befehl weiterzufahren.

E« wurde weitergefahren, und andere Karossen kamen in rascher Folge vorbeigesaust: der Minister, der Staatsprojektenmacher, der Generalpächter, der Doktor, der Advokat, der Geistliche, die große Oper, die Komödie, kurz, der ganze Kostümball in seinem bunten Durcheinander wirbelte vorbei. Die Ratten krochen aus ihren Löchern und sahen stundenlang zu; Soldaten und Polizeidiener gingen oft zwischen ihnen und dem Schauspiel hin und her und bildeten Schranken, hinter die die Ratten zurückmußten. Der Vater hatte längst sein Bündel aufgenommen und ein Versteck dafür gesucht, während die Weiber, die das Bündel gepflegt hatten, als es auf den Brunnenfliesen lag, noch dasaßen und dem Rinnen des Wassers und dem Rollen des Kostümballs zusahen; auch jene Frau, die mit ihrem Strickzeug dagestanden, strickte fort mit der Beharrlichkeit einer Nonne. Das Wasser des Brunnens lief fort, der rasche Fluß lief weiter, der Tag verlief in den Abend, so viel Leben der Stadt verlief nach der Regel, daß Ebbe und Flut auf niemand warten, im Tod, die Ratten schliefen wieder dicht beisammen in ihren dunklen Löchern, für den Kostümball waren die Souperlichter angezündet, und alles verlief im alten Gange.

Achtes Kapitel. Ein vornehmer Herr auf dem Lande.


Achtes Kapitel. Ein vornehmer Herr auf dem Lande.

Eine schöne Landschaft und das Getreide darauf am Reifen, aber nicht im Überfluß gebaut. Striche mageren Roggens, wo Hafer hätte stehen sollen, Streifen ärmlicher Bohnen und Erbsen oder rauhen Gemüses statt des Weizens. Auch in der seelenlosen Natur wie in den Männern und Weibern, die sie pflegten, die vorherrschende Neigung, nur ungern zu vegetieren, ein kleinmütiger Hang, zu verzagen und hinzuwelken.

Monsieur le Marquis schleppte sich in seinem von vier Postpferden und zwei Postknechten geführten Reisewagen, der wohl hätte leichter sein können, einen steilen Berg hinan. Das Rot auf dem Gesicht von Monsieur le Marquis tat seiner hohen Bildung keinen Abtrag; es kam nicht von innen, sondern wurde durch einen äußerlichen Umstand veranlaßt, über den er keine Gewalt hatte durch die untergehende Sonne.

Die Strahlen der letzteren trafen den Reisewagen, als dieser die Höhe des Berges erreicht hatte, mit so vollem Glanz, daß sein Insasse in Purpur getaucht zu sein schien. »Es wird bald vorüber sein«, sagte Monsieur le Marquis, seine Hände ansehend.

In der Tat stand die Sonne schon so tief, daß sie im nächsten Augenblick untergehen konnte. Als dem Rad der schwere Hemmschuh angepaßt wurde und der Wagen mit einem Brandgeruch und in einer Wolke von Staub bergab rutschte, schwand die purpurne Glut rasch dahin; die Sonne und der Marquis gingen zusammen hinunter, und beim Abnehmen des Radschuhs war auch kein Hauch von Rot mehr vorhanden.

Dagegen war noch da eine unebene Landschaft, schön und offen, ein kleines Dorf am Fuße des Berges, jenseits wieder eine Anhöhe, ein Kirchturm, eine Windmühle, ein Forst für die Jagd und ein Felsen mit einer Feste darauf, die als Gefängnis diente. Der Marquis überschaute diese im Abendschatten mehr und mehr sich verdüsternden Gegenstände mit der Miene eines Mannes, der sich seinem Heimwesen nähert.

Da« Dorf hatte seine einzige ärmliche Straße mit einem ärmlichen Brauhaus«, einer ärmlichen Gerberei, einer ärmlichen Schenke, einem ärmlichen Poststall, einem ärmlichen Brunnen, kurz, lauter ärmlichen Zugehörnissen. Aber auch die Bevölkerung war arm, und viele von den Einwohnern saßen vor den Türen und schnitzelten Zwiebel oder etwas Ähnliches zum Nachtessen, während andere an dem Brunnen standen und Blätter, Gras und sonstige kleine Erderzeugnisse wuschen, die sich essen ließen. Auch fehlte es nicht an ausdrucksvollen Zeichen über den Grund ihrer Verarmung, denn feierliche Inschriften, die anzeigten, daß man hier die Staatssteuer, die Kirchensteuer, die grundherrliche Steuer, den Gemeindeschaden und die Akzise einziehe, waren in so reichlicher Anzahl vorhanden, daß man sich nur wundern mußte, wenn das Dörflein überhaupt noch unverschluckt dastand.

Auch einige Kinder ließen sich blicken, aber keine Hunde. Was die Männer und Weiber betraf, so hatten sie in Beziehung auf ihre Erdenverhältnisse eine geringe Wahl entweder drunten im Dörflein hinter der Mühle ein Leben für Hungersterben, oder droben auf dem Felsen im Gefängnis Haft und Tod.

Durch einen Vorreiter und das Knallen der Peitschen angekündigt, die wie hurtige Schlangen über den Köpfen der Postknechte durch die Abendluft zuckten, fuhr Monsieur le Marquis, wie von Furien begleitet, mit seinem Reisewagen vor dem Tor des Posthofes an. Dieser befand sich in der Nähe des Brunnens, und die Bauernweiber unterbrachen ihre Arbeit, um nach ihm hinzusehen. Auch er schaute zu ihnen hinüber und bemerkte auf allen Gesichtern das Gepräge jener Magerkeit, durch die die Franzosen auf ein Jahrhundert hindurch sprichwörtlich geworden sind.

Monsieur le Marquis warf eben seine Blicke auf die unterwürfigen Gestalten, die sich vor ihm beugten, wie er selbst bei Hof vor Monseigneur sich gebeugt hatte, nur mit dem Unterschied, daß jene bloß zu leiden, aber keine Gnaden auszuteilen hatten als sich ein grauköpfiger Knecht der Gruppe anschloß.

»Bring‘ mir jenen Kerl her«, sagte der Marquis zu dem Vorreiter.

Der Kerl wurde, die Mütze in der Hand, hergebracht, und die andern Kerle schlössen sich ihm an, um zu sehen und zu hören, in der Art, wie’s die Leute auch an den Pariser Brunnen zu halten pflegten.

»Ich kam auf dem Herweg an dir vorbei?«

»Monseigneur, es ist wahr; ich hatte auf der Straße die Ehre der Begegnung.«

»Beim Bergauffahren und auf der Höhe des Berges?«

»Ja, Monseigneur.«

»Nach was hast du so aufmerksam geschaut?« »Monseigneur, ich schaute nach dem Manne.«

Er beugte sich ein wenig und deutete mit seiner zerlumpten Mütze unter den Wagen. Alle seine Kameraden beugten sich gleichfalls, um unter den Wagen zu sehen.

»Welchen Mann, Schwein? Und warum schautest du nach ihm?«

»Verzeihung, Monseigneur, er hing in der Kette des Radschuhs.«

»Wer?« fragte der Reisende.

»Monseigneur, der Mann.«

»Hole der Teufel alle diese Dummköpfe! Hast du keinen Namen für diesen Mann? Du kennst alle Leute in der ganzen Gegend. Wer war er?«

»Monseigneur halten zu Gnaden, er war nicht aus der Gegend. Ich hab‘ ihn Tag meines Lebens nicht gesehen.«

»Und er hing in der Kette erdrosselt?«

»Mit Eurer Gnaden Erlaubnis, das war eben das Wunder, Monseigneur. Sein Kopf hing über so!«

Er wandte sich seitwärts gegen den Wagen und kehrte sich zurück, das Gesicht himmelwärts gedreht und den Kopf niederhängend; dann richtete er sich wieder auf, fuchtelte mit seiner Mütze und machte eine Verbeugung.

»Wie sah er aus?«

»Monseigneur, er war weißer als ein Müller. Ganz mit Staub bedeckt, weiß wie ein Gespenst und so lang wie ein Gespenst.«

Die Beschreibung machte ungemeines Aufsehen unter dem kleinen Haufen; aber aller Augen schauten auf Monsieur le Marquis. Vielleicht um zu sehen, ob er nicht ein Gespenst auf seinem Gewissen hatte.

»Das hast du wahrhaftig gut gemacht«, sagte der Marquis, der sich glücklicherweise besann, daß ein solcher Wurm ihn nicht aufbringen konnte; »du siehst, wie ein Dieb meinen Wagen begleitet, tust aber dein großes Maul nicht auf. Pah! Schafft ihn beiseite, Monsieur Gabelle.«

Monsieur Gabelle war der Postmeister und nebenbei Einzieher einer der verschiedenen Steuersorten. Er war mit großer Diensteifrigkeit herausgekommen, um an dem Verhör mitzuhelfen, und hatte in amtlicher Weise den zu Verhörenden am Wamsärmel festgehalten.

»Fort setzt!« sagte Monsieur Gabelle.

»Versichert Euch des Fremden, wenn er im Dorf eine Nachtherberge sucht, und überzeugt Euch, ob sein Gewerbe ein ehrliches ist, Gabelle.«

»Monseigneur, es ist mir ungemein schmeichelhaft, dero Befehle ausführen zu dürfen.«

»Ist er davongelaufen, Kerl? Wo ist der verfluchte Hund?«

Der verfluchte Hund stak bereits mit einem halben Dutzend besonderer Freunde unter dem Wagen und deutete mit seiner blauen Mütze auf die Kette. Ein anderes halbes Dutzend besonderer Freunde holte ihn geschickt wieder hervor und präsentierte ihn atemlos dem Herrn Marquis.

»Ist der Mann davongelaufen, Schafskopf, als man den Radschuh brauchte?«

»Monseigneur, er stürzte sich den Berghang hinunter, den Kopf voran, wie man tut, wenn man sich in den Fluß wirft.«

»Sorgt für die Sache, Gabelle. Vorwärts!«

Das Halbdutzend stak noch gleich Schafen zwischen den Rädern und sah nach der Kette; die Räder aber drehten sich so plötzlich, daß sie von Glück sagen konnten, wenn sie ihre Haut und ihre Knochen retteten. Außerdem hatten sie freilich sehr wenig zu retten, da es ihnen sonst kaum so gut gelungen wäre.

Der rasche Anlauf, den der Wagen vom Dorf aus genommen hatte, wurde bald gehemmt durch die jenseits gelegene steile Anhöhe. Die Bewegung ging allmählich in Schritt über, und der Wagen pendelte und holperte zwischen den vielen süßen Düften der Sommernacht bergan. Die Postknechte, die jetzt statt der Furien von tausend sommerfadigen Schnaken umkreist wurden, flochten ruhig die zerfaserten Endschlingen ihrer Peitschen wieder zusammen; der Kammerdiener ging neben den Pferden her, und den Vorreiter hörte man aus grauer Ferne voraustraben.

An der steilsten Stelle der Anhöhe befand sich ein kleiner Friedhof mit einem Kreuz und einem neuen großen Christusbild daran. Es war eine ärmliche Bildhauerarbeit, ausgeführt von einem ungeübten Dorfschnitzer; aber er hatte sein Werk nach dem Leben ausgeführt nach seinem eigenen vielleicht denn die Figur war schrecklich mager und abgezehrt.

Vor diesem traurigen Sinnbild einer Not, die seit lange immer größer wurde und den höchsten Grad noch nicht erreicht hatte, kniete ein Weib. Sie wandte sich um, als der Wagen auf sie zukam, stand rasch auf und trat an den Kutschenschlag.

»Sind Sie es, Monseigneur? Monseigneur, eine Bitte.«

Mit einem Ausruf der Ungeduld, aber unverändertem Gesicht sah Monseigneur hinaus.

»Was ist schon wieder? Was soll’s? Immer Bitten!«

»Monseigneur, um des barmherzigen Gottes willen, mein Mann, der Waldhüter «

»Was ist mit deinem Mann, dem Waldhüter? Immer dasselbe mit euch Leuten. Er kann wohl nicht zahlen?«

»Er hat alles bezahlt, Monseigneur. Er ist tot.«

»Nun, dann hat er Ruhe. Kann ich ihn dir zurückgeben?«

»Leider nein, Monseigneur. Aber er liegt dort unter einem Häuflein armseligen Grases.«

»Was weiter?«

»Monseigneur, der Häuflein armseligen Grases sind so viele.«

»Nun, und dann?«

Sie sah alt aus, obschon sie jung war. Ihr Benehmen verriet den tiefsten Kummer. Sie schlug wiederholt mit wildem Schmerz ihre dürren, dickadrigen Hände zusammen und legte dann eine derselben auf den Kutschenschlag zart und liebkosend, als sei er eine Menschenbrust, von der sich Gefühl für die flehentliche Berührung erwarten ließ.

»Monseigneur, hört mich! Monseigneur, hört meine Bitte! Mein Mann ist aus Mangel gestorben; so viele sterben aus Not, und noch viele werden vor Mangel zugrunde gehen.«

»Was willst du von mir? Kann ich sie füttern?«

»Monseigneur, das weiß der liebe Gott; aber ich verlange dies nicht. Meine Bitte beschränkt sich nur darauf, daß ein Stückchen Stein oder Holz mit meines Mannes Namen darauf an die Stelle gesetzt werde, wo er liegt. Der Platz wird sonst bald vergessen und nicht mehr aufzufinden sein, wenn ich gestorben bin an derselben Krankheit und ich gleichfalls mein Bett finden soll unter einem Häuflein ärmlichen Grases. Monseigneur, es sind ihrer so viele; sie vermehren sich so schnell; es gibt so viel Not. Monseigneur! Monseigneur!«

Der Kammerdiener schob sie von dem Schlag zurück: der Wagen war in einen raschen Trab übergegangen, und die Postknechte trieben vorwärts, daß sie bald zurückblieb. Monseigneur aber verminderte, wieder von den Furien begleitet, rasch den Abstand von einer oder zwei Wegstunden, der ihn noch von seinem Schlosse trennte.

Die süßen Düfte der Sommernacht verbreiteten sich über alles um ihn her und umhüllten auch unparteiisch wie der fallende Regen die staubige, zerlumpte, von Arbeit erschöpfte Gruppe an dem nicht fern gelegenen Brunnen, der der Knecht unter Beihilfe der blauen Mütze, ohne die er nichts war, eines breiten feinen gespenstischen Mann beschrieb, solange sie zuhören wollte. Da sie jedoch endlich auch dieses satt bekam, so verschwand allmählich einer nach dem andern, und aus den kleinen Fenstern begannen Lichter zu flimmern, die, als die Fenster wieder dunkel wurden und mehr Sterne herauskamen, statt ausgelöscht zu werden, an den Himmel hinaufgeschossen zu sein schienen.

Um diese Zeit breitete sich der Schatten eines großen Hauses mit hohem Dach und vielen breitkronigen Bäumen über den Marquis. Und der Schatten wurde gegen das Licht einer Fackel vertauscht, als sein Wagen haltmachte und das Portal seines Schlosses für ihn geöffnet wurde.

»Ich erwarte Monsieur Charles; ist er aus England angelangt?«

»Noch nicht, Monseigneur.«

Neuntes Kapitel. Das Gorgonenhaupt.


Neuntes Kapitel. Das Gorgonenhaupt.

Das Schloß des Monsieur le Marquis war ein großer schwerfälliger Bau, mit einem großen steinbepflasterten Hof davor und zwei mächtigen Steintreppen, die sich an eine steinerne Terrasse von dem Hauptportal anschlossen. Eine steinerne Schicht überall, mit schweren Steinbalustraden, steinernen Urnen, steinernen Blumen, steinernen Menschengesichtern und steinernen Löwenköpfen überall, als sei sie vor zwei Jahrhunderten unmittelbar nach dem Fertigwerden vom Haupt der Meduse bestrahlt worden.

Vor der breiten Flucht der niedrigen Treppen stieg Monsieur le Marquis aus dem Wagen; die Fackel ging ihm voran und störte die Dunkelheit hinreichend, um einer Eule in dem Dach des mächtigen, hinter den Bäumen steckenden Marstalls eine laute Gegenvorstellung zu entlocken. Alles andere war so ruhig, daß die treppauf getragene Fackel und die Fackel, die man unter dem Portal hielt, brannten, als seien sie nicht in freier Luft, sondern in einem abgesperrten Prunksaal. Außer der Stimme der Eule ließ sich kein weiterer Laut vernehmen als das Plätschern einer Fontäne in ihrem steinernen Becken; denn es war eine von jenen dunkeln Nächten, die ihren Atem stundenlang anhalten und dann zu einem tiefen Seufzer ausholen, um unmittelbar darauf abermals atemlos zu werden.

Das Portal schlug hinter ihm zu, und Monsieur le Marquis schritt durch eine Halle, die grimmig starrte von alten Sauspießen, Hirschfängern und Weidmessern, noch grimmiger aber von gewissen schweren Reitgerten und Reitpeitschen, deren Gewicht mancher Bauer vor seinem Hingang zu seinem Wohltäter Tod bitter empfunden hatte, wenn sein Herr zornig war.

Die größern Gelasse vermeidend, die dunkel und während der Nacht geschlossen waren, folgte Monsieur le Marquis seinem Fackelträger eine Treppe hinan nach einer Tür zu einem Korridor. Sie ging auf und gestattete ihm den Zugang zu seiner gewöhnlichen Wohnung, die aus drei Gemächern, seinem Schlafzimmer und zwei andern bestand. Hochgewölbte Räume mit kalten Böden, die mit Teppichen belegt waren, große Feuerböcke auf den Herden für das Brennholz im Winter und aller Luxus, der für den Prunk eines Marquis in einem an Luxus gewöhnten Lande und Zeitalter paßten. Die Mode des vorletzten Ludwig, von der Linie, die nicht zu unterbrechen war des vierzehnten Ludwig zeichnete sich durch ihr reiches Möbelwerk aus, in das jedoch Abwechslung kam durch viele Gegenstände, die dazu dienten, alle Blätter aus der Geschichte Frankreichs zu illustrieren.

Im dritten Gemache, einem runden Zimmer in einem der vier löschhutbedachten Türme des Schlosses, stand für zwei eine Soupertafel gedeckt. Es war ein kleines hohes Zimmer mit weit offenem Fenster und geschlossenen Jalousien, so daß die Nacht nur in schmalen, schwarzen Horizontallinien, abwechselnd mit den breiten Linien von Steinfarbe, hereinschien.

»Mein Neffe«, sagte der Marquis mit einem Blick auf die Vorbereitungen zum Nachtessen, »ist, wie ich höre, noch nicht angekommen.«

»Nein; man hatte ihn mit Monseigneur erwartet.«

»Ah; es ist nicht wahrscheinlich, daß er heute noch eintreffen wird. Doch laß den Tisch immerhin, wie er ist; ich werde in einer Viertelstunde bereit sein.« Nach einer Viertelstunde war Monseigneur bereit und setzte sich zu seinem reichen, gewählten Mahle nieder. Sein Stuhl stand dem Fenster gegenüber. Er hatte sich Suppe geschöpft und wollte eben sein Glas Bordeaux an die Lippen führen, als er es wieder niedersetzte.

»Was ist das?« fragte er ruhig, aufmerksam auf die Horizontallinien von Schwarz und Steinfarbe schauend.

»Monseigneur, was?«

»Vor dem Laden draußen. Öffnet die Jalousien.«

Es geschah.

»Nun?«

»Monseigneur, es ist nichts. Ich kann nichts wahrnehmen als die Bäume und die Nacht.«

Der Diener, der sprach, hatte die Läden weit aufgeworfen und in die leere Finsternis hinausgeschaut; er stand jetzt mit dieser Leere im Hintergrund da und harrte weiterer Befehle.

»Gut«, sagte der durch nichts zu störende Gebieter. »Du magst wieder schließen.«

Auch dies geschah, und der Marquis setzte sein Nachtessen fort. Er mochte etwa zur Hälfte fertig sein, als er wieder mit seinem Glas in der Hand anhielt. Er hörte Rädergerassel, das rasch immer naher kam und zuletzt vor dem Schloß haltmachte.

»Fragt, wer angekommen ist.«

Es war der Neffe von Monseigneur. Der Marquis hatte früh am Nachmittag nur einen Vorsprung von ein paar Wegstunden vor ihm; wie scharf aber auch der Neffe fuhr, war es ihm doch nicht gelungen, Monseigneur einzuholen. In den Posthäusern hörte er, daß sein Onkel schon dagewesen sei.

Man solle ihm sagen, sagte Monseigneur, daß das Nachtessen seiner harre und er gebeten würde, hereinzukommen. Nach einer Weile trat er ein. Es war der Mann, den man in England als Charles Darnay kannte.

Monseigneur empfing ihn auf höfliche Weise, ohne ihm jedoch die Hand zu reichen.

»Du hast gestern Paris verlassen?« sagte der Neffe zu Monseigneur, als er seinen Sitz am Tische einnahm.

»Ja. Und du?«

»Ich komme direkt.«

»Von London?«

»Ja.«

»Du hast lange gebraucht zu deinem Kommen«, sagte der Marquis mit einem Lächeln.

»Im Gegenteil, ich komme direkt.«

»Entschuldige, ich meine nicht die Zeit, die du zur Reise brauchtest; es währte so lange, bis du dich zu der Reise entschlossest.«

»Ich wurde abgehalten durch « der Neffe zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort »verschiedene Geschäfte.«

»Ohne Zweifel«, sagte der höfliche Onkel.

Solange das Diner dauerte, fiel kein weiteres Wort zwischen ihnen; als sie aber nach dem Kaffee allein beisammen saßen, begann der Neffe, der nach dem Onkel hinsah und den Augen des maskenähnlichen schönen Gesichts begegnete, die Unterhaltung.

»Wie du dir denken kannst, bin ich zurückgekommen, um den Zweck zu verfolgen, der mich fortführte, Er brachte mich an große und unerwartete Gefahr; aber es ist ein heiliges Ziel, und wenn es mich das Leben gekostet hätte, so würde ich mich, hoffe ich, wie ein Mann in den Tod gefunden haben.«

»Nicht in den Tod«, sagte der Onkel; »es ist nicht notwendig, zu sagen, in den Tod.«

»Ich zweifle«, entgegnete der Neffe, »ob du es für der Mühe wert gehalten haben würdest, mich zurückzuhalten, wenn es mich wirklich bis an den äußersten Rand des Grabes geführt hätte.«

Die Nasengruben und das Längerwerden der feinen geraden Linien in dem grausamen Gesicht sahen bei diesen Worten unheilverkündend aus. Der Onkel machte eine anmutige Gebärde des Protestes, die aber so augenfällig das Ergebnis der feinen Bildung war, daß sie nicht beruhigte.

»In der Tat«, fuhr der Neffe fort, »soviel ich in Erfahrung brachte, hast du ausdrücklich darauf hingearbeitet, daß die verdächtigen Umstände, die gegen mich sprachen, noch verdächtiger erschienen.«

»Nein, nein, nein«, sagte der Onkel scherzhaft.

»Wie dem übrigens sein mag«, fuhr der Neffe fort, indem er den Marquis mit tiefem Mißtrauen betrachtete, »ich weiß, daß deine Diplomatik mir durch alle Mittel Einhalt tun und in der Wahl derselben kein Bedenken zeigen würde.«

»Mein Freund, ich hab‘ dir dies im voraus erklärt«, sagte der Onkel mit einem seinen Pulsieren der zwei Gruben. »Habe die Güte, dich zu erinnern, daß ich längst dir dies selbst gesagt habe.«

»Ich erinnere mich.«

»Danke schön«, sagte der Marquis in sehr süßem Ton.

Der Ton klang noch eine Weile in der Luft, fast wie der eines musikalischen Instruments.

»In Wirklichkeit«, fuhr der Neffe fort, »es ist nur dein schlimmes und mein gutes Glück, was mich hier vor einem französischen Gefängnis bewahrt hat.«

»Ich verstehe das nicht ganz«, versetzte der Onkel, seinen Kaffee schlürfend. »Darf ich um eine Erklärung bitten?«

»Ich glaube, wenn du nicht bei Hof in Ungnade wärest, und nicht schon seit Jahren dich diese Wolke umschattete, so würde längst ein lettre de cachet mich für unbestimmte Zeit nach irgendeiner Festung geschickt haben.«

»Es ist möglich«, sagte der Onkel mit großer Ruhe. »Um der Ehre der Familie willen hätte ich mich wohl entschließen können, dich bis zu dieser Ausdehnung zu inkommodieren. Ich bitte, entschuldige mich.«

»Ich bemerke, daß zum Glück der vorgestrige Empfangstag wie gewöhnlich ein kalter war«, entgegnete der Neffe.

»Ich würde nicht sagen, zum Glück«, erwiderte der Onkel mit größter Höflichkeit, »denn ich wüßte dies nicht so gewiß. Eine gute Gelegenheit zum Nachdenken, unterstützt von den Vorteilen der Einsamkeit, dürfte auf dein Schicksal einen weit günstigeren Einfluß üben, als dies dein sonstiges Handeln tun kann. Doch es ist nutzlos, diese Frage zu verhandeln. Ich bin, wie du sagst, im Nachteil. Jene kleinen Korrektionsmittel, die milden Stützpunkte der Macht und Ehre von Familien, die geringen Gunstbezeugungen, die dir so ungelegen kommen könnten, sind jetzt nur noch durch Einfluß und Zudringlichkeit zu erwirken. So viele suchen darum nach, und sie werden verhältnismäßig so wenigen erteilt. Früher war es anders, aber in allen solchen Dingen hat sich Frankreich sehr verschlechtert. Unsere Vorfahren besaßen vor nicht gar langer Zeit, dem Pöbel ihrer Umgebung gegenüber, das Recht über Leben und Tod. Von diesem Zimmer sind viele solche Galgenstricke hinausgeschleppt worden, um gehangen zu werden, und wir selbst können uns noch erinnern, daß in dem nächsten Gemach, meinem Schlafzimmer, ein Kerl auf der Stelle erdolcht wurde, weil er ein unverschämtes Zartgefühl zur Schau stellte in Beziehung auf seine Tochter seine Tochter! Wir haben viele Vorrechte verloren: eine neue Philosophie ist in die Mode gekommen, und die Behauptung unserer Stellung könnte heutzutage ich gehe nicht so weit, zu sagen, würde, sondern nur könnte uns in ernstliche Angelegenheit bringen. Alles sehr schlimm, sehr schlimm!«

Der Marquis nahm eine gebildete kleine Prise Tabak und schüttelte den Kopf, mit ziemlicher Eleganz an einem Lande verzweifelnd, das ihm diese großen Mittel der Wiedergeburt vorenthielt.

»Wir haben sowohl in alten Zeiten wie in der neuen unsere Stellung in einer Weise behauptet«, versetzte der Neffe düster, »daß ich glaube, unser Name ist mehr verabscheut als irgendeiner in Frankreich.«

»Wollen wir dies hoffen«, sagte der Onkel. »Verabscheuung der Hochgestellten ist die unwillkürliche Huldigung der Niedrigen.«

»In der ganzen Gegend ringsumher«, fuhr der Neffe in dem früheren Tone fort, »gibt es kein Gesicht, das mit Achtung zu mir aufblickt: ich begegne in den Mienen nur dem finstern Ausdruck der Furcht und der Sklaverei.«

»Ein Kompliment für die Größe der Familie«, sagte der Marquis, »verdient durch die Art, wie die Familie ihre Größe gewahrt hat. Ha!«

Und er nahm wieder eine ganz kleine Prise und legte leicht die Beine übereinander. Aber als der Neffe, einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, gedankenvoll und niedergeschlagen die Augen mit der Hand bedeckte, schaute die schöne Maske seitwärts mit einer stärkeren Konzentration von Strenge, Verschlossenheit und Abneigung nach ihm hin, als sich mit der vorgeschützten Gleichgültigkeit ihres Trägers vereinbaren ließ.

»Druck ist die einzige nachhaltige Philosophie«, bemerkte der Marquis. »Der finstere Ausdruck der Furcht und Sklaverei, mein Freund, macht, daß diese Hunde der Peitsche gehorsam bleiben, solange dieses Dach« er sah danach aufwärts »den Himmel ausschließt.«

Das dauerte vielleicht nicht so lange, als der Marquis meinte. Hätte man ihm in jener Nacht ein Bild seines Schlosses zeigen können, wie es nur einige Jahre später aussah, und wie fünfzig ähnliche Schlösser gleichfalls nach der kurzen Frist von einigen Jahren aussahen, so würde er wohl in den gespenstischen, verkohlten, ausgeraubten Trümmern sein Eigentum nicht wiedererkannt haben. Und was das gerühmte Dach betraf, so hätte er wohl gefunden, daß es in einer Neuen Art den Himmel ausschloß, nämlich für immer vor den Blicken der Körper, die mit seinem Blei durchschossen wurden, aus den Läufen von hunderttausend Musketen.

»Inzwischen«, sagte der Marquis, »werde ich für die Ehre und Ruhe der Familie sorgen, wenn du es nicht tun willst. Doch du wirst müde sein. Wollen wir die Unterhaltung für heute abbrechen?«

»Nur noch einen Augenblick.«

»Eine Stunde, wenn’s beliebt.«

»Wir haben unrecht getan«, versetzte der Neffe, »und ernten jetzt die Früchte unseres Unrechts.«

»Wir haben unrecht getan?« wiederholte der Marquis mit einem fragenden Lächeln, indem er fein zuerst auf seinen Neffen, dann auf sich deutete.

»Unsere Familie, unsere ehrenwerte Familie, deren Ehre uns beiden in so verschiedener Weise am Herzen liegt. Sogar in meines Vaters Zeit übten wir eine Welt voll Unrecht und schädigten jedes menschliche Wesen, wer es auch sein mochte, das uns in unserem willkürlichen Treiben störte. Doch warum spreche ich von der Zeit meines Vaters, da sie auch die deinige ist? Kann ich meines Vaters Zwillingsbruder, Miterben und nächsten Nachfolger von ihm selbst trennen?«

»Der Tod hat das getan«, sagte der Marquis.

»Und mich hat er an ein System gefesselt«, erwiderte der Neffe, »das mir schrecklich ist wegen seiner Unmacht und seiner Verantwortlichkeit. Ich suchte die letzte Bitte von den Lippen meiner teuren Mutter zu erfüllen und dem letzten Blick aus ihren lieben Augen zu gehorchen, die mir flehentlich Erbarmen und Güte anempfahlen. Vergeblich marterte ich mich ab, die Macht dazu und Beistand zu gewinnen.«

»Wenn du diese bei mir suchst, mein Neffe«, sagte der Marquis, indem er mit seinem Zeigefinger dessen Brust berührte sie standen jetzt bei dem Herd »so sei versichert, daß deine Mühe stets vergeblich sein wird.«

Jede feine gerade Linie in dem klaren Weiß seines Gesichts war grausam, verschmitzt und unheimlich zusammengezogen, während er so, die Tabaksdose in der Hand, seinem Neffen gegenüberstand. Und abermals berührte er dessen Brust, als sei sein Finger die feine Spitze eines Dolches, die er mit aller Höflichkeit ihm ins Herz zu drücken Lust hatte.

»Mein Freund«, sagte er, »ich werde das System, in dem ich gelebt habe, verfolgen, bis ich tot bin.«

Nach diesen Worten nahm er eine kulminierende Prise und steckte die Dose in seine Tasche.

»Besser, ein vernünftiges Wesen zu sein«, fügte er hinzu, nachdem er die kleine Klingel auf dem Tisch geläutet hatte, »und sich in seine natürliche Bestimmung zu fügen. Aber ich sehe, du bist verloren, Monsieur Charles.«

»Dieses Eigentum und Frankreich sind allerdings für mich verloren«, sagte der Neffe traurig. »Ich verzichte darauf.«

»Gehört beides dir, daß du darauf verzichten könntest? Auf Frankreich meinetwegen, aber auf dieses Eigentum? Es ist kaum des Erwähnens wert, aber gehört es noch dir?«

»Die Worte, die ich brauchte, haben nicht den Sinn, als ob ich Anspruch darauf erhübe. Wenn es morgen von dir auf mich überginge «

»Ich bin so eitel, zu hoffen, daß dies nicht wahrscheinlich ist.«

»Oder in zwanzig Jahren erst «

»Du erweisest mir zu viel Ehre«, sagte der Marquis; »doch gefällt mir diese Annahme besser.«

»So würde ich ihm entsagen und irgendwo anders mein Leben durchzubringen suchen. Der Verzicht würde mir nicht schwer. Was ist es auch anders als eine Wildnis voll Elend und Ruin.«

»Ha!« sagte der Marquis, in dem prunkvollen Zimmer umherschauend.

»Hier macht es sich wohl schön genug für das Auge; aber in seiner Ganzheit unter freiem Himmel und im Lichte des Tages betrachtet, ist es ein zusammenbröckelnder Bau von Verschwendung, schlechter Verwaltung, Erpressung, Schulden, Verpfändung, Druck, Hunger, Blöße und Leiden.«

»Ha!« wiederholte der Marquis mit selbstzufriedener Miene.

»Wenn es je mein wird, so soll es in Hände kommen, die besser geeignet sind, es wenn dies je möglich ist allmählich von dem Druck zu befreien, der darauf lastet. Die nächste Generation des unglücklichen Volkes, das an die Scholle geheftet ist und erduldet hat, was man nur erdulden kann, kriegt es dann vielleicht besser. Ich vermag nichts; denn es liegt ein Fluch darauf wie auf dem ganzen Lande.«

»Und du?« sagte der Onkel. »Verzeihe mir meine Neugierde. Hoffst du bei deiner neuen Philosophie auch standesgemäß leben zu können?«

»Ich werde tun, was andere meiner Landsleute, vielleicht der höchste Adel darunter, auch werden tun müssen arbeiten.«

»In England zum Beispiel?«

»Ja. In diesem Lande ist die Familienehre sicher vor mir. Der Familienname kann durch mich nicht zu Schaden kommen, denn ich führe dort einen andern.« Auf den Ruf der Klingel waren in dem anstoßenden Schlafzimmer die Lichter angezündet worden, deren Helle durch die Verbindungstür hereindrang. Der Marquis schaute in diese Richtung und hörte auf den Tritt des sich entfernenden Kammerdieners.

»Ich habe bereits gesagt, daß ich fühle, wie sehr ich dir für mein dortiges Fortkommen verpflichtet bin. Im übrigen ist es ein Asyl für mich.«

»Die prahlerischen Engländer sagen, es sei ein Asyl für viele. Du kennst einen Landsmann, der dort auch ein Asyl gefunden hat einen Doktor?«

»Ja.«

»Mit einer Tochter?«

»Ja.«

»Ja«, sagte der Marquis. »Du bist müde. Gute Nacht!«

Während er in der höflichsten Weise das Haupt verbeugte, lag in seinem lächelnden Gesicht ein Heimlichtun, und er übertrug auch in seine Worte den Ausdruck des Geheimnisses, so daß die Augen und Ohren seines Neffen notwendig Notiz davon nehmen mußten. Zu gleicher Zeit krümmten sich die feinen geraden Linien der Augenlider, die dünnen geraden Lippen und die Marken der Nase mit einem Sarkasmus, der das Gesicht eigentlich teuflisch schön erscheinen ließ.

»Ja«, wiederholte der Marquis. »Ein Doktor mit einer Tochter. Ja, so beginnt die neue Philosophie! Du bist müde. Gute Nacht!«

Es würde ebensoviel genützt haben, eines der steinernen Gesichter außerhalb des Schlosses, zu fragen, wie in dem seinen Auskunft zu suchen. Der Neffe forschte vergeblich darin, als er sich nach der Tür hin bewegte.

»Gute Nacht!« sagte der Onkel. »Ich habe das Vergnügen, dich morgen früh wiederzusehen. Angenehme Ruhe! Leuchtet meinem Herrn Neffen nach seinem Zimmer! Und verbrennt meinetwegen meinen Herrn Neffen in seinem Bett«, fügte er vor sich hin hinzu, ehe er abermals die Klingel rührte und damit den Kammerdiener nach seinem Schlafgemach beschied.

Der Kammerdiener kam und ging. Monsieur le Marquis spazierte in seinem weiten Schlafrock auf und ab, um sich in jener heißen, stillen Nacht ordentlich für den Schlaf vorzubereiten. Seine weichen Pantoffeln machten, während er umherwandelte, kein Geräusch auf dem Boden; er bewegte sich dahin wie ein veredelter Tiger und nahm sich dabei aus wie irgendein verzauberter Marquis von der schlechten, reuelosen Sorte im Märchen, der eben seine periodische Umwandlung in die Gestalt des gedachten Untiers antreten will oder beendigt hat.

Er durchschritt sein üppiges Schlafgemach von einem Ende bis zum andern und beschäftigte sich mit den Eingebungen seiner kürzlichen Reise, die ungebeten sich seinem Geiste vergegenwärtigten mit dem langsamen Berganfahren abends, mit der untergehenden Sonne, dem Hinabfahren, der Mühle, dem Gefängnis auf dem Felsen, dem Dörflein im Tal, den Bauern am Brunnen und dem Knecht, der mit seiner blauen Mütze nach der Kette unter dem Wagen deutete. Der Brunnen erinnerte ihn an den zu Paris, auf dessen Fliesen das kleine Bündel lag, an die Weiber, die sich darüberhin beugten, und an den großen Mann mit den gerungenen Händen der »tot!« rief.

»Ich bin jetzt abgekühlt«, sagte Monsieur le Marquis, »und kann zu Bett gehen.«

Auf dem großen Herd blieb nur ein einziges Licht brennen. Er ließ die dünnen Gazevorhänge um sich her niederfallen und hörte, als er sich zum Schlafen anschickte, die Nacht mit einem langen Seufzer ihr Schweigen brechen.

Die steinernen Gesichter an den Außenmauern starrten blind drei schwerfällige Stunden in die Nacht hinaus. Drei schleppende Stunden rasselten die Pferde in den Ställen an ihren Krippen; die Hunde bellten, und die Eule machte einen Lärm, der nur sehr wenig Ähnlichkeit mit dem Geräusch hatte, den die Dichter konventionell den Eulen zuzuschreiben pflegen. Es ist überhaupt der hartnäckige Brauch solcher Geschöpfe, kaum je das zu sagen, was man ihnen auf die Zunge legt.

Drei schleppende Stunden starrten die steinernen Gesichter des Schlosses, Löwen sowohl wie Menschen, blind in die Nacht hinaus. Tiefes Dunkel lag auf der ganzen Landschaft; das tiefe Dunkel verstärkte noch die eigene Stille damit, daß es den Staub auf allen Wegen zur Ruhe brachte. Mit dem Friedhof war es soweit gekommen, daß seine kleinen Häuflein ärmlichen Grases sich nicht mehr unterscheiden ließen und die Figur hätte vom Kreuz heruntersteigen können, ohne daß man es merkte. Durch das ganze Dorf lagen die Steuereinnehmer und die Besteuerten in tiefem Schlaf. Träumend vielleicht von Banketten, wie der Hungernde so gern tut, und von Ruhe und Bequemlichkeit, wie man dies von dem gehetzten Sklaven und dem Jochochsen erwarten kann, schliefen die ausgemergelten Einwohner gesund; sie wurden genährt und fühlten sich frei.

Drei dunkle Stunden lief der Brunnen im Dorf ungesehen und ungehört, und die Fontäne im Schloß plätscherte ungesehen und ungehört beide verrinnend wie die Minuten, die aus dem Born der Zeit fielen. Dann begannen die grauen Wasser beider im Lichte ein gespenstisches Aussehen anzunehmen, und die Augen der Steingesichter an dem Schloß taten sich auf.

Heller und Heller, bis endlich die Sonne die Wipfel der stillen Bäume berührte und ihren Strahlenglanz über den Berg ausgoß. In der Glut schienen die Wasser der Schloßfontäne sich in Blut zu verwandeln und die steinernen Gesichter purpurn sich zu röten. Laut und lebhaft klang der Gesang der Vögel, und auf dem verwitterten Sims vor dem großen Fenster des Schlafzimmers von Monsieur le Marquis sang ein kleines Vögelchen mit Macht sein süßestes Lied. Darüber schien das nächste Steingesicht erstaunt die Augen aufzureißen und mit offenem Munde und niedergelassener Kinnlade sich zu entsetzen. Die Sonne war voll aufgegangen, und im Dorfe wurde es lebendig. Die Fenster taten sich auf, wurmstichige Türen wurden entriegelt, und fröstelnd kamen Leute heraus in die noch kühle, frische Luft. Dann begann die selten erleichterte Mühe des Tages unter der Dorfeinwohnerschaft. Einige an den Brunnen, andere aufs Feld hinaus: Männer und Weiber hier, um zu graben und zu schaufeln, Männer und Weiber dort, um nach dem ärmlichen Vieh zu sehen und knöcherne Kühe hinauszutreiben auf eine Weide, wie sie sich eben an den Wegrainen finden ließ. In der Kirche und vor dem Kreuz eine oder zwei kniende Gestalten, und dem Gebet der letzteren zuhörend die Leitkuh, die in dem Unkraut um das Kreuz her ein Frühstück zusammenzubringen suchte.

Das Schloß erwachte, wie es seiner Würde ziemte, später; aber es erwachte allmählich und sicher. Zuerst röteten sich die einsamen Sauspieße und Weidmesser wie vor alters und blitzten dann blank im Morgensonnenschein. Dann gingen Türen und Fenster auf; die Pferde in den Ställen sahen über ihre Schultern nach dem Licht und der Frische zurück, die zur Tür hereinströmten; Blätter funkelten und rauschten vor den eisernen Fenstergittern; Hunde zerrten mit Ungestüm an ihren Ketten und wollten losgelassen werden.

Alle diese unbedeutenden Vorkommnisse gehörten dem Schlendrian des Lebens und dem wiederkehrenden Morgen an. Aber doch wohl nicht auch das Läuten der großen Glocke auf dem Schloß, das Aufundabrennen auf den Treppen, das Dahinhuschen von Personen auf der Terrasse, das Stiefeln und Stampfen da, dort und überall, oder das hurtige Satteln von Pferden und das Fortreiten?

Welche Winde brachten Kunde von dieser Hast an den grauhaarigen Knecht, der schon jenseits des Dorfes auf der Höhe an der Arbeit war, und dessen Mittagsmahl es war leicht genug; eine Krähe hätte es forttragen können in einem Bündel auf dem Steinhaufen neben ihm lag? Hatten die Vögel einige Körnchen davon ins Weite getragen und nach Art ihres zufälligen Aussäens eines über ihm niederfallen lassen? Sei dem, wie ihm wolle, der Knecht jagte an jenem frühen Morgen, als gelte es sein Leben, knietief im Staub den Berg hinab und hielt nicht inne, bis er den Brunnen erreicht hatte.

Die ganze Dorfeinwohnerschaft war um den Brunnen versammelt; sie standen in ihrer gedrückten Weise umher und flüsterten miteinander, zeigten aber keine andere Erregung als die einer mürrischen Neugier und Überraschung. Die Leitkühe, die man hastig hereingebracht und an den nächsten besten Haltpfählen angebunden hatte, guckten dumm zu oder legten sich nieder und zerkauten nochmals das ärmliche Futter, das sie bei ihrem unterbrochenen Schleudergang abgemäht hatten. Einige Leute aus dem Schloß, einige aus dem Posthaus und sämtliche Steuerbeamte waren mehr oder weniger bewaffnet und drängten sich nach der andern Seite der kleinen Straße zusammen. Bereits war der Knecht in die Mitte einer Gruppe von fünfzig besonderen Freunden gedrungen und zerschlug sich mit seiner blauen Mütze die Brust. Was hatte alles dies zu bedeuten, und warum warf Monsieur Gabelle sich so hurtig hinter einem Bedienten aufs Pferd, um, das Tier doppelt belastend und gleichsam eine neue Auflage von Bürgers Lenore bildend, im Galopp dahingetragen zu werden?

Es bedeutete, daß droben im Schloß ein steinernes Gesicht weiter war.

Die Gorgone hatte in der Nacht das Schloß wieder betrachtet und das noch fehlende steinerne Gesicht hinzugefügt das steinerne Gesicht, auf das es schon seit zweihundert Jahren gewartet.

Es lag auf dem Kissen von Monsieur le Marquis. Es glich einer schönen Maske, die plötzlich aufgeschreckt, erzürnt und versteinert wurde. Im Herzen der damit in Verbindung stehenden steinernen Figur steckte ein Messer. Um das Heft desselben war ein Papierstreifen gerollt und auf diesen gekritzelt:

»Im Galopp mit ihm zu Grabe! Dies von Jacques.«

Zweiter Teil


Zweiter Teil

Snitchey und Craggs hatten eine hübsche kleine Kanzlei auf der alten Walstatt, wo sie ein hübsches kleines Geschäft betrieben und eine große Menge kleiner regelrechter Schlachten für ebenso zahlreiche streitende Klienten ausfochten. Obwohl man eigentlich nicht sagen konnte, daß diese Kämpfe im allgemeinen flotte Gefechte gewesen wären, denn in Wirklichkeit gingen sie im Schneckengang, so waren sie es doch für die Firma selbst, die bald einen Schuß auf diesen Kläger abgab, bald jenen Verteidiger aufs Korn nahm, jetzt mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfiel und dann wieder ein Scharmützel mit einer irregulären Truppe kleiner Schuldner ausfocht, wie es der Zufall gerade wollte und wie der Feind ihr entgegentrat. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die »Gazette« ein wichtiges und nötiges Blatt, und von den meisten Aktionen, in denen sie ihr Feldherrntalent bewiesen, sagten die Kombattanten später aus, daß sie wegen des vielen Schwefeldampfes, von dem sie sich umgeben gefühlt, einander nur schwer hätten unterscheiden können und kaum hätten sehen können, was eigentlich vorging. Die Kanzlei der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem hinter einer immer offenen Türe, zwei glatte Stufen tief auf dem Marktplatz, so daß jeder streitlustige Farmer, den es nach einer heißen Douche verlangte, ohne Umstände hineinstolpern konnte. Ihre Konferenzen hielten sie eine Treppe hoch in einem Hinterzimmer mit einer niedrigen dunklen Decke ab, das aussah, als ob es die Brauen in finsterem Nachdenken über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Das Mobiliar bestand aus einigen Lederstühlen mit hohen Lehnen, besetzt mit großen runden Messingnägeln, von denen hier und da ein paar ausgefallen oder auch unbewußt von den umherirrenden Daumen und Zeigefingern in Verwirrung gesetzter Klienten herausgezogen worden waren. Es hing ein eingerahmter Stahlstich, das Porträt eines berühmten Richters, an der Wand, jede Locke der schrecklichen Perücke danach angetan, einem Menschen das Haar zu Berge stehen zu machen. Ballen von Papier füllten die staubigen Schränke, Regale und Tische, und rings die Wandtäfelung entlang standen Reihen von feuerfesten, mit Vorhängschlössern versehenen Kisten. Mit Namen, die angsterfüllte Klienten wie unter einem grausamen Zauber vorwärts und rückwärts zu buchstabieren sich gezwungen fühlten, während sie scheinbar Snitchey und Craggs zuhörten, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Snitchey und Craggs hatten wie im Berufs-, so auch im Privatleben einen Partner auf Lebenszeit. Das heißt, sie waren verheiratet. Snitchey und Craggs, die besten Freunde von der Welt, schenkten einander volles Vertrauen. Aber wie so etwas häufig im Leben vorkommt, betrachtete Snitcheys Gattin Mr. Craggs vorsätzlich mit argwöhnischem Auge, und dasselbe tat Mrs. Craggs hinsichtlich Mr. Snitchey.

»Na, du mit deinen Snitcheys«, pflegte Mrs. Craggs zu ihrem Gatten zu sagen, indem sie die Mehrzahl anwandte, als ob sie geringschätzig von einem Paar nicht einwandfreier Pantoffeln oder anderen Gegenständen, die in der Einzahl nicht vorkommen, spräche, »du mit deinen ewigen Snitcheys, ich weiß nicht, was du mit deinen ewigen Snitcheys willst. Du verläßt dich viel zuviel, kommt mir vor, auf deine Snitcheys, und ich hoffe nur, daß meine Worte niemals zur Wahrheit werden.« Mrs. Snitchey hingegen äußerte sich zu ihrem Mann über Craggs in dem Sinne, daß, wenn er – Snitchey – sich jemals von einem Menschen auf Abwege bringen ließe, es nur durch diesen Mann geschehen würde. Und wenn je in einem sterblichen Auge sich Falschheit spiegle, so in Craggs‘ Auge.

Nichtsdestoweniger waren sie doch recht gute Freunde, und zwischen Mrs. Snitchey und Mrs. Craggs bestand ein besonderes enges Bündnis gegen die »Kanzlei«, die in ihren Augen eine Art Blaubartkammer war – ein gemeinsamer Feind voll gefährlicher, weil unbekannter Umtriebe.

In dieser Kanzlei sammelten indessen Snitchey und Craggs Honig aus ihren mannigfachen Bienenstöcken. Hier pflegten sie sich an schönen Abenden am Fenster ihres Konferenzzimmers, das hinaus auf die alte Walstatt sah, aufzuhalten und sich zu wundern (aber das war gewöhnlich nur in der Schwurgerichtszeit, wenn die übermäßige Praxis sie sentimental machte) über die Torheit des Menschengeschlechts, das nicht in Frieden leben und seine Prozesse vor dem Zivilgericht ausfechten wollte. Hier zogen Tage und Wochen, Monate und Jahre an ihnen vorbei, und ihr Kalender, die allmählich abnehmende Zahl der Messingnägel in den Ledersesseln und die anwachsenden Stöße Papier auf dem Tische legten Zeugnis davon ab. Fast drei Jahre waren seit jenem Frühstück im Obstgarten verflossen, da saßen die beiden wieder eines Abends beisammen bei einer Konferenz. Die Zeit hatte den einen mager und den andern dick gemacht.

Ein Mann in den Dreißigern, ein wenig salopp angezogen und ein bißchen verlebt in den Zügen, sonst aber gut gewachsen und fein gekleidet, saß bei ihnen in dem Staatslehnstuhl, die eine Hand in der Brust des Rockes, die andere in dem etwas zerwühlten Haar, und in trübes Nachdenken versunken. Die Herren Snitchey und Craggs saßen an einem Pulte daneben einander gegenüber. Eine der feuerfesten Kisten war aufgesperrt, ein Teil ihres Inhalts lag auf dem Tisch ausgebreitet, während der Rest durch die Hand Mr. Snitcheys ging, der ein Dokument nach dem andern ans Licht hielt, jedes Papier einzeln ansah, dabei den Kopf schüttelte und es dann Mr. Craggs hinreichte, der es ebenfalls ansah, dabei den Kopf schüttelte und es wieder weglegte. Zuweilen hielten sie inne, schüttelten gemeinsam den Kopf und blickten auf ihren in Gedanken versunkenen Klienten. Da auf der Kiste stand: Michael Warden, Hochwohlgeboren, konnte man wohl schließen, daß Name wie Kiste zu diesem Klienten gehörten und daß die Angelegenheiten Michael Wardens Hochwohlgeboren schlecht standen.

»Das ist alles«, sagte Mr. Snitchey und legte das letzte Papier hin. »Ich sehe keine weitere Möglichkeit. Keine weitere Möglichkeit.«

»Alles verloren, verschwendet, verpfändet, verschuldet und verkauft, was?« sagte der Klient und blickte auf.

»Alles«, sagte Mr. Snitchey.

»Es läßt sich nichts mehr machen, sagen Sie?«

»Gar nichts mehr.«

Der Klient kaute an seinen Nägeln und versank wieder in Brüten.

»Und ich bin nicht einmal persönlich mehr sicher in England, meinen Sie?«

»In keinem Teil des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland«, antwortete Snitchey.

»Also so etwas wie ein verlorner Sohn! Aber einer, der keinen Vater hat, um zu ihm zurückzukehren, keine Schweine, um sie zu hüten, und keine Treber, um sie mit ihnen zu teilen, was?« fuhr der Klient fort, ein Bein über das andere schlagend, die Augen zu Boden gesenkt.

Mr. Snitchey hustete bloß, als wolle er sich gegen einen Vergleich zwischen einer allegorischen Darstellung und einem Rechtsverhältnisse verwahren. Mr. Craggs hustete ebenfalls, um zu erkennen zu geben, daß das gemeinsame Ansicht der Firma sei.

»Ruiniert mit dreißig Jahren«, sagte der Klient, »uff!«

»Nicht ruiniert, Mr. Warden«, antwortete Snitchey, »so schlimm steht’s nicht. Sie haben sich nach Kräften bemüht, muß ich gestehen, aber ruiniert sind Sie nicht. Ein wenig Einschränkung – ein wenig Haushalten –«

»Ein wenig zum Teufel«, sagte der Klient.

»Mr. Craggs«, sagte Snitchey, »würden Sie mich mit einer Prise verpflichten? Besten Dank, Sir.«

Während der unerschütterliche Rechtsanwalt den Tabak in die Nase schnupfte, versonnen und offenbar mit großem Genuß in diese Beschäftigung vertieft, verzog der Klient langsam das Gesicht zu einem Lächeln, sah auf und sagte:

»Sie sprechen von Haushalten. Wie lange haushalten?«

»Wie lange haushalten?« antwortete Snitchey und schnappte die letzten Tabakkörner von den Fingern und nahm in seinem Kopfe eine lange Berechnung vor. »Bei Ihrem verschuldeten Vermögen, Sir? In guten Händen, Sir? S. & C.’s Händen, sagen wir? Sechs bis sieben Jahre!«

»Sechs bis sieben Jahre lang verhungern«, sagte der Klient mit ärgerlichem Lachen und ungeduldig auf dem Stuhle hin und her rutschend.

»Sechs bis sieben Jahre lang verhungern, Mr. Warden, wäre etwas außergewöhnlich Ungewöhnliches«, sagte Snitchey. »Sie könnten sich während der Zeit damit sehen lassen und ein großes Vermögen dabei verdienen. Aber wir sind der Meinung, Sie würden es nicht aushalten! Ich spreche für meine Wenigkeit & Craggs – und rate infolgedessen davon ab.«

»Also was raten Sie eigentlich?«

»Einschränken«, wiederholte Snitchey. »Haushalten. Ein paar Jahre Haushalten unter der Aufsicht meiner Wenigkeit & Craggs‘ würde alles wieder in Ordnung bringen. Um uns aber in Stand zu setzen, Termine anbieten und einhalten zu können und auch Ihnen zu ermöglichen, Termine einzuhalten, müssen Sie im Ausland leben. Was das Verhungern anbelangt, können wir Ihnen selbst jetzt schon ein paar hundert Pfund jährlich aussetzen, selbst schon für den Anfang, getraue ich mir zu sagen, Mr. Warden.«

»Einige hundert«, sagte der Klient, »und ich habe Tausende gebraucht.«

»Darüber«, entgegnete Mr. Snitchey und legte die Papiere bedächtig wieder in die eiserne Kiste, »darüber besteht kein Zweifel. Besteht kein Zweifel«, wiederholte er zu sich selbst, gedankenvoll in seiner Beschäftigung fortfahrend.

Der Advokat kannte höchstwahrscheinlich seinen Mann; jedenfalls übte seine trockene, verschmitzte und wunderliche Weise einen günstigen Einfluß auf die Verdrossenheit seines Klienten aus und stimmte ihn freier und ungezwungener. Vielleicht kannte auch der Klient seinen Mann und hatte das Angebot nur herausgelockt, um den Plan, mit dem er jetzt herausrückte, besser verteidigen zu können. Er erhob langsam den Kopf und sah seinen undurchdringlichen Ratgeber mit einem Lächeln an, aus dem bald ein Lachen wurde.

»Offenbar, mein starrköpfiger Freund«, sagte er.

Mr. Snitchey zeigte auf seinen Kompagnon: »… und Craggs, Sie entschuldigen, Mr. Warden! – und Craggs.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Craggs«, sagte der Klient. »Offenbar also, meine starrköpfigen Freunde«, er lehnte sich in seinem Sessel vor und senkte die Stimme ein wenig, »kennen Sie meinen Ruin noch nicht zur Hälfte.«

Mr. Snitchey fuhr zusammen und starrte ihn an. Mr. Craggs tat desgleichen.

»Ich bin nicht nur bis über die Ohren verschuldet«, sagte der Klient, »sondern auch bis über die Ohren –«

»Doch nicht verliebt?« rief Snitchey.

»Ja«, sagte der Klient, indem er in den Stuhl zurücksank und die Anwaltfirma, die Hände in die Taschen gesteckt, betrachtete: »Bis über die Ohren verliebt.«

»In eine Erbin?« fragte Snitchey.

»Nicht in eine Erbin.«

»Auch nicht in eine reiche Dame?«

»Nicht reich, soviel ich weiß, außer an Schönheit und Tugend.«

»In eine unverheiratete Dame, hoffe ich«, sagte Mr. Snitchey mit großem Nachdruck.

»Natürlich.«

»Doch nicht in eine von Dr. Jeddlers Töchtern?« fragte Snitchey, plötzlich die Ellbogen auf die Knie stemmend und sein Gesicht wenigstens eine Elle weit vorstreckend.

»Doch«, erwiderte der Klient.

»Doch nicht in seine jüngere Tochter?« fragte Snitchey.

»Doch«, antwortete der Klient.

»Mr. Craggs«, sagte Snitchey, sichtlich erleichtert, »würden Sie mich nochmals mit einer Prise Tabak verpflichten! Ich danke ihnen, Sir. Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen sagen zu können, Mr. Warden, daß daraus nichts werden kann, Sir, denn sie ist verlobt. Mein Kompagnon kann es bestätigen. Wir sind von der Sachlage unterrichtet.«

»Wir sind von der Sachlage unterrichtet«, bestätigte Craggs.

»Nun, ich vielleicht auch«, antwortete der Klient ruhig. »Was will das besagen? Sie wollen welterfahrene Leute sein und haben noch nie gehört, daß ein Weib andern Sinnes werden kann.«

»Es sind allerdings Klagen wegen Bruchs des Eheversprechens schon vorgekommen«, sagte Mr. Snitchey, »sowohl gegen Bräute wie gegen Witwen, aber in den meisten Fällen –«

»Fällen«, unterbrach ihn der Klient ungeduldig, »kommen Sie mir nicht mit Fällen. Das Leben füllt einen viel größern Band, als Ihre juristischen Schmöker es sind. Übrigens glauben Sie vielleicht, ich habe umsonst sechs Wochen in des Doktors Haus gewohnt?«

»Ich meine, Sir«, bemerkte Mr. Snitchey ernst, zu seinem Kompagnon gewandt, »ich glaube, daß von allen Streichen, die Mr. Warden schon von seinen Pferden gespielt worden sind – und sie waren ziemlich zahlreich und ziemlich kostspielig, wie niemand besser weiß als er und wir beide –, der schlimmste der war, daß ihn eines derselben mit drei gebrochenen Rippen, einer Achselverrenkung und Gott weiß wie viel Quetschungen an Dr. Jeddlers Gartenmauer zurückgelassen hat. Damals, als wir ihn an des Doktors Hand genesen sahen, dachten wir an nichts Böses, aber jetzt sieht es schlimm aus, Sir, schlimm! Es sieht sehr schlimm aus. Und noch dazu Dr. Jeddler – unser Klient, was, Mr. Craggs?«

»Und Mr. Alfred Heathfield dazu – fast auch schon ein Klient, Mr. Snitchey«, sagte Craggs.

»Und Mr. Michael Warden, ebenfalls Klient. In gewisser Hinsicht«, bemerkte der Besucher ungeniert, »und obendrein kein schlechter, da er zehn bis zwölf Jahre lang ein guter Spielball war. Allerdings hat sich Mr. Warden jetzt die Hörner abgelaufen. Dort in der Kiste – liegen die Späne, und er gedenkt jetzt in sich zu gehen und klüger zu werden, und zum Beweis dessen will Mr. Warden, wenn er kann, Marion, des Doktors liebenswürdige Tochter, heiraten und sie mit sich nehmen.«

»In der Tat, Mr. Craggs –«, begann Snitchey.

»In der Tat, Mr. Snitchey und Mr. Craggs, hochgeschätzte Firma«, unterbrach der Klient. »Sie kennen doch Ihre Pflicht Ihrem Klienten gegenüber und wissen ganz genau, daß es nicht Ihre Sache ist, sich in eine Liebesangelegenheit zu mischen, die ich Ihnen anvertrauen mußte?! Ich denke nicht daran, die junge Dame ohne ihre Einwilligung zu entführen. Es ist nichts Ungesetzliches dabei. Ich war niemals Mr. Heathfields Busenfreund. Ich mache mich keines Vertrauensbruches gegen ihn schuldig. Ich liebe, wo er liebt, und denke zu gewinnen, wo er gewinnen wollte – wenn ich kann.«

»Er kann nicht, Mr. Craggs«, sagte Snitchey, sichtlich beunruhigt und nervös. »Es wird ihm nicht gelingen, Sir. Sie hängt sehr an Mr. Alfred.«

»Wirklich?« meinte der Klient.

»Mr. Craggs, sie ist geradezu vernarrt in ihn, Sir«, beteuerte Snitchey.

»Ich habe doch nicht umsonst sechs Wochen in des Doktors Hause gewohnt. Und ich hatte bald so meine Zweifel«, bemerkte der Klient. »Ja, sie würde sehr an ihm hängen, wenn es nach dem Willen ihrer Schwester ginge, aber ich habe sie beobachtet. Marion vermeidet es, seinen Namen auszusprechen, weicht dem Thema überhaupt aus, schon bei der leisesten Anspielung.«

»Warum sollte sie das, Mr. Craggs? Warum sollte sie das, Sir?« fragte Snitchey.

»Ich weiß nicht warum, obwohl es viele Erklärungsgründe dafür gibt«, sagte der Klient und lächelte innerlich über die Spannung und Betroffenheit, die sich in Mr. Snitcheys wißbegierig glänzendem Auge ausdrückte, und über die vorsichtige Weise, mit der er selbst die Unterhaltung führte, um von der Sache mehr zu erfahren. – »Aber daß es der Fall ist, weiß ich bestimmt. Sie war sehr jung, als sie sich verlobte – wenn man es überhaupt so nennen darf – und bereut es vielleicht. Vielleicht – es ist eine peinliche Sache, so etwas auszusprechen, aber meiner Seel, ich meine es nicht schlimm –, vielleicht hat sie sich in mich verliebt so wie ich mich in sie.«

»Hoho, Mister Alfred, ihr alter Spielgefährte, Sie wissen, Mr. Craggs«, sagte Snitchey mit gezwungenem Lachen, »kannte sie schon als Wickelkind.«

»Um so wahrscheinlicher, daß sie es endlich satt hat, an ihn zu denken«, fuhr der Klient gelassen fort, »und nicht abgeneigt ist, ihn mit einem neuen Liebhaber zu vertauschen, der ihr unter romantischeren Umständen vor Augen trat oder besser gesagt von seinem Pferd vor Augen gebracht wurde, mit einem Liebhaber, der in dem für ein Mädchen vom Lande nicht ungünstigen Rufe steht, leichtsinnig und flott gelebt und dabei nichts Böses getan zu haben, und der es seinem Äußern nach – es mag das schon wieder eingebildet klingen, aber meiner Seel, ich meine es nicht so – mit Mr. Alfred noch lange aufnehmen kann.«

Dagegen ließ sich nicht viel einwenden, eigentlich gar nichts. Mr. Snitchey erkannte das genau, als er seinen Klienten mit einem Blick streifte. Gerade in der Sorglosigkeit und Ungeniertheit, mit der sich jener gab, lag viel natürliche Anmut und Liebenswürdigkeit. Es mußte den Eindruck machen, daß sein hübsches Gesicht und seine elegante Gestalt noch viel besser sein könnten, wenn er nur wollte, und daß er voll Kraft und Energie sein könnte, wenn er nur einmal sich aufraffen und Ernst machen wollte. (Bis jetzt hatte er es noch nie getan.)

»Eine gefährliche Sorte von Lebemann«, sagte sich der geriebene Advokat, »der sich sogar das Feuer, dessen er in den Augen einer jungen Dame bedarf, ausborgt und schuldig bleibt.«

»Also hören Sie, Snitchey«, fuhr der Klient fort, indem er aufstand und den Rechtsanwalt bei einem Knopfe faßte, »und Sie, Craggs«, er faßte Craggs ebenfalls bei einem Knopfe und stellte den einen rechts, den ändern links, so daß keiner entschlüpfen konnte, »ich frage Sie nicht um Rat. Sie tun ganz recht daran, sich von dieser Sache vollständig fernzuhalten, die nicht derart ist, daß sich ernste, gesetzte Männer wie Sie hineinmischen könnten. Ich will Ihnen bloß kurz mit ein paar Worten meine Lage und meine Absichten darstellen und es dann Ihnen überlassen, für mich in meinen Geldangelegenheiten das Bestmögliche zu tun, denn Sie werden einsehen, wenn ich jetzt mit des Doktors schöner Tochter entfliehe (ich hoffe es zu tun und unter ihrem liebenswürdigen Einfluß ein anderer Mensch zu werden), dürfte das augenblicklich viel kostspieliger sein, als wenn ich allein fliehe. Doch wird sich dies durch eine veränderte Lebensweise bald wieder einbringen lassen.«

»Ich denke, es ist besser, wir verschließen diesen Ausführungen unser Ohr, Mr. Craggs«, sagte Snitchey und schielte zu seinem Kompagnon hinüber.

»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Craggs. Beide hörten trotzdem aufmerksam zu.

»Sie können ruhig Ihr Ohr verschließen«, antwortete der Klient. »Ich will es aber doch erzählen. Ich habe nicht vor, des Doktors Einwilligung mir zu erbitten, weil er sie mir sowieso nicht geben würde. Ich tue dem Doktor nichts Böses damit (übrigens, wie er selbst sagt, sind solche Kleinigkeiten durchaus nicht ernsthaft zu nehmen), will ich doch sein Kind, meine Marion, von etwas befreien, was sie, wie ich genau weiß, mit Bangen im Herzen kommen sieht, nämlich von der Rückkehr ihres früheren Liebhabers zu ihr. Wenn irgend etwas in der Welt wahr ist, so ist es das, daß sie seiner Rückkehr mit Schrecken entgegensieht. Es geschieht also niemand etwas Böses. Ich bin so gehetzt und gejagt gerade jetzt, daß ich das Leben eines fliegenden Fisches führe. Ich bin umlauert selbst im Finstern, bin ausgesperrt aus meinem eignen Haus und von meinem eignen Grund und Boden vertrieben. Aber dieses Haus und dieser Grund und Boden und manches Joch Feld dazu werden mir eines Tages wieder gehören, wie Sie wissen und selbst sagen, und Marion wird wahrscheinlich als meine Frau nach zehn Jahren reicher dastehen – das müssen Sie nach Ihrer Darlegung, die gewiß nicht sanguinisch ist, zugeben – als an Alfred Heathfields Seite, dessen Rückkehr sie mit Furcht entgegensieht (bedenken Sie das wohl) und dessen Leidenschaft nicht heißer als meine sein kann. Wem geschieht also irgendein Unrecht? Die Sache ist fair von Anfang bis zu Ende. Mein Recht ist das gleiche wie seines, wenn sie zu meinen Gunsten sich entscheidet. Und ich will es auf ihre Entscheidung ankommen lassen. Es wird Ihnen lieb sein, wenn Sie nicht mehr viel von dieser Sache hören, und ich werde Ihnen auch nicht weiter mehr erzählen. Jetzt kennen Sie mein Vorhaben und wissen, was mir not tut. Wann muß ich fort von hier?«

»In einer Woche«, sagte Snitchey. »Was meinen Sie, Mr. Craggs?«

»Eher noch früher, möchte ich glauben«, antwortete Craggs.

»In einem Monat«, sagte der Klient, nachdem er die Gesichter der beiden scharf beobachtet hatte. »Heute über einen Monat.

Heute haben wir Donnerstag. Ob es glückt oder mißlingt, von heute über einen Monat reise ich ab.«

»Die Frist ist zu lang«, sagte Snitchey, »viel zu lang. Aber sei es schon. Ich glaubte schon, er würde sich drei ausbedingen«, brummte er in sich hinein.

»Sie gehen schon? Guten Abend, Sir.«

»Guten Abend«, antwortete der Klient und schüttelte der Firma die Hände. »Sie sollen sehen, welch guten Gebrauch ich noch von Reichtum machen werde. Von heute an heißt der Stern meines Schicksals Marion!«

»Geben Sie auf die Treppe acht, Sir«, versetzte Snitchey, »denn dort scheint der Stern nicht. Guten Abend.«

»Guten Abend!«

Die beiden Rechtsanwälte standen auf der obersten Stufe, jeder eine Kanzleikerze in der Hand, und leuchteten ihm hinunter. Als er fort war, standen sie da und sahen einander an.

»Was denken Sie von all dem, Mr. Craggs«, sagte Snitchey.

Mr. Craggs schüttelte den Kopf.

»Es war wohl unsre Meinung an dem Tage, als die Vormundschaft aufgehoben wurde, daß in der Art, wie das Paar voneinander Abschied nahm, etwas nicht ganz richtig wäre, ich erinnere mich jetzt«, sagte Snitchey.

»So ist’s«, sagte Mr. Craggs.

»Vielleicht täuscht er sich doch«, fuhr Mr. Snitchey fort, sperrte die feuerfeste Kiste ab und stellte sie weg. »Und wenn nicht, ist schließlich ein bißchen Flatterhaftigkeit und Untreue auch kein Wunder, Mr. Craggs. Und doch hätte ich gedacht, daß das hübsche Gesichtchen sehr treu aussähe. Mir kam es vor«, sagte Mr. Snitchey, indem er seinen großen Mantel wegen des kalten Wetters draußen umnahm und seine Handschuhe anzog und dann eine der beiden Kerzen auslöschte, »als ob ihr Charakter in letzter Zeit kräftiger und entschlossener geworden wäre, entschlossener sogar als der ihrer Schwester.«

»Mrs. Craggs war derselben Meinung«, bemerkte Craggs.

»Ich gäbe wirklich etwas darum«, bemerkte Mr. Snitchey der im Grunde sehr gutherzig war, »wenn ich hoffen dürfte, daß Mr. Warden die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat. Aber so leichtsinnig, launenhaft und unbedacht er auch ist, so kennt er immerhin die Welt und die Menschen. Er muß es wohl und hat seine Kenntnis teuer genug bezahlt. Ich kann mir nicht recht denken, daß er sich täuscht. Wir tun wohl am besten, uns nicht hineinzumischen; wir können weiter nichts tun, Mr. Craggs, als schweigen.«

»Weiter nichts«, stimmte Craggs zu.

»Unser guter Freund, der Doktor, nimmt solche Sachen zu leicht«, sagte Snitchey kopfschüttelnd. »Ich hoffe, daß ihn seine Philosophie diesmal nicht im Stiche läßt. Unser junger Freund sprach viel vom Schlachtfeld des Lebens« – er schüttelte wieder den Kopf –, »ich hoffe, daß er nicht schon beim Morgenrot unter die Gefallenen zählt. Haben Sie Ihren Hut, Mr. Craggs? Ich will das andere Licht auslöschen.«

Als Mr. Craggs bejahte, ließ Mr. Snitchey die Tat dem Worte folgen, und sie tasteten sich aus der Kanzlei hinaus, die jetzt in Dunkelheit lag wie das Thema oder wie die Gesetzgebung im allgemeinen.

Meine Geschichte führt nun in ein kleines, stilles Studierzimmer, wo an demselben Abend die Schwestern und der muntere alte Doktor vor einem traulichen Kamin saßen. Grace nähte, Marion las aus einem Buche vor. Der Doktor, in Schlafrock und Pantoffeln, die Füße auf dem warmen Kaminteppich, hörte in seinem Lehnstuhl zu und betrachtete seine Töchter. Sie waren beide sehr schön. Zwei hübschere Gesichter hatten noch nie eine Kaminecke traulich und heimisch gemacht. Etwas von ihrer Verschiedenheit hatten die abgelaufenen drei Jahre gemildert, und auf der reinen Stirn der Jüngern Schwester, in ihrem Auge und dem Ton ihrer Stimme war dieselbe ernste Innigkeit zu erkennen, die bei ihrer altern Schwester eine mutterlos verlebte Jugend schon längst gereift hatte. Aber immer noch schien sie lieblicher und zarter als die andere, immer noch schien sie ihr Haupt an ihre Schwester lehnen zu wollen und auf sie zu bauen und Rat und Hilfe in ihren Augen zu suchen. In diesen liebevollen Augen, so ruhig, so heiter und so freundlich, wie ehedem.

»Und da sie jetzt im Vaterhause war«, las Marion aus dem Buche vor, »dem Vaterhause, das ihr so unendlich teuer geworden durch alle ihre Erinnerungen, begann sie jetzt zu fühlen, daß die schwere Prüfung ihres Herzens bald kommen müsse und sich nicht mehr würde aufschieben lassen. O Vaterhaus, unser Trost und Freund, wenn alle andern dahingegangen sind, von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab –«

»Meine liebe Marion!« sagte Grace.

»Aber Kätzchen!« rief ihr Vater aus. »Was fehlt dir denn?«

Marion faßte ihrer Schwester hingestreckte Hand und las weiter. Aber ihre Stimme bebte und zitterte, trotzdem sie sich bemühte, ihre Ergriffenheit zu verbergen.

»– von dem der Abschied bei jedem Schritt zwischen Wiege und Grab immer kummervoll ist. O Vaterhaus, uns allen so teuer, vergib uns, wenn wir uns von dir wenden, und sei nachsichtig, wenn unser Fuß strauchelt! Laß kein Lächeln aus alter Zeit in dem Blick deines Erinnerungsbildes leuchten! Keinen Strahl von Liebe, Milde, Nachsicht und Herzlichkeit ausgehen von dem Haupt in weißem Haar! Keine Erinnerung an Liebeswort und Liebesblick den anklagen, der dich verlassen. Nur wenn dein Blick strafend und streng ist, dann sieh in deiner Barmherzigkeit den Reuigen an.«

»Liebe Marion, lies nicht weiter heut abend«, sagte Grace, denn sie bemerkte die Tränen in den Augen ihrer Schwester.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Marion und klappte das Buch zu. Die Worte schienen sie zu brennen.

Der Doktor war sehr belustigt und streichelte ihr das Haar.

»So etwas! Von einem Roman ganz aus der Fassung gebracht, von Druckerschwärze und Papier! Na, na, es ist schließlich ein und dasselbe, es ist ebenso vernünftig, Papier und Druckerschwärze ernst zu nehmen, wie irgendein anderes Ding. Aber trockne deine Tränen, Kind, trockne doch deine Tränen. Ich bin überzeugt, die Heldin ist längst wieder im Vaterhaus und alles ist wieder gut – und wenn nicht, so besteht ein wirkliches Heim bloß aus vier Wänden und ein eingebildetes aus Papier und Tinte. Was ist denn schon wieder los?«

»Ich bin’s bloß, Mister«, sagte Clemency und steckte den Kopf zur Türe herein.

»Und was fehlt dir denn?« fragte der Doktor.

»Mein Gott, mir nichts«, erwiderte Clemency.

Das war freilich wohl wahr, nach ihrem rein gewaschenen Gesicht zu urteilen, aus dem wie gewöhnlich die beste Laune strahlte, die sonst wenig hübschen Züge verschonend. Wohl gelten Abschürfungen auf dem Ellbogen gewöhnlich nicht als persönlicher Reiz oder Schönheitsflecke, aber besser, man stößt sich auf dem Gang durchs Leben bloß die Arme wund als die Laune: und Clemencys Gemütsstimmung war, was das anbetrifft, so frisch und gesund wie die irgendeiner Schönen des Landes.

»Nichts fehlt mir«, sagte Clemency und trat zur Türe herein. »Aber kommen Sie mal etwas näher, Mister.«

Einigermaßen erstaunt willfahrte der Doktor ihrer Einladung.

»Sie sagten, ich sollte Ihnen keinen geben, wenn die andern dabei sind«, sagte Clemency.

Ein in der Familie Fremder hätte nach ihrem merkwürdigen Liebäugeln bei diesen Worten und der eigentümlichen verzückten Bewegung ihrer Ellbogen, als wolle sie sich selbst umarmen, annehmen müssen, daß sie, milde ausgedrückt, einen ehrsamen Kuß meine. In der Tat schien der Doktor im ersten Moment selbst etwas bestürzt. Aber bald gewann er seine Fassung wieder, als Clemency begann, ihre beiden Taschen zu durchsuchen, wobei sie mit der rechten anfing, dann in der unrichtigen wühlte, zuletzt zu der rechten wieder zurückkehrte und einen Brief zum Vorschein brachte.

»Britain fuhr vorbei«, sagte sie und reichte den Brief dem Doktor hin, »gerade als die Post ankam, und wartete darauf. Es steht A. H. in der Ecke. Ich wette, Mr. Alfred ist auf der Heim- reise. Wir kriegen eine Hochzeit ins Haus – heut morgen waren zwei Löffel in der Suppenschüssel. Ach du mein Gott, wie langsam er ihn wieder aufmacht!«

Sie brachte das alles vor wie ein Selbstgespräch, reckte sich in ihrer Ungeduld, die Nachricht zu vernehmen, auf den Zehen immer höher und höher, drehte ihre Schürze zu Korkzieherform und machte einen Mund wie einen Flaschenhals. Auf dem Höhepunkt der Erwartung angekommen, weil der Doktor mit dem Briefe immer noch nicht fertig werden wollte, ließ sie sich plötzlich wieder auf die Fußsohlen fallen und bedeckte mit der Schürze ihr Gesicht, ganz verzweifelt und nicht mehr imstande, es noch länger auszuhalten.

»Hierher, Kinder!« schrie der Doktor. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe niemals in meinem Leben ein Geheimnis bei mir behalten können. Es gibt auch nicht viel, was geheim zu halten wäre in dieser – doch still davon. Also, Alfred ist schon auf dem Heimweg und kommt demnächst an.«

»Demnächst«, wiederholte Marion.

»Nun, so bald doch nicht, wie du in deiner Ungeduld wohl vermutest, aber immerhin bald genug. Laßt mal sehen. Heute ist Donnerstag, nicht wahr? Dann will er heute in einem Monat hier sein.«

»Von heute in einem Monat«, wiederholte Marion leise.

»Ein fröhlicher Tag und ein Festtag für uns«, sagte Graces heitere Stimme, und sie küßte Marion beglückwünschend.

»Ein lang erwarteter Tag, Liebling, aber endlich doch gekommen.«

Ein Lächeln war die Antwort, ein trübes Lächeln, aber voll schwesterlicher Liebe, und als sie Grace ins Gesicht sah und der ruhigen Musik ihrer Stimme lauschte, wie sie die Freude über die Rückkehr weiter ausspanne da glänzte in ihrem eigenen Antlitz wieder Hoffnung und Freude auf.

Und noch etwas anderes: etwas, das durch alle ändern Empfindungen durchschimmerte und für das es keine Worte gibt. Es war nicht Freude, Frohlocken oder Stolz. Die hätten sich nicht so ruhig geäußert. Es war nicht nur Liebe und Dankbarkeit und entsprang keinem selbstsüchtigen Gedanken. Diese glänzen nicht so auf der Stirn, schweben nicht so auf den Lippen, bewegen das Herz nicht derart, daß es den ganzen Körper ergreift.

Dr. Jeddler konnte trotz seiner Philosophie, mit der er beständig in der Praxis in Widerspruch geriet, wie es auch berühmteren Philosophen zu ergehen pflegt, sein starkes Interesse an der Rückkehr seines alten Schülers und Mündels nicht verleugnen. So setzte er sich wieder in seinen Lehnstuhl, streckte abermals die Füße auf dem warmen Kaminteppich aus und las den Brief wieder und wieder durch und hörte nicht auf, davon zu sprechen.

»Es hat einmal eine Zeit gegeben«, sagte er und blickte ins Feuer, »als du und er Arm in Arm herumlieft, wie ein Paar lebendige Puppen, weißt du noch, Grace?«

»O ja«, antwortete sie mit munterm Lachen und hantierte emsig mit ihrer Nadel.

»Heute in einem Monat, wahrhaftig«, meinte der Doktor nachdenklich. »Und wo war meine kleine Marion damals?«

»Nie weit von ihrer Schwester«, sagte Marion fröhlich, »wenn sie auch noch klein war. Grace war mir alles, damals schon, als sie selbst noch ein Kind war.«

»Sehr richtig, Kätzchen, sehr richtig«, erwiderte der Doktor. »Sie war ein gesetztes kleines Frauchen, Grace, und eine gute Haushälterin; ein geschäftiges, ruhiges, nettes Ding, das unsere Launen mit Geduld ertrug und immer ihre eignen Wünsche vergaß, selbst damals schon, wenn sie uns unsere von den Augen ablesen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals, Grace, mein Liebling, eigenwillig oder rechthaberisch gewesen wärst. Außer in einem Punkt!«

»Ich fürchte, ich habe mich seitdem sehr zu meinem Nachteil verändert«, lachte Grace, immer noch emsig nähend. »Und was war das für ein Punkt, Vater?«

»Alfred natürlich«, sagte der Doktor. »Man mußte dich immer Alfreds Frau nennen. So nannten wir dich also Alfreds Frau, und nichts mochtest du lieber, so komisch das jetzt klingt; nicht einmal der Titel einer Herzogin, wenn wir dich zu einer solchen hätten machen können, wäre dir lieber gewesen.«

»Wirklich?« sagte Grace ruhevoll.

»Du weißt das nicht mehr?« fragte der Doktor.

»Ich glaube, ich erinnere mich, aber nur noch flüchtig. Es ist schon zu lange her.« Und sie summte den Refrain eines alten Liedes, das der Doktor gern hatte, vor sich hin.

»Alfred wird bald eine wirkliche Frau haben«, sagte sie, dem Gespräch eine andere Wendung gebend, »und das wird eine glückliche Zeit für uns alle werden. Mein dreijähriges Amt geht zu Ende, Marion. Und es war ein sehr leichtes Amt. Ich werde Alfred sagen, wenn ich dich ihm wieder zurückgebe, daß du seiner die ganze Zeit über in Liebe gedacht hast und daß er kein einziges Mal meiner Dienste bedurfte. Darf ich ihm das sagen, Liebling?«

»Sag ihm, liebe Grace«, antwortete Marion, »daß nie eine Pflicht so edel, hochherzig und standhaft erfüllt wurde, daß ich dich seit jener Zeit mit jedem Tage habe mehr lieben lernen und daß ich dich jetzt so unendlich tief ins Herz geschlossen habe.«

»Das kann ich ihm wohl kaum sagen«, entgegnete ihre Schwester, die Umarmung zärtlich erwidernd. »Wir wollen es Alfreds Phantasie überlassen, sich meine Verdienste selbst auszumalen. Er wird genug übertreiben, Marion, ganz wie du.«

Damit nahm sie ihre Arbeit wieder auf, die sie einen Augenblick aus der Hand gelegt hatte, als ihre Schwester so begeistert gesprochen, und summte wieder das alte Lied, das der Doktor so gern hörte. Und der Doktor, immer noch in seinem Lehnstuhl, die Füße ausgestreckt, horchte auf die Weise, schlug den Takt dazu auf seinem Knie mit Alfreds Brief, betrachtete seine Töchter und sagte sich, daß unter den vielen nichtigen Dingen der eitlen Welt diese da wenigstens hübsch genug wären.

Unterdessen begab sich Clemency Newcome, die so lange im Zimmer gewartet hatte, bis sie die Neuigkeit erfahren, wieder in die Küche, wo ihr Dienstgenosse, Mr. Britain, es sich nach dem Abendessen bequem machte, umgeben von einer so zahlreichen Sammlung funkelnder Deckel, sauber gescheuerter Pfannen, polierter Schüsseln, glänzender Kessel und anderer Anzeichen weiblichen Fleißes an den Wänden und Simsen, daß er wie in der Mitte eines Spiegelsaales saß. Die meisten freilich gaben kein sehr schmeichelhaftes Bild von ihm wieder. Und die Porträts waren keineswegs gleichartig. Auf manchen hatte er ein zu langes Gesicht oder ein sehr breites, dann wieder ein ganz leidliches, auf ändern wieder ein möglichst häßliches, je nach der Art, wie die Gegenstände es abspiegelten. Ganz so, wie es bei den Menschen ist. In einem Punkte aber stimmten alle Bilder überein. Nämlich, daß in ihrer Mitte behaglich ein Individuum saß, die Pfeife im Mund, einen Krug Bier beim Ellbogen – ein Individuum, das Clemency herablassend zunickte, als sie sich jetzt an denselben Tisch setzte.

»Nun, Clemency«, sagte Britain, »wie geh’s dir immer, und was gibt’s Neues?«

Clemency erzählte, was sie gehört hatte, und er nahm es sehr gnädig auf. Eine huldvolle Stimmung überkam Benjamin vom Scheitel bis zur Sohle. Er wurde viel breiter, viel röter, heiterer und fröhlicher in jeder Hinsicht. Es sah aus, als ob sein Gesicht, das vorher zu einem Knoten zusammengebunden gewesen, sich jetzt aufgeknöpft und geglättet hätte.

»Das wird wieder mal ein Geschäft für Snitchey und Craggs absetzen«, bemerkte er, langsam aus seiner Pfeife paffend. »Wir werden wieder mal die Zeugen abgeben müssen, Clemy.«

»Gott«, antwortete seine Gefährtin mit einer Lieblingsverrenkung ihrer Lieblingsgelenke. »Ich wollte, ich wäre es, Britain.«

»Was denn?«

»Die zum Altar ginge«, sagte Clemency.

Benjamin nahm die Pfeife aus dem Munde und lachte herzlich. »Ja, du wärst gerade die Rechte«, sagte er. »Arme Clemy!«

Clemency lachte ihrerseits ebenso herzlich wie er und schien sich über den Gedanken ebensosehr zu belustigen.

»Ja«, stimmte sie bei, »ich wäre gerade die Rechte, was?«

»Du wirst nie heiraten, versteht sich«, sagte Mr. Britain und nahm wieder die Pfeife in den Mund.

»Meinst du wirklich nicht?« fragte Clemency ganz ernsthaft.

Mr. Britain schüttelte den Kopf. »Keine Spur.«

»Denk mal«, sagte Clemency, »na! Trägst du dich nicht auch mit derartigen Gedanken? Demnächst, was?«

Eine so plötzlich gestellte Frage in einer so wichtigen Sache verlangte Überlegung. Nachdem Britain eine große Rauchwolke von sich geblasen und sie, den Kopf bald auf diese, bald auf jene Seite legend, betrachtet hatte, als wäre die Wolke die Hauptperson, die er von verschiedenen Gesichtspunkten aus jetzt beaugenscheinigen müsse, erwiderte er, daß er sich in der Angelegenheit noch nicht ganz klar wäre, aber – ja, ja, es sei schließlich nicht so unmöglich.

»Wer sie auch sein mag, ich wünsche ihr Glück«, rief Clemency.

»Oh, daran wird es ihr nicht fehlen«, sagte Benjamin, »sicherlich nicht.«

»Aber sie würde nicht so glücklich leben und keinen so verträglichen Gatten haben«, sagte Clemency legte sich halb über den Tisch und sah nachdenklich in das Licht, »wenn ich nicht gewesen wäre –; nicht daß ich’s beabsichtigt hätte – es war sicher nur Zufall – was, Britain?«

»Gewiß nicht«, antwortete Mr. Britain, jetzt auf jenem Höhepunkt des Genusses einer Pfeife, wo der Raucher den Mund nur mehr ein ganz klein wenig zum Sprechen öffnen kann und bequem im Stuhle sitzend nur mehr imstande ist, seiner Gesellschaft die Augen zuzuwenden und auch diese nur ernst und langsam. »Oh, ich bin dir sehr verbunden, Clemy, das weißt du ja.«

»Gott, wie hübsch der Gedanke daran ist!« sagte Clemency

In diesem Augenblick fielen ihre Augen auf die Unschlittkerze, und da sie sich plötzlich auf die Heilkraft dieses Wunderbalsams besann, salbte sie sich den linken Ellbogen reichlich mit dieser neuen Arznei.

»Du weißt, ich hab mancherlei Untersuchung über dies und jenes seinerzeit angestellt«, fuhr Mr. Britain mit dem tiefen Ernst eines Weisen fort, »weil ich immer von wißbegierigem Geiste war und viele Bücher über die Vorzüge und Mängel der irdischen Dinge gelesen habe. Schon als ich ins Leben trat, habe ich mich auf den Boden der Literatur begeben …«

»Wirklich!« rief Clemency bewundernd aus.

»Ja«, sagte Mr. Britain. »Zwei der besten Jahre meines Lebens habe ich versteckt hinter einer Buchtrödlerbude vertrauert, stets auf dem Sprung, hervorzustürzen, wenn jemand ein Buch in die Tasche steckte. Sodann war ich Laufbursche bei einer Damenschneiderin, in welcher Eigenschaft ich dazu mißbraucht wurde, in Öltuchpaketen nichts als Täuschung und Trug zu den Leuten zu tragen. Das verbitterte mein Gemüt und erschütterte mein Vertrauen in die menschliche Natur. Und dann hörte ich in diesem Hause so ungeheuer viel Gerede, daß sich mein Gemüt noch mehr verdüsterte. Meine Meinung ist nach alledem, daß nichts in der Welt ein sichereres und angenehmeres Besänftigungsmittel für mein Gemüt und ein besserer Führer durchs Leben ist als ein Muskatreiber.«

Clemency wollte etwas hinzusetzen, aber er kam ihr zuvor.

»Im Verein«, fügte er ernst hinzu, »mit einem Fingerhut.«

»Was du nicht willst, daß man dir tu‘ – und cetrera. Was?« bemerkte Clemency, verschränkte zufrieden und voll Freude über dies schöne Sprichwort die Arme und streichelte sich die Ellbogen. »So ein kerniger Satz, was?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Mr. Britain, »ob wirklich so etwas wie wahre Philosophie darin liegt. Ich hege meine Zweifel darüber, aber es bewährt sich und erspart einem viel Schimpfen, was bei der echten Ware nicht immer der Fall ist.«

»Bedenke nur, wie du selbst manchmal fluchtest«, sagte Clemency.

»Hm«, meinte Mr. Britain, »aber das Merkwürdigste an der Sache ist für mich, daß du es eigentlich warst, die mich bekehrte, du. Das ist das Sonderbarste daran, denn du hast doch nicht einmal einen halben Gedanken im Kopf.«

Clemency war nicht im geringsten beleidigt, schüttelte den Kopf, lachte und umarmte sich selbst und sagte: »Nein, ich glaube auch nicht.«

»Ich bin sogar so ziemlich davon überzeugt«, sagte Mr. Britain.

»Oh, ich glaube, da hast du ganz recht«, sagte Clemency, »ich mag gar keinen, ich brauche auch gar keinen.«

Benjamin nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte, bis ihm die Tränen über die Backen liefen. »Wie einfältig du bist, Clemency«, sagte er, wischte sich die Augen und konnte sich gar nicht mehr erholen. Clemency tat desgleichen, ohne das Geringste einzuwenden, und lachte ebenso herzlich wie er.

»Aber ich hab dich doch gern«, sagte Mr. Britain, »du bist ein ganz gutes Mädchen in deiner Art. Gib mir die Hand, Clemency. Was auch immer geschieht, ich will dich immer beachten und immer dein Freund sein.«

»Wirklich?« entgegnete Clemency. »Oh, das ist sehr gut von dir.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Britain und reichte ihr die Pfeife zum Ausklopfen hin. »Ich will immer zu dir halten. Horch! Was für ein merkwürdiges Geräusch?«

»Geräusch?« wiederholte Clemency.

»Fußtritte draußen, es klang, als ob jemand von der Mauer springe«, sagte Britain. »Sind sie schon alle oben?«

»Ja, um diese Zeit sind alle schon zu Bett.«

»Hast du denn nichts gehört?«

»Nein.«

Beide horchten, hörten aber nichts.

»Ich will dir was sagen«, meinte Benjamin und nahm eine Laterne herunter, »ich will zu meiner Beruhigung mal einen Blick hinaus tun, ehe ich schlafen gehe. Schließe die Tür auf, während ich das Licht anzünde, Clemy«

Clemency gehorchte schnell, bemerkte aber dabei, daß seine Mühe umsonst sei, daß er sich etwas eingebildet habe, und so weiter.

»Sehr möglich«, meinte Mr. Britain, ging aber doch hinaus, mit einem Schüreisen bewaffnet, und leuchtete mit der Laterne nach allen Seiten.

»Es ist so still wie auf einem Friedhof«, sagte Clemency, als sie ihm nachblickte, »und fast auch so schauerlich.«

Als sie wieder in die Küche zurücksah, schrie sie angstvoll auf, denn eine leichte Gestalt näherte sich ihr. »Wer ist das?«

»Still«, flüsterte Marion aufgeregt. »Du hast mich immer lieb gehabt, nicht wahr?«

»Dich lieb gehabt, Kind? Sicherlich.«

»Ich weiß es. Und ich kann dir vertrauen, nicht wahr? Ich habe hier niemand, dem ich vertrauen kann.«

»Ja«, sagte Clemency herzlich.

»Es ist jemand draußen«, sagte Marion und deutete auf die Türe, »den ich heute nacht noch sehen und sprechen muß. – – – Michael Warden, um Gottes willen, entfernen Sie sich! Jetzt nicht.« Clemency fuhr beunruhigt und erstaunt auf, als sie dem Blick der Sprechenden folgte und eine dunkle Gestalt im Flur stehen sah.

»Im nächsten Augenblick können Sie entdeckt sein«, sagte Marion. »Jetzt nicht! Warten Sie, wenn es geht, in einem Versteck. Ich werde gleich kommen.«

Er winkte ihr mit der Hand und war verschwunden.

»Geh nicht zu Bett. Warte hier auf mich«, stieß Marion hervor. »Schon vor einer Stunde wollte ich mit dir sprechen. O verrate mich nicht!« Mit wilder Hast griff sie nach der ängstlich zitternden Hand der Magd und drückte sie an ihre Brust. Eine Bewegung, die in ihrer Leidenschaft beredter war als die flehentlichsten Worte – und als das Licht der zurückkehrenden Laterne wieder in die Stube hineinflackerte, war Marion verschwunden.

»Alles ruhig und still. Niemand da. Einbildung vermutlich«, sagte Mr. Britain, schloß die Tür und schob den Riegel vor. »Die Folgen einer zu lebhaften Einbildungskraft. Hallo, ja, was ist denn los?«

Clemency saß in einem Stuhl, bleich und zitternd vom Kopf bis zu den Füßen, und konnte ihre Aufregung nicht verbergen.

»Los?« wiederholte sie, sich nervös die Hände und Ellbogen reibend, und wich scheu seinem Blick aus. »Das ist hübsch von dir, Britain, hübsch. Du gehst hinaus und bringst einen fast um vor Todesangst mit Lärmen und Laternen, und was weiß ich sonst noch. Was los? – O ja.«

»Wenn du beim Anblick einer Laterne vor Schrecken fast stirbst, Clemy«, sagte Mr. Britain, »so läßt sich das Gespenst bald vertreiben«, und er blies kaltblütig das Licht aus und hängte die Laterne wieder auf. »Aber du hast doch sonst Courage genug«, sagte er und blieb stehen, um sie zu betrachten, »und warst auch ganz ruhig nach dem Lärm und als ich anzündete. Was ist dir denn durch den Kopf geschossen? Doch nicht ein Gedanke?«

Aber da ihm Clemency in ihrer gewohnten Art gute Nacht wünschte und sich zum Schlafengehen fertig zu machen schien, sagte ihr auch Britain, nachdem er noch die originelle Bemerkung von sich gegeben, daß niemand wisse, wie er mit den Weibern dran sei, gute Nacht, nahm sein Licht und ging schläfrig zu Bette.

Als alles ruhig war, kehrte Marion zurück.

»Mach auf«, sagte sie, »und bleib dicht neben mir, während ich draußen mit ihm spreche.« So furchtsam ihr Benehmen auch war, so verriet es doch einen festen und unerschütterlichen Entschluß, so daß Clemency nicht widerstehen konnte. Sie riegelte leise die Tür auf; ehe sie aber noch den Schlüssel umdrehen konnte, warf sie einen Blick auf das junge Wesen, das nur darauf wartete hinauszuschlüpfen.

Marions Gesicht war nicht abgewendet oder zu Boden gesenkt, sondern blickte ihr ruhig ins Auge im ganzen Stolz seiner Jugend und Schönheit. Eine Ahnung, welch schwache Schranke nur mehr zwischen einem glücklichen Heim und der Liebe des schönen Mädchens lag, ein Gedanke an den Kummer dann in diesem Haus und die Vernichtung der schönsten Hoffnungen schoß durch Clemencys schlichte Seele und traf ihr weiches Herz so tief, machte es so vor Kummer und Mitgefühl überquellen, daß sie, in Tränen ausbrechend, ihre Arme um Marions Hals schlang.

»Ich weiß nur wenig, liebes Kind«, rief sie, »sehr wenig, aber ich weiß, daß das nicht recht ist. Bedenke, was du tust, Kind!«

»Ich habe es vielmals bedacht«, sagte Marion sanft.

»Noch einmal denke drüber nach«, flehte Clemency. »Bis morgen.«

Marion schüttelte den Kopf.

»Mr. Alfreds wegen«, sagte Clemency mit schlichtem Ernst. »Seinetwegen, den du früher so lieb hattest.«

Marion bedeckte das Gesicht einen Augenblick mit den Händen und wiederholte: »Früher!«, als wollte es ihr das Herz zerreißen.

»Laß mich hinausgehen«, bat Clemency »Ich will ihm sagen, was du willst. Setz heute nacht den Fuß nicht über die Schwelle. Es kommt dabei nichts Gutes heraus. Ach, es war ein Unglückstag, als Mr. Warden hierher gebracht wurde. Denk an deinen guten Vater, mein Liebling, an deine Schwester.«

»Ich habe es getan«, sagte Marion und erhob rasch das Haupt. »Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß mit ihm sprechen. Du bist meine beste und treueste Freundin auf der Welt, weil du so zu mir gesprochen hast. Aber ich muß diesen Schritt tun. Willst du mich begleiten, Clemency«, sie küßte ihr freundliches Gesicht, »oder soll ich allein gehen?«

Kummervoll und ängstlich drehte Clemency den Schlüssel um und öffnete die Tür. Marion, die Hand ihrer Gefährtin festhaltend, schritt rasch über die Schwelle in das ungewisse Dunkel der Nacht hinaus.

In der Finsternis trat er zu ihr, und sie sprachen miteinander ernst und lang. Und die Hand, die Clemency gefaßt hielt, zitterte bald, bald wurde sie eisig kalt, umklammerte ihre Finger in der Aufregung der Worte. Als sie zurückkehrten, folgte er Marion bis an die Tür, blieb einen Augenblick stehen, faßte Marions andere Hand und drückte sie an die Lippen. Dann stahl er sich hinweg.

Die Türe wurde verriegelt und verschlossen, und wieder stand sie im Vaterhause. Nicht niedergebeugt von dem Geheimnis, das sie mitbrachte, aber mit demselben Ausdruck in ihrem jungen Gesicht, der schon einmal am Abend durch ihre Züge geschimmert und durch ihre Tränen geglänzt hatte.

Wieder dankte und dankte sie ihrer einfachen Freundin und baute auf sie, wie sie sagte, unbedingt und mit Vertrauen und Zuversicht. Und als sie wohlbehalten ihr Zimmer erreicht hatte, sank sie auf die Knie, und mit dem Geheimnis, das ihr Herz bedrückte, konnte sie beten.

Ja, und konnte aufstehen vom Gebet so ruhevoll und heiter, konnte sich niederbeugen über die geliebte Schwester, die schlummernd dalag, konnte ihr ins Angesicht sehen und lächeln, wenn es auch nur ein trauriges Lächeln war, und flüstern, während sie einen Kuß auf die Stirn der Schlafenden drückte, wie doch Grace immer wie eine Mutter zu ihr gewesen und sie wie ein Kind geliebt habe.

Willenlos legte sich ihr Arm um den Nacken der Schwester, als sie in Schlummer sank, als wolle sie sie sogar im Schlaf zärtlich beschützen. Mit einem »Gott segne sie!« auf den Lippen sank Marion in friedlichen Schlummer, bloß gestört von einem einzigen Traum, indem sie mit schluchzender Stimme den Ausruf tat, sie wäre so mutterseelenallein und alle hätten ihrer vergessen.

Ein Monat ist bald vorbei, und wenn die Zeit noch so schleicht. Der Monat, der zwischen dieser Nacht und Alfreds Rückkehr lag, verfloß schnell und entschwand wie Nebeldunst.

Der Tag kam heran. Ein stürmischer Wintertag, an dem das alte Haus zuweilen erzitterte, als schauderte es vor Kälte. Ein Tag, der ein Heim doppelt traulich macht und ein Kaminfeuer doppelt fröhlich, wenn rötliche Glut auf den Gesichtern tanzt und man sich am Feuer zu engerem, geselligem Bunde gegen die draußen tobenden Elemente drängt. An solch einem wilden Wintertag sperrt man die Nacht hinaus und verhängt die Fenster. Da ist Lachen, Tanz und Musik. Da sind Lichterpracht, gesellige Freuden und fröhliche Gesichter am Platze.

Und für alles das hatte der Doktor gesorgt, um sein ehemaliges Mündel zu bewillkommen. Man wußte, daß Alfred vor Einbruch der Nacht nicht eintreffen konnte, und sie wollten, wenn er käme, die Nachtluft von ihrem Jauchzen widerhallen lassen, wie sich der Doktor ausdrückte. Alle alten Freunde sollten versammelt sein, und kein Gesicht, das Alfred gekannt und gerne gehabt, dürfe fehlen. Alle, alle müßten dasein.

So wurden denn Gäste geladen und Musik bestellt und Tafeln bereitet und der Tanzsaal hergerichtet und mit gastlicher Freigebigkeit für jedes gesellige Bedürfnis reichlich gesorgt. Da Weihnachten war und Alfreds Auge lange genug den Anblick der englischen Stechpalme in ihrem Immergrün entbehrt haben mochte, war der ganze Tanzsaal damit behangen und ausgeschmückt, und die roten Beeren winkten aus den Blättern hervor wie ein englischer Willkommgruß.

Es war ein Tag der Emsigkeit für alle. Aber für niemand so sehr wie für Grace, die lautlos überall wirkte und die Seele aller Vorbereitungen war. Wie oft blickte Clemency an diesem Tage, wie oft schon den langen Monat hindurch angstvoll, fast furchterfüllt forschend auf Marion. Sie sah, daß ihr Liebling blasser war als gewöhnlich, daß aber auf dem Gesichte eine gefaßte Ruhe lag, die es noch anmutiger machte.

Abends, als Marion angekleidet war und in ihren Haaren einen Kranz trug, den Grace stolz selbst geflochten hatte – es waren Alfreds Lieblingsblumen, und deshalb hatte Grace sie gewählt –, lag jener alte Ausdruck gedankenvoll, fast sorgenschwer und doch so durchgeistigt, edel und selig, wieder auf ihrer Stirn und machte sie noch hundertmal lieblicher.

»Der nächste Kranz, den ich in dieses schöne Haar flechte, wird ein Brautkranz sein«, sagte Grace, »oder ich bin eine schlechte Prophetin.«

Marion lächelte und hielt sie in ihren Armen fest.

»Noch einen Augenblick, Grace! Verlaß mich noch nicht! Weißt du sicher, daß sonst nichts mehr fehlt?«

Das kümmerte sie wohl im Grunde wenig. Der Gesichtsausdruck ihrer Schwester war es, an den sie dachte, und ihre Augen forschten zärtlich darin.

»Meine Kunst ist zu Ende, mein liebes Kind«, sagte Grace, »schöner kannst du nicht mehr sein. Ich hab‘ dich noch nie so schön gesehen wie heute.«

»Ich war noch nie so glücklich«, antwortete Marion.

»Oh, es wartet noch ein größeres Glück auf dich! In einem andern solchen Heim, ebenso freundlich und traulich wie dieses hier, werden bald Alfred und seine junge Gattin wohnen.«

Marion lächelte wieder. »Ein glückliches Heim, Grace, steckt dir im Kopfe. Ich kann es dir an den Augen ablesen. Und ich weiß, es wird ein glückliches sein, meine liebe Grace. Wie froh bin ich, daß ich das erkannt habe!«

»Nun«, rief der Doktor, hereinstürmend. »Ist jetzt alles bereit zu Alfreds Empfang? Er kann erst ziemlich spät kommen – kaum eine Stunde vor Mitternacht. Da haben wir noch Zeit genug, um vor seiner Ankunft in Stimmung zu kommen. Wenn er eintritt, muß das Eis längst gebrochen sein. Schüre das Feuer an, Britain. Es soll auf die Stechpalme leuchten, bis sie selbst glüht. Es ist eine Welt des Unsinns, mein Kätzchen, diese treuen Liebhaber und so weiter – alles Unsinn. Aber wir wollen den Unsinn mit den ändern Menschen mitmachen und unserm treuen Liebhaber ein närrisches Willkommen bereiten. Auf mein Wort«, sagte er und blickte mit Stolz auf seine Töchter, »ich weiß vor lauter Unsinn heute abend nur das eine gewiß, daß ich der Vater zweier sehr hübscher Töchter bin.«

»Und wenn die eine dir je Kummer und Schmerz bereitet hat oder es vielleicht noch einmal tun wird – ja tun wird –, liebster Vater«, sagte Marion, »so vergib ihr jetzt, wo ihr Herz voll ist. Sag, daß du ihr vergeben willst. Sag, daß sie immer einen Anteil an deiner Liebe haben soll, auch, wenn – sie –«, sie sprach den Satz nicht zu Ende und verbarg ihr Gesicht an der Brust des alten Mannes.

»Aber, aber, aber«, sagte der Doktor sanft, »vergeben! Was habe ich denn zu vergeben? Heidi, wenn unsere treuen Liebhaber zurückkehren, um uns in solche Aufregung zu versetzen, da müssen wir sie uns vom Leibe halten, müssen ihnen Eilboten entgegenschicken, um sie auf der Straße aufzuhalten und sie nur eine Meile oder zwei per Tag reisen lassen, bis wir gehörig vorbereitet sind, sie zu empfangen. Gib mir einen Kuß, Kätzchen. Vergeben! Was für ein törichtes Kind du bist! Wenn du mich fünfzigmal des Tages gequält und geärgert hättest anstatt gar nicht, würde ich dir alles vergeben, nur eine solche Bitte nicht. Gib mir noch einen Kuß, Kätzchen. So! Für Zukunft und Vergangenheit ist jetzt reine Rechnung zwischen uns. Schürt doch das Feuer an. Sollen denn die Leute in dieser kalten Dezembernacht erfrieren. Es soll hell und warm und fröhlich sein, oder ich verzeihe keinem von euch.«

So aufgeräumt und lustig zeigte sich der Doktor. Und das Feuer wurde angeschürt, und die Lichter glänzten hell. Gäste kamen, und ein fröhliches Gewimmel begann, und schon herrschte im Hause die angenehme Stimmung heiterer Erwartung.

Mehr und mehr Gäste erschienen. Fröhliche Augen blitzten auf Marion, lächelnde Lippen wünschten ihr Glück, kluge Mütter fächelten sich und hofften, sie möge nicht zu jung und flatterhaft für das häusliche Leben sein; stürmische Väter fielen in Ungnade, weil sie von Marions Schönheit gar zu sehr begeistert waren, Töchter beneideten sie, Söhne beneideten »ihn«, und zahllose Liebespaare machten sich die Gelegenheit zunutze. Alle waren voller Teilnahme, Aufregung und Erwartung.

Mr. und Mrs. Craggs kamen Arm in Arm. Nur Mrs. Snitchey kam allein. »Mein Gott, wo haben Sie denn ihn«, forschte der Doktor.

Der Paradiesvogel auf Mrs. Snitcheys Turban zitterte, als ob er wieder lebendig geworden wäre, als sie sagte, das wisse jedenfalls Mr. Craggs. Sie würde ja nie eingeweiht. »Die scheußliche Kanzlei«, bestätigte Mrs. Craggs.

»Ich wünschte, sie brennte einmal ab«, sagte Mrs. Snitchey.

»Er ist – er ist – eine kleine geschäftliche Angelegenheit muß wohl meinen Kompagnon abgehalten haben«, sagte Mr. Craggs und sah sich unruhig um.

»Ja, ja, Geschäftssache. Machen Sie mir das nicht weis«, sagte Mrs. Snitchey.

»Wir wissen, was es heißt, Geschäftssache«, sagte Mrs. Craggs.

Mrs. Snitchey schien es nicht zu wissen, offenbar war das der Grund, warum ihr Paradiesvogel so unheilverkündend zitterte und die zahlreichen Glöckchen in Mrs. Craggs‘ Ohrringen erregt schaukelten.

»Es wundert mich, daß du kommen konntest, Craggs«, sagte Mrs. Craggs.

»Mr. Craggs ist gewiß selig darüber«, sagte Mrs. Snitchey.

»Die Kanzlei nimmt sie so in Anspruch«, sagte Mrs. Craggs.

»Eine Person, die eine Kanzlei hat, sollte überhaupt nicht heiraten dürfen«, sagte Mrs. Snitchey.

Dann meinte Mrs. Snitchey zu sich selbst, daß ihr Blick die beiden Craggs‘ ins Herz getroffen habe und daß er das fühle. Und Mrs. Craggs bemerkte zu ihrem Gatten, daß die Snitcheys ihn hinter seinem Rücken betrögen und daß er das erst einsehen werde, wenn es zu spät sei. Aber Mr. Craggs achtete auf diese Bemerkungen nicht besonders und sah sich immer noch unruhig um, bis sein Blick auf Grace fiel, die er sofort begrüßte.

»Guten Abend, Madam«, sagte er zu Grace. »Sie sehen entzückend aus. Ihre – Miss – Ihre Schwester, Miss Marion, ist doch – – –«

»O sie ist ganz wohl, Mr. Craggs.«

»Ja, ich – ist sie hier?« fragte Craggs.

»Hier? Sehen Sie denn nicht dort? Sie tritt eben zum Tanz an«, sagte Grace.

Mr. Craggs setzte die Brille auf, um besser zu sehen, betrachtete Marion eine Zeitlang, hustete und steckte seine Augengläser mit zufriedener Miene wieder ins Futteral und in die Tasche.

Jetzt ertönte die Musik, und der Tanz begann. Das helle Feuer prasselte lustig und hüpfte, als ob es aus guter Kameradschaft selbst mittanzen wollte. Zuweilen rumorte es, als wollte es auch Musik machen. Dann glänzte es und glühte, als wäre es das Auge des alten Zimmers, und zwinkerte wie ein schlauer Patriarch, der die Jugend in den Ecken flüstern sieht. Dann neckte es wieder die Stechpalmenzweige, und wenn die dunkelgrünen Blätter in seinem Scheine aufleuchteten, da sah es aus, als ständen sie wieder draußen in der kalten Winternacht und zitterten im Winde. Manchmal wurde es ganz wild und mutwillig und schlug über die Stränge; dann streute es laut lachend mitten unter die tanzenden Füße einen Regen harmloser Funken und schwang sich toll jauchzend den alten Schlot hinauf.

Wieder war ein Tanz fast vorbei, als Mr. Snitchey seinen Kompagnon, der zusah, am Arme faßte.

Mr. Craggs fuhr zusammen, als wäre sein Freund ein Gespenst.

»Ist er fort?« fragte er.

»Still! Er ist länger als drei Stunden bei mir gewesen und ist alles genau durchgegangen. Er nahm genau Einblick in alle unsere Arrangements für ihn und war außerordentlich peinlich in allem. Er – – uff.«

Der Tanz war aus. Marion ging dicht an ihm vorbei, während er sprach. Sie bemerkte weder ihn noch seinen Kompagnon, sondern sah sich nach ihrer Schwester im Hintergrund des Saales um, dann schritt sie langsam durch das Gedränge und verschwand.

»Sehen Sie, alles ist gut und richtig«, sagte Mr. Craggs. »Er sprach wohl nicht mehr davon, wie?«

»Nicht ein Wort!«

»Und ist er wirklich fort? Ist er in Sicherheit?«

»Er hält sein Wort. Er fährt in seiner Nußschale mit der Ebbe den Strom hinab und segelt vor dem Wind in dieser dunklen Nacht ins Meer hinaus. Er ist ein verdammter Wagehals. Um diese Zeit gibt es keinen einsamen Weg sonst. Das ist die Sache. Die Ebbe setzt eine Stunde vor Mitternacht ein, sagt er. Ich bin froh, daß es vorüber ist.« Mr. Snitchey wischte sich den Schweiß vom Gesicht, das ganz rot und aufgeregt aussah.

»Was meinen Sie«, sagte Craggs, »zu der –?«

»Still«, flüsterte der andere vorsichtig und sah geradeaus. »Ich verstehe Sie schon. Nennen Sie keinen Namen und lassen Sie sich nicht anmerken, daß wir von Geheimnissen sprechen. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und um die Wahrheit zu gestehen, es ist mir jetzt schon einerlei. Es ist eine wahre Erleichterung. Ich glaube, seine Eigenliebe hat ihn getäuscht. Die junge Dame wird wohl ein bißchen kokettiert haben. Es wird darauf hinauslaufen. Ist Alfred nicht angekommen?«

»Noch nicht«, sagte Mr. Craggs, »er wird jede Minute erwartet.«

»Gut.« Mr. Snitchey wischte sich wieder die Stirn ab. »Es ist eine große Erleichterung. Ich bin noch niemals so unruhig gewesen, seitdem wir beisammen sind. Ich gedenke jetzt den Abend zu genießen, Mr. Craggs.«

Mrs. Craggs und Mrs. Snitchey traten zu ihnen, als diese letzten Worte gefallen waren.

Der Paradiesvogel war in wilder Bewegung, und die kleinen Glocken läuteten hörbar.

»Es war schon allgemeines Gesprächsthema, Mr. Snitchey«, sagte Mrs. Snitchey. »Ich hoffe, die Kanzlei ist jetzt zufriedengestellt.«

»Womit zufriedengestellt, mein Herz?« fragte Mr. Snitchey.

»Daß es glücklich gelungen ist, ein wehrloses Weib der Lächerlichkeit und dem Spott preiszugeben«, antwortete seine Gattin. »Das ist doch der Zweck der Kanzlei, offenbar.«

»Ich für meinen Teil«, sagte Mrs. Craggs, »bin schon so lange gewohnt, die Kanzlei mit allem, was das häusliche Glück vernichtet, eng verknüpft zu sehen, daß ich schon froh bin, wenigstens zu wissen, daß sie der offenkundige Feind meines Friedens ist. Es ist so etwas wie ein Spiel mit offenen Karten.«

»Mein Schatz«, sagte Mr. Craggs vorwurfsvoll, »deine Meinung ist stets unschätzbar für mich, aber ich kann gewiß nicht zugestehen, daß die Kanzlei die Zerstörerin deines Friedens sei.«

»Nein«, sagte Mrs. Craggs und führte mit ihren Glöckchen einen förmlichen Tanz auf. »Nein, wahrhaftig nicht! Du würdest der Kanzlei nicht würdig sein, wenn du diese Offenheit besäßest.«

»Was mein Ausbleiben heute abend betrifft, liebe Gattin«, sagte Mr. Snitchey und reichte seiner Frau den Arm, »so liegt die Schuld allerdings ganz auf meiner Seite, aber Mr. Craggs weiß –«

Mrs. Snitchey schnitt die Entschuldigungsrede ihres Gatten schroff ab, zog ihn beiseite und forderte ihn auf, den »Mann« anzusehen, ihr den Gefallen zu tun, den »Mann« anzusehen.

»Welchen Mann denn, teuere Gattin?« fragte Mr. Snitchey.

»Den Gefährten deines Lebens – ich kann es dir ja nicht sein, Snitchey«

»O doch, du, nur du bist es, teuerste Gattin.«

»Nein, nein, nein, ich bin es nicht«, sagte Mrs. Snitchey mit majestätischem Lächeln. »Ich kenne meine Stellung gar wohl. Sehen Sie ihn doch an, den Gefährten Ihres Lebens, Mr. Snitchey Ihr Vorbild. Den Bewahrer Ihrer Geheimnisse. Den Mann, dem Sie vertrauen. Ihr anderes Selbst, kurz und gut.«

Die Verknüpfung seines Selbst mit Craggs veranlaßte Mr. Snitchey, in diese Richtung zu schauen.

»Wenn du heute abend dem Manne in die Augen sehen kannst«, fuhr Mrs. Snitchey fort, »und nicht erkennst, daß du hintergangen und betrogen bist, daß du ein Opfer seiner Ränke und ein Sklave seines Willens geworden bist durch eine unerklärliche Faszination, die ich mir nicht erklären kann und vor der ich dich vergebens gewarnt habe, dann kann ich nur sagen, ich bedauere dich.«

Zur gleichen Zeit orakelte Mrs. Craggs über dasselbe Thema. Wie sei es nur möglich, fragte sie, daß Craggs Mr. Snitchey so blind vertrauen könne und seine eigene Lage so gar nicht erkenne. Ob er denn nicht deutlich gesehen habe, daß Snitcheys Gesicht, als er eingetreten voll Hinterlist, Tücke und Verräterei gewesen sei, ob er denn leugnen wolle, daß schon die Art, mit der sich jener die Stirn zu trocknen und unruhig um sich zu blicken pflege, verrate, daß etwas schwer auf seinem Gewissen laste, wenn er überhaupt so etwas wie ein Gewissen habe. Ob etwa andere Leute auch, wie sein Snitchey, zu festlichen Gelegenheiten kämen wie Strauchdiebe – übrigens kein sehr treffendes Bild, denn Snitchey war so schüchtern wie möglich zur Türe hereingekommen. Und ob er – Craggs – ihr gegenüber am hellichten Tage – es war fast Mitternacht – immer noch auf dem Standpunkt beharre, mit Snitchey durch dick und dünn gehen zu wollen, allem Augenschein, jeder Welterfahrung und Vernunft zum Trotz.

Weder Snitchey noch Craggs machten einen Versuch, sich dem Strome solchen Zornes entgegenzustemmen, sondern begnügten sich beide, ruhig mitzuschwimmen, bis seine Kraft nachgelassen hatte, was im selben Augenblicke geschah, als man allgemein zu einem Tanz antrat. Mr. Snitchey benützte die Gelegenheit, Mrs. Craggs zu bitten, während Mr. Craggs so galant war, Mrs. Snitchey aufzufordern. Die Damen willigten auch nach einigen leichten Ausflüchten, wie: warum engagieren Sie nicht eine andere, und: ich sehe es Ihnen an, Sie wären froh, wenn ich ausschlüge, oder: wie, Sie tanzen auch außerhalb der Kanzlei (dies schon mehr scherzhaft), huldreich ein und traten an.

Es war dies eine alte Sitte bei ihnen, bei jeder Gelegenheit, denn sie waren eng befreundet und lebten auf dem Fuß besten Einvernehmens.

Vielleicht waren der falsche Craggs und der schurkische Snitchey im Gehirne der beiden Damen auch nur eine so fingierte Person wie X und Y in den Akten ihrer beiden Gatten, oder die beiden Damen taten gar äußerlich nur so als ob. So viel ist jedenfalls gewiß, daß jede der beiden Damen die sich selbst auferlegte Rolle und ihr Fach ebenso eifrig und fleißig betrieb wie der Gatte das seine und daß beide Frauen ein glückliches Gedeihen der Kanzlei ohne ihr lobenswertes Mitwirken beinahe für unmöglich gehalten hätten.

Jetzt schwebte der Paradiesvogel in die Mitte des Saales, und die Glöckchen fingen an zu klingen und zu springen, und des Doktors rotes Gesicht drehte sich um und um wie ein mit Hochglanz lackierter Kreisel mit einem Menschengesicht. Der atemlose Mr. Craggs fing bereits an zu bezweifeln, daß das Tanzen so wie das übrige Leben einem »zu leicht« gemacht würde, und Mr. Snitchey hüpfte in muntern Sprüngen und Kapriolen für seine Wenigkeit & Craggs und ein halbes Dutzend anderer mehr.

Und auch das Feuer faßte frischen Mut und loderte hell auf, angefacht von dem lebhaften Zug, den der Tanz verursachte. Es war der Genius des Zimmers und überall gegenwärtig. Es glänzte in den Augen der Männer, schimmerte in den Juwelen am weißen Nacken der Mädchen, spielte um ihre Ohren, als wolle es ihnen etwas Neckisches zuflüstern, flackerte auf dem Boden und legte ihren Füßen einen Teppich von Rosen. Es glänzte auf der Decke, daß seine Glut sich auf allen Gesichtern spiegelte, und zündete eine große Illumination in Mrs. Craggs‘ kleinem Glockenturm an.

Und frischer und frischer wurde die anfachende Luft, immer munterer die Musik, in immer lebhafterem Takt bewegte sich der Tanz; und ein Wehen erhob sich, das die Blätter und Beeren an den Wänden schaukeln machte, als hingen sie noch im Freien, und rauschte durch das Zimmer, wie wenn eine unsichtbare Schar Elfen den braven Tänzern aus Fleisch und Bein auf dem Fuße folgte. Kein Zug auf des Doktors Gesicht war mehr zu erkennen, wie er sich drehte und drehte. Jetzt schienen ein Dutzend Paradiesvögel durchs Zimmer zu fliegen und tausend kleine Glocken zu klingen, eine Flut wehender Kleider wurde im Sturm davongetrieben. Endlich verstummte die Musik, und der Tanz hörte auf.

Erhitzt und atemlos war der Doktor, aber es machte ihn nur noch ungeduldiger auf Alfreds Kommen.

»Hast du nichts gesehen, Britain, nichts gehört?«

»Zu finster zum Sehen, Sir, zu viel Lärm im Haus zum Hören.«

»Da hast du recht, um so fröhlicher der Willkomm. Wie spät ist’s?«

»Gerade zwölf, Sir. Er kann nicht mehr lang bleiben, Sir.«

»Schüre das Feuer an und wirf noch einen Klotz darauf«, sagte der Doktor. »Sein Willkommen soll ihm in die Nacht hinausleuchten – dem guten Jungen, wenn er daherkommt.« – – – – –

Er sah es, ja! Aus seinem Wagen erblickte er den Schein, als er um die Ecke bei der alten Kirche bog. Er kannte das Zimmer, aus dem es leuchtete. Er sah die kahlen winterlichen Zweige der alten Bäume zwischen sich und dem Licht. Er wußte, daß einer dieser Bäume zur Sommerszeit lieblich vor Marions Fenster rauschte.

Tränen standen ihm in den Augen. Sein Herz klopfte so heftig, daß er kaum sein Glück ertragen konnte. Wie oft hatte er sich in seinen Gedanken dieses Bild ausgemalt und gebangt, daß es nicht dazu kommen möchte – danach verlangt und geschmachtet in weiter Ferne.

Wieder das Licht, deutlich und weithin leuchtend; angezündet, wie er wußte, als Willkommengruß und um ihn zur Eile anzutreiben. Er winkte mit der Hand und schwang den Hut, jubelte laut, als ob sie die Glut wären und ihn sehen und hören könnten, wie er jauchzend ihnen durch Schmutz und Morast entgegenfuhr.

»Halt!« Er kannte den Doktor und ahnte, was vorbereitet war. Er sollte sie nicht überraschen. Aber doch konnte er eine Überraschung daraus machen, wenn er zu Fuß nach dem Hause ging. Stand die Gartentür offen, konnte er leicht hineingelangen. Wenn nicht, war die Mauer leicht zu erklettern, wie er von früher her wußte, und im Nu stünde er dann mitten unter ihnen.

Er stieg aus dem Wagen und sagte dem Kutscher – selbst das war ihm nicht leicht in seiner Aufregung –, er solle für ein paar Minuten zurückbleiben und ihm dann erst nachfahren.

So schnell er konnte, lief er voraus, probierte, ob das Tor offen sei, kletterte über die Mauer, sprang auf der ändern Seite herunter und stand atemlos in dem alten Obstgarten.

Es lag ein frostiger Reif auf den Bäumen, und in dem schwachen Lichte des bewölkten Mondes hingen die dünnen Zweige wie welke Girlanden herab. Dürre Blätter raschelten unter seinem Fuß, wie er leise nach dem Hause schlich. Öde brütete die Winternacht auf der Erde und am Himmel. Freundlich schien ihm das Licht entgegen aus den Fenstern, Gestalten huschten hin und her, und das Summen und Murmeln von Stimmen grüßte lieblich sein Ohr. Lauschend, ob er ihre Stimme von den übrigen unterscheiden könnte, und schon halb überzeugt, daß er sie höre, hatte er fast die Türe erreicht, als sie sich schnell öffnete und eine Gestalt ihm entgegentrat und sofort erschrocken mit einem halbunterdrückten Schrei zurückwich.

»Clemency«, sagte er, »erkennst du mich denn nicht mehr?«

»Treten Sie nicht ein!« rief die Dienerin und hielt ihn zurück. »Kehren Sie um. Fragen Sie mich nicht warum. Treten Sie nicht ein.«

»Was gibt es denn?« rief er aus.

»Ich weiß es nicht, ich – ich kann es Ihnen nicht sagen. Kehren Sie um. Hören Sie?«

Ein Lärm entstand plötzlich im Hause. Ein wilder Schrei, laut und schrill, lief durch das Haus, und Grace, Entsetzen in Gesicht und Gebärde, stürzte heraus.

»Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist geschehen? Ist sie tot?«

Sie riß sich los, als wollte sie ihm ins Gesicht sehen, und fiel zu seinen Füßen nieder.

Eine Schar Gestalten kam aus dem Hause gestürzt. Unter ihnen der Doktor, ein Papier in der Hand.

»Was ist geschehen?« schrie Alfred, raufte sich das Haar und blickte voll Verzweiflung von Gesicht zu Gesicht, während er neben dem ohnmächtigen Mädchen kniete. »Will mich denn niemand ansehen? Mir niemand antworten? Erkennt mich denn niemand? Ist denn niemand unter euch, der mir sagt, was geschehen ist?«

Ein Gemurmel erhob sich: »Sie ist fort!«

»Fort?« wiederholte er geistesabwesend.

»Entflohen, mein lieber Alfred«, sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Entflohen aus dem Vaterhause. Heute nacht! Sie schreibt, sie habe ohne Schuld und frei gewählt – bittet, wir möchten ihr vergeben und ihrer nicht vergessen – und ist entflohen.«

»Mit wem? Wohin?«

Er sprang auf, als wollte er ihr nach, aber als sie zurückwichen, blickte er verstört um sich, wankte zurück, brach zusammen und blieb neben Grace knien, ihre kalte Hand in der seinen. Es herrschte Verwirrung und Aufregung, es war ein Hinundherstürzen ohne Sinn und Zweck. Einige liefen auf die Landstraße hinaus, andere holten Pferde und Fackeln, andere sprachen laut und erregt miteinander und wendeten ein, daß man weder Spur noch Richtung habe, um sie einholen zu können. Man trat zu ihm und versuchte ihn zu trösten, stellte ihm vor, daß Grace in das Haus geschafft werden müßte, aber er litt es nicht. Er hörte niemand an und bewegte sich nicht. Der Schnee fiel schnell und dicht. Alfred sah einen Augenblick zum Himmel auf und dachte sich, daß diese weiße Asche gut für ihn passe, die da auf sein Hoffen und sein Leid gestreut wurde. Er blickte um sich her auf den sich weiß färbenden Boden und begriff, daß die Spur von Marions Fuß sich bald verwischen werde. Er fühlte nichts von dem Wetter und regte sich nicht von der Stelle.

Drittes Viertel


Drittes Viertel

Schwarz brüten die Wolken, und es kochen die Wasser der Tiefe, wenn die tobende Gedankensee ihre Toten herausgibt nach tiefer Windstille. Ungeheuer, so wild und ungeschlacht, tauchen auf in einer vorzeitigen, lückenhaften Auferstehung, die mancherlei Glieder und Teile der verschiedensten Dinge in ein Ganzes vereint, wie der Zufall es fügt. Nach welchen Gesetzen sich die Glieder trennen, vermischen und zusammenfinden, um Sinn und Form zu bilden zu neuem Leben, das kann der Mensch nimmer erfassen, und ist er auch jetzt und immerdar der Gral des großen Mysteriums, der dieses Geheimnis birgt. Und wann und wie sich die Finsternis der nachtschwarzen Kuppel zum schimmernden Licht wandelte, wann und wieso sich der einsame Turm mit Milliarden Gestalten bevölkerte, wann und wieso das durch Trottys Schlaf und Ohnmacht wispernde »Plagt ihn und jagt ihn« zu der Stimme wurde, die in seine wachen Ohren rief: »Stört ihn im Schlaf!«; wann und wieso er aufhörte, in seiner verworrenen Vorstellung die Scharen der Dinge, die da waren, mit den Scharen der Dinge, die nur zu sein schienen, miteinander zu verwechseln, das zu erfahren, gibt es nicht Weg noch Steg. Als er aber wieder aufgewacht mit beiden Beinen auf den Brettern stand, da sah er folgenden gespenstischen Spuk.

Er sah den Turm, wohinauf ein Zauber seine Schritte gelenkt, wimmeln von zwerghaften Phantomen, von den Geistern, Kobolden und Elfen der Glocken. Er sah sie unaufhörlich und ohne Unterlaß aus den Glocken springen, fliegen, fallen, stürzen. Er sah sie rings um sich her auf dem Boden, über sich in der Luft –, sah sie die Seile hinabklettern; sah, wie sie von den schweren, eisengegürteten Balken herniederblickten, durch die Ritzen und Löcher in den Mauern auf ihn hereinschielten, in schwingendem Reigen wegzogen von ihm, weiter und weiter, wie die kräuselnden Wasserringe wegfliehen von einem plumpen Steine, der plötzlich in sie hineinplatscht. Er sah sie in jeder Art und Gestalt, häßliche und hübsche, verkrüppelte und schlanke; er sah sie jung, er sah sie alt, gütig und grausam, fröhlich und mürrisch; er sah ihren Tanz und hörte sie singen. Manche rauften sich das Haar, und er hörte ihr Heulen. Es wimmelte die Luft von ihnen. Er sah sie kommen und gehen ohne Unterlaß. Er sah sie abwärts reiten und in die Höhe fliegen, sah, wie sie von dannen segelten und dicht neben ihm hockten; alle ruhelos und in wilder Bewegung. Granit und Ziegel, Schiefer und Holz wurden für ihn wie für sie zu Glas. Er sah sie drinnen in den Häusern geschäftig an der Schläfer Betten. Er sah sie den Menschen Linderung bringen in ihre Träume, sah, wie sie andere mit knotigen Geißeln schlugen. Er sah sie ihnen in die Ohren gellen oder leise, zarte Musik auf ihren Pfühlen spielen. Er sah, wie sie dem einen mit Vogelgesang und Blumenduft das Herz froh machten, dem andern aus Zauberspiegeln, die sie in den Händen hielten, grauenhafte Gesichter in die gestörte Ruhe warfen.

Er sah diese gespenstischen Wesen auch unter wachen Menschen die verschiedensten und miteinander unverträglichsten Dinge treiben und die seltsamsten Veränderungen an sich vornehmen. Er sah, wie der eine sich Flügel ohne Zahl anschnallte, um seine Geschwindigkeit zu vergrößern, und ein anderer sich mit Ketten und Gewichten beschwerte, um die seine zu hemmen. Er sah, wie manche die Zeiger an den Turmuhren vorrückten; wie andere sie festhielten, um die Zeit zum Stehen zu bringen. Er sah, wie die einen eine Hochzeit feierten und andere zum Begräbnis gingen. Wie sie hier einen Ball aufführten und dort um die Wahlurne tanzten. Und überall ruheloses und unermüdliches Hasten und Jagen.

Verwirrt von der Menge der wechselnden, sonderbaren Gestalten wie durch das Dröhnen der Glocken, die über ihm läuteten ohne Rast, ohne Ruh, klammerte sich Trotty an einen hölzernen Stützpfeiler und wandte sein kreideweißes Gesicht hierhin und dorthin in stummem versteinertem Staunen.

Und mitten in seinem Staunen hielt plötzlich das Läuten still, und blitzschnell wandelte sich das Bild. Der Schwarm zerstob, die Gestalten fielen in sich zusammen. Ihre Schnelligkeit ließ sie im Stich, sie suchten zu fliehen, aber über ihrem Fallen und Stürzen starben sie hin und zergingen in der Luft. Kein neuer Zuzug ergänzte ihre Zahl. Ein einziger Nachzügler noch sprang eilig aus der großen Glocke heraus und kam auf die Füße zu stehen. Doch er war tot und gestorben, ehe er sich umdrehen konnte. Einige von denen, die im Turme rumort und Luftsprünge gemacht hatten, blieben ein Weilchen und drehten sich noch. Doch bei jedem Sprung wurden sie schwächer und ihre Zahl kleiner und kleiner, und sie gingen bald den Weg, den alle übrigen gegangen. Der letzte von allen, das war ein kleiner Kerl mit einem Buckel; er hatte sich in einem Schallwinkel verkrochen, wo er quirlte und quirlte und sich noch lange in drehender Bewegung hielt und mit solcher Ausdauer, daß zuletzt von ihm ein Bein, dann bloß nur ein Fuß blieb, bis endlich gar nichts mehr von ihm übrig war. Dann lag der Turm in Todesschweigen. Da erblickte Trotty – was er vorher nicht gesehen – in jeder Glocke eine bärtige Gestalt, so hoch und breit wie die Glocke selbst. Etwas Unbegreifliches: eine Gestalt und doch die Glocke selbst. Von riesenhafter Größe, die ernsten, finstern Blicke auf ihn gerichtet, wie er so an den Boden gewurzelt stand.

Geheimnisvolle und furchtbare Gestalten, die auf nichts standen, in der Nachtluft des Turmes hingen und mit ihren bedeckten und bekappten Häuptern bis an die dunkle Decke ragten, bewegungslos und schattenhaft. Schattenhaft und dunkel, wie von einem Schein umwoben, der von ihnen selbst ausging; – die verhüllte Hand auf den gespenstischen Mund gelegt. Er wollte sich schnell durch die Öffnung im Boden hinunterlassen, aber die Kraft, sich zu bewegen, war von ihm genommen. Er hätte sich kopfüber in die Tiefe gestürzt, um aus dem Bannkreis der Augen dieser schrecklichen Gestalten zu entkommen, die ihn bewachten und bewachten und den Blick nicht von ihm gewandt hätten, würde man ihnen auch die Augäpfel herausgenommen haben. Wieder und wieder schlug ihm das Grausen und Entsetzen der einsamen Stätte und der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte, wie mit Geisterhand ins Genick. Fern von jeglicher Hilfe und der lange, finstere, im Kreise gehende Weg voll Gespenstern zwischen ihm und der Erde der Menschen, hier oben, hoch, hoch, hoch oben, in der Kuppel des Turms, den bei Tage die Vögel umkreisen in schwindelnder Höhe; abgeschnitten von allen guten Menschen, die zu solcher Stunde in ihren Betten lagen und schliefen. Eiskalt überrieselte es ihn. Nicht wie ein Gedanke: wie lebendige, körperliche Empfindung. Seine Augen hingen furchtsam an den riesigen Wächtern, die nicht wie Gestalten waren von dieser Welt, in ihren Hüllen aus tiefer Dunkelheit gewebt, in ihrem unirdischen Aussehen und in übernatürlicher Weise über dem Boden schwebend. Die dunkel und doch so deutlich waren wie die starken Sparren aus Eichenholz; die Kreuzstücke, Balken und Bäume, die hier oben standen als Stützen und Träger der Glocken. Wie in einem Walde von behauenem Holz standen die Riesen und hielten ihre düstere, reglose Wacht inmitten dieser Verschlingungen und Verkreuzungen von toten Ästen, die verdorrt waren durch die gespenstische Nähe.

Ein Luftzug, kalt und schneidend, fuhr stöhnend durch den Turm. Als er vorüber war, da hob der Geist der großen Glocke zu sprechen an:

»Was ist das für ein Gast?«

Die Stimme klang tief und dumpf, und Trotty schien es, als töne sie nach in den andern Gestalten.

»Ich dachte, man habe mich beim Namen gerufen«, sagte Trotty und hob bittend die Hände auf. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin und warum ich kam. Ich habe auf die Glocken gehorcht so manches Jahr, und es hat mir das Herz erleichtert.«

»Und hast du ihnen gedankt?« fragte die Glocke.

»O tausendmal!« schrie Trotty.

»Wie?«

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte bloß mit Worten danken.«

»Und hast du ihnen immer gedankt?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns niemals gelästert in Worten?«

»Nie«, schrie Trotty eifrig.

»Niemals uns Schlimmes und Falsches nachgesagt und uns boshaft und böse genannt?«

»Niemals«, wollte Trotty antworten, doch schwieg er plötzlich bestürzt.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: vorwärts! Die Zeit will, daß er vorwärts schreite, will, daß er sich vervollkommne und seinen Wert erhöhe, sein Glück mehre und sein Leben besser gestalte und dem Ziele zuschreite, das vor seinen Augen liegt und abgesteckt wurde, als die Zeit und er begannen. Jahre der Dunkelheit, des Greuels und der Gewalttat sind gekommen und gegangen. Unzählbare Millionen haben gelitten, gelebt und sind gestorben. Um den Weg zu zeigen, der vorwärts führt. Wer stehenbleibt und den Gang der Zeit hemmen will, der greift in eine mächtige Maschine, die alle erschlägt, die im Wege stehen, und nach dem Stillstand eines Augenblicks nur um so ungestümer und rascher vorwärts treibt.«

»Das hab ich nie getan, soviel ich weiß, Sir«, sagte Trotty. »Wenn ich es getan habe, so geschah es unabsichtlich. Ich würde so etwas bestimmt nicht tun.«

»Wer fälschlich der Zeit und ihren Dienern in den Mund einen Klageruf legt um die Tage, die geprüft und zu leicht gefunden wurden und die Spuren zurückgelassen haben, so tief, daß sie ein Blinder sehen kann – einen Klageruf, der der Gegenwart nur so weit dienen könnte, als er der Menschheit zeigt, wie sehr Hilfe not tut –, wer dies tut, der tut unrecht. Und dieses Unrecht hast du uns, den Glocken, getan.«

Trottys ärgste Furcht war geschwunden. Er hatte eine zärtliche und dankbare Neigung zu den Glocken gehabt, und als er hörte, daß man ihn einer so schweren Kränkung bezichtigte, erfüllte sich sein Herz mit Reue und Leid.

»Wenn Ihr wüßtet«, sagte Trotty und faltete inbrünstig die Hände, »– oder vielleicht wißt Ihr es –, wie oft Ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft Ihr mich aufgerichtet habt, wenn ich niedergeschlagen war, wie Ihr das einzige Spielzeug meiner kleinen Meg waret, als ihre Mutter gestorben und sie und ich allein zurückgeblieben, würdet Ihr mir wegen eines einzigen übereilten Wortes nicht gram sein …«

»Wer in unserm Klang ein Echo hört menschlicher Leidenschaft und der Sorge um elende Nahrung, um die die Menschen welken und sich grämen, der fügt uns Unrecht zu. Dies Unrecht hast du uns getan«, sagte die Glocke.

»Das habe ich getan«, sagte Trotty. »Oh, verzeiht mir.«

»Wer in unserm Dröhnen jenes elende Erdgewürm reden hört, die Unterdrücker der Gedemütigten und Niedergebrochenen, die da bestimmt sind, höher erhoben zu werden, als jene Maden der Zeit kriechen können«, fuhr der Geist der Glocke fort, »wer also tut, der tut uns Unrecht. Und du hast uns Unrecht getan.«

»Nicht mit Absicht«, sagte Trotty, »in meiner Unwissenheit. Nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und zumeist«, fuhr die Glocke fort, »wer den Gefallenen und Entstellten seiner Art und Gattung den Rücken kehrt, von ihnen als niedrig und gemein die Hand abzieht und den Abgrund nicht sehen will mit mitleidigem Auge, in den sie stürzten, in ihrem Falle noch huschend nach Büschel und Schollen von jenem Erdreich, dessen sie verlustig gingen, daran hängend, sich daran klammernd – den Abgrund, in dem sie zermalmt und sterbend liegen –, wer solches tut, der fügt dem Himmel und der Menschheit, der Zeit und der Ewigkeit Unrecht zu. Und solches Unrecht hast du auch getan.«

»Schone mich«, rief Trotty und sank in die Knie, »um der Barmherzigkeit willen.«

»Horch!« sagte der Schatten.

»Horch!« riefen die andern Schatten.

»Horch!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty bekannt vorkam.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten, und ihr Ton schwoll an, und die Melodie drang zum Dache hinauf und füllte Chor und Schiff. Sie breitete sich aus, mehr und mehr, sie stieg hinauf, hinauf, hinauf, hinauf, höher und höher und höher hinauf und weckte fühlende Herzen auf in den Eichenpfeilern, in der Höhlung der Glocken, in den eisengegürteten Türen, in den Treppen aus festem Gestein, bis die Mauern des Turms sie nicht mehr fassen konnten und sie sich aufwärts schwang zum Firmament.

Kein Wunder, daß eines alten Mannes Brust den mächtigen, ungeheuern Klang nicht fassen konnte; der Schall sprengte das enge Gefängnis mit einem Strom von Tränen, und Trotty schlug die Hände vor sein Gesicht.

»Horch!« sagte der Schatten.

»Horch!« sagten die andern Schatten.

»Horch!« sagte des Kindes Stimme.

Eine feierliche, vielstimmige Weise stieg in den Turm empor. Es war eine sehr traurige, düstere Weise: ein Totenlied.

Und als Trotty lauschte, da hörte er seiner Tochter Stimme unter den Singenden.

»Sie ist tot«, schrie der alte Mann. »Meg ist tot. Ihr Geist ruft nach mir. Ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes weint um die Toten und mischt sich unter die Toten mit toten Hoffnungen, toten Vorstellungen, toten Träumen der Jugend«, antwortete die Glocke. »Sie selbst aber lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne von dem Wesen, das deinem Herzen am nächsten steht, wie böse die Bösen geboren sind. Sieh, wie elend und kahl der schönste Blumenstengel wird, reißt man die Knospen aus und Blatt um Blatt. Folge ihr in die Verzweiflung nach!«

Jeder der Schatten reckte den rechten Arm aus und wies niederwärts.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter«, sagte die Gestalt. »Geh! Er steht hinter dir.«

Trotty sah sich um und sah – das kleine Mädchen? Das kleine Mädchen, das Will Fern durch die Straßen getragen, das kleine Mädchen, das Meg bewacht und das jetzt im Schlummer lag.

»Ich selbst trug sie, diese Nacht«, sagte Trotty »in meinen Armen.«

»Zeig ihm, was er nennt: Ich selbst«, sagten die dunklen Gestalten aus einem Munde.

Der Turm tat sich auf zu seinen Füßen. Trotty blickte nieder und sah sich selbst auf dem Boden liegen, draußen vor dem Turm, zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr unter den Lebenden«, schrie er auf. »Tot.«

»Tot«, sagten die Gestalten aus einem Munde.

»Barmherziger Himmel! Und das neue Jahr –«

»Vorbei«, sagten die Gestalten.

»Was!« schrie er mit Schaudern. »Ich verfehlte den Weg, trat im Finstern heraus aus dem Turm in die Nacht und fiel herab – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren«, erwiderten die Gestalten.

Und wie sie diese Antworten gaben, zogen sie ihre ausgestreckten Hände zurück, und wo ihre Gestalten gewesen, da hingen die Glocken.

Und sie läuteten, da ihre Zeit wiedergekommen; und wieder erwachten ungeheure Scharen von Phantomen zum Leben, wieder wie damals geschäftig, wieder wie damals hinschwindend und in ein Nichts zusammenschrumpfend, als das Dröhnen verstummte.

»Was sind sie?« fragte Trotty seine Führerin. »Wenn ich nicht wahnsinnig werden soll, sag, was sind sie?«

»Kobolde der Glocken. Ihre Klänge auf den Fittichen der Luft«, antwortete das Kind. »Sie nehmen Form an und handeln, wie die Gedanken und Hoffnungen der Sterblichen es ihnen eingeben.«

»Und du«, sagte Trotty verwirrt, »was bist du?«

»Pst! Pst!« antwortete das Kind. »Schau her!« In einer ärmlichen niedrigen Stube an derselben Stickerei arbeitend, die er so oft und oft von ihr gesehen, zeigte sich ihm Meg, seine eigene geliebte Tochter. Er versuchte nicht, ihr Küsse auf die Wange zu drücken und sie an sein liebendes Herz zu schließen. Er wußte, daß solche Zärtlichkeit nicht mehr für ihn war. Er hielt nur seinen zitternden Atem an und wischte nur die Tränen weg, die sein Auge blendeten, damit er sie sehen könnte.

O wie verändert, wie verändert war sie! Das Licht des klaren Auges wie trübe! Die Rosen ihrer Wangen verwelkt. Schön war sie noch immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung war gestorben, die Hoffnung, die fröhliche Hoffnung, die einst zu ihm gesprochen wie eine Stimme.

Sie blickte von der Arbeit auf nach ihrer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihrem Auge und fuhr zurück.

Sofort erkannte er das jetzt erwachsene Mädchen wieder. In den langen seidenen Locken erkannte er die alten Ringel wieder, und um die Lippen schwebte noch derselbe kindliche Ausdruck. Siehe, in den Augen, die forschend auf Margarets Gesicht ruhten, strahlte noch derselbe Blick, den er in ihren Zügen gelesen, als er sie damals in sein Haus getragen hatte.

Was war aber das neben ihm? Mit Scheu in das kindliche Gesicht blickend, sah er etwas in den Zügen, ein feierliches, unbestimmtes, unerklärliches Etwas, das kaum mehr als eine Erinnerung an jenes Kind ausdrückte, das es wohl der Gestalt nach sein konnte, und doch war es dasselbe Kind, dasselbe und trug auch seine Kleidung.

Horch, sie sprachen miteinander.

»Meg«, sagte Lilly mit Zögern, »wie oft du aufblickst von deiner Arbeit, um mich anzusehen.«

»Hat sich mein Aussehen so geändert, daß es dich erschreckt?«

»Gewiß nicht, liebe Meg. Du glaubst es gewiß selbst nicht. Aber warum lächelst du nicht mehr, wenn du mich anblickst, Meg?«

»Das tue ich doch, oder nicht?« Sie antwortete und lächelte sie an.

»Jetzt wohl«, sagte Lilly »aber gewöhnlich nicht. Wenn du zuweilen denkst, ich sei beschäftigt und bemerke es nicht, dann siehst du so ängstlich und besorgt aus, daß ich kaum wage, die Augen aufzuschlagen. Wohl haben wir bei diesem harten mühseligen Leben wenig Ursache zu lächeln, aber du warst doch sonst so heiter.«

»Bin ich es nicht noch?« fragte Meg mit seltsamer Unruhe und stand auf und umarmte sie. »Mache ich dir unser mühseliges Leben noch mühseliger, Lilly?«

»Du warst doch das einzige Wesen«, sagte Lilly und küßte sie heiß, »das mir das Leben erhielt, bisweilen das einzige Wesen, dessentwegen ich weiterlebte, Meg. Diese Arbeit, diese Arbeit! Die vielen Stunden und Tage, die langen, langen Nächte hoffnungsloser, freudenarmer, nimmerendender Arbeit – nicht um Vermögen zu sammeln, vornehm oder fröhlich zu leben, nicht einmal um bescheiden, wenn auch noch so notdürftig zu leben, nur gerade, um trocknes Brot zu verdienen, um gerade so viel zu erübrigen, um davon darben zu können und in uns das Bewußtsein unseres harten Schicksals lebendig zu erhalten. O Meg, Meg!« schrie sie und schlang schmerzerfüllt ihre Arme um sie. »Wie kann die grausame Welt ein solches Leben so lange mit ansehen.«

»Lilly!« sagte Meg, sie beruhigend und strich ihr das Haar aus dem tränenfeuchten Gesicht. »Aber Lilly, du, so hübsch und so jung!«

»O Meg«, unterbrach sie Lilly und beugte sich weg von ihr auf Armeslänge und sah ihr flehend ins Gesicht. »Das ist gerade das Schlimmste von allem. Wäre ich alt, Meg, wäre ich welk und runzlig, dann wäre ich frei von den schrecklichen Gedanken, die mich so in Versuchung führen in meiner Jugend.«

Trotty wandte sich um nach seiner Führerin. Doch der Geist des Kindes hatte die Flucht ergriffen. Er war fort.

Auch er selbst blieb nicht.

Denn Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt ein großes Fest in Bowley Hall zur Geburtstagsfeier der Lady Bowley. Und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – die Lokalblätter sahen das als einen besonderen Fingerzeig der Vorsehung an und spielten darauf an, daß die Zahl »I« der Lady Bowley auch zugleich die bekannte Schöpfungszahl »I« sei –, so fand dieses Fest an einem Neujahrstage statt.

Bowley Hall war voll von Gästen. Der Gentleman mit dem roten Gesicht war da. Mr. Filer war da. Der große Alderman Cute war da. Alderman Cute hatte eine große Vorliebe für vornehme Leute, und sein Verhältnis zu Sir Joseph Bowley hatte sich infolge seines damaligen aufmerksamen Briefs außerordentlich gefestigt. Er war seit der Zeit geradezu ein Freund der Familie geworden. – Und viele Gäste waren da. Trottys Geist war da, und das arme Gespenst wanderte trübselig herum und suchte nach seiner Führerin.

In der großen Halle sollte das prunkhafte Dinner stattfinden, bei dem Sir Joseph Bowley in seiner berühmten Stellung als Freund und Vater der Armen seine große Rede halten sollte. Eine Reihe Plumpuddings sollten zuerst von seinen »Freunden« und deren Kindern in einer andern Halle gegessen werden, und auf ein gegebenes Zeichen sollten sich diese Freunde und Kinder unter ihre Freunde und Väter mischen und so eine Familienversammlung bilden, daß vor lauter Rührung nicht einmal ein männliches Auge trocken bleiben sollte.

Aber noch mehr war vorgesehen. Sogar noch mehr als das. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, wollte mit seinen Knechten eine Partie Kegel, eine wirkliche Partie Kegel schieben.

»Es erinnert einen förmlich«, sagte Alderman Cute, »an die Tage des alten Königs Heinz, des starken Königs Heinz, des dicken Königs Heinz.«

»Ja, das war ein edler Charakter!«

»Ja, ein sehr edler«, sagte Mr. Filer trocken. »Besonders was das Heiraten und Ermorden seiner Frauen anbelangt. Nebenbei gesagt, gibt’s mehr Frauen als Männer.«

»Nicht wahr, du wirst die schönen Damen bloß heiraten und sie nicht ermorden, was«, sagte Alderman Cute zu dem zwölfjährigen Erben Bowleys. »Ein süßer Junge. Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben, ehe wir uns versehen«, sagte der Alderman, nahm ihn bei den Schultern und sah ihn so nachdenklich, wie er nur irgend konnte, an. »Wir werden von seinen Erfolgen bei den Wahlen hören, von seinen Reden im Parlament, von den Angeboten seitens der Regierung und seinen brillanten Leistungen auf allen Gebieten; o wir werden ihm unsere geringen Huldigungen im Gemeinderat darbringen, das weiß ich, eher als wir denken.«

»O das machen die Schuhe und Strümpfe«, dachte Trotty, aber sein Herz schlug dem Kinde entgegen, um der Liebe willen zu den schuh- und strumpflosen Jungen, denen der Alderman an jenem Mittag die Laufbahn von Taugenichtsen vorausgesagt und die seiner armen Meg Kinder hätten sein können.

»Richard«, stöhnte er und durchstreifte die Gesellschaft. »Wo ist er nur? Ich kann Richard nicht finden. Wo ist Richard?«

Hier wahrscheinlich nicht, wenn er noch lebte!

Schmerz und Einsamkeit verwirrten Trotty. Er wanderte immer noch unstet in der vornehmen Gesellschaft herum, suchte seine Führerin und sagte unablässig: »Wo ist nur Richard? Zeig mir Richard!«

Als er so herumlief, begegnete er Mr. Fish, dem Geheimsekretär, der in großer Aufregung war. »Gott steh mir bei!« rief Mr. Fish. »Wo ist nur der Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? Lieber Himmel, wer konnte den Alderman nicht sehen. Er war so fürsorglich, so leutselig – sich des begreiflichen Wunsches der Menge, seiner ansichtig zu sein, so bewußt, daß er sich immerwährend vor allen Augen hielt. Und wo vornehme Leute waren, da war bestimmt auch Cute, angezogen von der Sympathie, die große Seelen verbindet.

Mehrere Stimmen sagten, daß er sich in dem Kreise befände, der um Sir Joseph stand. Mr. Fish bahnte sich einen Weg, fand ihn und zog ihn in eine Fensternische, um ihm heimlich etwas zu sagen. Trotty gesellte sich zu ihnen. Nicht aus eignem Antrieb. Er fühlte, daß sich seine Schritte von selbst dorthin lenkten.

»Mein lieber Alderman Cute«, sagte Mr. Fish, »noch ein bißchen weiter zum Fenster. Etwas Schreckliches ist vorgefallen. Ich habe es in diesem Augenblick erfahren. Ich dächte, es wäre das beste, Sir Joseph nichts mitzuteilen, bis der Tag vorüber ist. Sie kennen Sir Joseph, und ich bitte Sie um Ihre Meinung. Ein außerordentlich schreckliches und beklagenswertes Ereignis!«

»Fish«, entgegnete der Alderman, »Fish, lieber Freund, was ist geschehen? Doch keine Revolution, will ich hoffen. Keine – keine Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit?«

»Deedles, der Bankier«, der Sekretär schnappte nach Luft, »Gebrüder Deedles, der heute hätte hiersein sollen, der im höchsten Ansehen steht an der Börse –«

»Umgeschmissen!« sagte der Alderman. »Das kann nicht sein.«

»Erschossen hat er sich –«

»Großer Gott!«

»Hat sich eine Doppelpistole in seinem eigenen Bankhause an den Mund gesetzt«, sagte Mr. Fish, »und sich das Gehirn herausgeschossen. Und ohne Grund – fürstliche Verhältnisse.«

»Verhältnisse!« rief der Alderman aus. »Ein Mann mit fürstlichem Vermögen. Einer der allerrespektabelsten Menschen. Selbstmord, Mr. Fish. Mit eigener Hand.«

»An diesem Morgen«, entgegnete Mr. Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« Und der fromme Alderman hob die Hände zum Himmel. »O die Nerven, die Nerven; die Geheimnisse der Maschine, die wir Mensch nennen. Das Unscheinbarste hebt sie aus den Angeln! Armselige Geschöpfe, die wir sind! Vielleicht eine schwerverdauliche Speise, Mr. Fish. Vielleicht das Betragen seines Sohnes, der, wie ich hörte, ein wüstes Leben führt und ohne die mindeste Erlaubnis seines Vaters Wechsel auf ihn zu ziehen pflegte! Einer der angesehensten Leute, die ich jemals kennen gelernt habe! Ein beklagenswerter Umstand, Mr. Fish. Ein öffentliches Unglück. Ich werde beantragen, daß man die tiefste Trauer trägt. Ein außerordentlich angesehener Mann, aber es lebt Einer über uns. Wir müssen uns unterwerfen, Mr. Fish. Wir müssen uns beugen in Demut.«

»Was, Alderman! Kein Wort von Ausrotten? Denke an deinen hohen sittlichen Standpunkt und deinen Stolz. Komm, Alderman! Nimm einmal die Waage. Wirf in diese Schale, die leere – gar keine schwerverdauliche Speise, nur das Bild der versiegten Natur, ein armes Weib ohne Brot für ihr Kind, das doch ein Recht darauf hat seit der heiligen Mutter Evas Zeiten. Wäge die zwei, du Daniel! Und tritt zum Richterstuhl, wenn dein Tag gekommen sein wird. Wäge sie vor den Augen der leidenden Tausende und sie werden sich der greulichen Posse, die du spieltest, erinnern. Oder angenommen, du verlörest deine fünf Sinne – der Weg dahin ist kürzer als du denkst – und legtest Hand an deine eigene Gurgel zur Warnung für deine Genossen, wenn sie in ihrer sattgefressenen Verderbtheit andern vorkrächzen, was dann!«

Die Worte kamen aus Trottys Brust, wie wenn sie eine andere Stimme in ihm gesprochen hätte. Alderman Cute versprach Mr. Fish, daß er ihm behilflich sein wollte, die traurige Kunde Sir Joseph beizubringen, wenn der Tag vorüber wäre. Dann, bevor sie schieden, drückte er Mr. Fish die Hand in der Bitternis seines Schmerzes und sagte: »Ein außerordentlich angesehener Mann!« und fügte hinzu, daß er nicht begreifen könne (nicht einmal er), warum solche Trübsal auf Erden zugelassen werde.

»Man könnte fast denken, wenn man es nicht besser wüßte«, sagte Alderman Cute, »daß manchmal in der allgemeinen Einrichtung des sozialen Gebäudes sich etwas wie eine heftige Erschütterung vollzieht. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelschieben ging unter ungeheurem Beifall vor sich. Sir Joseph schob meisterhaft. Der junge Bowley tat auch mit auf kürzern Stand, und allgemein war man der Meinung, daß jetzt, wo ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel schöben, das Land unbedingt wieder auf die Beine kommen müßte, und in so kurzer Zeit, daß man staunen werde. Genau zur üblichen Stunde wurde das Bankett serviert. Trotty ging unfreiwillig mit den übrigen in den Saal, denn er fühlte sich von einem mächtigeren Drang als seinem eigenen Willen dorthin getrieben.

Es war ein prächtiges Schauspiel; die Damen waren sehr schön; die Gäste entzückt, fröhlich und bester Laune. Als sich die untern Türen auftaten und das Volk hereinströmte in ländlicher Tracht, da erreichte die Schönheit der Szene ihren Höhepunkt. Nur Trotty murmelte immerwährend vor sich hin: »Wo ist nur Richard? Er soll ihr doch helfen und sie trösten. Ich kann Richard nicht sehen.«

Es wurden einige Reden gehalten und auf Lady Bowleys Gesundheit getrunken. Und Sir Joseph Bowley hatte gedankt und seine große Rede gehalten, in der er nachgewiesen, daß er der geborene Freund und Vater und so weiter sei und hatte als Toast die Freunde und Kinder und die Würde der Arbeit ausgebracht, da zog im Hintergrund des Saales eine kleine Störung Tobys Aufmerksamkeit auf sich. Nach einigem Wirrwarr, Lärm und Widerstand bahnte sich ein Mann den Weg durch die Menge und trat vor.

Es war nicht Richard, aber einer, an den Trotty schon öfter hatte denken müssen. Bei einer schwächern Beleuchtung hätte er vielleicht an der Identität des abgezehrten, alten, grauen und gebeugten Mannes gezweifelt, hier aber bei dem hellen Lichterschein, der auf den eckigen, knorrigen Kopf fiel, erkannte er sofort Will Fern, als dieser den ersten Schritt vorwärts tat.

»Was ist das?« rief Sir Joseph, sich erhebend. »Wer ließ den Mann herein? Es ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Mr. Fish, möchten Sie nicht die Güte haben – – –«

»Eine Minute«, sagte Will Fern, »eine Minute! Mylady! Sie haben heute zugleich mit dem neuen Jahr Geburtstag. Gestatten Sie mir, nur eine Minute zu sprechen.«

Sie verwendete sich für ihn. Sir Joseph nahm seinen Sitz wieder ein mit angeborener Würde.

Der zerlumpte Gast sah sich in der Gesellschaft um und bezeigte ihr seine Ehrerbietung, indem er sich tief verbeugte.

»Vornehme Herrschaften!« sagte er. »Sie haben soeben auf das Wohl der Arbeiter getrunken. Sehen Sie auf mich!«

»Geradenwegs aus dem Gefängnis«, sagte Mr. Fish. »Geradenwegs aus dem Gefängnis«, sagte Will. »Und nicht zum ersten oder zweiten oder dritten Mal, auch nicht zum vierten Mal.«

Man hörte Mr. Filer sagen, daß viermal bereits die Durchschnittszahl übersteige. Es wäre eine Schamlosigkeit.

»Vornehme Herrschaften!« wiederholte Will Fern. »Sehen Sie mich an. Sie sehen, ich bin auf der untersten Stufe angekommen, man kann mich nicht mehr beleidigen oder mir schaden und kann mir nicht mehr helfen. Denn die Zeit, wo mir Ihre freundlichen Worte oder Taten hätten helfen können« – er schlug sich mit der Hand auf die Brust und schüttelte den Kopf – »ist vorbei wie der Duft der Bohnenblüten oder des Klees vom vergangenen Jahr. Lassen Sie mich ein Wort für diese sprechen.« Und er wies auf die Arbeiterschaft im Saal. »Und da Sie so schön beisammen sind, so hören Sie einmal die wirkliche Wahrheit an.«

»Es ist nicht ein Mensch hier«, sagte der Gastgeber, »der Euch zum Fürsprecher haben möchte.«

»Sehr möglich, Sir Joseph. Ich glaube es auch. Deswegen ist aber, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht ist es sogar ein Beweis dafür. Meine vornehmen Herrschaften! Ich habe viele Jahre in diesem Orte gelebt. Sie können die Hütte von der eingefallenen Hürde drüben sehen. Ich habe die Damen sie wohl hundertmal in ihre Skizzenbücher zeichnen sehen. Sie soll sich so hübsch ausnehmen in einem Bilde. Aber bei Gemälden ist das Wetter nicht mit drauf, und wahrscheinlich ist es leichter, sie abzuzeichnen als drin zu leben. Gut. Ich lebte drin. Wie hart, wie bitter hart ich drin lebte und wohnte, davon will ich nicht reden. Jeden Tag im Jahr können Sie sich ja selbst überzeugen.«

Er sprach, wie er an dem Abend gesprochen, als Trotty ihn auf der Straße gefunden hatte. Seine Stimme war tiefer und rauher und bebte dann und wann. Doch er erhob sie niemals leidenschaftlich, und selten sprach er lauter, als es das ernste Thema erforderte.

»Es ist härter, als Sie sich denken, vornehme Gesellschaft, in Ehren aufzuwachsen, ich meine, in den allergewöhnlichsten Ehren, an einem solchen Orte. Daß ich als Mensch aufwuchs und nicht als Tier, spricht einigermaßen für mich, wenn man bedenkt, wie’s mir damals ging. Wie ich jetzt dastehe, läßt sich für mich nichts mehr sagen oder tun. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich bin sehr froh, daß dieser Mann gekommen ist«, bemerkte Sir Joseph heiter umherblickend. »Man störe ihn nicht, es scheint die Vorsehung die Hand im Spiel zu haben. Er ist ein Exempel, ein lebendes Exempel. Ich glaube und hoffe zuversichtlich und erwarte bestimmt, daß es für meine Freunde hier nicht verloren sein wird.«

»Ich schleppte mich durch«, sagte Fern nach einem Augenblick Stillschweigen, »irgendwie. Weder ich noch irgend jemand kann sagen, wie, aber so schwer, daß man es mir am Gesicht ansah, was ich war. Nun, meine Herren, Ihr Herren, die Sie zu Gericht sitzen – wenn Sie einen Mann, dem die Unzufriedenheit ins Gesicht geschrieben steht, sehen, dann sagen Sie zueinander, er ist verdächtig, ich mißtraue ihm, diesem – – – Will Fern. Bewacht den Kerl! Ich sage nicht, daß das nicht selbstverständlich wäre, ich sage nur, es ist so. Und von dieser Stunde an muß dem Will Fern alles schiefgehen, mag er tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte die Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich in seinen Stuhl zurück; lächelte – und zwinkerte in das Licht eines in der Nähe stehenden Armleuchters. Womit er soviel sagen wollte wie: Nun natürlich! Ich hab’s ja immer gesagt, das gewöhnliche Gejammer. Du lieber Himmel, wir sind über derlei schon hinaus – ich und die menschliche Natur.

»Nun, Gentlemen«, sagte Will Fern, streckte seine Hände aus, und einen Augenblick stieg ihm das Blut in sein abgezehrtes Gesicht. »Sehen Sie, wie Ihre Gesetze gemacht sind, uns Fallen zu stellen und uns niederzuhetzen, wenn wir so weit gekommen sind. Ich versuche anderswo zu leben, folglich bin ich ein Vagabund. Ins Gefängnis mit mir. Ich komm wieder zurück, schlag mir in euern Wäldern ein paar Nüsse vom Baum, liegt denn was dran? Ins Gefängnis mit mir. Einer eurer Wildhüter sieht mich am hellen, lichten Tag in der Nähe meines eigenen Strichs Garten mit einer Flinte: Ins Gefängnis mit mir! Ich spreche natürlich mit dem Mann ein Wörtchen, als ich wieder freikomme: Ins Gefängnis mit mir. Ich schneide mir einen Stock ab: Ins Gefängnis mit mir. Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe: Ins Gefängnis mit mir. Es ist zwanzig Meilen von hier, und als ich zurückkomme, bettle ich um eine Kleinigkeit auf der Straße: Ins Gefängnis mit mir. Kurz, der Gendarm, der Wildhüter – irgend jemand – findet mich irgendwo bei irgendwas. Also ins Gefängnis mit mir, denn ich bin doch ein Vagabund und ein bekannter Galgenvogel; und das Gefängnis ist meine einzige Heimat geworden.«

Der Alderman nickte beredt mit dem Kopfe, als wollte er sagen: »Und was für eine gute Heimat«.

»Sag ich das um meinetwillen? Wer kann mir meine Freiheit zurückgeben? Wer gibt mir meinen guten Namen zurück? Wer kann mir meine unschuldige Nichte zurückgeben? Nicht alle die Lords und Ladys im weiten England. Aber, Gentlemen, Gentlemen, wenn Ihr Euch wieder mit Menschen befaßt von meinesgleichen, dann faßt’s am rechten Ende an. Gebt uns um Gottes willen bessere Wohnungen als die, in denen wir liegen von der Wiege an. Gebt uns bessere Nahrung, wenn wir uns um unser Leben schinden. Gebt uns mildere Gesetze, daß wir zurückkönnen, wenn wir auf falschem Wege sind. Und stellt uns nicht immer Kerker, Kerker, Kerker hin, wohin wir uns auch wenden mögen. Dann könnt Ihr dem Arbeiter jegliche Herablassung zeigen, die Ihr wollt. Er wird sie so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie ein Mann es nur tun kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches, williges Herz. Aber Ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihn einpflanzen. Denn ob er nun ein Wrack oder eine Ruine geworden sein mag wie ich, oder einer von denen ist, die dort stehen, sein Herz ist Euch entfremdet in der jetzigen Zeit. Bringt es zurück, Ihr Vornehmen, bringt es zurück! Bringt es zurück, ehe der Tag kommt, wo selbst die Worte der Bibel in seinem verirrten Sinn sich verwirren und ihm so zu klingen scheinen, wie sie mir zuweilen zu klingen schienen im Gefängnis: ›Wohin du gehst, da kann ich nicht hingehen. Wo du wohnst, da wohne ich nicht. Dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott ist nicht mein Gott!‹«

Ein plötzlicher Aufruhr und eine Erregung erhob sich in dem Saale. Trotty dachte zuerst, daß sich mehrere erhoben hätten, um den Mann hinauszuwerfen, und daher käme der plötzliche Wandel der Szene. Aber der nächste Augenblick zeigte ihm, daß Saal und Gesellschaft verschwunden waren und daß seine Tochter wieder vor ihm saß, die Arbeit in der Hand. Aber in einem ärmern, noch niedrigeren Stübchen als vorher und ohne Lilly zur Seite.

Der Stickrahmen, an dem sie gearbeitet hatte, war beiseite gelegt und zugedeckt. Der Stuhl, in dem Lilly gesessen, stand zur Wand gekehrt.

Eine lange Geschichte sprach aus diesen kleinen Dingen und aus Megs gramgefurchtem Gesicht. Wer hätte sie nicht lesen können?

Meg heftete ihre Augen auf ihre Arbeit, bis es zu dunkel geworden war, die Fäden zu unterscheiden, und als die Nacht sank, da zündete sie die dünne Kerze an und arbeitete weiter. Noch immer stand ihr alter Vater unsichtbar bei ihr, blickte auf sie herab voll zärtlicher, inniger Liebe und sprach zu ihr von den alten Zeiten und den Glocken, wiewohl er wußte, der arme Trotty daß sie ihn nicht hören konnte.

Der Abend war zum großen Teil verstrichen, als es an die Tür klopfte. Sie öffnete: Ein Mann stand auf der Schwelle. Schlottrig, betrunken und schmutzig, von Laster und Unmäßigkeit verwüstet, mit wirrem Haar und ungeschorenem Bart.

Nur noch Spuren davon standen in seinem Gesicht, daß er einstmals in seiner Jugend ein stattlicher Mann gewesen sein mochte, gut gewachsen und mit hübschen Zügen.

Er blieb stehen, bis sie ihm erlaubte einzutreten; sie wich ein bis zwei Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und voller Trauer an.

Trottys Wunsch war erfüllt: Er sah Richard.

»Kann ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja, komm herein, komm herein.«

Hätte ihn Trotty nicht vor diesen Worten schon erkannt, wäre er im Zweifel geblieben, denn nach der heiseren, rauhen Stimme hätte er ihn für einen ganz Fremden halten müssen.

Es standen nur zwei Stühle im Zimmer. Sie gab ihm ihren und blieb von ihm entfernt stehen, abwartend, was er zu sagen habe.

Er saß da und starrte mit nichtssagendem stupidem Lächeln auf den Boden. Ein Bild so tiefer Herabgekommenheit und völliger Hoffnungslosigkeit, von so elender Verkommenheit, daß sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und sich abwandte, damit er nicht sehen sollte, wie sehr es sie erschütterte. Durch das Rascheln ihres Kleides oder sonst ein Geräusch erwachend, erhob er den Kopf und begann in einer Weise zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt gar keine Pause geherrscht hätte.

»Immer noch bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Ich tu es immer.«

»Auch früh?«

»Auch früh!«

» Sie sagte das auch; sie sagte, du würdest niemals müde oder wolltest nicht eingestehen, daß du müde wärest. Die ganze Zeitlang, als ihr zusammen lebtet. Selbst dann nicht, wenn dich die Kraft verließ zwischen Arbeit und Hunger. Doch das erzählte ich dir ja schon, als ich das letztemal hier war.«

»Ja«, antwortete sie, »und ich bat dich, davon nichts mehr zu reden. Und du versprachst es mir feierlich, Richard, daß du davon niemals mehr sprechen wolltest.«

»Ein feierliches Versprechen«, lallte er mit einem blödsinnigen Lachen und ins Leere starrend. »Ein feierliches Versprechen. So, so.« Nach einiger Zeit wieder erwachend wie vorher, sagte er mit plötzlicher Lebhaftigkeit:

»Was kann ich tun, Margaret, was kann ich dafür, sie ist wieder bei mir gewesen.«

»Wieder«, rief Meg und krampfte die Hände. »Denkt sie so oft an mich. Schon wieder ist sie dagewesen.«

»An die zwanzigmal«, sagte Richard, »Margaret. Sie verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Sie kommt auf der Straße hinter mir drein und steckt es mir in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei der Arbeit bin (ha, ha, das kommt nicht oft vor), und bevor ich mich umsehen kann, flüstert mir ihre Stimme ins Ohr und sagt: ›Richard, schau dich nicht um. Um Gottes willen gib ihr das – das –.‹ Sie bringt mir’s in die Wohnung, schickt es mir im Brief, sie klopft an die Scheiben und legt es aufs Fensterbrett. Was kann ich tun dagegen? Da schau her.«

Er hielt ihr eine kleine Börse hin und klimperte mit dem Gelde.

»Gib sie weg«, sagte Meg. »Gib es weg. Wenn sie wiederkommt, sag ihr, Richard, daß ich sie liebe von ganzem Herzen. Daß ich mich niemals schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten. Daß ich bei meiner einsamen Arbeit beständig an sie denke. Daß sie bei mir ist bei Tag und Nacht. Daß ich ihrer gedenken würde mit meinem letzten Atemzug, wenn ich morgen sterben müßte, aber daß ich’s nicht mit anschauen kann.«

Er zog die Hand langsam zurück und sagte, die Börse mit den Fingern zusammendrückend, in einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich hab es ihr schon gesagt; ich hab es ihr gesagt, so klar und deutlich, wie man es mit Worten nur kann. Ich hab ihr das Geschenk zurückgegeben und vor ihrer Tür liegenlassen, wohl schon dutzendemal. Und wenn sie dann wiederkam und vor mir stand, Auge in Auge, was konnte ich da tun?«

»Du sahst sie«, rief Meg, »du hast sie gesehen? O Lilly meine liebe, süße Lilly! Lilly! O Lilly, Lilly!«

»Ich hab sie gesehen«, fuhr er fort, nicht als Antwort, sondern immer noch mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Lilly stand da und zitterte: ›Wie sieht Meg aus, Richard? Spricht sie noch von mir? Ist sie magerer geworden? Mein alter Platz am Tisch! Wer sitzt an meinem Platze? Und der Stickrahmen, auf dem sie mich die Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ – – – Das sagte Lilly ich hörte sie das sagen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen. Mit strömenden Tränen beugte sie sich über ihn, um zu lauschen. Nicht einen Atemzug seines Mundes wollte sie verlieren.

Und er fuhr fort, die Arme auf die Knie gestützt und vor sich hinstarrend, als wenn alles, was er sagte, auf dem Fußboden stünde in halb unleserlichen Zügen und als ob er damit beschäftigt wäre, die Schrift zu entziffern und abzulesen:

»›Richard‹, hat sie gesagt, ›ich bin sehr tief gesunken, und du kannst dir denken, was ich gelitten habe, als ich das zurückgeschickt bekam und doch wiederkomme, um es dir nochmals zu geben. Doch du liebtest sie einst, wie ich mich selbst noch erinnern kann. Andere traten zwischen euch. Ungewißheit, Eifersucht und Zweifel und Nichtigkeiten entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, daran kann ich mich selbst noch erinnern.‹

Ich glaube, es ist wahr«, fügte er hinzu, sich selbst unterbrechend, »doch das gehört nicht hierher. – – – ›O Richard, wenn du sie jemals liebtest und noch eine Erinnerung hast an das, was dahin und vorbei, so nimm das noch einmal und bringe es ihr. Noch einmal! Sag ihr, wie ich dich bettelte und bat. Sag ihr, daß ich meinen Kopf auf deine Schulter gelegt habe, wo vielleicht ihr Haupt gelegen, und wie ich dich demütig darum bat, Richard. Sag ihr, daß du mir ins Gesicht gesehen hast und daß die Schönheit, die sie immer so pries, verblaßt und vergangen ist, vergangen und dahin, und an ihrer Stelle magere, hohle Wangen sind, daß sie Tränen vergießen würde bei ihrem Anblick. Sag ihr alles und nimm’s wieder mit, und sie wird es nicht zurückweisen. Sie wird es nicht übers Herz bringen.‹«

So saß er sinnend da und wiederholte die letzten Worte, bis er plötzlich wieder zu sich kam und aufstand.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn durch eine Gebärde zu gehen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht.«

Er wandte sich um nach ihr und war betroffen von ihrem Schmerz und vielleicht von dem Mitleiden für ihn selber, das in ihrer Stimme zitterte. Es war eine plötzliche Regung, und für einen Augenblick belebte etwas sein Gesicht, wie ein Blitz aus seinem frühern Wesen. Doch im nächsten Moment ging er, wie er gekommen war. Das Aufglimmen eines längst erloschenen Feuers leuchtete nicht hinab in die Tiefen seiner rettungslosen Erniedrigung.

Bei jeder Stimmung, jedem Kummer, in allen Qualen des Geistes und Körpers mußte Meg fortarbeiten. Sie setzte sich wieder nieder und stickte. Nacht, Mitternacht! Immer noch saß sie an der Arbeit.

Sie hatte ein dürftiges Feuer. Die Nacht war sehr kalt, und von Zeit zu Zeit stand sie auf, es zu schüren. Die Glocken läuteten halb ein Uhr, und immer noch arbeitete sie, und als die Töne verklangen, da klopfte etwas leise an die Tür. Ehe sie noch darüber nachdenken konnte, wer es wohl sein möchte zu dieser späten Stunde noch, tat sich die Türe auf. Sie sah die Gestalt, die hereintrat, rief ihren Namen und schrie auf: »Lilly!«

Und schon sank die Gestalt von ihr in die Knie und klammerte sich an ihr Kleid.

»Steh auf, mein Lieb, steh auf, Lilly. Mein einziger Liebling.«

»Nie mehr, Meg, nie mehr! Hier! Hier! An dich geschmiegt will ich sein, mich klammern an dich, ich will deinen lieben Atem auf meinem Gesicht fühlen.«

»Süße Lilly! Lilly, mein Liebling! Kind meines Herzens – keiner Mutter Liebe kann inniger sein – leg deinen Kopf an meine Brust.«

»Nie mehr, Meg, nie mehr! Als ich zum erstenmal dein Gesicht erblickte, knietest du vor mir. Auf meinen Knien vor dir laß mich sterben, hier sterben!«

»Du bist zurückgekommen. Mein alles! Wir wollen zusammen leben, zusammen ringen, hoffen, miteinander sterben.«

»O küsse meine Lippen, Meg! Lege deine Arme um mich, drück mich an deine Brust! Sieh freundlich auf mich nieder – doch hebe mich nicht auf. Laß mich hier sterben. Laß mich hier liegen auf meinen Knien, dein liebes Gesicht zum letztenmal sehen! Vergib mir, Meg! O Liebe, Liebe, vergib mir. Ich weiß, du tust es, ich sehe, du tust es, doch sage es mir auch, Meg.«

Und Margaret sagte es mit den Lippen auf Lillys Wangen. Und sie hielt in den Armen – sie fühlte es wohl – ein gebrochenes Herz.

»Gott segne dich, mein teuerstes Lieb! Küsse mich noch einmal! Auch Er duldete, daß sie zu Seinen Füßen saß und sie trocknete mit ihrem Haar. O Meg, welche Gnade und welch Erbarmen!«

Und wie sie starb, da berührte der Geist des wiederkehrenden Kindes unschuldig und strahlend den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm zu kommen.