Die vier Schwestern


Die vier Schwestern

In der Reihe, in der die Häuser der alten Dame und ihres unruhigen Nachbars stehen, wohnt eine größere Anzahl von Originalen als im ganzen übrigen Kirchspiel. Wir wählen davon noch einige zur Betrachtung aus.

Die vier Miss Willis siedelten sich vor dreizehn Jahren bei uns an. Es ist höchst betrüblich, daß das alte Sprichwort: »Zeit und Ebbe und Flut warten auf niemand« gleiche Anwendung auf den schöneren Teil der Schöpfung findet, und gern würden wir es verschweigen, daß die vier Miss Willis sogar vor dreizehn Jahren keineswegs jung genannt werden konnten. Allein, unsere Pflicht als getreuer Kirchspielchronist überwiegt jede andere Rücksicht, und wir können nicht umhin, zu sagen, daß die Autoritäten in Heiratsangelegenheiten vor dreizehn Jahren meinten, daß sich die jüngste Miss Willis in einer sehr prekären Lebensperiode befände, während sie die älteste Schwester als über alle menschliche Hoffnung hinaus gänzlich aufgaben. – Die vier Miss Willis mieteten ein Haus. Es wurde von oben bis unten neu bemalt und tapeziert und überall verziert. Die bei der neuen Ausstattung beschäftigten Handwerker teilten den Dienstmägden in der Reihe vertraulich mit, wie prachtvoll die Miss Willis alles und jedes einrichten ließen; die Dienstmägde teilten alles ihren »Missises« mit, die es ihren Freundinnen wieder erzählten, und im ganzen Kirchspiel ging das unbestimmte Gerücht, daß vier unverheiratete, unermeßlich reiche Damen Nummer 25 auf dem Gardonplatz gemietet hätten.

Endlich zogen die vier Miss Willis ein, und das Besuchmachen nahm seinen Anfang. Das Haus war ein wahres Muster von Sauberkeit und Nettigkeit; die vier Miss Willis waren es gleichfalls. Alles war förmlich, steif und kalt; und förmlich, steif und kalt waren auch die vier Miss Willis. Zu jeder Zeit stand jeder Stuhl an seinem bestimmten Platz; und zu jeder Zeit saß jede Miss Willis auf dem ihrigen. Auch taten alle vier jederzeit pünktlich dasselbe, zu ein und derselben Stunde. Die älteste Miss Willis strickte fast immer, die zweite zeichnete, die beiden jüngsten spielten vierhändige Sonaten auf dem Piano. Sie schienen kein individuelles Dasein zu haben, sondern entschlossen zu sein, vereint das Leben zu überwintern. Sie waren drei hochgewachsene Grazien nebst einer vierten, die drei Schicksalsschwestern mit einer vierten Schwester, die siamesischen Zwillinge mit zwei multipliziert. Die älteste Miss Willis wurde gallenkrank – augenblicklich wurden es auch die andern drei. Die älteste Miss Willis wurde übellaunig und andächtig – sogleich waren auch die drei jüngeren Miss Willis andächtig und übellaunig. Was die älteste tat, taten ihr die jüngeren nach, und was irgend sonst jemand tat, wurde von allen getadelt. So vegetierten sie, in vollkommener Harmonie untereinander lebend und bisweilen, wenn sie in Gesellschaft gingen oder einige Gesellschaft bei sich sahen, die Nachbarn durchhechelnd.

So waren drei Jahre vergangen, als man ein unerwartetes und außerordentliches Phänomen beobachtete. Die Miss Willis zeigten Sommersymptome; das Eis ging allmählich auf, vollkommenes Tauwetter trat ein. War es möglich? – Eine der vier Miss Willis war im Begriff, sich zu verheiraten.

Woher in aller Welt der Zukünftige gekommen war, welche Gefühle und Beweggründe er gehabt haben konnte, oder durch welche Vernunftschlüsse oder Erwägungen die vier Miss Willis sich überzeugt hatten, daß es einem Manne möglich sei, eine von ihnen zu ehelichen, ohne sie alle vier zu heiraten? – Dies sind Fragen, die wir zu beantworten außerstande sind; gewiß aber ist es, daß die Besuche Mr. Robinsons (eines Gentlemans, der eine Anstellung im Staatsdienst mit einem guten Gehalt hatte und außerdem einiges Vermögen besaß) angenommen wurden – daß der besagte Mr. Robinson den vier Miss Willis in gehöriger Form den Hof machte – daß die Nachbarn rasend vor Begierde waren, zu erforschen, welche der vier Miss Willis die Beglückte sei, und daß die Schwierigkeit der Lösung dieses Problems nicht im mindesten dadurch verringert wurde, daß die älteste Miss Willis erklärte: » Wir werden Mr. Robinson heiraten.«

Nichts konnte auffallender und wunderbarer sein. Sie waren so gänzlich eins, daß die Neugierde der ganzen Reihe, und sogar der alten Dame selbst, bis zur Unerträglichkeit stieg. Die Sache wurde in jeder Teegesellschaft und an jedem Spieltisch erörtert. Der alte Herr, die Seidenwurmberühmtheit, sprach entschieden seine Meinung aus, daß Mr. Robinson von orientalischer Herkunft sei und sämtliche Schwestern zu heiraten gedenke, und die ganze Reihe schüttelte ernsthaft und bedenklich die Köpfe und erklärte, daß die Sache äußerst geheimnisvoll sei. Sie hoffte, daß alles einen guten Ausgang nehmen möge, und sagte, wie absonderlich auch der Anschein sei, es sei lieblos, eine Meinung auszusprechen, ehe man hinreichende Gründe dafür hätte; auch seien die Miss Willis vollkommen alt genug, um selbst beraten zu können; jedermann müsse selbst am besten wissen, was er zu tun habe, und was dergleichen mehr war.

Endlich fuhren eines schönen Morgens eine Viertelstunde vor acht Uhr zwei Glaskutschen bei den Miss Willis vor, in deren Wohnung Mr. Robinson zehn Minuten früher in einem Cab (einspännige Droschke) angelangt war. Er trug einen hellblauen Rock und Kerseypantalons, ein weißes Halstuch, Tanzschuhe und Glacéhandschuhe und war äußerst erregt, was man von dem Hausmädchen von Nummer 23 wußte, das bei seiner Ankunft gerade die Treppenstufen gefegt hatte. Aus derselben Quelle floß das rasch umlaufende Gerücht, daß die Köchin, die ihm die Haustür geöffnet hatte, eine ungewöhnlich große und prachtvolle weiße Schleife trage und überhaupt weit geputzter sei, als es die vier Miss Willis ihrer Dienerschaft sonst zu gestatten pflegten. Die Kunde verbreitete sich rasch aus einem Hause in das andere. Es unterlag keinem Zweifel, daß der große Tag endlich gekommen war; die ganze Reihe stellte sich im ersten und zweiten Stockwerk hinter die Jalousien oder Rouleaus an die Fenster und wartete in atemloser Spannung auf die Auflösung des Rätsels.

Endlich tat sich die Haustür auf, und zugleich wurde der Schlag der vordersten Glaskutsche geöffnet. Zwei Herren und zwei Damen – ohne Zweifel Anverwandte – stiegen ein, die erste Kutsche fuhr ab und die zweite vor.

Abermals tat sich die Haustür auf; die Spannung erreichte ihren höchsten Gipfel. Mr. Robinson und die älteste Miss Willis traten aus dem Hause. »Ich dachte es wohl«, sagte die Dame in Nummer 19; »ich hab‘ es ja immer gesagt.« – »Hat man jemals so etwas erlebt!« rief die junge Dame in Nummer 18 der jungen Dame in Nummer 17 zu, die durch einen ähnlichen Ausruf antwortete. »Es ist zu lächerlich!« rief eine Jungfer von ungewissem Alter in Nummer 16 dazwischen. Doch wer beschreibt das Erstaunen der Reihe, als Mr. Robinson sämtlichen Miss Willis, einer nach der andern, in die Kutsche half und sich darauf selbst in einen Winkel hineindrückte, worauf die zweite Glaskutsche rasch der ersten nacheilte, und zwar der Pfarrkirche zu. Wer beschreibt die Verlegenheit und den Schrecken des Geistlichen, als sämtliche Miss Willis am Altar niederknieten und mit hörbaren Stimmen die bei der Hochzeitsliturgie üblichen Antworten aussprachen – oder wer schildert die Verwirrung, als sämtliche vier Miss Willis am Schluß der heiligen Handlung Krämpfe bekamen, und die Kirche von ihrem vereinten Weinen und Wehklagen widerhallte.

Da die vier Schwestern und Mr. Robinson nach diesem denkwürdigen Tag dasselbe Haus bewohnten und da sich die verheiratete Schwester, welche von ihnen es auch sein mochte, niemals ohne die anderen drei außerhalb des Hauses sehen ließ, ist es zweifelhaft genug, ob die Nachbarschaft jemals erfahren haben würde, welche von den Miss Willis Mrs. Robinson sei, wenn nicht ein sehr befriedigender, aber besonderer Umstand der Art eingetreten wäre, wie sie auch in den bestgeregelten Familien vorzukommen pflegen. Drei Quartaltage waren verflossen, und der Reihe ging plötzlich das erwünschte Licht über die wahre Mrs. Robinson, die jüngste Miss Willis, auf. Man sah jeden Morgen zwischen neun und zehn Uhr die Mägde der Reihe in die Wohnung der Misses eilen. Sie brachten die Empfehlung der Herrschaft, die sich erkundigen ließe, wie sich Mrs. Robinson heute befände? Die Antwort lautete stets: »Mrs. Robinson läßt sich gleichfalls empfehlen, befindet sich sehr wohl und durchaus nicht schlimmer als gestern.«

Man hörte das Piano nicht mehr – das Strickzeug war beiseite gelegt – das Zeichnen aufgegeben – und Kleider- und Mützenmachen nach dem denkbar kleinsten Maßstab schien die Lieblingsbeschäftigung der ganzen Familie geworden zu sein. Im Wohnzimmer herrschte nicht mehr die ehemalige unabänderliche strenge Ordnung; der Arzt an der Ecke der Reihe, der eine große Lampe in seinem Fenster mit buntfarbigen Glasscheiben stehen hat, wurde öfters als gewöhnlich nachts herausgeklopft, und einst wurden wir um halb drei Uhr morgens nicht wenig durch eine Kutsche beunruhigt, aus der eine wohlbeleibte alte Frau in Mantel und Nachtmütze herausstieg: eine Frau, die ganz aussah, als wenn sie sehr plötzlich zu einem ganz besonderen Zweck im Schlaf gestört worden sei. Als wir aufstanden, sahen wir, daß der Türklopfer der Miss Willis mit Tuch umwickelt war, und dachten in unserer Unschuld – denn wir sind unverheiratet – »was in aller Welt mag das alles bedeuten?«, bis wir endlich die älteste Miss Willis in eigener Person mit großer Würde auf die nächste Erkundigung antworten hörten: »Meine Empfehlung, und Mrs. Robinson befindet sich so wohl, als sich erwarten laßt, und das kleine Mädchen gedeiht vortrefflich.«

Jetzt war unsere und der ganzen Reihe Neugier befriedigt, und wir wunderten uns, daß es uns bis dahin gar nicht eingefallen war, »was das alles bedeutet hatte«.

Szenen


Szenen

Die Straßen am Morgen

Das Aussehen der Londoner Straßen vor Sonnenaufgang an einem Sommermorgen fällt sogar den wenigen in hohem Maße auf, die, weil sie bei ihren Vergnügungen oder ihren Geschäftsunternehmungen unglücklich waren, sehr wohl damit bekannt sind. Es macht einen ganz besonderen Eindruck, die geräuschlosen Straßen, von denen wir gewohnt sind, daß sie zu anderen Zeiten von einer geschäftigen, wogenden Menschenmenge erfüllt sind, so nüchtern, einsam und verödet und die Häuser so still und dicht verschlossen zu sehen, die bei Tag einen äußerst belebten Anblick darbieten.

Der letzte Zechbruder, der noch im Dunkel seinen Weg nach Hause fand, ist soeben mit schweren Gliedern, von Zeit zu Zeit den Refrain eines Trinkliedes der durchschwärmten Nacht grölend, entlanggetaumelt; der letzte obdachlose Herumstreicher, den Armut und die Polizei in den Straßen gelassen, hat sich erstarrt in einen gepflasterten Winkel gedrückt, um von Speise und Trank und einem wärmenden Kamin oder Bett zu träumen. Die Trunkenbolde, Wüstlinge und Heimatlosen sind verschwunden, die nüchternen und ordentlichen Leute zu ihren Tagesgeschäften noch nicht erwacht, und in den Straßen herrscht die Stille des Todes, der ihnen sogar seine Farbe mitgeteilt zu haben scheint: so kalt und leblos sehen sie in der bleichen grauen Morgendämmerung aus. Die Kutschenstände in den größeren Straßen sind verlassen, die »Nachthäuser« geschlossen, die Tummelplätze der Ausschweifung und des Elends leer. Hier und da sieht man einen Polizeidiener an einer Straßenecke stehen und gedankenlos die verödete Straße hinunterschauen; und dann und wann schleicht ein loses Kätzchen quer hinüber und verliert sich in dem Hofraum seines Herrn, springt zuerst auf die Wassertonne, dann auf das Kehrichtloch und endlich auf die Steinplatten so vorsichtig und listig hinunter, als ob es meinte, sein guter Ruf hinge davon ab, daß seine Galanterie der entschwundenen Nacht unbemerkt bliebe. Hier und da steht ein Schlafzimmerfenster halb offen und deutet auf die Schwüle der Luft und den unruhigen Schlummer so manchen Schläfers hin – und der matte Schimmer eines Nachtlichts hinter den Fenstervorhängen bezeichnet ein Krankenzimmer. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, bieten die Straßen kein Zeichen des Lebens, die Häuser keine Spur, daß sie bewohnt sind.

Eine Stunde schleicht hin. Die Kirchtürme und die Dächer der vornehmsten Gebäude werden vom Licht der aufgehenden Sonne schwach gefärbt, und die Straßen beginnen sich fast unmerklich wieder zu beleben. Marktkarren rumpeln langsam daher; der schläfrige Fuhrmann treibt ungeduldig seine müden Pferde an oder bemüht sich vergeblich, den Knaben aufzuwecken, der, auf dem üppigen Lager der Gemüsekörbe ausgestreckt, süß träumend seine lange gehegte Neugier vergißt, die Wunder Londons zu schauen.

Plumpe, schlaftrunkene Geschöpfe von seltsamem Aussehen, die etwa die Mitte halten zwischen Hausknechten und Mietkutschern, fangen an, die Fenstervorsetzer frühöffnender Gasthäuser herunterzunehmen; und kleine hölzerne Tische mit den üblichen Vorkehrungen zu einem Straßenfrühstück erscheinen an den gewohnten Plätzen. Kleine Trupps von Männern und besonders Frauen mit schweren Gemüsekörben auf den Köpfen kommen mühseligen Schritts von Piccadilly herunter auf ihrem Weg nach Covent-Garden und bilden, einer dem anderen folgend, eine lange unregelmäßige Linie von dort bis nach der Knightsbrücke, wo die Straße eine Wendung macht. Hier und da sieht man einen Maurergesellen mit seinem in ein Taschentuch gebundenen Frühstück rasch »in die Arbeit« gehen, und von Zeit zu Zeit eilen Häufchen von drei bis vier, zu einer heimlichen Badepartie ausziehenden Schulknaben vorüber, deren lärmende Fröhlichkeit auffallend absticht von der trübseligen Resignation des kleinen Schornsteinfegerjungen, der sich geduldig auf dem Türtritt niederläßt, um zu warten, bis das Hausmädchen endlich von selbst erwacht, nachdem er geklopft und geklingelt, bis ihn der Arm schmerzte, da eine liebreiche Gesetzgebung ihm untersagt, seine Lunge durch das sonst übliche Rufen zu gefährden.

Der Covent-Garden-Markt und die zu ihm führenden Straßen sind gedrängt voll von Marktfuhrwerken jeder Art und Größe, von dem schwerfälligen Frachtwagen mit seinen vier kräftigen Pferden an bis zum klappernden Obsträderkarren mit seinem schwindsüchtigen Esel. Das Pflaster ist bereits bestreut mit welken Kohlblättern, zerrissenen Heuseilen und mit dem ganzen namenlosen Abfall eines Gemüsemarktes; und das Geräusch, das man vernimmt, ist fast ebenso verschiedenartig – Männer schreien, Karren werden rückwärts geschoben, Pferde wiehern, Knaben balgen sich, Marktweiber schwatzen, hier werden Pasteten angepriesen, dort iahen Esel; und diese und hundert andere Laute bilden ein Getöse, das selbst für Londoner Ohren disharmonisch genug und für die Ohren der Gentlemen vom Lande, die zum ersten Male in den Badeanstalten schlafen, höchst widrig und lästig ist.

Es vergeht abermals eine Stunde, und der Tag nimmt endgültig seinen Anfang. Die Dienstmagd, die unter dem Vorwand, sehr fest zu schlafen, »Missis« Klingeln eine halbe Stunde gänzlich unbeachtet gelassen hat, vernimmt von »Master« (den Missis zu diesem Zweck in seinem Nachtgewand auf den Treppenabsatz geschickt hat), daß es halb sieben sei, worauf sie mit gut erheucheltem Erschrecken plötzlich erwacht, sehr verdrossen hinuntergeht, Licht anzündet und dabei wünscht, daß sich das Prinzip des Selbstentzündens auf die Kohlen und Küchenroste erstrecken möchte. Sobald sie Feuer hat, öffnet sie die Haustür, um die Milch »hereinzunehmen«, und macht durch das wunderbarste Zusammentreffen von der Welt die Entdeckung, daß das Hausmädchen von nebenan soeben gleichfalls die Milch hereingenommen und daß Mr. Todds Geselle gegenüber durch einen nicht minder außerordentlichen Zufall gerade in derselben Minute die Fensterläden seines Herrn öffnet. Die unvermeidliche Folge ist, daß sie mit dem Milchkrug in der Hand zu Betsy Clark tritt, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, und daß Mr. Todds Geselle herüberkommt, um beiden Mädchen guten Morgen zu sagen; und da Mr. Todds besagter Geselle fast ebenso gut und bezaubernd aussieht wie der Bäcker selbst, wird die Unterhaltung sofort höchst lebhaft und würde wahrscheinlich noch interessanter werden, wenn nicht Betsy Clarks Missis, die ihr fortwährend nachgeht und nachspäht, zornig an ihr Schlafzimmerfenster klopfte, worauf Mr. Todds Geselle mit erheuchelter Gleichgültigkeit pfeifend, weit schneller zurückkehrt, als er herübergekommen, und die beiden Mädchen wieder in ihre Häuser laufen und die Haustüren mit ausnehmender Behutsamkeit schließen, aber nach einer Minute die Köpfe aus dem Wohnzimmerfenster stecken, um zum Schein nach der vorüberfahrenden Postkutsche zu sehen, in Wahrheit aber, um noch einmal nach Mr. Todds Gesellen hinüberzublicken, der, ein Liebhaber von Postkutschen, noch mehr von Dienstmädchen, zur großen Zufriedenheit aller betreffenden Personen der Kutsche einen kurzen und den Mädchen einen langen Blick zuwirft.

Die Postkutsche selbst fährt weiter nach dem Posthaus, und die Reisenden, die mit der Morgenkutsche abfahren, starren erstaunt die Reisenden an, die mit der Frühpost anlangen, übernächtig und verdrießlich aussehen und offenbar von dem seltsamen, durch das Reisen entstehenden Gefühl erfüllt sind, bei dem uns die Ereignisse von gestern, morgen vorkommen, als wenn sie sich schon vor wenigstens sechs Monaten zugetragen hätten, und das uns den sehr ernsthaften Gedanken aufdrängt, ob sich die Freunde und Anverwandten, von denen wir vor vierzehn Tagen Abschied nahmen, seit der Zeit wohl beträchtlich verändert haben. Auf dem Posthof lebt und webt alles, und die Kutschen, die soeben abgehen sollen, sind von dem gewöhnlichen Haufen von Juden und unbekannten Personen umgeben, die es, der Himmel mag wissen, warum, für rein unmöglich zu halten scheinen, daß jemand in eine Postkutsche einsteigen kann, ohne wenigstens für sechs Pence Apfelsinen, ein Federmesser, ein Notizbuch, einen Kalender vom vergangenen Jahr, einen Bleistiftbehälter, einen Schwamm und einige Karikaturen zu brauchen.

Noch eine halbe Stunde, und die Sonne wirft ihr glänzendes Licht freundlich herunter in die noch immer halbleeren Straßen, und ihre Strahlen haben Kraft genug, um die Trägheit des Lehrlings zu wecken, der eine Minute um die andere sein Amt, den Laden auszukehren und das Trottoir abzuwaschen, unterbricht, um einem andern auf gleiche Weise beschäftigten Lehrling zu sagen, wie heiß es werden wird, oder sich hinzustellen, mit der rechten Hand die Augen zu beschatten, die Linke auf den Besen zu stützen und dem Wunder, dem Walloh, Nimrod oder einem anderen schnellen Wagen nachzusehen, bis er ihm aus dem Blickfeld entschwunden ist, worauf er wieder hineingeht, die Außenpassagiere des Wagens beneidet und an das alte Backsteinhaus »weit unten im Lande« denkt, wo er zur Schule ging, und an das Elend dünner Milch mit Wasser und dicker Brotscheiben mit dünner Butter, das verschwindet vor der süßen Erinnerung an den grünen Anger, auf dem er als Knabe spielte, und den grünen Teich und die Prügel, die er bekam, weil er sich einfallen ließ, da hineinzuplumpsen.

Cabs mit Koffern und Schachteln zwischen den Beinen des beschürzten Kutschers eilen die Straßen hinauf und hinunter nach den Posthäusern oder Dampfbootwerften; die Mietkutscher, die sich auf dem Standplatz befinden, putzen die an ihren Verzierungen schmutzigen Fuhrwerken, wobei sich die Fahrer der Cabs wundern, wie die Leute die »Wilde-Tier-Wagen von Omnibussen ’nem guten Cab mit ’nem Schnelltraber« vorziehen mögen, und die Kutscher nicht begreifen können, wie es nur zugeht, daß noch Leute ihre gesunden Glieder »den gebrechlichen Cabs anvertrauen, indem sie ’ne repetierliche Kutsche mit ’nem Paar Pferde haben können, die mit niemand nicht davonlaufen«: – ein ohne Frage vollkommen begründeter Trost, da man nie von einem Kutschenpferd gehört, das davongelaufen wäre, »ein einziges ausgenommen«, wie der Fahrer, eines Cabs bemerkte, »und das lief rückwärts«.

Die Läden sind jetzt vollkommen geöffnet und die Lehrlinge und Ladendiener emsig beschäftigt, die Fenster für den Tag zu reinigen und auszustaffieren. Die Bäckerläden in der Stadt sind gefüllt mit Dienstleuten und Kindern, die auf das Herausziehen des ersten Gebäcks aus dem Ofen warten – was in den Vorstädten bereits vor einer vollen Stunde stattfand; denn die Schreiberbevölkerung von Somers- und Camden-Town, Islington und Pentonville strömt schon in die City herein oder richtet die Schritte nach Chancery-Lane und den Inns of Court. Leute in den mittleren Jahren, deren Saläre nicht in demselben Verhältnis wie ihre Familien zugenommen haben, eilen vorüber, ohne rechts oder links zu sehen, denken offenbar nur an das Kontor, kennen fast alle Personen, denen sie begegnen oder die sie einholen, vom Aussehen, denn sie haben sie alle Morgen (sonntags ausgenommen) seit zwanzig Jahren gesehen, sprechen aber mit niemandem. Holen sie zufällig einen persönlichen Bekannten ein, so wechseln sie eine eilige Begrüßung mit ihm und gehen an seiner Seite oder vor ihm her weiter, je nachdem, ob er rascher oder langsamer geht. Stillzustehen, zum Händeschütteln oder um des Freundes Arm zu nehmen, dünkt ihnen wie es scheint, in ihrer Salär nicht eingeschlossen und unerlaubt. Kleine Schreiber mit großen Hüten, zu Männern gemacht, noch ehe sie jemals Knaben gewesen waren, eilen paarweise in ihren besten, sorgfältig gebürsteten Röcken und den weißen, reichlich mit Staub und Tinte beschmutzten Beinkleidern vom vorigen Sonntag dahin. Es kostet sie offenbar beträchtliche innere Kämpfe, es sich zu versagen, für einen Teil von dem zum Mittagessen bestimmten Kapital ein paar von den gestrigen, an den Türen des Konditors in staubigen Zinnbüchsen so lockend ausgestellten Törtchen zu erstehen; doch sie erinnern sich ihrer Würde und Wichtigkeit bei einer Einnahme von sieben Schillingen wöchentlich mit der Aussicht einer baldigen Erhöhung auf acht, geben das Beispiel der Selbstbeherrschung, drücken die Hüte ein wenig mehr auf die Seite und sehen allen jungen Putzmacherinnen und Näherinnen, denen sie begegnen, unter die ihrigen. Arme Mädchen! Sie bilden die Klasse, die sich am sauersten mühen muß, am schlechtesten bezahlt und nur zu oft am schlechtesten behandelt wird.

Elf Uhr: und Scharen ganz anderer Leute füllen die Straßen. Die Verkaufsgegenstände hinter den Ladenfenstern sind verlockend angeordnet; die »jungen Leute« mit ihren weißen Halstüchern und in ihren sauberen Röcken sehen aus, als wenn sie kein Fenster putzen könnten, und wenn es um ihr Leben ginge; die Karren sind von Covent- Garden verschwunden; die Fuhrleute und Obsthändler sind in ihre vorstädtischen Bezirke zurückgekehrt; die Schreiber befinden sich in ihren Büros, und Gigs (leichte zweirädrige Wagen), Cabs, Omnibusse und Reitpferde führen ihre Prinzipale derselben Bestimmung zu. Überall in den Straßen ist Gedränge Geputzter und Schäbiger, Reicher und Armer, Fauler und Fleißiger, und die Hitze, das Getümmel und die betriebsame, rührige Tätigkeit des Mittags haben begonnen.

Doch will man die Straßen Londons in ihrem höchsten Glänze erblicken, so muß man sie an einem finstern und trüben Winterabend sehen, wenn sich gerade genug Feuchtigkeit niedersenkt, daß das Pflaster schlüpfrig, aber nicht im mindesten sauberer wird, und wenn der schwere, träge Nebel, der alles umflort, bewirkt, daß die Gaslichter heller strahlen und die glänzend erleuchteten Läden infolge des Kontrastes mit der Dunkelheit umher sich noch prachtvoller als gewöhnlich anschauen lassen. Wer an einem solchen Abend daheim ist, sucht es sich so gemütlich und bequem wie möglich zu machen, und die Leute in den Straßen haben guten Grund, die Glücklichen zu beneiden, die an ihren wärmenden Kaminen sitzen.

In den größeren Straßen besserer Wohnviertel sind die Fenstervorhänge der Wohnzimmer dicht zugezogen, lodern helle Küchenfeuer und schmeicheln Düfte von heißen Gerichten den Geruchsnerven des hungrigen, an den Hausgittern sich mühsam vorüberarbeitenden Wanderers. In den Vorstädten klingelt der Semmelbursche in der kleinen Straße weit langsamer hinunter, als er es gewohnt ist, denn kaum hat Mrs. Macklin in Nr. 4 ihre kleine Haustür geöffnet und aus allen Kräften »Semmeln« gerufen, als auch schon Mrs. Walker in Nr. 5 ihre Fenster geöffnet und denselben Ruf ertönen läßt; und er ist ihren Lippen noch nicht entflohen, als Mrs. Peplow gegenüber Master Peplow losläßt, der mit einer Schnelligkeit, zu der ihn nur die Aussicht auf Semmeln mit Butter antreiben kann, auf die Straße hinunterschießt und den Burschen gewaltsam zurückschleppt, worauf Mrs. Macklin und Mrs. Walker, um dem letzteren einige Schritte zu ersparen und zugleich ein paar freundnachbarliche Worte mit Mrs. Peplow zu wechseln, hinüberlaufen und ihre Semmeln vor Mrs. Peplows Haustür kaufen, wo denn aus Mrs. Walkers freiwilligem Bericht hervorgeht, daß ihr Kessel eben am Sieden sei und das Teegeschirr bereitstehe und daß sie, da es draußen ein so erbärmlicher Abend, beschlossen habe, ein behagliches heißes Schälchen Tee zu trinken – ein Beschluß, der infolge eines merkwürdigen Zusammentreffens von den anderen beiden Damen gleichzeitig gefaßt worden ist. Nach einer Unterhaltung über die Abscheulichkeit des Wetters und die Vorzüge des Tees, nebst einer Abschweifung über die Bosheit der Knaben als Regel und die Liebenswürdigkeit Mr. Peplows als Ausnahme, sieht Mrs. Walker ihren Mann die Straße herunterkommen. Und da der Arme nach seiner großer Wanderung von den Schiffsdocks her seinen Tee sehr notwendig haben muß, läuft sie augenblicklich mit ihren Semmeln in der Hand hinüber. Mrs. Macklin folgt ihrem Beispiel, und alle eilen in ihre kleinen Häuser zurück und schlagen die kleinen Haustüren zu, die an diesem Abend nicht wieder geöffnet werden, ausgenommen um neun Uhr für den »Biermann«, der mit einer Laterne vor seiner Trage anlangt, und während er Mrs. Walker das Anzeigenblatt vom vorigen Tag leiht, erklärt, daß er verdammt sein wolle, wenn er die Kanne ordentlich halten oder gar das Papier fühlen könne, denn es sei einer der kältesten Abende, die er erlebt habe, den ausgenommen, an dem der Mann auf dem Backsteinfeld erfroren sei.

Nach einem Geplauder mit dem Polizeidiener an der Straßenecke über eine wahrscheinliche Wetterveränderung kehrt der Neunuhrbiermann nach dem Hause seines Herrn zurück und beschäftigt sich für den Rest des Abends damit, daß er eifrig das Schenkstübchenfeuer schürt und bescheiden an der Unterhaltung der davor versammelten Gäste teilnimmt.

Die Straßen in der Nähe des Marshgate und Viktoriatheaters haben an einem solchen Abend ein unendlich schmutziges und trostloses Aussehen, mit dem die hier sich Umhertreibenden vollkommen harmonieren. Sogar der kleine Blockzinntempel, in dem gebackene Kartoffeln verkauft werden, mit seinem strahlenden Emblem von farbigen Lampen darüber, sieht weniger prachtvoll als gewöhnlich aus, und was den Nierenpastetenstand betrifft, so ist fast all sein Glanz entschwunden. Das Licht hinter dem Ölpapiertransparent ist wohl fünfzigmal ausgeblasen worden, und der Nierenpastetenverkäufer, der es müde geworden ist, von seinem Standplatz nach dem nächsten Weinkeller hin und her zu laufen, um sich Licht zu holen, hat die Illumination in Verzweiflung aufgegeben, und die einzigen Zeichen seines Standorts sind die hellen Funken, von denen, sooft er seinen tragbaren Ofen öffnet, um einem Kunden eine heiße Pastete zu reichen, ein langer unregelmäßiger Schweif die Straße hinuntergewirbelt wird. Schollen-, Austern- und Obsthändler stehen hoffnungslos in den Straßenrinnen und bemühen sich vergeblich, Kunden anzulocken; und die zerlumpten Knaben, die sich sonst so munter umhertreiben, kauern in kleinen Häufchen unter einem vorgebauten Torweg oder dem Leinenrouleau des Käsehändlers, wo große, flackernde, durch kein Glas geschützte Gaslichter mächtige Haufen von hochroten und blaßgelben Käsen beleuchten, vermischt mit kleinen Fünfpenny-Scheiben grauen Specks und mit Tonnen frischer, nicht eben frisch aussehender Butter.

Die Knaben vertreiben sich hier die Zeit durch eine Unterhaltung über das Schauspiel, das sie bei ihrem letzten Besuch der Viktoria- Galerie zu halbem Preis gesehen haben, bewundern den »furchtbaren Kampf«, der jeden Abend wiederholt werden muß und verbreiten sich über die unnachahmliche Kunst, womit Bill Thompson den Doppelaffen spielt oder den Matrosen-Hornpipe mit seinen mysteriösen Verwicklungen ausführt.

Es ist fast elf Uhr, und der kalte Sprühregen geht in ein ernstliches und ordentliches Gießen über. Der Mann mit den gebackenen Kartoffeln hat sich entfernt – der Nierenpastetenmann ist mit seinem Warenhaus auf dem Arm gleichfalls nach Hause gegangen – der Käsehändler hat sein Rouleau eingezogen – die Knaben haben sich zerstreut. Das fortwährende Klappern von Überschuhen auf dem schlammigen und unebenen Pflaster und das Rauschen von Regenschirmen, während der Wind an den Fensterläden rüttelt, sind lauter Zeugnisse der Unfreundlichkeit des Abends; und der Polizeidiener in seinem dichtzugeknöpften Wachstuchkragen, der den Hut auf dem Kopf festhält und sich umdreht, um sich einigermaßen gegen den an der Straßenecke wider ihn anbrausenden Wind zu schützen, scheint weit entfernt zu sein, sich wegen seiner Aussichten für die Nacht Glück zu wünschen.

Der kleine Kramladen mit der geborstenen Glocke hinter der Tür, deren melancholisches Klingeln so oft ertönte, als ein viertel Pfund Zucker oder ein paar Lot Kaifee begehrt wurden, wird verschlossen. Das Gedränge, das den ganzen Tag auf und nieder wogte, verliert sich rasch, und das Geräusch laut redender und zankender Stimmen, das aus den Gasthäusern hervordringt, unterbricht fast allein noch die einförmige Stille der beginnenden Nacht.

Es waren noch andere Geräusche zu hören gewesen, aber sie sind jetzt verstummt. Dort die unglückliche Frau mit dem Kind auf dem Arm, dessen abgezehrte Glieder sie in die Überbleibsel ihres eigenen dünnen Schals eingehüllt hat, sang ein beliebtes Lied in der Hoffnung, einem mitleidigen Vorübergehenden einige Pence abzuringen. Ein brutales Gelächter über ihre schwache Stimme ist der ganze Gewinn ihrer Mühe. Die Tränen rinnen dicht und rasch über ihre hohlen, bleichen Wangen hinunter, das Kind ist durchkältet und hungrig, und sein leises, halb ersticktes Wimmern verschärft das Leiden seiner gequälten Mutter, die laut ächzend und verzweiflungsvoll auf eine kalte, feuchte Türschwelle niedersinkt.

Singen! Wie wenige von denen, die an einer so mit Jammer Beladenen vorübergehen, denken an die Herzensangst und Pein, die bittere Seelenqual, die allein schon durch die Anstrengung des Singens erzeugt wird. Welch ein grausamer Spott und Hohn, wenn Krankheit, Verlassenheit und Hunger die Worte des munteren Liedes kaum vernehmlich vorbringen, das in deinen fröhlichen Stunden, Gott weiß wie oft, deine Freude noch erhöht hat! Es ist kein Gegenstand zum Lachen. Die schwache, bebende Stimme erzählt eine schaurige Geschichte von Entbehrung und Verkümmerung, und die unglückliche Sängerin des Jubelliedes schweigt vielleicht, nur um zu erfrieren oder Hungers zu sterben.

Ein Uhr! Schauspielbesucher zu Fuß waten durch den Schlamm der Straßen nach Hause, Cabs, Mietkutschen, Equipagen und Theateromnibusse rollen rasch vorüber, Kutschenstandwärter mit schmutzigen, mattbrennenden Laternen in den Händen und großen Messingschildern auf der Brust gehen, nachdem sie sich in den letzten beiden Stunden heiser gerufen und müde gelaufen, in ihre Gasthäuser, um sich bei ihrem beliebten Leibestrost – Pfeifen und Wertmutbier – zu erholen; die Halbpreis-Parterre- und Logenbesucher eilen haufenweise in die Restaurationen, und Koteletts, Nieren, Austern, Doppelbier, Zigarren und Gläser Grog usw. ohne Zahl werden gefordert und gebracht unter einem schlechterdings unbeschreiblichen Lärm und Wirrwarr von Rauchen, Laufen, Messer- und Aufwärtergeklapper.

Die musikalischeren Schauspielbesucher begeben sich in eine »harmonische Versammlung«,

Die Tanzakademie


Die Tanzakademie

Von allen jemals etablierten Tanzakademien war keine in ihrem Stadtteil zu irgendeiner Zeit beliebter als die Signor Billsmethis vom Königstheater, der italienischen Oper. Sie befand sich unweit der volkreichen und aufblühenden Gegend von Grays-Inn-Lane und gehörte keineswegs zu den teueren Tanzakademien – denn, alles gerechnet, sind vier Schillinge und sechs Pence für das Vierteljahr wirklich billig genug. Sie war sehr exklusiv – die Zahl der Zöglinge war streng auf fünfundsiebzig beschränkt, und vierteljährliche Bezahlung im voraus wurde unbedingt gefordert. Es fand in ihr öffentliche und Privatunterweisung statt – sie hatte ein Assemblee- und ein Privatzimmer. Signor Billsmethis Familie wurde stets dem letzteren zu- und beim Privatzimmerpreis in den Kauf gegeben; das will sagen, die Privatschüler tanzten in Signor Billsmethis Wohnzimmer und mit Signor Billsmethis Familie; und waren sie in jenem hinlänglich zugestutzt, so traten sie paarweise in den Assembleesaal ein.

So war die Einrichtung der Tanzakademie Signor Billsmethis beschaffen, als Mr. Augustus Cooper aus der Fettergasse von Holbornhill eine ungestempelte Ankündigung langsamen Schrittes daherkommen sah, die männiglich kund und zu wissen tat, daß Signor Billsmethi vom Königstheater beabsichtige, die Saison mit einem großen Ball zu eröffnen.

Mr. Augustus Cooper war Öl- und Farbenhändler, gerade volljährig geworden, und hatte ein wenig Geld, ein kleines Geschäft und eine kleine Mutter, die ihren Ehegatten und dessen Geschäft bei Lebzeiten des Seligen in Ordnung gehalten, und es sich nach seinem Tode nicht nehmen ließ, ihren Sohn und dessen Geschäft zu leiten. So wurde er fortwährend die sechs Wochentage in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden und sonntags in einem kleinen tannenen Kasten ohne Deckel (höflicherweise ein Kirchenstuhl genannt) in der Bethelkapelle eingesperrt gehalten und hatte nicht mehr von der Welt gesehen, als wenn er sein Leben lang ein kleines Kind gewesen und geblieben wäre; wohingegen der junge White, der drei Jahre jüngere Ladendiener gegenüber, längst alles mitmachte, überall glänzte, ins Theater ging, in »harmonischen Gesellschaften« soupierte, ganze Fässer voll Austern aß und ganze Gallonen Doppelbier trank – und sogar ganze Nächte durchschwärmte und morgens so sans façon nach Hause kam, als ob es gar nichts gewesen wäre. Mr. Augustus Cooper setzte daher seinen Sinn darauf, daß er sich’s nicht mehr gefallen lassen wollte, und hatte gerade an diesem Morgen seiner Mutter sehr bestimmt angekündigt, daß er nicht Augustus heißen wolle, wenn er nicht sofort mit einem Hausschlüssel versehen würde. Und als er Holbornhill hinunterschritt und ihm das alles im Kopfe herumging und er darüber nachsann, wie er sich Zutritt zur feinen Gesellschaft verschaffen könne, begegnete seinen Blicken Signor Billsmethis wandelnde Ankündigung, und sogleich erkannte er darin, was er suchte. Die Tanzakademie setzte ihn in den Stand, sich für vier Schillinge und sechs Pence vierteljährlich aus der Zahl von fünfundsiebzig Zöglingen einen auserlesenen Zirkel vornehmer Bekannter zu bilden und zugleich zu seiner und seiner Freunde Bewunderung in Privatgesellschaften einen Hornpipe zu tanzen.

Er brachte demgemäß die ungestempelte Ankündigung – ein lebendiges, aus einem Knaben zwischen zwei Brettern bestehendes Fleisch-Butterbrot – zum Stehen, erbat sich und erhielt von ihr eine sehr kleine Karte mit des Signors Adresse und begab sich stehenden und eilenden Fußes nach des Signors Wohnung – denn wie leicht hätte die Liste der fünfundsiebzig geschlossen sein können, ehe er anlangte. Der Signor war zu Hause, und, was noch erfreulicher war, ein Engländer! Und ein so charmanter, so feiner, höflicher Mann – zumal gegen einen ihm völlig Unbekannten! Mr. Augustus Cooper war außer sich vor Vergnügen. Die Liste war noch nicht geschlossen, aber höchst wunderbarerweise fehlte nur noch eine einzige Unterschrift, die auch nicht mehr gefehlt haben würde, wenn nicht Signor Billsmethi an demselben Morgen eine junge Dame zurückgewiesen hätte, die ihm nicht erlesen genug geschienen.

»Und ich bin äußerst erfreut, Mr. Cooper«, sagte Signor Billsmethi, »daß ich sie nicht zugelassen habe. Ich versichere Sie, Mr. Cooper – und sage dies nicht, um Ihnen zu schmeicheln, denn ich weiß, daß Sie über dergleichen erhaben sind –, daß ich mich unendlich glücklich schätze, einen Gentleman von Ihrem Wesen und Ihren Manieren gewonnen zu haben.«

»Ich freue mich gleichfalls sehr darüber, Sir«, entgegnete Augustus Cooper.

»Und ich hoffe, wir werden noch besser miteinander bekanntwerden, Sir«, sagte Signor Billsmethi.

»Das hoffe ich wahrlich auch, Sir«, erwiderte Augustus Cooper; und als er so sprach, tat sich die Tür auf und hüpfte eine junge Dame mit einer ganzen Wolke von Locken um den Kopf und mit Schuhen herein, die sandalenartig durch rosarote Bänder befestigt waren.

»Lauf doch nicht fort, liebes Kind«, rief Signor Billsmethi; denn die junge Dame hatte, als sie hereinhüpfte, nicht gewußt, daß ein fremder Herr im Zimmer war, und wollte, ganz verschämt und verwirrt, sogleich wieder hinaushüpfen. »Lauf doch nicht fort, liebes Kind – der Herr ist Mr. Cooper – Mr. Cooper aus der Fettergasse. Mr. Cooper, meine Tochter – Miss Billsmethi, Sir, die, wie ich hoffe, noch viele Quadrillen, Menuetts, Reels, Franchisen, Gavotten, Fandangos, Doppel- Hornpipes und Farinagholkajingos mit Ihnen tanzen wird. Sie tanzt alle diese Tänze, Sir, und Sie sollen’s gleichfalls, Sir, ehe Sie ein Vierteljahr älter geworden sind.«

Und bei diesen Worten klopfte Signor Billsmethi Mr. Augustus Cooper so vertraulich auf die Schulter, als wenn er ihn jahrelang gekannt hätte; und Mr. Cooper verbeugte sich vor der jungen Dame, und die junge Dame knickste vor ihm, und Signor Billsmethi sagte, sie machten ein so allerliebstes Paar, als man sich eines zu sehen nur wünschen könnte, worauf die junge Dame ausrief: »O Himmel, Papa!« und so rot wurde, wie Mr. Cooper selbst, so daß beide aussahen, als ständen sie im Schein einer feuerroten Lampe in einem Apothekerladen. Bevor Mr. Cooper sich empfahl, wurde verabredet, daß er an demselben Abend im Kreise der Familie erscheinen – ohne alle Umstände und Komplimente, ganz freundschaftlich sich einstellen – vorliebnehmen – und die ersten Stellungen lernen solle, damit er keine Zeit verliere und als Tänzer beim nächsten Ball in die Reihe mit eintreten könne.

Mr. Augustus Cooper begab sich in einen der wohlfeilen Schuhmacherläden in Holborn, wo Herrentanzschuhe sieben Schillinge und sechs Pence und gewöhnliche starke Mannsschuhe gar nichts kosten, erstand ein Paar von den besten zu sieben Schillingen und sechs Pence, durch die er sowohl sich selbst als seine Mutter in Erstaunen setzte, und eilte zu Signor Billsmethi.

Er fand im Wohnzimmer noch vier andere Privatschüler, zwei Damen und zwei Herren. Und was für allerliebste Leute! Ohne die mindeste Spur von Stolz. Eine der jungen Damen, die die Rolle der Columbine einstudierte, war besonders gesprächig und freundlich, und sie und Miss Billsmethi interessierten sich so sehr für Mr. Augustus Cooper, und scherzten und lächelten, und sahen so bezaubernd aus, daß er sich ganz wie zu Hause fühlte und seine Pas in bewunderungswürdig kurzer Zeit lernte. Nachdem die Übungen eingestellt waren, tanzten Signor Billsmethi und Miss Billsmethi, Master Billsmethi und eine junge Dame, und die beiden Damen und beiden Herren eine Quadrille mit unsäglicher Gewandtheit und Grazie, Signor Billsmethi alle ermunternd, alles ordnend, der behendeste von allen, obwohl er zugleich die Geige spielte; und als alle außer Atem waren, tanzte Master Billsmethi zur ungeteilten Bewunderung der ganzen Gesellschaft einen Hornpipe mit einem Rohr in der Hand und einem Käseteller auf dem Kopfe. Da alle so äußerst vergnügt waren, bestand Signor Billsmethi darauf, daß sie zum Abendessen bleiben müßten, und erbot sich, von Master Billsmethi das Bier und den Rum holen zu lassen. Allein, die beiden Herren beteuerten, dies nimmermehr zulassen zu können, und fingen einen edelmütigen Streit darüber an, wer bezahlen sollte, worauf Mr. Augustus Cooper sich sogleich entschloß, als Vermittler auf zutreten, und erklärte, er wolle es – wenn sie die Güte haben wollten, es ihm zu gestatten. Sie hatten die Güte, und bald brachte Master Billsmethi das Bier in einer Kanne und den Rum in einem Quartertopf. Die Gesellschaft machte sich nunmehr eine lustige Nacht, und Miss Billsmethi drückte Mr. Augustus Coopers Hand unter dem Tisch und Mr. Augustus Cooper erwiderte den Druck und langte um sechs Uhr morgens zu Hause an, wo er von dem Lehrling, nicht ohne heftigen Widerstand von seiner Seite, zu Bett gebracht wurde, nachdem er wiederholt sein unbesiegbares Verlangen ausgesprochen hatte, seine werte Frau Mama aus dem Fenster zu werfen und den Lehrling mit seinem eigenen Halstuch zu erdrosseln.

Wochen waren vergangen, und der Abend des großen Balls rückte heran, auf dem sämtliche fünfundsiebzig Zöglinge zum ersten Male in dieser Saison zugleich erscheinen und an Musik und Beleuchtung etwas haben sollten für ihre vier Schillinge und sechs Pence. Mr. Augustus Cooper schaffte sich zu der Festlichkeit einen neuen Rock an, der ihn zwei Pfund zehn Schillinge kostete. Er sollte sich zum ersten Male öffentlich sehen lassen, und nachdem vierzehn junge Damen ihrer Rolle entsprechend gekleidet einen großen sizilianischen Schaltanz ausgeführt hatten, tanzten er und Miss Billsmethi, mit der er vollkommen vertraut geworden war, die erste Quadrille vor.

Welch ein Abend – welch eine Lust! Die ganze Anordnung war wundervoll. An der Haustür nahm ein Aufwärter die Hüte und Mäntel in Empfang; in einem ausgeräumten Schlafzimmer bereitete Miss Billsmethi Tee und Kaffee für die Herren, die dafür bezahlten, und für die Damen, die von den Herren freigehalten wurden; Glühwein und Limonade wurde für achtzehn Pence die Person herumgereicht, und infolge eines Übereinkommens mit dem Gastwirt an der nächsten Ecke war noch ein Extraaufwärter angenommen worden. Kurzum, die Anordnung war unübertrefflich, nur daß die Gesellschaft noch unübertrefflicher war. Solche Damen! Solche rosaseidenen Strümpfe! Solche künstlichen Blumen! Solch eine Unzahl von Kabrioletts! Eins folgte fortwährend dem andern und setzte ein paar Damen ab, die nicht nur sämtlich einander, sondern obendrein die meisten Herren kannten, was ein unbeschreibliches Leben und eine unendliche Heiterkeit in das Ganze hineinbrachte. Signor Billsmethi, in knappen schwarzen Beinkleidern und einer großen Schleife im Knopfloch, stellte die noch Unbekannten den Damen vor, und die Damen plauderten und lachten – es war zum Entzücken, sie anzusehen.

Was den Schaltanz betrifft, so hatte man nie etwas Ähnliches gesehen, und Mr. Augustus Cooper übertraf sich selbst beim Vortanzen seiner Quadrille. Er verlor zwar dann und wann seine Tänzerin, fuhr in eine andere Abteilung und verharrte mit lobenswerter Beharrlichkeit darin oder hüpfte ohne ersichtlichen Zweck durch die Reihen; allein er bewies doch Scharfsinn genug, sich immer wieder zurechtzufinden, wenn er zurechtgeschoben wurde – mit einem Wort, es ging sehr gut. Als die Quadrille beendet war, traten viele Damen und Herren zu ihm und beglückwünschten ihn und sagten, was auch sehr glaubhaft war, daß sie noch nie von einem Anfänger so etwas gesehen hätten; und Mr. Augustus Cooper war vollkommen zufrieden mit sich selbst und allen übrigen obendrein und hielt mit einer großen Menge von Getränken aller Art zwei bis drei Dutzend intimer, aus dem erwählten Zirkel von fünfundsiebzig Zöglingen auserkorener Freunde frei.

Kam es nun von der Stärke der Getränke, der Schönheit der Damen oder woher sonst: Kurzum, Mr. Augustus Cooper ermunterte eher, als daß er sie zurückwies, die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten einer jungen Dame in brauner Gaze über weißem Kaliko, einer jungen Dame, auf die seine Person vom ersten Erblicken an einen starken Eindruck gemacht zu haben schien. Und als dies einige Zeit gedauert, verriet endlich Miss Billsmethi ihre Eifersucht und ihren Zorn darüber, und nannte die junge Dame in brauner Gaze eine »Kreatur«, was die junge Dame in brauner Gaze zu einer Erwiderung bewog, die beleidigende Anspielungen auf die Quartalzahlung von vier Schillingen und sechs Pence und auf einen »Liebhaber« enthielt, den Miss Billsmethi angeblich in ihr Garn zu locken wünschte, eine Anspielung, mit der sich Augustus Cooper, dessen Kopf nicht wenig benommen war, vollkommen einverstanden erklärte.

Miss Billsmethi, auf eine solche Weise verlassen und bloßgestellt, begann augenblicklich mit ihrer ganzen Stimmkraft zu jammern und zu schreien, machte einen erfolglosen Angriff auf die Augen und das Antlitz zuerst der Dame in Gaze und sodann Mr. Augustus Coopers und rief, ganz außer sich, den anderen dreiundsiebzig Zöglingen zu, sie möchten ihr eine Dosis Arsenik schaffen, womit sie sich den Tod geben wolle; und als ihrer Aufforderung keine Folge gegeben wurde, stürzte sie sich abermals auf Mr. Cooper, ihr Schnürband zerriß, und sie wurde hinausgeführt und zu Bett gebracht. Mr. Augustus Cooper, der sich nicht eben durch schnelle Begriffe auszeichnete, war außer sich vor Verwunderung, bis Signor Billsmethi alles auf das befriedigendste erklärte. Er verkündete nämlich den Zöglingen, daß Mr. Augustus Cooper seiner Tochter wiederholte Heiratsanträge gemacht habe und ihr jetzt unverantwortlicherweise untreu geworden sei. Sämtliche Zöglinge legten ihre Entrüstung über Mr. Coopers Benehmen an den Tag; und da mehrere ritterliche Herren Mr. Augustus Cooper ziemlich bedeutsam und dringend fragten, ob er »etwas Angenehmes schmecken«, oder mit anderen Worten, »ob er Prügel haben wollte«, so hielt er es der Klugheit gemäß, sich eiligst zurückzuziehen.

Und das Ende vom Liede war, daß er am folgenden Tage ein Schreiben von einem Advokaten erhielt, daß eine Woche später eine Klage gegen ihn angestellt wurde, und daß Mr. Augustus Cooper, nachdem er, in der Absicht, sich zu ersäufen, zweimal nach der Serpentine gegangen und zweimal, ohne seinen Entschluß ausgeführt zu haben, wieder zurückgekommen war, seine Mutter in das Geheimnis zog, die die Sache mit zwanzig Pfunden beilegte, so daß an Signor Billsmethi zwanzig Pfund, vier Schillinge und sechs Pence gezahlt werden mußten, abgesehen von dem, was das Freihalten und die Tanzschuhe gekostet; und Mr. Augustus Cooper lebte wieder wie zuvor bei seiner Mutter, lebt noch mit ihr bis auf den heutigen Tag, fern von der Welt, die zu sehen er alle Neigung verloren hat, und wird daher diese Erzählung seiner Abenteuer nicht zu Gesicht bekommen und auch nichts daran verlieren.

Die Schäbig-Vornehmen


Die Schäbig-Vornehmen

Es gibt eine gewisse Art von Leuten, die, sonderbar genug, London ausschließlich anzugehören scheinen. Man begegnet ihnen täglich in den Straßen der Hauptstadt, nie aber an irgendeinem anderen Orte. Sie scheinen Erzeugnisse des Bodens zu sein und sind für London so eigentümlich, wie sein Rauch und seine geschwärzten Backsteine. Wir könnten diese Bemerkung durch eine Menge von Beispielen veranschaulichen, wollen aber in dieser Skizze nur von einer der Leutearten, die wir im Sinne haben, reden – von der, die man so angemessen und bezeichnend »schäbig-vornehm« oder »schäbig-elegant« nennt.

Gott weiß, schäbige Leute kann man überall finden, und vornehme sind nicht seltner außerhalb als in London; aber dieses Gemisch aus beiden – diese schäbige Vornehmheit – ist so absolut örtlich wie die Statue von Charing-Cross oder der Brunnen in Aldgate. Auch verdient es bemerkt zu werden, daß nur Männer schäbig-vornehm sind; ein Frauenzimmer ist immer entweder höchst schmutzig und schlampig oder nett und sauber, wenn auch noch so ärmlich gekleidet. Ein sehr dürftiger Mann, der, wie die Phrase lautet, »bessere Tage gesehen hat«, ist eine merkwürdige Mischung aus schlotteriger Unsauberkeit und dem unglücklichen Trachten nach einer gewissen verschlissenen Nettigkeit. Doch wir wollen es versuchen, die Bedeutung, die wir mit dem Ausdruck »schäbig-vornehme Leute« verbinden, genauer dazulegen.

Begegnet ihr einem Manne, der Drury-Lane hinunterschlendert oder mit dem Rücken gegen einen Pfosten in Longacre lehnt und dabei die Hände in die Taschen seiner sehr fettfleckigen, sehr weit auf die Stiefel hinunterfallenden und mit Streifen gezierten Beinkleider gesenkt hat – auch einen braun gewesenen Rock mit Metallknöpfen trägt und einen Hut mit stark gekrümmten Seitenrändern auf die rechte Schläfe gedrückt hat –, bemitleidet ihn nicht: er ist nicht schäbig-elegant. Er treibt sich vorzugsweis‘ gern in den »harmonischen Gesellschaften« eines Gasthauses vierter Klasse oder in den Umgebungen eines Privattheaters umher; hegt einen eingewurzelten Abscheu vor Arbeit jeder Art und steht auf vertrautem Fuße mit mehreren, bei den größeren Theatern beschäftigten Pantomimenakteurs. Seht ihr aber einen Mann von vierzig bis fünfzig Jahren in einem alten schimmeligen Überrock von fadenscheinigem, schwarzem Tuch, das in seiner Abgetragenheit glänzt, als wenn es gewichst wäre, und in Beinkleidern, die teils besseren Aussehens wegen und teils, um die Schuhe an den Fersen festzuhalten, unter den Füßen sorgfältig befestigt sind, eine Nebengasse hinuntereilen und sich dabei so dicht wie möglich an die Gartengitter halten; bemerkt ihr ferner, daß er die Weste unter dem gelblich-weißen Halstuche dicht zugeknöpft hat, um das zerlumpte Weißzeug darunter zu verstecken und daß er ein Paar alte zerrissene Biberhandschuhe trägt, so könnt ihr ihn den schäbig-vornehmen Leuten zuzählen. Ein Blick auf sein verkümmertes Gesicht, worin sich ein niederdrückendes Bewußtsein der Armut ausdrückt, wird euch Herzweh verursachen – stets vorausgesetzt, daß ihr weder Philosoph noch »Staatswirtschaftler« seid.

Einst vermochten wir das Bild eines schäbig-vornehmen Mannes schlechterdings nicht loszuwerden; es stand vor uns Tag und Nacht. Der Mann, von dem Walter Scott in seiner Dämonologie spricht, litt nicht halb soviel von der Phantasiegestalt in schwarzem Samt wie wir von dem Bilde unseres Schäbig-Vornehmen im vormals schwarz gewesenen Rocke. Er erregte zuerst unsere Aufmerksamkeit, als er uns eines Tags und dann öfter im Lesezimmer des Britischen Museums gegenübersaß. Was ihn uns noch bemerklicher machte, war, daß er immer ein paar schäbig-elegante Bücher vor sich hatte – zwei alte eselsohrige Folianten in verschimmelten, wurmstichigen Bänden, die einmal prachtvoll gewesen waren. Er saß jeden Morgen, gerade wenn es zehn schlug, an seiner Stelle, war jeden Nachmittag der letzte im Zimmer, und verließ es mit einer Miene und einem Wesen, worin man deutlich las, daß er nicht wußte, wohin er gehen sollte, um Feuerung und eine Ruhestätte zu finden. Er saß den ganzen Tag da und so dicht wie möglich am Tische, um die fehlenden Knöpfe an seinem Rocke zu verstecken; und seinen abgetragenen Hut legte er immer sorgfältig neben seine Füße, wo er, wie er sich offenbar schmeichelte, der Beobachtung entging. Etwa um zwei Uhr seht ihr ihn eine Semmel verspeisen, die er nicht etwa dreist und vor aller Augen aus der Tasche hervorzieht, gleich einem Manne, der es weiß, daß er nur einen Lunch einnimmt, sondern von der er kleine Stücke in der Tasche abbricht und verstohlen zum Munde führt. Er ist sich nur gar zu wohl bewußt, daß sein ganzes Mittagessen darin besteht.

Als wir den Armen zum ersten Male sahen, hielten wir es für rein unmöglich, daß sein Anzug noch schlechter werden könnte, wir dachten sogar an die Möglichkeit, daß er binnen kurzem in anständigen Kleidern aus einem reputierlichen Trödlerladen erscheinen könnte. Wir hatten uns indes gar sehr geirrt. Er wurde mit jedem Tage noch elegant-schäbiger. Die Knöpfe verschwanden einer nach dem andern von seiner Weste, und er fing an, den Rock zuzuknöpfen, und als sich die Knöpfe von der einen Seite gleichfalls verloren, knöpfte er ihn über die andere Seite zu. Zu Anfang der Woche sah er etwas besser aus als am Ende, weil sein Halstuch dann, wenn auch gelb, doch minder erdfarben war, und nie zeigte er sich bei aller seiner Misere ohne Handschuhe und Sprungriemen an den Beinkleidern. In diesem Zustand verblieb er einige Wochen; endlich verschwand einer seiner Rückenknöpfe und dann er selbst, und wir glaubten, daß er tot sei.

Wir saßen etwa acht Tage nach seinem Verschwinden an unserm gewöhnlichen Tisch, hefteten die Blicke auf seinen leeren Stuhl und verfielen fast unbewußt in ein Nachsinnen über die Gründe, weshalb er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben möchte. Hatte er sich erhängt oder ins Wasser gestürzt, war er wirklich tot oder im Schuldgefängnis? Wir sannen hin und her – als er unversehens leibhaftig wieder vor uns stand. Es war eine merkwürdige Verwandlung mit ihm vorgegangen. Er ging mit einer Miene durch das Zimmer, die deutlich verkündigte, daß er sich seines besseren Aussehens vollkommen bewußt war. Es war äußerst sonderbar! Seine Kleider waren dunkel und glänzend schwarz und sahen doch wie dieselben aus – ja sogar die Flicken fehlten nicht, mit denen uns lange Bekanntschaft vertraut gemacht hatte. Auch der Hut – wer hätte ihn mit seiner hohen, etwas spitz zulaufenden Krone verkennen mögen? Er hatte infolge langer Dienste in ein Rotbraun gespielt, war aber jetzt ebenso schwarz wie der Rock.

Plötzlich ging ums ein Licht auf – er hatte alles färben lassen. Die schwarze und blaue Farbe ist aber gar trügerisch; wir haben es an manchem schäbig-eleganten Manne ersehen. Sie verführt die Opfer ihres Betrugs, eine vorübergehende Wichtigkeit anzunehmen, vielleicht ein Paar neue Handschuhe, eine wohlfeile Halsbinde oder andere Toilettenkleinigkeiten zu kaufen; erhebt ihren Mut auf eine Woche, lediglich um ihn nur zu bald, womöglich noch tiefer, wieder niederzudrücken. Es war so im vorliegenden Falle. Die vorübergehende Würde des unglücklichen Mannes nahm in demselben Verhältnis ab, wie die Farbe ausging. Die Knie der Unaussprechlichen, die Ellenbogen des Rockes und die Nähte insgemein wurden bald zum Erschrecken weiß. Der Hut wurde wieder unter den Tisch gelegt, und sein Eigentümer drückte sich so still auf seinen Stuhl wie je. – Eine Woche lang fiel ein unaufhörlicher Sprühregen und Nebel. Als sie zu Ende ging, war die Farbe gänzlich verschwunden, und der schäbig-vornehme Mann machte keinen Versuch mehr, seine äußere Erscheinung zu verbessern.

Es würde nicht leicht sein, einen besonderen Stadtteil als Hauptsammelplatz schäbig-vornehmer Leute zu bezeichnen. Wir haben ihrer viele in der Gegend der Inns of Court23 gesehen. Man sieht sie jeden Morgen zwischen acht und zehn Uhr in Holborn, und wer sich aus Neugier in den Gerichtshof der insolventen Schuldner begibt, wird ihrer dort eine große Menge unter den Zu- und Nichtzuschauern erblicken. Wir gingen nie zufällig auf die Börse, ohne einige schäbig-elegante Leute zu bemerken, und haben oft darüber gegrübelt, was sie dort in aller Welt zu tun haben könnten. Sie sitzen stundenlang da, stützen sich auf große, wassersüchtige, verschlossene Regenschirme oder essen Abernethyzwiebäcke;24 niemand spricht mit ihnen, und sie sprechen gleichfalls mit niemandem. Doch freilich, wir sahen einst ihrer zwei auf der Börse miteinander reden, können aber aus unserer Erfahrung versichern, daß so etwas sehr selten vorkommt und etwa nur durch das Anerbieten einer Prise Schnupftabak oder eine ähnliche Höflichkeit veranlaßt wird.

Es würde ebenso schwer sein, zu sagen, wo sie vornehmlich ihre Wohnungen haben oder womit sie sich in der Regel beschäftigen. Wir verkehrten nur ein einziges Mal mit einem schäbig-vornehmen Manne, einem trunksüchtigen Graveur, der ein dumpfiges Hinterzimmer in einer neuen Reihe, halb Straße, halb Backsteinbrennereifeld, in Camden Town bewohnte. Solch ein schäbig-vornehmer Elegant hat vielleicht gar kein Geschäft, oder ist Korn- oder Kohlen- oder Weinmakler, oder Schuldeneinsammler, oder Brokersgehilfe, oder ein verunglückter Anwalt, ein Schreiber unterster Klasse, oder ein ebenso untergeordneter Korrespondent für eine Zeitung. Wir wissen es nicht, ob unsern Lesern auf ihren Wanderungen diese Leute ebenso oft aufgefallen sind als uns; das aber wissen wir, daß der verarmte, schäbig-elegante Mann (gleichviel, ob er sein Herunterkommen selbst verschuldet hat oder nicht), der seine Dürftigkeit schmerzlich fühlt und sich vergeblich bemüht, sie zu verheimlichen, zu den unglücklichsten Geschöpfen unter der Sonne gehört.

Der Pfarrer – Die alte Dame – Der Kapitän


Der Pfarrer – Die alte Dame – Der Kapitän

Unser Pfarrer ist ein junger Mann von so einnehmendem Äußern und so gewinnendem, bezauberndem Wesen, daß noch kein Monat nach seinem Erscheinen im Kirchspiel vergangen war, als auch schon die Hälfte unserer jungen Damenwelt vor Frömmigkeit melancholisch wurde und die andere Hälfte vor Liebe in Tiefsinn oder Verzweiflung verfiel. Zu keiner anderen Zeit hatte man in unserer Kirche sonntags so viele junge Frauen gesehen, und nie hatten die kleinen runden Engelsgesichter auf Mr. Tomkins Grabmal im Seitengang eine so inbrünstige Andacht geschaut, wie die jungen Kirchgängerinnen jetzt an den Tag legten.

Der Pfarrer war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, als er im Kirchspiel erschien, um es in Bewunderung und Erstaunen zu versetzen. Er trug das Haar gescheitelt, einen kostbaren Brillantring am Zeigefinger der linken Hand (die er stets an die linke Wange hielt, wenn er die Gebete las) und hatte eine tiefe, außerordentlich feierliche Grabesstimme. Kluge Mütter machten unzählbare Versuche beim neuen Pfarrer, der mit zahllosen Einladungen bestürmt wurde, die er auch bereitwillig annahm. Hatte sein Wesen auf der Kanzel schon einen günstigen Eindruck gemacht, so wurde dieser durch sein Erscheinen in der Gesellschaft noch zehnfach verstärkt. Die Kirchenstühle in der Nähe der Kanzel und des Altars stiegen im Preis, noch teurer wurden die Sitze im Mittelgang, und kein Zollbreit Raum auf den vordersten Bänken der Emporkirche war weder für Geld noch für gute Worte mehr zu haben. Einige gingen selbst so weit, zu versichern, daß sie die drei Miss Browns, die einen dunklen Kirchenstuhl dicht hinter dem der Kirchenvorsteher innehatten, eines Sonntags auf den freien Plätzen am Abendmahlstisch entdeckt hätten, offenbar um den Pfarrer in die Sakristei vorübergehen zu sehen!

Der Pfarrer fing an, freie Vorträge zu halten, und die Ansteckung ergriff selbst die bedächtigen Väter. Einst stand er in einer Winternacht um halb ein Uhr auf, um das Kind einer Wäscherin zu taufen, und die Dankbarkeit des Kirchspiels kannte keine Grenzen – sogar die Kirchenältesten wurden freigebig gesinnt und setzten es durch, daß das Kirchspiel die Kosten für das Schilderhaus auf Rädern übernahm, das sich der neue Pfarrer hatte bauen lassen, um darin bei nassem Wetter die Begräbnisgebete zu lesen. Er schickte einer armen Frau, die mit vier Kindern niedergekommen war, drei Maß Hafergrütze und ein Viertelpfund Tee – das Kirchspiel war entzückt. Er veranstaltete eine Sammlung für die Wöchnerin – ihr Glück war gemacht. Er redete eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten in einer Anti-Sklavereiversammlung – der Enthusiasmus hatte seinen Gipfel erreicht.

Es wurde vorgeschlagen, dem neuen Pfarrer ein Zeichen der Achtung und Dankbarkeit für seine dem Kirchspiel geleisteten unschätzbaren Dienste zu widmen – im Nu war der Beitragsbogen gefüllt, und es wurde gestritten, und Kunstgriffe wurden angewendet, nicht, wie man sich der Beisteuer entziehen könne, sondern wer zuerst unterschreiben solle. Man ließ ein kostbares silbernes Schreibzeug mit einer passenden Inschrift anfertigen; der Pfarrer wurde zu einem öffentlichen Frühstück eingeladen; das Schreibzeug wurde ihm überreicht, und Mr. Gubbins, der Ex-Kirchenvorsteher, hielt eine treffliche Rede dabei, die der Pfarrer in Ausdrücken beantwortete, die allen Anwesenden Tränen entlockten – sogar die Kellner wollten zerschmelzen.

Man hätte meinen sollen, daß der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung nunmehr den höchsten Gipfel der Beliebtheit erreicht gehabt hätte. Keineswegs! Der Pfarrer fing an zu husten – eines Morgens vier Hustenanfälle zwischen Litanei und Epistel und fünf beim Nachmittagsgottesdienst. Man machte die Entdeckung, daß er schwindsüchtig war. Welch eine interessante Melancholie!

Die Sympathie und Bekümmernis überstiegen alle Grenzen. Daß ein Mann wie der Pfarrer – solch ein lieber, vortrefflicher Mann – schwindsüchtig sein mußte! Es war zuviel. Geschenke von unbekannten Gebern, bestehend aus eingemachten Früchten und Gebacknem, elastischen Westen, »Seelenwärmern« und Trikotstrümpfen, strömten gleichsam in das Haus des Pfarrers, bis er mit Winterhüllen so vollständig ausgerüstet war, als wenn er im Begriff stände, eine Reise nach dem Nordpol zu unternehmen. Sechsmal an jedem Tag liefen mündliche Bulletins über seinen Gesundheitszustand im Kirchspiel um, und der Pfarrer befand sich im Zenit seiner Popularität.

Doch gerade um diese Zeit ging eine Veränderung in den Gesinnungen des Kirchspiels vor. Durch den Tod eines achtbaren, stillen, alten Mannes wurde die Predigerstelle bei der Kapelle frei. Der Nachfolger war ein blasser, schmächtiger, leichenhaft aussehender Mann mit großen schwarzen Augen und langem, straffem, schwarzem Haar. Er kleidete sich äußerst nachlässig, sein ganzes Wesen war abweisend, und noch abweisender war das, was er predigte. Mit einem Wort, er war in jeder Beziehung das Gegenstück des Pfarrers. Unsere Frauen und Mädchen strömten haufenweise hin, um ihn zu hören, zuerst, weil er so ausnehmend sonderbar aussah, dann, weil sein Gesicht höchst ausdrucksvoll war, hierauf, weil er so vortrefflich predigte, und endlich, weil sie wirklich glaubten, daß in seinem Wesen etwas ganz Unbeschreibliches läge.

Der Pfarrer war ohne Zweifel gerade so, wie er immer gewesen; allein es ließ sich nicht leugnen, daß – daß – kurzum, er war nichts Neues mehr wie der andere Geistliche. Die Unbeständigkeit der Volksgunst ist sprichwörtlich; seine Zuhörer verließen ihn einer nach dem andern. Er hustete, bis er schwarz im Gesicht wurde – es war vergeblich, Teilnahme für ihn zu erwecken. Man kann in unserer Pfarrkirche wieder überall Plätze haben, und die Kapelle soll erweitert werden, denn sie ist jeden Sonntag bis zum Erdrücken gefüllt.

Im ganzen Kirchspiel ist niemand bekannter und geachteter als eine alte Dame, die schon im Kirchspiel gewohnt hat, ehe unser – des Autors – Name in das Taufregister eingetragen wurde. Unser Kirchspiel liegt in einer Vorstadt, und die alte Dame bewohnt ein Haus in einer hübschen, aber noch auf der einen Seite freistehenden Häuserreihe, in der freiesten und angenehmsten Gegend des Kirchspiels. Das Haus ist ihr eigenes und inwendig und auswendig – nur die alte Dame sieht ein wenig älter als vor zehn Jahren aus – vollkommen in dem Zustand, in dem es bei Lebzeiten des alten Herrn war. Das kleine Wohnzimmer ist ein wahres Muster von Stille und Sauberkeit, der Teppich ist mit grauer Leinwand bedeckt, der Spiegel und die Bilderrahmen sind sorgfältig in gelben Musselin eingehüllt, die Tischdecken werden niemals abgehoben, ausgenommen, wenn die Tische gewachst werden, was regelmäßig einen über den andern Morgen nach neun Uhr geschieht, und alles und jedes, vom größten bis zum kleinsten, hat seinen bestimmten Platz, was denn auch natürlich von den Geschenken gilt, die der alten Dame von kleinen Mädchen, deren Eltern in derselben Häuserreihe wohnen, gemacht werden und seit vielen Jahren in ihrem Besitz sind, wie zum Beispiel die beiden altmodischen Uhren (von denen die eine stets eine Viertelstunde zurückbleibt und die andere eine Viertelstunde vorgeht), das kleine Bild der Prinzessin Charlotte und des Prinzen Leopold, wie sie sich in der königlichen Loge des Drury-Lane-Theaters zeigten, usw.

Hier sitzt nun die alte Dame emsig mit Nähereiarbeit beschäftigt – zur Sommerzeit am Fenster, und sieht sie dich die Treppenstufen heraufkommen und gehörst du zu ihren Günstlingen, so eilt sie hinaus, um dir, ehe du klopfst, die Haustür zu öffnen, und nötigt dir, da du vom Gehen in der Hitze ermüdet sein mußt, ein paar Glas Xeres auf, bevor du dich durch Sprechen noch mehr anstrengen darfst. Kommst du abends, so wirst du sie froh und heiter, aber doch ein wenig ernster finden als gewöhnlich. Sie hat auf dem Tisch vor sich die aufgeschlagene Bibel liegen, aus der Sarah, die ebenso sauber gekleidet und ebenso methodisch wie ihre Herrschaft ist, regelmäßig zwei oder drei Kapitel laut vorliest.

Die alte Dame sieht fast gar keine Gesellschaft, mit Ausnahme der bereits erwähnten kleinen Mädchen, von denen jedes seinen bestimmten Tag zum Teetrinken bei ihr hat, den das betreffende Kind als sein größtes Fest erwartet. Sie macht selten weitere Besuche als im zweiten Hause rechts und links, und wenn es der Fall ist, so läuft Sarah voran und klopft mit Macht, damit ihre »Frau« ja nicht vor der Tür zu warten braucht und sich einen Schnupfen holt. Sie ist höchst gewissenhaft darin, jede Einladung pünktlich zu erwidern, und gibt sie eine kleine Teegesellschaft, so putzt sie mit Sarah die Teemaschine, das Porzellanservice und die Päpstin-Johanna-Tafel auf das sorgfältigste, und die Damen werden im höchsten Staat im Besuchszimmer empfangen.

Sie hat nur wenig Verwandte, die in weiter Entfernung, der eine hier, der andere dort im Lande, wohnen und die sie daher selten sieht. Sie hat einen Sohn in Ostindien, den sie jedermann als einen herrlichen, bildschönen jungen Mann schildert – als sprechend ähnlich dem Bild seines geliebten seligen Vaters; doch fügt sie mit traurigem Kopfschütteln hinzu, daß sein Lebenswandel ihr das schwerste Leid im Leben zugefügt und ihr in der Tat das Herz fast gebrochen hätte, daß es jedoch Gott gefallen habe, ihr Kraft zu verleihen, auch das zu tragen, und man möge den Sohn in ihrer Anwesenheit doch ja nicht wieder erwähnen.

Sie hat eine große Menge Hausarme, und kehrt sie sonnabends vom Markt zurück, so findet auf dem Hausflur eine Versammlung von alten Männern und Frauen statt, die auf ihre Wochengabe warten. Ihr Name steht auf allen Beitragslisten für wohltätige Zwecke stets obenan, und ihre Beisteuer für die Winterfeuerungs- und Suppenverteilungsgesellschaft ist immer die reichlichste. Sie unterschrieb zwanzig Pfund für den Bau der Orgel in unserer Pfarrkirche und war am ersten Sonntag, als die Kinder dazu sangen, so überwältigt von ihren Gefühlen, daß sie sich von der Kirchenstuhlschließerin hinausführen lassen mußte.

Ihr Erscheinen in der Kirche ist jeden Sonntag das Signal zu einigem Geräusch im Seitengang, denn sämtliche armen Leute erheben sich und verbeugen sich und knicksen, bis die alte Dame von der Schließerin in ihren Kirchstuhl ehrfurchtsvoll hineingeknickst und die Tür hinter ihr wieder verschlossen ist. Ebenso geht es zu, wenn sie aus der Kirche mit einer Nachbarfamilie nach Hause geht und auf dem ganzen Weg von der Predigt spricht, nachdem sie die Unterredung ohne Ausnahme damit begonnen hat, daß sie den jüngsten Knaben nach dem Texte gefragt.

So verläuft das Leben der alten Dame, nur daß sie alljährlich einen kleinen Ausflug an die Seeküste macht und dort einige Zeit ein stilles Häuschen bewohnt. Ihr Leben ist schon viele Jahre so hingegangen, und sein Lauf muß bald das Ende erreichen, dem sie mit furchtloser Ruhe entgegensieht. Sie hat alles zu hoffen und nichts zu fürchten.

Ganz anders ist einer der nächsten Nachbarn der alten Dame, der sich in unserm Kirchspiel sehr hervorgetan hat. Er ist ein alter Seeoffizier auf Halbsold, und sein ungestümes und rücksichtsloses Benehmen stört die Hausordnung der alten Dame nicht wenig. Er läßt sich’s nicht abgewöhnen, Zigarren auf dem Hof vor dem Hause zu rauchen, und hebt, wenn er etwas dazu trinken will – was keineswegs selten der Fall ist – mit seinem Spazierstock den Türklopfer der alten Dame auf und bittet, ihm ein Glas Bier herauszureichen. Weiter ist er ein Tausendkünstler, oder wie er selbst sagt, »ein echter Robinson Crusoe«, und nichts bereitet ihm größeres Vergnügen, als Experimente mit Dingen zu machen, die der alten Dame gehören.

Eines Morgens stand er beizeiten auf und pflanzte zu ihrem grenzenlosen Erstaunen auf alle Beete ihres Gartens vor dem Hause Ringelblumen in voller Blüte. Sie meinte wirklich, als sie aufgestanden war und aus dem Fenster schaute, die Blumen seien über Nacht wunderbarerweise aus der Erde hervorgeschossen. Ein anderes Mal nahm er ihre acht Tage gehende Uhr, unter dem Vorwand, sie reinigen zu wollen, ganz auseinander und setzte dann das Werk auf eine bis dahin unbekannte Weise so wundervoll wieder zusammen, daß der große Zeiger seitdem nichts getan hat, als um den kleinen in verkehrter Richtung herumzulaufen.

Hierauf kam es ihm in den Sinn, Seidenwürmer zu ziehen, und er brachte sie in kleinen Papiertüten täglich mehrere Male zu der alten Dame, um sie ihr zu zeigen, und verlor fast bei jedem Besuch ein paar von den Tierchen. Die Folge war, daß eines Morgens ein recht tüchtiger Seidenwurm auf der Treppe gefunden wurde. Er kroch hinauf, wahrscheinlich in der Absicht, sieh nach seinen guten Freunden zu erkundigen; denn bei weiterem Nachsuchen wurde die Entdeckung gemacht, daß sich fast in allen Räumen des Hauses bereits einige seiner Geschlechtsgenossen eingebürgert hatten. Die alte Dame reiste in Verzweiflung an die Seeküste, und während ihrer Abwesenheit machte der Kapitän an ihrer messingnen Haustürplatte so erfolgreiche Polierversuche mit ätzenden Sachen, daß er den eingegrabenen Namen fast gänzlich austilgte.

Dies alles ist jedoch noch nichts gegen sein rebellisches, hitzköpfiges Benehmen in öffentlichen Angelegenheiten. Er besucht jede Kirchspielversammlung, tritt beständig gegen die bestehenden Autoritäten und als Ankläger der Ruchlosigkeit der Kirchenvorsteher auf, beginnt Streitigkeiten über gesetzliche Bestimmungen mit dem Kirchspielschreiber, läßt den Steuerboten so oft unverrichtetersache wieder umkehren, bis der Mann erklärt, nicht wieder zu ihm gehen zu wollen, und schickt dann das Geld durch die Post, tadelt jeden Sonntag die Predigt, erklärt laut, daß sich der Organist seines Spiels schämen müsse, und erbietet sich zu jeder Wette, die Psalmen besser singen zu wollen als sämtliche Kinder zusammengenommen – kurzum, er verursacht soviel Unruhe und Aufruhr, wie nur möglich ist. Das Schlimmste aber ist, daß er sich fortwährend bemüht, die alte Dame, weil er eine so große Achtung vor ihr hat, für seine Ansichten zu gewinnen, und deshalb mit seinem Zeitungsblatt in der Hand täglich ihr Wohnzimmer belagert und stundenlang heftig politisiert. Im Grunde seines Herzens ist er allerdings ein menschenfreundlicher, biederer alter Kauz und harmoniert auch mit der alten Dame im ganzen sehr gut, obgleich er sie oft genug ein wenig ärgert, und ist ihr Ärger verraucht, so lacht sie wie alle anderen Leute über seine Extravaganzen.

Ein lustiger Abend


Ein lustiger Abend

Pythias und Damon waren ohne Zweifel sehr wackere Leute auf ihre Art: der erstere wegen seiner ausnehmenden Bereitwilligkeit, persönliche Bürgschaft für einen Freund zu leisten, und der letztere wegen einer gewissen abtrumpfenden, kaum minder merkwürdigen Pünktlichkeit, gerade im letzten und entscheidenden Augenblicke wieder zur Stelle zu sein. Viele ihrer Charaktereigenheiten sind gegenwärtig veraltet. Damons sind in diesen Zeiten, wo sie ihrer Schulden wegen eingesperrt werden, schwer zu finden (die Scheine Damons ausgenommen, die eine halbe Krone kosten); und was die Pythiasse betrifft, so haben die wenigen, die es in diesem entarteten Zeitalter gab, die unglückliche Neigung gehabt, Versteck zu spielen, und zwar gerade in dem Moment, in dem ihr Erscheinen streng klassisch gewesen sein würde. Doch wenn sich in der neueren Zeit zu den Handlungen dieser Heroen keine Parallele findet, so ist es dafür in betreff ihrer Freundschaft der Fall. Wir haben Damon und Pythias auf der einen – Potter und Smithers auf der andern Seite; und da die letzterwähnten Namen das Ohr unserer unerleuchteten Leser mutmaßlich noch nicht erreicht haben, so können wir nichts Besseres tun, als sie mit den Eigentümern bekannt zu machen.

Wohlan denn! Mr. Thomas Potter war ein Kontorschreiber in der City, und Mr. Robert Smithers war ein Dito in ebenderselben; ihr Einkommen war beschränkt, aber ihre Freundschaft unbegrenzt. Sie wohnten in derselben Straße, dinierten jeden Tag in demselben Speisehause und zechten einer in des anderen Gesellschaft jeglichen Abend. Sie waren durch die engsten Bande der Freundschaft und Vertraulichkeit miteinander verbunden oder waren, wie Mr. Thomas Potter empfindsam bemerkte, »Dick-und-Dünn-Gefährten«. In Mr. Smithers‘ Gemütsart lag ein Anflug von Romantik – ein Strahl von Poesie – ein Aufblitzen von Zerrissenheit – eine Art Bewußtsein, er wußte nicht genau wovon, das ihn überkam, er wußte nicht recht eigentlich warum – wodurch ein schöner Gegensatz gebildet wurde zu dem Mr. Potter in einem eminenten Grade auszeichnenden munteren kecken Liebhabertaschendiebereiwesen.

Die Eigentümlichkeit ihrer Charaktere erstreckte sich auch auf ihre Kleidung. Mr. Smithers erschien in der Öffentlichkeit gewöhnlich in Überrock und Schuhen, mit einem losen, schwarzen Halstuch und einem Hut, dessen Rand stark gebogen war – Eigentümlichkeiten, die Mr. Potter durchaus mied; denn es war sein Ehrgeiz, die Elegants geringerer Klasse nachzuahmen, und er war so weit gegangen, Kapital zum Ankauf eines groben, blauen, wasserdichten Leibrocks mit hölzernen Knöpfen anzulegen, zu dem ein blumentopfuntersetzerartiger Hut mit niedriger Krone hinzukam, so daß er im Albion-Hotel und an verschiedenen andern öffentlichen und fashionablen Orten beträchtliche Sensation erregt hatte.

Mr. Potter und Mr. Smithers hatten verabredet, nach dem Empfang ihres Quartalgehaltes sich gemeinschaftlich und in Gesellschaft »einen lustigen Abend zu machen«, oder aber, wie sie sich auch ausdrückten, »den Abend recht kreuzfidel durchzubringen« – eine offenbar falsche Bezeichnung: denn alle Welt weiß, daß sich das Durchbringen nicht auf den Abend, sondern auf alles Geld bezieht, in dessen Besitze der Durchbringende sich eben befindet, wie denn beide Redensarten insofern sehr uneigentliche sind, als ihre Bedeutung dahin geht, daß noch mehrere Stunden der Nacht und des andern Morgens entlehnt und zum besagten Abend hinzugefügt werden sollen.

Der Quartalstag war endlich da – wir sagen endlich, weil Quartalstage so unberechenbar sind wie Kometen, indem sie mit erstaunlicher Raschheit von der Stelle rücken, wenn man viel zu zahlen und merkwürdig langsam, wenn man wenig zu empfangen hat. Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers blieben dem gegebenen Worte treu und machten den Anfang mit einem hübschen, reichhaltigen Mittagessen, das aus einem kleinen Aufzuge von vier Koteletts und vier Nieren, die einander folgten, bestand – einen Krug echtes und bestes Doppelbier und einige Brotpolster und Käsekeile in der Nachhut nicht zu vergessen.

Als das Tischtuch abgenommen worden war, befahl Mr. Thomas Potter dem Aufwärter, eine angemessene Quantität seines besten schottischen Whiskys nebst heißem Wasser und Zucker sowie ein paar seiner »leichtesten« Havannas zu bringen, was der Aufwärter tat. Mr. Thomas Potter mischte seinen Grog, zündete seine Zigarre an, und Mr. Robert Smithers tat dasselbe, worauf Mr. Thomas Potter scherzweise vorschlug, zu allererst »auf Abschaffung aller Kontors« zu trinken; auf diese Gesundheit wurde von Mr. Robert Smithers augenblicklich mit enthusiastischem Applaus getrunken. Sodann besprachen sie die Politika, rauchten ihre Zigarren und schlürften ihren Whisky-Grog, bis sie damit zu Ende waren. Sobald Mr. Robert Smithers dies gewahrte, ließ er eine abermalige Portion und frische Zigarren kommen, eine kleine Szene, die sich mehrere Male wiederholte, bis Mr. Robert Smithers endlich die Leichtigkeit der Havannas zu bezweifeln anfing und in hohem Maße das Gefühl hatte, als ob er rückwärts in einer Mietskutsche gefahren wäre.

Was Mr. Thomas Potter anbelangt, so lachte er eine halbe Minute um die andere laut auf, behauptete ohne alle Veranlassung oder Aufforderung in kaum artikulierten Tönen, vollkommen bei seinen fünf Sinnen zu sein, und ließ sich das Abendblatt reichen; ging aber, da er es einigermaßen schwierig fand, Neuigkeiten darin zu entdecken oder sich auch nur zu überzeugen, daß es überhaupt bedruckt war, langsam hinaus, um nach dem Kometen zu sehen, kehrte ganz blaß vom langen Himmelwärtsschauen zurück, bemühte sich, Heiterkeit darüber auszudrücken, daß sich Mr. Smithers vom Schlafe habe bewältigen lassen, legte unter hektischem Kichern den Kopf auf den Arm und schlummerte gleichfalls ein. Als er wieder aufwachte, wurde auch Mr. Smithers wach, und beide erklärten mit großem Ernst, es wäre äußerst unweise gewesen, soviel eingemachte Walnüsse zu Koteletts zu essen, da doch jedermann wisse, daß man davon stets unwirsch und schläfrig werde, und man könnte schlechterdings nicht sagen, wie schädlich sie ihnen hätten werden können, wenn der Whisky und die Zigarren nicht zum Glücke noch alles wieder gutgemacht hätten. Sie tranken daher eine Schale Kaffee, bezahlten ihre Zeche (dreizehn Schillinge mit der Erkenntlichkeit für den Aufwärter) und brachen auf, um in ihrem löblichen Unternehmen weiter voranzuschreiten.

Es war gerade halb neun; sie meinten daher nichts Besseres tun zu können, als zum Halbpreise in das Citytheater zu gehen, und verfuhren ihrer Ansicht gemäß. Mr. Robert Smithers, der, nachdem sie die Rechnung berichtigt hatten, ausnehmend poetisch geworden war, verkürzte unterwegs Mr. Thomas Potter die Zeit sehr angenehm, indem er ihm vertraulich mitteilte, daß er ein inneres Vorgefühl herannahender Auflösung habe, und fügte im Theater den Dekorationen des Hauses eine neue hinzu, indem er den Kopf und beide Arme graziös auf die Logenbrüstung sinken ließ und in dieser Attitüde abermals einschlief.

Dies war das ruhige Benehmen des anspruchslosen Smithers, und also taten sich die glücklichen Wirkungen des schottischen Whiskys und der Havannas bei diesem interessanten jungen Manne kund; Mr. Thomas Potter dagegen, der nicht wenig Wert darauf legte, sich als einen jungen Mann zu zeigen, »der es hinter den Ohren hat« und für einen »lustigen Gesellen« zu gelten, der »alles mitmacht und in Freuden lebt«, benahm sich auf eine ganz andere Weise und begann, sich zunächst sehr laut und endlich für die Langmut des Publikums zu laut zu benehmen. Sogleich bei seinem Eintreten wünschte er sämtlichen Zuschauern sehr herzlich einen guten Abend und fügte herablassend hinzu, sie möchten sich seinetwegen durchaus nicht abhalten lassen, wenn sie etwa ihren Rausch auszuschlafen wünschten. »Gebt doch dem Köter ’nen Knochen, daß er’s Maul hält«, rief ein Gentleman in Hemdärmeln. »Wo hast du dein Quart Branntwein getrunken?« rief ein zweiter, »Knote!« ein dritter, »Bartputzer!« ein vierter, »Werft ihn hinaus!« ein fünfter, während sich zahlreiche andere Stimmen zu dem wohlmeinenden Rate vereinigten, daß sich Mr. Thomas Potter »wieder hinscheren möge, wo er hergekommen sei«. Mr. Thomas Potter hörte all diese Stichelreden mit der vollkommensten Verachtung an, rückte, sooft eine Anspielung auf seine Persönlichkeit gemacht wurde, seinen Hut mit niedrigem Kopf noch etwas mehr auf das linke Ohr, stemmte die Arme in die Seite und drückte dadurch möglichst melodramatisch Herausforderung und Trotzbietung aus.

Die Ouvertüre, zu der dieses alles eine Ad-libitum-Begleitung gebildet hatte, war gespielt worden, das zweite Stück nahm seinen Anfang, und Mr. Thomas Potter, durch Straflosigkeit noch dreister geworden, fuhr fort, sich auf eine höchst unerhörte und außergewöhnliche Weise zu benehmen. Zuerst ahmte er den Triller der Primadonna nach, sodann zischte er mit dem blauen Feuer um die Wette und stellte sich an, als ob er bei Erscheinung des Geistes vor Schrecken Krämpfe bekäme, und schließlich lieferte er nicht nur mit hörbarer Stimme einen fortlaufenden Kommentar zum Bühnendialog, sondern weckte sogar Mr. Robert Smithers auf, der, als er den Freund lärmen hörte und nur eine sehr unbestimmte Vorstellung davon hatte, wo er sich befand oder was von ihm begehrt wurde, um ein gutes Beispiel nachzuahmen, ein so schauderhaftes und endloses Geheul ertönen ließ, wie es nur jemals von einem Theaterpublikum gehört worden war. Es war zuviel. »Hinaus mit den Tumultuanten!« war das allgemeine Geschrei. Man vernahm ein Geräusch wie von scharrenden Füßen und als ob ein paar Leute mit Heftigkeit gegen die Vertäfelung geworfen wurden und ein hastiges Zwiegespräch: »Hinaus – Nein – Sie sollen – Ich will aber nicht – Geben Sie mir Ihre Karte, Sir – Sie sind ein Lump, Sir«, und so fort, worauf ein Beifallssturm die Billigung des Publikums bekundete und Mr. Robert Smithers und Mr. Thomas Potter die Treppe hinunter und in die Straße hinaus mit so erstaunlicher Schnelligkeit flogen, daß sie gänzlich der Mühe überhoben waren, auch nur ein einziges Mal während der ganzen Prozedur die Füße auf den Boden zu setzen.

Mr. Robert Smithers, der keineswegs zum Vogelgeschlecht gehörte und wenigstens bis zum nächsten Quartalstage Fliegens und Mitmachens genug gehabt hatte, begann, sobald er mit dem Freunde die Ecke der Miltonstraße erreicht hatte, sich in entfernten Anspielungen auf die Süßigkeiten des Schlafs zu ergehen und darauf hinzudeuten, wie angemessen es sein dürfte, wenn er und Mr. Thomas Potter nach Islington zurückkehrten und wenn sie den Versuch anstellten, mit ihren Hausschlüsseln die Schlüssellöcher zu finden. Mr. Thomas Potter war jedoch tapferen und entschiedenen Sinnes. Sie hatten einmal beschlossen, sich einen lustigen Abend zu machen, und der Beschluß mußte ausgeführt werden. Mr. Robert Smithers, der zu drei Teilen betäubt und zu einem betrunken war, willigte verzweiflungsvoll ein; sie begaben sich daher in ein Weinhaus, um sich weitere Materialien zu einem lustigen Abend zu verschaffen, und fanden darin eine hübsche Anzahl junger Damen, verschiedene alte Herren und noch mehr trinkende und schwatzende Mietskutscher und Kabriolettführer; und Mr. Thomas Potter sowie Mr. Robert Smithers tranken kleine Gläser Branntwein und große Gläser Sodawasser, bis sie anfingen, von den Dingen im allgemeinen, wie von jeglichem Dinge im besondern nur sehr verwirrte Vorstellungen zu haben –: und als sie sich selbst bewirtet hatten, begannen sie alle anderen Leute zu traktieren, und das Ende der Vergnüglichkeit bestand in einem bunten Gemisch von Köpfen und Fersen, blauen Augen und blauen Uniformen, Straßenschmutz und Gaslichtern, dicken Eichentüren und einem Steinpflaster. Das Weitere von da an war eine »vollkommene Leere«; die Leere wurde am folgenden Morgen mit dem Wörtchen »Polizeiwache« ausgefüllt, sowie die Polizeiwache mit den Herren Smithers und Potter und dem größeren Teile ihrer Gasthausgesellschafter der vorigen Nacht nebst einem verhältnismäßig geringen Teil von Kleidungsstücken aller Art. Und auf der Polizei, zur Entrüstung der Richterbank und zum Erstaunen der Zuhörer, kam es an den Tag, wie ein gewisser Robert Smithers, angestiftet von einem gewissen Thomas Potter und unter dem Beistand »desselben«, in mehreren Straßen und zu verschiedenen Zeiten fünf Männer, vier Knaben und drei Frauen geschlagen und zu Boden geworfen; wie sich »besagter« Thomas Potter verbrecherisch in den Besitz von fünf Türklopfern, zwei Klingelgriffen und einem Frauenhut gesetzt; wie Robert Smithers, des »Besagten« Freund, wenigstens für fünfzig Pfund Flüche – das Stück zu fünf Schillingen gerechnet – ausgestoßen, ganze Straßen voll ruhiger Bürger durch fürchterliches Geschrei und Feuerrufen erschreckt, fünf Polizeidienern die Uniform verdorben und sich noch vieler anderer strafwürdiger Vergehen, zu zahlreich, um sie alle aufzählen zu können, schuldig gemacht habe. Und der Friedensrichter nahm nach einem angemessenen Vorhalt Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers jeden um fünf Schillinge in Strafe wegen Trunkenheit, wie der vulgäre Ausdruck des Gesetzes lautet, und um die Kleinigkeit von vierunddreißig Pfunden wegen siebzehn bewiesener Angriffe auf Personen, das Stück zu fünf Schilling, wobei es ihnen überlassen bleiben sollte, sich mit den Anklägern zu vergleichen.

Die Ankläger ließen mit sich reden, die Herren Potter und Smithers lebten indes ein Quartal auf Kredit, so gut sie konnten, und haben es nie wieder unternommen, sich einen lustigen Abend zu machen, obwohl die Ankläger sich sehr bereit erklärten, unter denselben Bedingungen zweimal wöchentlich Angriffe auf ihre Personen zu erdulden.

Die ehrgeizige Putzmacherin


Die ehrgeizige Putzmacherin

Miss Emilie Martin war blaß, groß, hager und zweiunddreißig – was mißgünstige Leute häßlich und Polizeiberichte interessant nennen würden. Sie war Putz- und Kleidermacherin, lebte von ihrem Geschäft und hielt sich nicht zu vornehm dafür. Wärst du ein junges Frauenzimmer »bei Herrschaften« oder »in Kondition« gewesen und hättest Miss Martins bedurft, wie denn viele junge Damen in Kondition ihrer bedurften, so würdest du dich etwa abends nach Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston Square begeben, ein gewaltiges Messingschild mit der Inschrift: »Putz- und Kleidermachergeschäft in allen seinen Zweigen bei Miss Martin« erblickt und mit zwei lauten Schlägen an die Haustür geklopft haben, worauf denn Miss Martin selbst in einem Merinokleid nach der neuesten Mode, mit Ärmelaufschlägen aus feinstem, schwarzem Samt und anderen kleinen Putzsachen der elegantesten Art erschienen sein würde.

Wenn Miss Martin die bei ihr erscheinende junge Dame in Kondition kannte, oder wenn ihr die junge Dame von einer anderen ihr bekannten jungen Dame empfohlen war, so führte sie diese sogleich in ihr Putzzimmer hinauf, plauderte so liebenswürdig und zutraulich, als wenn die junge Dame eine alte, gute Freundin, nicht aber in Geschäften zu ihr gekommen wäre, nahm sodann die Figur und den ganzen Wuchs der jungen Dame in Augenschein, bewunderte sie nicht wenig, und sagte ihr, wie gut ihr ohne allen Zweifel ein unten sehr weites und volles Kleid mit kurzen Ärmeln und angemessenen Falten stehen würde; worauf die junge Dame in Kondition ihre vollkommene Beistimmung zu erkennen gab und sich daneben entrüstet über die Tyrannei ihrer »Missis« aussprach, die keinem jungen Mädchen nachmittags kurze Ärmel und überhaupt nichts Schickes und Modisches – nicht einmal Ohrringe zu tragen erlauben wollte, von den abscheulichen Hauben zu schweigen, worin man sein Haar verstecken müßte.

Nachdem Miss Martin die Litanei angehört hatte, ließ sie gewisse entfernte Andeutungen fallen, wie es Leute gebe, die ihrer Töchter wegen eifersüchtig quälen und die Reize ihrer konditionierenden Hausgenossinnen in den Schatten zurückdrängen müßten, aus Furcht, daß die letzteren sich eher verheirateten, was gar nicht ungewöhnlich sei – zum wenigsten habe sie zwei oder drei junge Damen bei Herrschaften gekannt, die bedeutend besser geheiratet hätten als ihre Herrinnen und noch nicht einmal sehr hübsch gewesen seien; worauf die junge Dame wieder Miss Martin im Vertrauen mitteilte, daß eine ihrer jungen Herrinnen mit einem jungen Manne versprochen und so stolz darauf sei, daß man kaum noch mit ihr auskommen könne, aber gar keine Ursache habe, die Nase deshalb so hoch zu tragen, denn der Bräutigam sei doch weiter nichts als ein Schreiber. Miss Martin und die junge Dame in Kondition drückten sodann ihre Verachtung der Schreiber im allgemeinen und des verlobten Schreibers im besonderen und die bestmögliche Meinung über sich selbst aus, sagten einander auf eine freundschaftliche, aber ganz und gar vornehme Weise gute Nacht, und kehrten, die eine nach ihrem »Orte« und die andere in ihr Geschäftszimmer zurück.

Man weiß nicht, wie lange Miss Emilie Martin ihr Leben so fortgeführt hat, welch eine ausgedehnte Kundschaft sie unter den jungen Damen in Kondition erlangt oder welche Höhe ihre Abzüge von ihrem Lohn am Ende erreicht hätten, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse ihre Gedanken und ihre Tätigkeit vom Putz- und Kleidermachen gänzlich abgelenkt hätten.

Eine ihrer Freundinnen nämlich, die lange mit einem Maler- und Tapezierergehilfen verlobt gewesen war, gab endlich den flehentlichen Bitten ihres Bräutigams nach, den Tag zu bestimmen, der besagten Gehilfen zu einem glücklichen Gatten machen sollte. Sie bestimmte einen Montag dazu, und auch Miss Emilie Martin ward eingeladen, den Hochzeitsschmaus durch ihre Gegenwart zu verschönen. Es war eine reizende Gesellschaft, Somerstown der Ort und ein Wohngemach im Erdgeschoß das Zimmer. Der Maler- und Tapezierergehilfe hatte ein Haus gemietet – nicht etwa eine Etage oder dergleichen Gwöhnlichkeiten, sondern ein Haus – vier schöne Zimmer und eine allerliebste kleine Küche am Ende des Flures – die bequemste Sache von der Welt; denn die Brautjungfern konnten im Gesellschaftszimmer sein und die Gesellschaft empfangen, dann in die kleine Küche laufen und nach dem Pudding und Schweineschinken sehen und im Nu wieder hineinhuschen und mit den Gästen plaudern. Und welch ein Zimmer! Der schönste Kidderminsterteppich – sechs nagelneue, gebeizte Rohrstühle – ein halbes Dutzend große und kleine Gläser auf jedem Schenktisch in den beiden Ecken – ein Bauernmädchen und ein Bauernknabe auf dem Kaminsims – lange weiße Dimityfenstervorhänge – und kurzum alles und jedes so nobel, wie man es sich nur denken kann.

Und dann das Diner: oben und unten eine gekochte Hammelkeule – in der Mitte ein paar Hühner und der Schinken – an den Ecken Porterkrüge – nicht weit davon Pfeffer, Senf und Weinessig – und zu dem allen noch (zum Teil auf dem Fußboden, weil der Tisch so klein) zweierlei Gemüse, Plumpudding, Äpfelpastete, kleine Torten ohne Zahl, Käse, Sellerie, Wasserkresse und was weiter dazu gehört. Was die Gesellschaft anbelangt, so erklärte Miss Emilie Martin selbst bei einer späteren Gelegenheit, daß sie sich die Verwandtschaft des Maler- und Tapezierergehilfen, nach dem zu urteilen, was sie früher davon gehört habe, nicht halb so vornehm gedacht hätte. Sein Vater – welch ein spaßhafter alter Herr! Seine Mutter – welch eine liebe alte Dame! Seine Schwester – welch ein bezauberndes Mädchen! Sein Bruder – welch ein männlich aussehender junger Mann und was er für ein Auge hatte! Allein, die ganze Familie war noch immer nichts im Vergleich mit seinen musikalischen Freunden, Mr. und Mrs. Jennings Rodolph von White Conduit, mit denen der Maler- und Tapezierergehilfe glücklich genug gewesen war, genau bekannt zu werden, indem er beim Dekorieren des dortigen Konzertsaales Beistand geleistet hatte.

Es war himmlisch, ihre Solos zu hören; aber wenn sie das tragische Duett: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« miteinander sangen, so war man, wie Miss Emilie Martin hinterher bemerkte, »ganz weg«. Und warum (wie Mr. Jennings Rodolph bemerkte), warum waren sie bei keinem der öffentlichen Theater engagiert? Wenn man ihm sagte, ihre Stimmen seien nicht stark genug, das Haus zu füllen, so war seine einzige Antwort, er wolle jede Wette eingehen, daß er den Russel-Square fülle – womit sich die Gesellschaft, nachdem sie das Duett gehört hatte, vollkommen einverstanden erklärte, und worauf alle sagten, es sei eine schmachvolle Behandlung und Mr. Rodolph eine sehr ernste Miene annahm und fallenließ, daß er sehr wohl wisse, wer seine neidischen Widersacher seien, daß sie sich aber in acht nehmen möchten, wie weit sie gingen; denn wenn sie ihn zu schwer reizten, so habe er den Entschluß noch nicht geradezu aufgegeben, die Sache vor das Parlament zu bringen. Die ganze Gesellschaft kam hiernach darin überein, »daß ihnen vollkommen Recht geschehen und daß es sehr angemessen wäre, wenn an solchen Leuten einmal ein Exempel statuiert würde«. Mr. Jennings Rodolph sagte daher, er wolle es in Überlegung ziehen.

Als die Unterhaltung ihren früheren Ton wieder angenommen hatte, ersuchte Mr. Jennings Rodolph Miss Emilie Martin, die Gesellschaft zu erfreuen – die Gesellschaft vereinigte ihre Bitten mit den seinigen –, und Miss Emilie Martin hustete unschlüssig und zögernd, räusperte sich, erklärte, daß sie vor Angst halb tot sei, weil sie sich vor so großen Kunstrichtern hören lassen solle, und machte endlich den Anfang mit einer Art hellem Gezirpe, das beständig Anspielungen auf einen jungen Gentleman, namens Hen – e – ry, nebst einem jeweiligen Hinblick auf Wahnsinn und beschädigte Herzen enthielt. Mr. Jennings Rodolph unterbrach es durch häufige Ausrufe: »Schön – bezaubernd – herrlich – o köstlich!« usw., und nach deren Schlusse kannte seine und seiner Gattin Bewunderung keine Grenzen.

»Hast du jemals eine so liebliche Stimme gehört?« fragte Mr. Jennings Rodolph Mrs. Jennings Rodolph.

»Nein, in meinem ganzen Leben nicht«, erwiderte sie.

»Glaubst du nicht, daß Miss Martin bei ein wenig Ausbildung der Signora Maljebran sehr ähnlich sein würde?«

»Das habe ich gerade auch gedacht, lieber Mann«, versetzte Mrs. Jennings Rodolph.

Und so vertrieb man sich die Zeit. Die meisten sangen, einer nach dem anderen. Mr. Jennings Rodolph spielte Melodien auf einem Spazierstocke, trat darauf hinter die Tür und gab seine berühmten Nachahmungen von Schauspielern, Tieren, Sägen und anderen Schneideinstrumenten zum besten; Miss Martin sang noch mehrere Arien, jede unter immer größerer Bewunderung, und sogar der spaßhafte alte Herr fing an zu singen. Sein Lied hatte eigentlich sieben Strophen; allein, da er sich nur der ersten entsinnen konnte, so wiederholte er sie siebenmal, augenscheinlich zu seiner eigenen vollkommenen Befriedigung. Sodann stimmte die ganze Gesellschaft das Nationallied mit britischem Unabhängigkeitssinne an – indem alle für sich und ohne Rücksicht auf die anderen sangen –, und endlich brach die Gesellschaft auf, erklärte Mann für Mann, daß sie nie einen so angenehmen Abend erlebt hätte, und Miss Martin beschloß in ihrem Innern, den Rat Mr. Jennings Rodolphs zu befolgen, nämlich sich ohne Aufschub als Sängerin »aufzutun«.

Das »Sichauftun« als Schauspielerin oder Sängerin, oder in der Gesellschaft, oder als Parlamentsredner, oder als Witzbold oder was sonst, ist nun freilich eine sehr schöne Sache, und besonders angenehm für die Person, die es zunächst betrifft, wenn sie es möglich machen kann, sich »mit Glanz aufzutun«, und wenn es geschehen ist, den Glanz zu behaupten, statt mit Schimpf wieder heimgesendet zu werden; allein dieses alles ist unglücklicherweise äußerst schwierig; und diese Entdeckung sollte Miss Emilie Martin sehr bald machen. Es ist merkwürdig – da der Fall ein paar Damen betrifft –, aber tatsächlich, daß Miss Emilie Martins Hauptschwäche Eitelkeit und Mrs. Jennings Rodolphs vornehmster Charakterzug eine Vorliebe für Putz war. Man hörte aus dem zweiten Stockwerk in Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston-Square, trübseliges Gequieke: Miss Martin übte. Beim Anfang der Season störte halb unterdrücktes Gemurmel die ruhige Würde des Orchesters in White-Conduit; Mrs. Jennings Rodolphs Erscheinung in großer Gala veranlaßte die Störung. Miss Emilie Martin dachte nur an ihr »Auftun« – das Üben war die Folge; Mrs. Jennings Rodolph erteilte ihr bisweilen unentgeltlichen Unterricht – die zur großen Gala gehörigen Putzartikel waren das Ergebnis.

Wochen vergingen; die Season in White-Conduit war zur Hälfte vorüber. Die Putzmacherei war vernachlässigt, das Geschäft in Verfall geraten, sein Nutzen fast unmerklich zusammengeschmolzen. Ein Benefizabend rückte heran, Mrs. Jennings Rodolph gab den dringenden Bitten Miss Emilie Martins nach und stellte sie dem komischen Sänger vor, dessen Benefiz stattfinden sollte. Der komische Sänger war lauter Lächeln und Holdseligkeit – er hatte ein Duett ausdrücklich für den Abend komponiert, und Miss Martin sollte es mit ihm singen. Der Abend kam – und mit ihm erschienen siebenundneunzig große Glas Gin mit Wasser, zweiunddreißig kleine Glas Branntwein mit Wasser, fünfundzwanzig Flaschen Ale und einundvierzig Glühweine; und an einem Seitentisch nicht weit vom Orchester saßen der Maler- und Tapezierergehilfe nebst Frau und einer Anzahl auserwählter Freunde und Freundinnen. Das Konzert nahm seinen Anfang. Sentimentale Arie, gesungen von einem blonden jungen Herrn in einem blauen Leibrock mit Metallknöpfen. (Beifall.) Noch eine Arie, zweifelhafter Natur, gesungen von einem anderen Herrn in einem anderen blauen Leibrock mit noch glänzenderen Knöpfen. (Verstärkter Beifall.) Duett, gesungen von Mr. und Mrs. Jennings Rodolph: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« (Großer Beifall.) Solo, Miss Julia Montague (bestimmt nur an diesem Abende): »Ich bin ein Mönch.« (Enthusiasmus.) Komisches Originalduett – Mr. H. Taplin (der komische Sänger) und Miss Martin: »Die Tageszeit.«

»Bravo, bravo – o – o – o!« schrie des Maler- und Tapezierergehilfen Gesellschaft, als Miss Martin vom komischen Sänger mit Grazie vorgeführt würde. »Ins Geschirr, Harry!« riefen die Freunde des komischen Sängers. Der Kapellmeister schlug mit dem Bogen auf das Notenpult. Die Einleitung begann, und bald folgte ihr eine Art von bauchrednerischem Zirpen, das aus Miss Martins tiefstem Innern hervorzutönen schien. »Lauter!« rief ein Gentleman in einem grauen Überrocke; »Fürcht dich nicht, den Dampf loszulassen, altes Mädchen!« ein anderer; »S-s-s-s-s-s!« zischten die fünfundzwanzig Flaschen Ale; »Pfui!« entgegnete die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen; »S-s-s-s-s!« zischten die Flaschen Ale abermals, und sämtliche Gins und die meisten Branntweine sekundierten ihr.

»Hinaus mit den Gänseköpfen!« rief die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen in großer Entrüstung.

»Singen Sie laut«, flüsterte Mrs. Jennings Rodolph.

»Das tu‘ ich ja«, erwiderte Miss Emilie Martin.

»Singen Sie noch lauter«, sagte Mr. Jennings Rodolph.

»Das kann ich nicht«, sagte Miss Emilie Martin.

»Hinaus, hinaus, hinaus!« lärmte der größte Teil des Publikums; »Bravo, bravo!« schrie die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen – aber es half nichts. Miss Emilie Martin zog sich weit unzeremoniöser zurück, als sie erschienen war, und es wollte schlechterdings mit dem »Auftun« nicht gehen. Die gute Laune des Publikums kehrte erst wieder, als Mr. Jennings Rodolph purpurn im Gesicht durch seine halbstündigen Bemühungen geworden war, verschiedene Vierfüßler nachzuahmen, ohne sich hörbar machen zu können; und bis auf diesen Tag ist weder Miss Emilie Martins gute Laune noch die vormalige Blüte ihres Geschäfts zurückgekehrt, noch haben sich die musikalischen Anlagen zeigen wollen, für deren Dasein Mr. Jennings Rodolph einst seine Künstlerehre zum Pfande setzte.

Die Morgenpostkutschen


Die Morgenpostkutschen

Wir haben oft darüber nachgesonnen, wie viele Monate unaufhörlichen Reisens in einer Postchaise wohl dazu gehören möchten, jemand vom Leben zum Tode zu bringen; und ebenso möchten wir wohl wissen, wie viele Monate beständigen Reisens nur in Morgenpostkutschen ein unglücklicher Sterblicher wohl aushalten könnte. Lebendig gerädert zu werden ist nichts dagegen, auf vier Rädern nicht nur seine Glieder, sondern auch seine Ruhe und seinen Frieden rädern zu lassen, wogegen wiederum die Strafe des Ixion (beiläufig das einzige praktische Individuum, das das Geheimnis der unterbrochenen Bewegung entdeckt hat) zu vollkommener Bedeutungslosigkeit schwindet. Wären wir ein mächtiger Kirchenfürst in jenen guten alten Zeiten gewesen, wo man für die geheiligte Sache der Religion Blut wie Wasser vergoß und Menschen wie Gras mähte, so würden wir uns ganz ruhig verhalten haben, bis wir einen besonders hartnäckigen Ketzer in die Hände bekommen hätten: und dann hätten wir ihm einen Innenplatz in einer engen, Tag und Nacht forteilenden Postkutsche gegeben, die übrigen Plätze an starke, ein wenig zum Räuspern und Husten neigende Männer verteilt, ihn auf seine letzte Reise ausgesendet, ihn ohne Erbarmen allen Qualen überliefert, die ihm anzutun den Kellnern, Wirten, Kutschern, Schirrmeistern, Hausknechten, Hausmägden und sonstigen Zugehörigen zur Heerstraße beliebt haben dürfte.

Wer kennt nicht die unvermeidlich folgenden Leiden, wenn man plötzlich frühmorgens eine eilige Reise antreten muß? Sobald die Notwendigkeit eintritt, wirst du samt deinem ganzen Hause in die entsetzlichste Unruhe versetzt; du schickst augenblicklich nach der Wäscherin, deine sämtlichen Hausgenossen haben alle Hände voll zu tun, und du selbst eilst mit einem Gefühle der Wichtigkeit, das du nicht gänzlich verbergen kannst, nach dem Postbüro, um einen Platz zu bestellen. Hier ergreift dich zuerst ein schmerzliches Bewußtsein deines Mangels an Bedeutung – die Offizianten sind so kaltblütig und gesammelt, als ob kein Mensch die Stadt zu verlassen gedächte oder als wenn eine Reise von hundert Meilen oder mehr ganz und gar nichts wäre. Du trittst ein in ein dumpfiges, mit mannigfachen Anschlägen verziertes Zimmer, vor dessen größere Abteilung eine plump gearbeitete Barriere läuft, während die andere in einzelne Verschlage abgeteilt ist, die den Käfigen der kleineren Tiere in einer Raubtierschau, aber ohne die Eisenstangen, gleichen. Ein halbes Dutzend Leute sortieren Poststücke, die von einem der Angestellten mit einer Sorglosigkeit in die erwähnten Verschläge geworfen werden, die dir, indem du an den neuen, soeben erst gekauften Reisesack denkst, durch die Seele geht; Lastträger, die wie ebenso viele Atlasse aussehen, gehen und kommen mit schweren Packen auf den Schultern, und während du wartest, um die notwendigen Fragen zu stellen, sinnst du darüber nach, was in aller Welt Postschreiber gewesen sein können, bevor sie Postschreiber wurden. Einer von ihnen steht, mit der Feder hinter dem Ohr und den Händen auf dem Rücken gleich einem Bilde Napoleons in Lebensgröße vor dem Kamine; ein zweiter, mit dem zum Herunterfallen schiefsitzenden Hut auf dem Kopfe trägt die Namen der Passagiere mit einer unsäglich ärgerlichen Kaltblütigkeit in ein großes Buch ein und pfeift dabei – der Spitzbube! – pfeift, während die Frage an ihn gerichtet wird, wieviel ein Außenplatz bis nach Holyhead koste – obendrein beim abscheulichsten Wetter! Sie sind offenbar eine ganz besondere Rasse, die keine der dem ganzen übrigen Menschengeschlechte gemeinsamen Sympathien und Gefühle besitzt. Du kommst endlich an die Reihe, hast deinen Platz bezahlt und fragst bebend: »Um welche Zeit muß ich morgen früh hier sein?« – »Um sechs Uhr«, antwortet der Pfeifer, deinen Sovereign gleichgültig in den auf dem Schreibtische stehenden hölzernen Napf werfend. »Lieber ’n bissel früher als später«, fügt der Mann mit den halbversengten Unaussprechlichen so ruhig und vergnügt hinzu, als wenn die ganze Welt um fünf Uhr das Bett verließe. Du gehst und trägst dich auf dem Heimweg mit dem Gedanken, in welchem Maße die Menschen durch Gewohnheiten in der Grausamkeit verhärtet werden können.

Wenn es in natura rerum ein Ungemach gibt, das noch schauderhafter ist als das andere, so ist es ganz ohne Frage die Notwendigkeit, bei Licht aufstehen zu müssen. Hast du Zweifel daran gehegt, so wirst du des Irrtums am Morgen deiner Abreise schmerzlich innewerden. Du erteiltest vor Schlafengehen strengen Befehl, daß man dich um halb fünf Uhr wecken solle, hast in der ganzen Nacht nicht länger als fünf Minuten ununterbrochenen Schlafs genossen, und jeder Glockenschlag hat dich aus bösen Träumen aufgeweckt. Endlich, wenn du vollkommen erschöpft bist, stellt sieh allmählich ein erquickender Schlummer ein – deine Gedanken werden verwirrt – die Postkutschen, die in der ganzen Nacht fortwährend vor deinen Augen abgingen, werden immer undeutlicher und verschwinden zuletzt gänzlich: im einen Augenblick fährst du selbst gleich dem geschicktesten Kutscher – im anderen gibst du Reiterkunststücke a la Ducrow auf dem linken Vorderpferde zum besten – wieder in einem anderen sitzt du behaglich eingehüllt in der Kutsche und hast soeben in dem Kondukteur einen alten Schulkameraden erkannt, dessen Begräbnis du, wie du dich selbst im Traum erinnerst, vor achtzehn Jahren beigewohnt hast. Sodann tritt der Zustand gänzlicher Vergessenheit bei dir ein, aus dem du sonderbarerweise in eine neue wunderliche Illusion fällst. Du bist Lehrling bei einem Koffermacher – gleichviel wie es zugeht – und eifrig mit dem Verkleben eines Koffers beschäftigt. O dieser verwünschte Gehilfe in der anderen Abteilung der Werkstatt! Wie er hämmert! Er ist auch gar zu fleißig und emsig! Du hast ihn schon seit einer halben Stunde gehört, und er hat während der ganzen Zeit unaufhörlich den Hammer geführt. Und nun ruft er gar! Was sagt er? Fünf Uhr! Du machst eine Gewaltanstrengung und raffst dich im Bette empor, als wenn du die Zeltszene im Richard III. probiertest. Die Täuschung hat augenblicklich ein Ende; der Koffermacherladen ist dein eigenes Schlafzimmer, und der Gehilfe dein fröstelnder Diener, der sich eine Viertelstunde lang auf die offenbare Gefahr, dir die Tür oder sich selbst die Knöchel einzuschlagen, vergeblich bemüht hat, dich aufzuwecken. Du kleidest dich in möglichster Eile an. Das flackernde Licht mit dem langen, verkohlten Dochte verbreitet gerade so viel Helligkeit, um dich erkennen zu lassen, daß alles, was du eben brauchst, nicht da zu finden ist, wo es sein sollte, und du erfährst einigen Aufenthalt, indem du inne wirst, daß du im Wirrwarr des gestrigen Abends einen deiner Stiefel sorgfältig mit eingepackt hast. Du kommst indes mit deiner Toilette noch bald genug zustande, denn du bist bei einer solchen Gelegenheit nicht umständlich und hast dich im voraus rasiert; wirfst dich in deinen Reiserock, knüpfst den grünen Reiseschal um, nimmst deinen Reisesack in die Hand, schleichst leise hinunter, um keine Störung zu verursachen, trittst auf einen Augenblick in das Familienzimmer (das äußerst komfortabel aussieht, in dem nichts an der rechten Stelle steht oder liegt und noch vielfache Spuren des Abendessens zu erblicken sind), trinkst hastig eine Tasse Kaffee, riegelst die Haustür auf, und stehst endlich auf der Straße.

Bei allem, was jammervoll ist, Tauwetter! Keine Spur mehr vom Froste. Du blickst die lange Oxfordstraße hinunter: die Gaslichter werfen einen traurigen Schein auf das nasse Pflaster, und du vermagst keinen dunklen Fleck zu entdecken, der dich hoffen ließe, eines Kabrioletts oder einer Mietskutsche habhaft zu werden – sogar die Mietskutscher sind verzweiflungsvoll nach Hause gefahren. Der kalte, mit Schnee vermischte Regen fällt mit der lieblichen Regelmäßigkeit, die eine wenigstens vierundzwanzigstündige Dauer bedeutet, der Nebel hängt über den Hausgiebeln und Lampenpfählen und hüllt dich gleich einem unsichtbaren Mantel ein. Das Wasser fließt in alle Höfe hinein – die Röhren sind geborsten – die Wassertonnen laufen über – die Straßenrinnen scheinen Zeitwettläufe anzustellen – Brunnenschwengel gehen von selbst nieder – Pferde vor Marktkarren stürzen und niemand hilft ihnen wieder auf – die Polizeidiener sehen aus, als wenn sie sorgfältig mit pulverisiertem Glas überschüttet wären – von Zeit zu Zeit begegnet dir eine Milchfrau mit zeugumwickelten Schuhen, um nicht auszugleiten – Jungen, die »außer dem Hause schlafen« und überhaupt wenig nächtliche Ruhe haben, können trotz allem Hämmern an den Ladentüren ihre Herren nicht aufwecken und heulen vor Kälte – die Mischung von Eis, Schnee und Wasser auf den Trottoirs ist einige Zoll dick – niemand wagt es, rasch zu gehen, um sich warm zu erhalten, und niemand würde sich warm erhalten, wenn er es auch täte.

Es schlägt ein Viertel nach fünf Uhr, wenn du auf deinem Wege nach Golden Cross auf dem Waterlooplatze anlangst, und du machst jetzt die Entdeckung, daß du ungefähr eine Stunde zu früh geweckt worden bist. Du hast keine Zeit zurückzukehren, die öffentlichen Lokale sind überall geschlossen, und du mußt daher weitergehen, was du äußerst zufrieden mit dir selbst und der ganzen Welt tust. Du langst im Posthause an, blickst im Hofe umher, entdeckst weder eine Kutsche noch Vorkehrungen zur Abfahrt einer solchen, gehst in das Büro, und der Kontrast bewirkt, daß es dir mit seiner Gaserleuchtung und seinem loderndem Feuer äußerst komfortabel erscheint – sofern überhaupt ein Gemach an einem Wintermorgen um halb sechs Uhr komfortabel aussehen kann. Derselbe Schreiber steht in derselben Stellung da, in der du ihn gestern gesehen hast, als wenn er seit der Zeit weder Hand noch Fuß geregt hätte. Er sagt dir, daß man die Kutsche in einer Viertelstunde herausbringen werde, und du begibst dich in das Schenkstübchen – nicht in der törichten Erwartung, dich wärmen zu können, sondern nur um dir ein Gläschen heißen Branntwein mit Wasser geben zu lassen – sobald nämlich das Wasser kocht, was genau drittehalb Minuten vor der Abfahrt der Fall sein wird.

Es schlägt gerade sechs auf, dem Turme der St. Martinskirche, indem du den Mund an das Glas setztest. Du stehst in zwei Augenblicken im Büro, und der Schenkwärter sitzt in derselben Zeit behaglich hinter deinem Branntwein mit Wasser. Die Pferde sind vorgespannt, der Kondukteur und einige Lastträger laufen atemlos mit Gepäck hin und her, der noch vor kurzem so stille Hof ist von Getümmel erfüllt, die Verkäufer der Morgenblätter sind angelangt, du vernimmst von allen Seiten Geschrei: »Times, meine Herren, Times – ein Chron, Sir – Herald,19 Sir – schreckliche Mordtat, meine Herren – merkwürdige Ehescheidungsgeschichte, meine Damen«, usw. usw. Die Innenpassagiere befinden sich schon in ihren Höhlen, und die Außenpassagiere, du ausgenommen, gehen auf und ab, um die Füße vor Erstarrung zu schützen. Es sind zwei junge Männer mit sehr langen Haaren, die vom Schnee und Regen wie kristallisierte Rattenschwänze aussehen; ein schmächtiges, frierendes und verdrießliches junges Frauenzimmer, ein alter Herr dito dito, und etwas in einem Mantel mit Kragen, das einen Offizier vorstellen soll. Alle haben große steife Schals über dem Kinn und sehen gerade aus, als wenn sie auf einer Papagenoflöte spielten.

»Nimm die Decken ‚runter, Bob«, ruft der Kutscher, der jetzt in einem groben blauen Reiserock erscheint, an dem die Rückenknöpfe so weit voneinander entfernt sind, daß man sie nicht beide zugleich sehen kann. »Gentlemen«, ruft der Kondukteur mit dem Passagierzettel in der Hand, »schon fünf Minuten über die Zeit!« Die Passagiere klimmen hinauf – die beiden jungen Herren wie Kalköfen rauchend, und der alte hörbar murrend. Das schmächtige junge Frauenzimmer ist endlich vermöge vielen und mannigfachen Ziehens, Nachschiebens, Hilfeleistens und Wirrwarrs hinauf geschafft und drückt dafür seine feste Überzeugung aus, nie wieder hinunterkommen zu können. »Alles gut!« ruft der Kondukteur endlich, springt hinauf, indem die Kutsche sich in Bewegung setzt, und stößt gleich darauf zum Beweise der Gesundheit seiner Lunge ins Horn. »Laß los, Harry«, ruft der Kutscher – und wir rasseln so munter davon, als wenn »alles« mit dem Morgen wie mit der Postkutsche »gut« wäre, und sehen dem Ziele unserer Reise so sehnsüchtig entgegen, als unsere Leser, wie wir fürchten, dem Ende unserer Skizze längst entgegengesehen haben.

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Die Omnibusse


Die Omnibusse

Allgemein wird anerkannt, daß die öffentlichen Fuhrwerke ein weites Feld für Unterhaltung und Beobachtung bieten. Von allen öffentlichen Fuhrwerken oder Transportmitteln überhaupt, die seit den Tagen der Arche Noah – doch wohl des frühesten, von dem man weiß – bis auf die Gegenwart erbaut worden sind, loben wir uns einen Omnibus. Eine Diligence ist nicht zu verachten, hat jedoch nur sechs Innenplätze und bietet keine Veränderung, keine Mannigfaltigkeit dar, denn in der Regel machen dieselben Leute die ganze Reise mit uns, werden außerdem nach den ersten zwölf bis fünfzehn Stunden einsilbig und schläfrig, und hat man jemand in seiner Nachtmütze gesehen, so verliert man allen Respekt vor ihm – was wenigstens bei uns der Fall ist. Weiter werden die Leute auf guten, ebenen Straßen oft langweilig und erzählen lange Geschichten, und selbst die Schweigsamen haben vielleicht unangenehme Gewohnheiten. Wir reisten einst vierhundert Meilen in einer Postkutsche mit einem starken Manne, der sich überall, wo die Pferde gewechselt wurden, ein heißes Glas Rum mit Wasser hereinreichen ließ, was ohne Frage höchst unangenehm war. Auch sind wir mehr als einmal in Gesellschaft eines kleinen, bläßlichen Knaben mit hellem Haar und ohne bemerkbaren Hals gereist, der unter dem Schutze des Schaffners aus der Schule nach London gebracht und in einem Posthause abgesetzt wurde, um von dort abgeholt zu werden. Dies ist vielleicht noch schlimmer als Rum und Wasser in einer eingeschlossenen Atmosphäre. Ferner kommt in Betracht die ganze Reihe von Übeln, die aus dem Kutscherwechsel hervorgehen, und die Fatalität der Entdeckung – die der Schaffner unfehlbar in dem Augenblicke macht, wo man einzuschlummern anfängt –, daß er ein Paket haben muß, das er sich deutlich erinnert in den Kasten des Sitzes gelegt zu haben, auf dem man sich der Ruhe überläßt. Ist diese dann auf eine unbestimmte und jedenfalls lange Zeit gründlich gestört, so entsinnt er sich, das Paket in den Kutscherkasten gelegt zu haben, wo es augenblicklich gefunden wird, nachdem er hat halten lassen und ausgestiegen ist. Die Diligence setzt sich wieder in Bewegung, und er bläst, wie zur Verhöhnung des verursachten Elends, sein Horn so laut er nur kann. In einem Omnibus hat man keins dieser Leiden zu fürchten. Die Passagiere wechseln während einer Fahrt wie die Figuren in einem Kaleidoskop und sind, wenn auch nicht so glitzernd, doch weit unterhaltender. Schwerlich ist es jemals vorgekommen, daß jemand in einem Omnibus eingeschlafen wäre. Wem würde es in den Sinn kommen, eine lange Geschichte in einem Omnibus zu erzählen? Und wenn es geschähe, was würde es schaden? Niemand würde ja auch nur das mindeste davon hören. Kinder findet man zwar bisweilen auch in Omnibussen, allein nicht oft, und wenn es der Fall und der Omnibus, wie in der Regel, voll ist, so sitzt jemand auf ihnen, und man merkt ihre Anwesenheit gar nicht. Ja, wir sind nach reiflicher Überlegung und bei ansehnlicher Erfahrung ganz entschieden der Meinung, daß von allen bekannten Fuhrwerken, von der Glaskutsche an, in der wir zur Taufe gefahren wurden, bis zu dem Leichenwagen, auf dem, wir einst unsere letzte, irdische Reise machen müssen, keins einem Omnibus gleichkommt.

Der unsrige, in dem wir uns täglich vom oberen Ende der Oxfordstraße her in die City rumpeln lassen, steht sicher keinem anderen in London nach, sowohl was die Eleganz seines Äußeren, als was die vollkommene Einfachheit seines Innern oder die angeborene Kaltblütigkeit seines Cad (Schaffners) betrifft. Dieser junge Gentleman ist ein wahres Muster von Hingebung; sein etwas maßloser Eifer für seine Geschäftsgeber bringt ihn fortwährend in Unannehmlichkeiten und bisweilen in das Korrektionshaus. Allein sobald er seine Freiheit wiedererlangt hat, widmet er sich den Obliegenheiten seines Berufs aufs neue und mit demselben Eifer. Er zeichnet sich hauptsächlich durch seine Tätigkeit aus. Sein vornehmstes Rühmen ist, »’nen alten Herrn in ’n Bus locken, einschließen und davonrasseln zu können, eh‘ der alte Kujon nur mal wüßte, wohin er führe« – eine Heldentat, die er häufig zur Belustigung jedermanns, mit Ausnahme des betreffenden Herrn, des »alten Kujons«, vollbringt, der, wie es auch zugehen mag, die Spaßhaftigkeit darin zu entdecken niemals imstande ist.

Unseres Wissens ist zu keiner Zeit die Frage entschieden worden, für wie viele Passagiere unser Omnibus Raum hat. Der Schaffner glaubt ohne Zweifel, daß er Raum für so viele Personen enthalte, als hineingelockt werden können. »Noch Platz da?« ruft ein Fußgänger, der vom Gehen sehr heiß geworden ist. »Die schwere Menge, Sir«, antwortet der Cad, öffnet langsam die Tür und enthüllt die wahre Lage der Dinge nicht eher, als bis der Unglückliche auf dem Tritt steht. »Wo denn?« fragt der in die Falle Gegangene und will sich wieder zurückziehen. »Auf beiden Seiten, Sir«, erwidert der Cad, schiebt ihn hinein, wirft den Schlag zu und ruft: »Alles gut, Bill!« Entrinnen ist außer Frage; der Neuangekommene taumelt umher, bis er irgendwo niederfällt und zu einer Art von Ruhe gelangt.

Da wir regelmäßig ein wenig vor zehn Uhr in die City fahren, so treffen wir stets mit vier oder fünf bestimmten Personen zusammen. Sie steigen immer an ein und derselben Straßenecke ein und sitzen gewöhnlich auf denselben Plätzen; sie sind stets auf dieselbe Weise gekleidet und sprechen ohne Ausnahme über dieselben Gegenstände – die zunehmende Schnelligkeit der Kabrioletts und die Nichtachtung moralischer Verbindlichkeiten, die von den Omnibusbesitzern und deren Leuten bewiesen wird. Gleich am Schlage rechter Hand sitzt Tag für Tag, die Hände auf die Spitze seines Regenschirms gestützt, ein kleiner, wunderlicher alter Mann mit gepudertem Kopf. Er ist äußerst ungeduldig und wählt seinen Platz in der Absicht, ein scharfes Auge auf den Cad zu haben, mit dem er sich vielfach zu unterhalten pflegt. Er ist sehr dienstfertig, Leuten herein- und hinauszuhelfen, und stößt, von freien Stücken den Cad mit seinem Regenschirm an, wenn jemand auszusteigen wünscht. Er empfiehlt den Damen regelmäßig, ihre sechs Pence bereitzuhalten, um Verzögerung zu vermeiden, und läßt jemand ein Fenster nieder, das er erreichen kann, so zieht er es augenblicklich wieder in die Höhe.

»Worauf wollen Sie denn warten?« fragt der kleine alte Mann jeden Morgen den Cad schon beim geringsten Anzeichen, daß an der Ecke der Regentstraße angehalten werden soll. »Worauf wollen Sie denn warten?«

Der Cad pfeift und stellt sich, als ob er die Frage nicht gehört hätte. Der kleine Alte stößt ihn mit seinem Schirm an und fährt fort: »Hören Sie nicht? Worauf wollen Sie warten?« »Auf Passagiere.«

»Das weiß ich, aber es kann Ihnen ja hier gar nichts helfen; also worauf warten Sie?«

»Ja, Sir, das ist ’ne etwas schwierige Frage. Ich glaube, wir warten, weil wir lieber warten als weiterfahren.«

»So so!« ruft der kleine Mann mit großer Heftigkeit aus. »Schon gut. Ich belange Sie morgen. Hab‘ oft damit gedroht, werd’s jetzt aber ausführen.«

»Danke schön, Sir«, erwiderte der Cad, mit einer spöttisch dankbaren Miene den Hut berührend. »Bin Ihnen verbunden, Sir.«

Die jungen Leute im Omnibus lachen laut auf, und der alte Herr wird sehr rot im Gesicht und scheint höchlich erzürnt zu sein. Der starke Herr mit dem weißen Halstuch im anderen Ende des Omnibus blickt sehr prophetisch und erklärt, es müsse gegen die Halunken bald etwas geschehen, oder man könne gar nicht sagen, wie das alles noch enden werde; und der schäbig elegante Herr mit dem grünen Beutel drückt seine vollkommene Beistimmung aus, wie er es regelmäßig jeden Morgen seit sechs Monaten getan hat.

Jetzt kommt ein zweiter Omnibus heran und hält unmittelbar hinter uns. Ein anderer alter Herr hebt seinen Spazierstock empor und läuft aus Leibeskräften auf unsern Omnibus zu; wir sehen ihm mit großer Teilnahme zu; der Schlag wird für ihn geöffnet und er ist plötzlich verschwunden – im Oppositions-Omnibus, der ihn weggekapert hat. Der Oppositions-Cad verhöhnt obendrein den unsrigen und rühmt sich, ihm »den alten Burschen vor der Nase wegstibitzt zu haben«, und man hört deutlich die Stimme des gegen seine gesetzwidrige Freiheitsberaubung vergeblich protestierenden »alten Burschen«. Wir fahren weiter, der andere Omnibus fährt hinter uns her, und sooft wir stillhalten, um einen Passagier mitzunehmen, hält er auch still, um gleichfalls danach zu fahnden; bisweilen bekommen wir ihn, bisweilen die Gegenpartei: wer ihn aber nicht bekommt, sagt, daß er ihn hätte haben müssen, und die Cads schimpfen daher heftig aufeinander. Wenn wir in Lincolns-Inn-Fields, Bedford-Row und anderen juristischen Bezirken anlangen, steigen sehr viele unserer ursprünglichen Mitpassagiere aus, wogegen wir andere mitnehmen, die einen äußerst kühlen Empfang haben; denn sonderbar genug sehen die in einem Omnibus schon einige Zeit gefahrenen Passagiere die neuen Ankömmlinge stets mit Mienen an, als ob bei ihnen der Gedanke im Hintergrund läge, daß diese im Fuhrwerk nichts zu tun hätten. Der kleine, alte Mann hegt ganz unfehlbar einen solchen Gedanken – ihr Hereinkommen erscheint ihm als eine Art von negativer Impertinenz. Die Unterhaltung stockt gänzlich; jeder schaut wie abwesend durch das Fenster vor ihm, und jeder glaubt, daß sein Nachbar gegenüber ihn anstarre. Steigt jemand in Shoe-Lane und noch jemand an der Ecke der Farringdonstraße aus, so brummt der kleine alte Mann in den Bart und bemerkt dem zuletzt Eingestiegenen, wenn er gleichfalls in Shoe-Lane ausgestiegen wäre, so würde er keinen doppelten Aufenthalt verursacht haben; worauf die jungen Leute abermals lachen und der alte Herr eine sehr feierliche Miene annimmt und nichts mehr sagt, bis er bei der Bank aussteigt und so schnell als möglich davontrabt, was wir gleichfalls tun, und zwar mit dem Wunsche, daß unsere Omnibusfahrt andern auch nur einen ganz geringen Teil des Vergnügens gewährt haben möchte, das sie uns selber gewährt hat.

Öffentliche Diners


Öffentliche Diners

Die öffentlichen Diners in London, von des Bürgermeisters alljährlichem Bankett zu Guildhall bis zur Schornsteinfegerjahresfeier zu White Conduit House – von den Gastmählern der Sheriffs oder Goldarbeiter bis zu denen der patentierten Viktualienhändler oder Fleischer – bieten ohne Ausnahme unterhaltende Szenen. Am unterhaltendsten von allen Ergötzlichkeiten dieser Art ist wahrscheinlich das alljährliche Diner einer Wohltätigkeitsgesellschaft. Bei einem solchen sind die Teilnehmenden einander ziemlich gleich – Leute, die jederzeit Stich halten und den Schmaus zu einer ernsthaften Geschäftssache machen, wobei nichts zu lachen ist. Bei einem politischen Gelage ist jedermann unangenehm und geneigt, lange Reden zu halten, was beiläufig gesagt ziemlich ein und dasselbe ist; wogegen man bei einem Wohltätigkeitsdiner Leute aller Art trifft. Mag sein, daß der Wein nicht von bester Qualität ist, daß einige hartherzige Ungeheuer beim Sammeln murren – die Unterhaltung, die man hier findet, das Vergnügen und die Heiterkeit überwiegen dennoch.

Laßt uns annehmen, wir wären geneigt, an einem Diner dieser Art teilzunehmen – etwa dem des Vereins der »Freunde armer Waisen«. Der ganze Titel der Gesellschaft ist ein paar Zeilen länger, uns jedoch entfallen. Wir entsinnen uns aber deutlich, daß wir auf Bitten eines Waisenfreundes ein Billett genommen haben, und werfen uns in einen Mietswagen. Der Kutscher – ohne Zweifel aus Fürsorge, daß wir uns mit gebührender Würde einführen – verschließt die Ohren gegen unser dringendstes Flehen, uns an der Ecke der Großen Königinstraße abzusetzen, und läßt es sich nicht nehmen, uns bis unmittelbar vor die Tür der Freimaurertaverne zu fahren, um die sich ein Volkshaufe gesammelt hat, die »Armen-Waisen-Freunde« ankommen zu sehen. Während wir den Kutscher bezahlen, hören wir die große Frage erörtern, ob wir vielleicht der edle Lord sein könnten, von dem angekündigt worden, daß er den Vorsitz übernehmen werde, und hören zu unserer Freude den Ausspruch erfolgen, daß wir ein bloßer »Sänger« wären. Das erste, was uns, sobald wir eintreten, auffällt, ist die erstaunliche Wichtigkeit des Komitees. Wir bemerken im ersten Stockwerk eine sorgfältig von zwei Aufwärtern bewachte Tür und gewahren, daß dicke Herren mit sehr roten Gesichtern hinein- und herauslaufen, und zwar mit einer Eilfertigkeit, die der Würde und Gravität von so bejahrten und korpulenten Männern ganz und gar nicht angemessen ist. Wir stehen erschrocken still und meinen in unserer Unschuld, daß sich irgendein Unglück, im Gedränge etwa, ereignet haben müsse. Doch einer der Türsteher enttäuscht uns sogleich –: »Belieben Sie oben hinaufzugehen, Sir; dies Zimmer ist das Komiteezimmer.« Wir begeben uns natürlich hinauf und sinnen im Steigen darüber nach, worin die Geschäfte des Komitees wohl bestehen mögen und ob die Herren sonst noch etwas tun, als daß sie verwirrt durcheinander reden und laufen und die Türsteher umwerfen.

Wir legen Hut und Mantel ab, empfangen dafür eine sehr kleine Pappmarke, die wir natürlich verlieren, ehe wir ihrer wieder bedürfen, und treten ein in den Saal, in dem wir vier lange Tafeln für die minder ausgezeichneten Gäste, und quer vor ihnen auf einer Plattform am oberen Ende eine fünfte erblicken, die für die besondern Freunde der armen Waisen bestimmt ist. Wir sind so glücklich, an der Tafel ein Kuvert zu finden, das noch mit niemands Karte belegt ist, setzen uns klugerweise sogleich und haben ein wenig Muße, umherzuschauen. Aufwärter mit Weinkörben in den Händen stellen in sehr ehrerbietigen Entfernungen Weinflaschen auf den Tisch. In weiten Zwischenräumen gewahren wir melancholisch aussehende Salzfässer und altersschwache Essigfläschchen, die einst sehr wohl den Eltern der armen Waisen angehört haben können. Die Messer und Gabeln sehen aus, als wenn sie bei allen öffentlichen Diners in London seit Georgs des Ersten Regierungsantritt Dienste geleistet hätten. Die Spielleute stimmen ihre Instrumente, probieren, präludieren und kratzen jammervoll, und mancher Herr läuft wie besessen an den Tischen auf und nieder, und sein Gesicht wird länger und immer länger, je länger es währt, ehe er seine Karte oder ein unbelegtes Kuvert findet.

Wir drehen uns um nach dem Tische hinter uns, und sind – da wir noch wenigen öffentlichen Diners beigewohnt haben – von dem sich uns darbietenden Anblicke einigermaßen betroffen. Wir erblicken nämlich mehrere Herren, unter denen ein kleiner Mann mit einem langen, ziemlich geröteten Gesicht und grauen, über der Stirn kerzengerade emporstehenden Haaren in besonderem Ansehen zu stehen scheint. Er trägt einen Streifen schwarzen Seidenzeugs ohne steifende Binde statt eines Halstuchs, und die Umstehenden reden ihn vertraulich »Fitz« an. Neben ihm steht ein dicker Mann mit einem weißen Halstuch und ledergelber Weste, glänzendem schwarzem, sehr kurz abgeschnittenem Haar und einem großen, runden, Gesundheit strahlenden Antlitz; um seinen Mund spielt fortwährend ein geziertes und halb sentimentales Lächeln. Zu ihren Freunden oder Bekannten gehören offenbar noch drei bis vier andere Herren, von denen der eine ein Männchen mit einem runden Gesicht, modischer Halsschleife und blauer Unterweste, ein zweiter ein Mann mit einem großen Kopf, schwarzem Haar und starkem Knebelbart ist. Ihr Aussehen und Benehmen deutet ohne Zweifel auf etwas Absonderliches hin, obgleich wir kaum imstande sein möchten anzugeben, worin es bestände; allein wir können uns von dem Gedanken nicht losmachen, daß sie zu einem andern Zwecke, als nur zum Essen und Trinken erschienen sein müssen. Wir haben jedoch nicht Zeit, der Sache genauer nachzuforschen, denn die Aufwärter ziehen sich von den Tischen nach dem unteren Ende des Saals zurück. Der schwärzliche Mann im blauen Rock mit glänzenden Knöpfen, der die Musik dirigiert, gibt seinen Leuten das Zeichen zum Anfangen, die Gäste erheben sich, und herein schreiten vierzehn Festordner, von denen ein, jeder, gleich dem bösen Geist in einer Pantomime, einen langen Stab in der Hand trägt; dann folgen der Vorsitzer und die vornehmen Gäste. Sie eilen so schnell sie können im Saal hinauf und verbeugen sich und schmunzeln und bemühen sich, unendlich liebenswürdig und leutselig auszusehen. Das Beifallrufen ist vorüber, das Tischgebet gesprochen, das Geklapper mit den Tellern und Löffeln beginnt, und alle scheinen äußerst erfreut zu sein:, über die Anwesenheit so ausgezeichneter Gäste oder den Anfang des lange ersehnten Mahls.

Bei dem Diner selbst geht es zu wie bei jedem anderen Diner. Suppenschalen werden mit erschrecklicher Schnelligkeit geleert – Aufwärter nehmen Teller mit Steinbutt weg, um Soße dazu zu holen, und bringen Teller mit Soße ohne Fisch zurück; Leute, die sich auf das Vorschneiden verstehen, sind große Toren, wenn sie es laut werden lassen; und Leute, die sich nicht darauf verstehen, zeigen kein Verlangen, es zu lernen. Die Messer und Gabeln bilden eine angenehme Begleitung zu Aubers Musik, und Aubers Musik würde eine angenehme Begleitung zum Diner abgeben, wenn man außer den Becken nur etwas davon hören könnte. Die inhaltsreichen Schüsseln verschwinden – die Schalen mit Eingemachtem werden geleert wie der Blitz – tüchtige Esser wischen sich die Stirnen – Leute, die bis jetzt äußerst verdrießlich ausgesehen haben, werden über die Maßen zutraulich und fordern uns so freundschaftlich als möglich zum Weintrinken mit ihnen auf – alte Herren machen uns auf die Damengalerie aufmerksam und geben sich große Mühe, uns einzuprägen, daß der Wohltätigkeitsverein durch die Damen stets ganz besonders begünstigt wird, jedermann scheint gesprächig werden zu wollen – laut und allgemein ertönt das Gesumm der Unterhaltung.

Sobald das Geräusch aufhört, erhebt sich der Toastmaster.

»Meine Herren, belieben Sie Ihre Gläser zu füllen.«

Sobald es geschehen ist, fährt er in regelmäßig aufsteigender Skala fort:

»Meine Herren – haben – Sie – sämtlich – die Gläser – gefüllt? Ich bitte – um – Gehör – meine Herren – für – den – Vor – sit – zer!«

Jetzt erhebt sich der Präsident, sagt, daß er es für vollkommen unnötig halte, die Gesundheit, die er vorzuschlagen gedenke, irgendwie zu bevorworten, ergeht sich darauf in einem Irrgarten von unverständlichen Redensarten und taumelt eine Viertelstunde lang zwischen Verstand und Unsinn zum Bewundern hin und her, bis er endlich bei den Worten: »gesetzlicher Souverän dieses Reichs«, durch lautes Bravorufen mehrerer alter Herren unterbrochen wird, die noch mehrere Minuten mit ihren Messergriffen furchtbar auf den Tisch loshämmern. Es würde ihm, fährt er fort, unter allen Umständen das größte Vergnügen gewähren, die stolzeste Freude einflößen, jene Gesundheit vorzuschlagen; aber man möge erwägen, was seine Gefühle sein müßten, da er anzukündigen imstande sei, daß Seine Majestät die Gnade gehabt, abermals Dero Beitrag zu den Zwecken des Vereins im Betrage von 25 Pfund anweisen zu lassen. Diese Ankündigung – von jedem Vorsitzer seit Gründung des Vereins vor zweiundvierzig Jahren alljährlich wiederholt – wird mit stürmischem Beifall begrüßt, die Gesundheit unter Geschrei und Gehämmer getrunken, das Nationallied von den Sängern und der Refrain von der ganzen Gesellschaft im Chor gesungen, und die Wirkung, wie die Zeitungen sich ausdrücken, ist »wahrhaftig elektrisierend!«

Nachdem die anderen »loyalen und patriotischen« Gesundheiten mit allem gebührenden Enthusiasmus getrunken sind, der Herr mit dem losen Halstuche ein komisches, und einer seiner Freunde ein rührendsentimentales Lied gesungen hat, kommt der Haupttoast des Abends an die Reihe: »Heil und Gedeihen dem Vereine der Armen-Waisen-Freunde!« Wir müssen uns hier abermals der Zeitungsphraseologie bedienen und unser Bedauern ausdrücken, »außerstande zu sein, auch nur das Wesentliche der Standrede des edlen Lords wiederzugeben«. Es muß genügen zu sagen, daß sie zu den längsten gehört und die ganze Versammlung hinreißt. Sobald der Toast getrunken worden ist, verlassen die Festordner mit noch weit wichtigeren Mienen, als sie bisher schon zur Schau getragen hatten, den Saal, und kehren gleich darauf an der Spitze eines Aufzugs von armen Waisen, Knaben und Mädchen, zurück, die rund im Saale herumgehen, sich verbeugen und knicksen, einander auf die Fersen treten und ganz so aussehen, als ob sie, zur großen Befriedigung der Gesellschaft überhaupt und der Ladies Patronesses auf der Galerie insbesondere, gar gern ein Glas Wein bekommen und trinken möchten. Die Kinder werden hinausgeführt, und die Festordner treten wieder herein, jeder mit einem blauen Teller in der Hand. Die Musikkapelle spielt ein munteres Stück, die Mehrzahl der Versammelten steckt die Hände in die Taschen und sieht einigermaßen ernsthaft aus, und überall hört man Goldstücke auf irdenem Geschirr klirren.

Nach einer kleinen Weile – man singt, trinkt und zahlt inzwischen – setzt der Sekretär seine Brille auf und beginnt den Jahresbericht vor- und die Subskriptionsliste abzulesen, auf die mit großer Aufmerksamkeit gehört wird.

»Mr. Smith, eine Guinea – Mr. Tomkins, eine Guinea – Mr. Wilson, eine Guinea – Mr. Hickson, eine Guinea – Mr. Nixon, eine Guinea – Mr. Charles Nixon, eine Guinea (hört, hört!) – Mr. James Nixon, eine Guinea – Mr. Thomas Nixon, ein Pfund und einen Schilling (unermeßlicher Beifall). – Lord Fitz Winkle, der Vorsitzer, außer jährlichen fünfzehn Pfunden – dreißig Guineas (endloses Hämmern; mehrere Herren hämmern in ihrer Begeisterung die Füße von ihren Weingläsern). – Lady Fitz Winkle, außer jährlichen zehn Pfunden – zwanzig Pfund« (ewiglanges Hämmern und Bravorufen).

Der Sekretär schweigt endlich, der Vorsitzer erhebt sich und schlägt die Gesundheit des Sekretärs vor – er kennt keinen eifrigern und würdigeren Mann als ihn. Der Sekretär dankt, bemerkt, daß ihm kein trefflicherer Mann bekannt sei als der Präsident – dem er nur den ersten Beamten der Waisenanstalt an die Seite setzen könne und dessen Gesundheit er vorschlage. Der erste Beamte dankt und bemerkt, daß er keinen schätzbareren Mann kenne als den Sekretär – mit Ausnahme Mr. Walkers, des Rechnungsführers, dessen Gesundheit vorzuschlagen er seinerseits sich erlaube. Mr. Walker dankt und macht ein anderes achtbares Individuum ausfindig, dem nur der erste Beamte nachsteht – und so nimmt das Toastausbringen, Loben und Danken seinen Fortgang, indem nur noch die Gesundheit der »anwesenden Gönnerinnen« ausgezeichnet zu werden verdient. Die Herren blicken entsetzlich lärmend nach der Galerie hinauf, und kleine geschniegelte Herren, die mehr Wein als gewöhnlich getrunken haben, werfen den Damen Handküsse zu und verdrehen die Gesichter auf das trübseligste, in der Meinung, zu charmieren; worauf die Gesellschaft sich endlich trennt und heimbegibt.

Doch genug und nur noch die Bemerkung, daß die Leser nicht glauben dürfen, wir wollen mißgünstig spotten, weil wir aus dem Spaßhaften der öffentlichen Diners Belustigung schöpfen. Nichts weniger. Wir sind weit entfernt, den Wert der wohltätigen Vereine und Anstalten, worin London so reich ist, zu verkennen, oder die edeln Gesinnungen und achtbaren Beweggründe der Mehrzahl ihrer Teilnehmer und Unterstützer in Abrede zu stellen.