Öffentliche Diners

Die öffentlichen Diners in London, von des Bürgermeisters alljährlichem Bankett zu Guildhall bis zur Schornsteinfegerjahresfeier zu White Conduit House – von den Gastmählern der Sheriffs oder Goldarbeiter bis zu denen der patentierten Viktualienhändler oder Fleischer – bieten ohne Ausnahme unterhaltende Szenen. Am unterhaltendsten von allen Ergötzlichkeiten dieser Art ist wahrscheinlich das alljährliche Diner einer Wohltätigkeitsgesellschaft. Bei einem solchen sind die Teilnehmenden einander ziemlich gleich – Leute, die jederzeit Stich halten und den Schmaus zu einer ernsthaften Geschäftssache machen, wobei nichts zu lachen ist. Bei einem politischen Gelage ist jedermann unangenehm und geneigt, lange Reden zu halten, was beiläufig gesagt ziemlich ein und dasselbe ist; wogegen man bei einem Wohltätigkeitsdiner Leute aller Art trifft. Mag sein, daß der Wein nicht von bester Qualität ist, daß einige hartherzige Ungeheuer beim Sammeln murren – die Unterhaltung, die man hier findet, das Vergnügen und die Heiterkeit überwiegen dennoch.

Laßt uns annehmen, wir wären geneigt, an einem Diner dieser Art teilzunehmen – etwa dem des Vereins der »Freunde armer Waisen«. Der ganze Titel der Gesellschaft ist ein paar Zeilen länger, uns jedoch entfallen. Wir entsinnen uns aber deutlich, daß wir auf Bitten eines Waisenfreundes ein Billett genommen haben, und werfen uns in einen Mietswagen. Der Kutscher – ohne Zweifel aus Fürsorge, daß wir uns mit gebührender Würde einführen – verschließt die Ohren gegen unser dringendstes Flehen, uns an der Ecke der Großen Königinstraße abzusetzen, und läßt es sich nicht nehmen, uns bis unmittelbar vor die Tür der Freimaurertaverne zu fahren, um die sich ein Volkshaufe gesammelt hat, die »Armen-Waisen-Freunde« ankommen zu sehen. Während wir den Kutscher bezahlen, hören wir die große Frage erörtern, ob wir vielleicht der edle Lord sein könnten, von dem angekündigt worden, daß er den Vorsitz übernehmen werde, und hören zu unserer Freude den Ausspruch erfolgen, daß wir ein bloßer »Sänger« wären. Das erste, was uns, sobald wir eintreten, auffällt, ist die erstaunliche Wichtigkeit des Komitees. Wir bemerken im ersten Stockwerk eine sorgfältig von zwei Aufwärtern bewachte Tür und gewahren, daß dicke Herren mit sehr roten Gesichtern hinein- und herauslaufen, und zwar mit einer Eilfertigkeit, die der Würde und Gravität von so bejahrten und korpulenten Männern ganz und gar nicht angemessen ist. Wir stehen erschrocken still und meinen in unserer Unschuld, daß sich irgendein Unglück, im Gedränge etwa, ereignet haben müsse. Doch einer der Türsteher enttäuscht uns sogleich –: »Belieben Sie oben hinaufzugehen, Sir; dies Zimmer ist das Komiteezimmer.« Wir begeben uns natürlich hinauf und sinnen im Steigen darüber nach, worin die Geschäfte des Komitees wohl bestehen mögen und ob die Herren sonst noch etwas tun, als daß sie verwirrt durcheinander reden und laufen und die Türsteher umwerfen.

Wir legen Hut und Mantel ab, empfangen dafür eine sehr kleine Pappmarke, die wir natürlich verlieren, ehe wir ihrer wieder bedürfen, und treten ein in den Saal, in dem wir vier lange Tafeln für die minder ausgezeichneten Gäste, und quer vor ihnen auf einer Plattform am oberen Ende eine fünfte erblicken, die für die besondern Freunde der armen Waisen bestimmt ist. Wir sind so glücklich, an der Tafel ein Kuvert zu finden, das noch mit niemands Karte belegt ist, setzen uns klugerweise sogleich und haben ein wenig Muße, umherzuschauen. Aufwärter mit Weinkörben in den Händen stellen in sehr ehrerbietigen Entfernungen Weinflaschen auf den Tisch. In weiten Zwischenräumen gewahren wir melancholisch aussehende Salzfässer und altersschwache Essigfläschchen, die einst sehr wohl den Eltern der armen Waisen angehört haben können. Die Messer und Gabeln sehen aus, als wenn sie bei allen öffentlichen Diners in London seit Georgs des Ersten Regierungsantritt Dienste geleistet hätten. Die Spielleute stimmen ihre Instrumente, probieren, präludieren und kratzen jammervoll, und mancher Herr läuft wie besessen an den Tischen auf und nieder, und sein Gesicht wird länger und immer länger, je länger es währt, ehe er seine Karte oder ein unbelegtes Kuvert findet.

Wir drehen uns um nach dem Tische hinter uns, und sind – da wir noch wenigen öffentlichen Diners beigewohnt haben – von dem sich uns darbietenden Anblicke einigermaßen betroffen. Wir erblicken nämlich mehrere Herren, unter denen ein kleiner Mann mit einem langen, ziemlich geröteten Gesicht und grauen, über der Stirn kerzengerade emporstehenden Haaren in besonderem Ansehen zu stehen scheint. Er trägt einen Streifen schwarzen Seidenzeugs ohne steifende Binde statt eines Halstuchs, und die Umstehenden reden ihn vertraulich »Fitz« an. Neben ihm steht ein dicker Mann mit einem weißen Halstuch und ledergelber Weste, glänzendem schwarzem, sehr kurz abgeschnittenem Haar und einem großen, runden, Gesundheit strahlenden Antlitz; um seinen Mund spielt fortwährend ein geziertes und halb sentimentales Lächeln. Zu ihren Freunden oder Bekannten gehören offenbar noch drei bis vier andere Herren, von denen der eine ein Männchen mit einem runden Gesicht, modischer Halsschleife und blauer Unterweste, ein zweiter ein Mann mit einem großen Kopf, schwarzem Haar und starkem Knebelbart ist. Ihr Aussehen und Benehmen deutet ohne Zweifel auf etwas Absonderliches hin, obgleich wir kaum imstande sein möchten anzugeben, worin es bestände; allein wir können uns von dem Gedanken nicht losmachen, daß sie zu einem andern Zwecke, als nur zum Essen und Trinken erschienen sein müssen. Wir haben jedoch nicht Zeit, der Sache genauer nachzuforschen, denn die Aufwärter ziehen sich von den Tischen nach dem unteren Ende des Saals zurück. Der schwärzliche Mann im blauen Rock mit glänzenden Knöpfen, der die Musik dirigiert, gibt seinen Leuten das Zeichen zum Anfangen, die Gäste erheben sich, und herein schreiten vierzehn Festordner, von denen ein, jeder, gleich dem bösen Geist in einer Pantomime, einen langen Stab in der Hand trägt; dann folgen der Vorsitzer und die vornehmen Gäste. Sie eilen so schnell sie können im Saal hinauf und verbeugen sich und schmunzeln und bemühen sich, unendlich liebenswürdig und leutselig auszusehen. Das Beifallrufen ist vorüber, das Tischgebet gesprochen, das Geklapper mit den Tellern und Löffeln beginnt, und alle scheinen äußerst erfreut zu sein:, über die Anwesenheit so ausgezeichneter Gäste oder den Anfang des lange ersehnten Mahls.

Bei dem Diner selbst geht es zu wie bei jedem anderen Diner. Suppenschalen werden mit erschrecklicher Schnelligkeit geleert – Aufwärter nehmen Teller mit Steinbutt weg, um Soße dazu zu holen, und bringen Teller mit Soße ohne Fisch zurück; Leute, die sich auf das Vorschneiden verstehen, sind große Toren, wenn sie es laut werden lassen; und Leute, die sich nicht darauf verstehen, zeigen kein Verlangen, es zu lernen. Die Messer und Gabeln bilden eine angenehme Begleitung zu Aubers Musik, und Aubers Musik würde eine angenehme Begleitung zum Diner abgeben, wenn man außer den Becken nur etwas davon hören könnte. Die inhaltsreichen Schüsseln verschwinden – die Schalen mit Eingemachtem werden geleert wie der Blitz – tüchtige Esser wischen sich die Stirnen – Leute, die bis jetzt äußerst verdrießlich ausgesehen haben, werden über die Maßen zutraulich und fordern uns so freundschaftlich als möglich zum Weintrinken mit ihnen auf – alte Herren machen uns auf die Damengalerie aufmerksam und geben sich große Mühe, uns einzuprägen, daß der Wohltätigkeitsverein durch die Damen stets ganz besonders begünstigt wird, jedermann scheint gesprächig werden zu wollen – laut und allgemein ertönt das Gesumm der Unterhaltung.

Sobald das Geräusch aufhört, erhebt sich der Toastmaster.

»Meine Herren, belieben Sie Ihre Gläser zu füllen.«

Sobald es geschehen ist, fährt er in regelmäßig aufsteigender Skala fort:

»Meine Herren – haben – Sie – sämtlich – die Gläser – gefüllt? Ich bitte – um – Gehör – meine Herren – für – den – Vor – sit – zer!«

Jetzt erhebt sich der Präsident, sagt, daß er es für vollkommen unnötig halte, die Gesundheit, die er vorzuschlagen gedenke, irgendwie zu bevorworten, ergeht sich darauf in einem Irrgarten von unverständlichen Redensarten und taumelt eine Viertelstunde lang zwischen Verstand und Unsinn zum Bewundern hin und her, bis er endlich bei den Worten: »gesetzlicher Souverän dieses Reichs«, durch lautes Bravorufen mehrerer alter Herren unterbrochen wird, die noch mehrere Minuten mit ihren Messergriffen furchtbar auf den Tisch loshämmern. Es würde ihm, fährt er fort, unter allen Umständen das größte Vergnügen gewähren, die stolzeste Freude einflößen, jene Gesundheit vorzuschlagen; aber man möge erwägen, was seine Gefühle sein müßten, da er anzukündigen imstande sei, daß Seine Majestät die Gnade gehabt, abermals Dero Beitrag zu den Zwecken des Vereins im Betrage von 25 Pfund anweisen zu lassen. Diese Ankündigung – von jedem Vorsitzer seit Gründung des Vereins vor zweiundvierzig Jahren alljährlich wiederholt – wird mit stürmischem Beifall begrüßt, die Gesundheit unter Geschrei und Gehämmer getrunken, das Nationallied von den Sängern und der Refrain von der ganzen Gesellschaft im Chor gesungen, und die Wirkung, wie die Zeitungen sich ausdrücken, ist »wahrhaftig elektrisierend!«

Nachdem die anderen »loyalen und patriotischen« Gesundheiten mit allem gebührenden Enthusiasmus getrunken sind, der Herr mit dem losen Halstuche ein komisches, und einer seiner Freunde ein rührendsentimentales Lied gesungen hat, kommt der Haupttoast des Abends an die Reihe: »Heil und Gedeihen dem Vereine der Armen-Waisen-Freunde!« Wir müssen uns hier abermals der Zeitungsphraseologie bedienen und unser Bedauern ausdrücken, »außerstande zu sein, auch nur das Wesentliche der Standrede des edlen Lords wiederzugeben«. Es muß genügen zu sagen, daß sie zu den längsten gehört und die ganze Versammlung hinreißt. Sobald der Toast getrunken worden ist, verlassen die Festordner mit noch weit wichtigeren Mienen, als sie bisher schon zur Schau getragen hatten, den Saal, und kehren gleich darauf an der Spitze eines Aufzugs von armen Waisen, Knaben und Mädchen, zurück, die rund im Saale herumgehen, sich verbeugen und knicksen, einander auf die Fersen treten und ganz so aussehen, als ob sie, zur großen Befriedigung der Gesellschaft überhaupt und der Ladies Patronesses auf der Galerie insbesondere, gar gern ein Glas Wein bekommen und trinken möchten. Die Kinder werden hinausgeführt, und die Festordner treten wieder herein, jeder mit einem blauen Teller in der Hand. Die Musikkapelle spielt ein munteres Stück, die Mehrzahl der Versammelten steckt die Hände in die Taschen und sieht einigermaßen ernsthaft aus, und überall hört man Goldstücke auf irdenem Geschirr klirren.

Nach einer kleinen Weile – man singt, trinkt und zahlt inzwischen – setzt der Sekretär seine Brille auf und beginnt den Jahresbericht vor- und die Subskriptionsliste abzulesen, auf die mit großer Aufmerksamkeit gehört wird.

»Mr. Smith, eine Guinea – Mr. Tomkins, eine Guinea – Mr. Wilson, eine Guinea – Mr. Hickson, eine Guinea – Mr. Nixon, eine Guinea – Mr. Charles Nixon, eine Guinea (hört, hört!) – Mr. James Nixon, eine Guinea – Mr. Thomas Nixon, ein Pfund und einen Schilling (unermeßlicher Beifall). – Lord Fitz Winkle, der Vorsitzer, außer jährlichen fünfzehn Pfunden – dreißig Guineas (endloses Hämmern; mehrere Herren hämmern in ihrer Begeisterung die Füße von ihren Weingläsern). – Lady Fitz Winkle, außer jährlichen zehn Pfunden – zwanzig Pfund« (ewiglanges Hämmern und Bravorufen).

Der Sekretär schweigt endlich, der Vorsitzer erhebt sich und schlägt die Gesundheit des Sekretärs vor – er kennt keinen eifrigern und würdigeren Mann als ihn. Der Sekretär dankt, bemerkt, daß ihm kein trefflicherer Mann bekannt sei als der Präsident – dem er nur den ersten Beamten der Waisenanstalt an die Seite setzen könne und dessen Gesundheit er vorschlage. Der erste Beamte dankt und bemerkt, daß er keinen schätzbareren Mann kenne als den Sekretär – mit Ausnahme Mr. Walkers, des Rechnungsführers, dessen Gesundheit vorzuschlagen er seinerseits sich erlaube. Mr. Walker dankt und macht ein anderes achtbares Individuum ausfindig, dem nur der erste Beamte nachsteht – und so nimmt das Toastausbringen, Loben und Danken seinen Fortgang, indem nur noch die Gesundheit der »anwesenden Gönnerinnen« ausgezeichnet zu werden verdient. Die Herren blicken entsetzlich lärmend nach der Galerie hinauf, und kleine geschniegelte Herren, die mehr Wein als gewöhnlich getrunken haben, werfen den Damen Handküsse zu und verdrehen die Gesichter auf das trübseligste, in der Meinung, zu charmieren; worauf die Gesellschaft sich endlich trennt und heimbegibt.

Doch genug und nur noch die Bemerkung, daß die Leser nicht glauben dürfen, wir wollen mißgünstig spotten, weil wir aus dem Spaßhaften der öffentlichen Diners Belustigung schöpfen. Nichts weniger. Wir sind weit entfernt, den Wert der wohltätigen Vereine und Anstalten, worin London so reich ist, zu verkennen, oder die edeln Gesinnungen und achtbaren Beweggründe der Mehrzahl ihrer Teilnehmer und Unterstützer in Abrede zu stellen.