Kapitel 13

Kapitel 13

 

Am Nachmittage fand in der Wohnung des Fräuleins Charlotte Feßler eine feierliche Handlung statt. Das Fräulein übergab Herrn C.B. Fischer, Agenten des Hauses F.O. Wagner-Schmid in New York, in Gegenwart der Herren G. Feßler, Uhrenmachermeister, und W. Schweitzer, Advokat, eine Sammlung, bestehend aus dreihundert altertümlichen Taschenuhren. Durchschnittspreis per Stück fünfhundert Gulden. Summe des Kaufpreises: Einmalhundertundfünfzigtausend Gulden.

Herr C.B. Fischer, ungewöhnlich lang, ungewöhnlich breit, ungewöhnlich wohlgenährt, mit dem rundesten Bulldoggesicht und dem feuerfarbigsten Backenbart in ganz Amerika gesegnet, und dieser Vorzüge sich sehr bewußt, hielt den Katalog in seiner Rechten. Eine gewaltige Rechte, die mit Leichtigkeit einen Suppenteller umspannt hätte. Er verifizierte jedes Stück, das Lotti aus dem Schränkchen nahm, sorgsam verpackte und in eine Kassette legte, die Herr Fischer mitgebracht.

»Fünfhundert?… auch die?… auch die fünfhundert?… Mir wäre das Ding nicht dreißig wert«, sagte der Agent von Zeit zu Zeit; unter andern gerade bei der Mudge und bei der Majoratsuhr. Oder er rief: »Dieser Kauf! – Eine Millionärsmarotte. Finden Sie nicht, Herr Doktor? – Was?«

Schweitzer verzog keine Miene. Gottfried war ruhig wie einer, der standhaft den ersten Grad der Folter aushält, und sprach alle zehn Minuten einmal: »Vorwärts, wenn ich bitten darf.«

Lotti würdigte Herrn Fischer kaum eines Wortes, kaum eines Blickes. Der Mann erweckte ihr soviel Sympathie, wie eine Sabinermutter für einen töchterraubenden Römer empfunden haben mochte.

Nach fünf tödlich langen Stunden empfahlen sich die drei Herren. Der Agent trug die Kassette mit solcher Leichtigkeit unter dem Arm, als ob es ein Claquehut gewesen wäre, und bald hörte Lotti den Wagen, der ihre Uhren entführte, über den Platz rollen. Sie sah ihm nicht nach. Sie saß neben ihrem leeren Schränkchen, hatte seine Laden geschlossen und die kleinen Flügeltüren gesperrt.

Jetzt könnt ich mir einbilden, dachte sie, daß alles noch beim alten ist. Was braucht man denn, um Liebes, das man einst besaß, immer zu behalten? – ein gutes Gedächtnis und einige Phantasie. Das wollte sie Gottfried zum Trost sagen, dem Getreuen, für den es von jeher keinen Schmerz, keine Enttäuschung, keinen Verlust zu geben schien als diejenigen, die sie erfahren hatte. Zum ersten Male, seitdem sie ihn kannte, das heißt solange sie lebte, hatte sie heut eine eigensüchtige Regung bei ihm wahrgenommen. Allein wie rasch war auch diese erloschen, wie war er bestürzt gewesen über den unwillkürlichen Ausdruck eines Gefühls, das ihm bisher fremd gewesen wie die Sünde. Sie kannte ihn und wußte – jetzt quält er sich und kann sich’s nicht verzeihen, daß er ihr eine schwere Stunde noch schwerer gemacht und in dem Augenblick, in dem sie ihr Teuerstes hingab, unedel ausgerufen: »Und ich?…«

Und er!… war’s nicht ganz recht, daß er sie einmal gemahnt, er zähle mit in der Reihe der Wesen, die einen Anspruch an sie stellen durften? – Bisher hatte er keinen geltend gemacht. Er war gut und treu; daß er sich so zeigte, verstand sich von selbst, und wer denkt erst lang über selbstverständliche Dinge nach? – Manchmal wohl hatte es in der Seele Lottis aufgedämmert: Da ist einer, dem verdankst du mehr, als du vergiltst. Da ist einer, dem hast du öfter weh als wohl getan. Aber die Fragen: Warum? Womit? scheute sie sich zu beantworten.

Es geht gar seltsam zu in der Wunderwelt der Seele. Empfindungen schlummern in ihr, die nie erwachen, wenn man sie nicht nennt, einmal genannt jedoch, nie wieder schlafen können. Lotti fürchtete sie und ihre unbekannte und unberechenbare Macht. – Wozu auch grübeln? – über ein Verhältnis zwischen Bruder und Schwester, zwei braven Leuten, die in Frieden miteinander alt geworden sind und also sterben wollen. Zugleich – geb’s der Himmel! Denn ein Leben, in dem Gottfried fehlen würde und seine nie ermüdende treue Sorgfalt, das wäre keine Freude mehr.

Allmählich war die Dunkelheit hereingebrochen. Lotti lehnte sich zurück und schloß die Augen. In leisen Halbschlaf versunken, hörte sie Agnes nach Hause kommen und draußen Zurüstungen zur Abendmahlzeit treffen. Die Alte kehrte von einem Besuch bei ihrer Schwester zurück, zu dem Lotti sie veranlaßt hatte. Mitten in der Woche und ohne jeden vernünftigen Grund war sie aufgefordert worden, die Vergnügungsreise in die Vorstadt zu unternehmen. Gewöhnlich kam sie von derselben in bester Laune heim; heute war sie gestimmt wie ein hungriger Wolf.

Schweigend zündete sie die Lampe an und beantwortete die Frage Lottis nach dem Befinden der Schwester mit einem undeutlichen Gemurmel. Die ganze Agnes war eitel Zurückhaltung, jede ihrer Mienen und Bewegungen sprach: Hast du deine Geheimnisse, hab ich die meinen.

Ihre mit großer Ausdauer zur Schau getragene Gekränktheit begann ihre Wirkung auf die Herrin auszuüben. Diese war hellmunter geworden. Es konnte auch nicht anders sein, denn schweigend verhielt sich Agnes, aber nicht still. Sie vollführte vielmehr mit einigen Tellern und einem Bestecke ein Gerassel, das in Anbetracht der geringen Mittel, mit denen es verursacht wurde, ganz merkwürdig zu nennen war.

»Liebe Agnes«, begann Lotti sehr sanft und noch keineswegs im reinen über die Fortsetzung, welche diese Anrede erhalten sollte. Da erschallte die Hausglocke, und Agnes stürzte, abermals Unverständliches murmelnd, aus dem Zimmer.

»Das Fräulein zu Hause?« ließ eine laute Stimme sich im Vorgemache vernehmen, und im nächsten Augenblick trat Halwig ein.

Er war bleich und erregt: »Erlöst!« stieß er, kaum fähig zu sprechen, hervor. »Nehmen Sie teil an meinem Glück.« Er preßte beide Hände gegen seine Brust. – »Ich bin erlöst – ich bin ein freier Mann!«

Lotti wagte nicht ihn anzusehen … absichtlich täuschen – es bleibt doch immer etwas Furchtbares. In äußerster Verlegenheit sprach sie: »Sie haben Ihren Prozeß …«

»Gewonnen! ja, ja, meine Hoffnung, die kühne, die ich nie aufgegeben, ist erfüllt … Fräulein Lotti – freuen Sie sich doch mit mir.«

»Ich freue mich von ganzem Herzen, lieber Freund.«

»Sehen Sie hierher! Erkennen Sie das?« Er zog ein Heft aus seiner Tasche. – »Es ist dem Edlen, dem ich es gestern vor Ihren Augen übergab, zum zweiten Male abgerungen worden und soll vor Ihren Augen in Rauch aufgehen.«

Er hielt einige Blätter des Manuskriptes über die Lampe, sie entzündeten sich; er schwang die Schrift hoch in der Luft, um sie in hellen Brand zu setzen, und warf, nachdem dies geschehen, die lodernde in den Kamin. Mit wildem Behagen schürte er die Flamme, die sein Geisteskind verzehrte, und rief: »Was nie hätte geboren werden sollen, sterbe! Könnt ich alles so vernichten, was geschrieben zu haben mich reut! Ein Trost bleibt mir übrigens«, fügte er mit bitterem Lachen hinzu, indem er sich am Arbeitstische Lottis niederließ: »Lange werden meine Werke den Unwillen der Freunde des Schönen nicht erregen. Mit dem Tage geht unter, was dem Tage gedient. O Fräulein Lotti! ich hatte anderes von mir erwartet. Erinnern Sie sich noch? Wissen Sie noch, was ich geträumt und angestrebt? Wissen Sie noch, wie fest entschlossen ich war, diese Erde, die mich getragen, nicht zu verlassen, ohne ihr die Spur meines Schrittes eingeprägt zu haben?«

Lotti senkte den Blick vor seinen fragend auf sie gerichteten Augen: »Jawohl – was haben Sie, was habe ich Ihnen nicht zugetraut?«

»Vorbei!« er erhob von neuem sein gequältes Lachen. »Sie haben noch nie einen Menschen gesehen, mit dem es so völlig vorbei gewesen ist wie mit mir …«

»Es wird schon wieder anfangen«, sagte Lotti.

»Sie wissen nicht, wie es in mir aussieht.«

»Kommen Sie nur erst zur Ruhe.«

»Die ist’s ja, die ich fürchte!… Mit ihr kommt die Besinnung. In der rastlosen Tätigkeit, in der ich lebte, hatte ich wenigstens nicht Zeit zur Besinnung. Glauben Sie nicht, daß mir die Wohltat der Selbsttäuschung zuteil geworden … Immer wieder, trotz allem, was ich tat, um ihn zu verscheuchen, immer wieder tauchte der Gedanke in mir auf: Was du treibst, ist Seelenmord … Ich habe Stunden des Rausches, des Triumphes gehabt, aber glücklich, liebe Freundin, war ich nicht mehr, seitdem ich mein Talent im Dienste irdischer Zwecke zu fronen zwang.«

Lotti suchte nach Worten der Beschwichtigung, allein diejenigen, die sie fand, erschienen ihr schwach und kühl und nicht besser als Gemeinplätze. Ihre Ohnmacht, zu trösten, äußerte sich durch Ablenkung von der Klage. Sie verwies ihn auf den segensreichen Einfluß, den das Landleben auf ihn ausüben werde, und da rief er plötzlich beistimmend; »O ja, darauf zähl auch ich. Wonne und Wohltat wird mir die Stille des Landlebens sein. Vor allem andern wird es mich erquicken, meine kindische Frau am Ziel ihrer Wünsche zu sehen. Sie haßt die Stadt, diese kindische Frau … Sie müssen sie draußen im Freien sehen … Im Jagdgewand, den Stutzen in ihren kleinen Händen – ich sage Ihnen, sie schießt wie Wilhelm Tell. Oder man muß sie sehen, ein wildes Pferd bändigend, mit Weisheit und Geduld – oder den Wald durchstreifend, kühn wie ein Jäger und hold wie eine Fee. Das war mein Gram von Anfang an, daß ich sie aus ihrer grünen Heimstätte, in der sie aufgewachsen ist und aufgeblüht, wo sie sich gesund fühlt, hierherbringen mußte, in dieses steinerne Grab, in dem sie das Dasein einer Lerche im Käfig führt.«

Sein Gesicht hatte sich verklärt, während er von seiner Frau sprach.

»Ich liebe sie«, fügte er hinzu und wiederholte: »Ich liebe sie. Wie kann das sein? denken Sie vielleicht, sie teilt ja deine geistigen Interessen nicht. Ein Kind, Teuerste, tut das auch nicht, und man liebt es doch. Sie ist das meine. Ein anderes wünsch ich nie zu haben, denn dieses würde gewiß lesen lernen wollen, und das – Sie begreifen – dürfte ich ihm nicht gestatten …« Er unterbrach sich: »Immer mahnt es wieder!« rief er heftig aus und versank in Schweigen.

»Haben Sie Schweitzer gesprochen?« fragte Lotti nach einiger Zeit.

»Nein. Er schrieb nur einen Zettel mit der großen Nachricht, bedeutete mich aber, ihn heute weder zu erwarten noch zu besuchen. Einer seiner Klienten schießt einen Teil der Summe vor, die ich erhalten werde – wann? ist wohl noch nicht bestimmt. Morgen soll der Kaufkontrakt unterschrieben werden, in acht Tagen reisen meine Schwiegereltern ab … ein Schmerz für Agathe – ich möchte die Tränen nicht sehen müssen, die sie bei dem Abschied vergießen wird. Ist der aber einmal vorüber, dann habe ich sie erst ganz gewonnen, dann wird sie erst mein alleiniges Eigentum. Lachen Sie mich nicht aus, Fräulein Lotti – wenn auch noch soviel Grund dazu vorhanden ist. Die Liebe ist einmal partieller Wahnsinn, und der meine scheint mir unheilbar, denn er verschlimmert sich von Tag zu Tag.«

»Um so besser, lieber Freund; Sie haben mir da eine Menge Dinge gesagt, die mir wunderbare Beruhigung verschaffen. Bisher konnt ich eine leise Sorge nicht unterdrücken, daß Ihre Frau, noch so jung, so außerordentlich schön und gefeiert, wo immer sie erscheint, sich vielleicht doch auf die Dauer mit einem ganz stillen und einförmigen Leben nicht begnügen würde.«

»Die Sorge war unbegründet!« rief er zuversichtlich aus. »Besuchen Sie uns, kommen Sie und bleiben Sie lange bei uns. Überzeugen Sie sich, ob ich recht habe zu sagen: auf dem Lande ist Agathe in ihrem wahren Element. Etwas viel Sport werden Sie finden – sich vielleicht wundern, daß eine junge Dame so leidenschaftliches Interesse an Dingen nimmt, die freilich nicht eben von idealer Natur … allein, Beste, das werden Sie zugestehen, die Freuden, die ihr die höchsten sind, sind sehr unschuldige. Man spielt dabei manchmal um sein Leben, aber nie um mehr. Ich wollt, ich hätte keine andere Begabung jemals in mir verspürt als diejenige, die man braucht, um ein tüchtiger Reiter oder Jäger zu werden. Bei Gott, das wollt ich …«

Er biß die Zähne zusammen und starrte vor sich hin in die Luft. »So ist es«, murmelte er, erhob sich und trat auf Lotti zu.

»Leben Sie wohl. Kommen Sie bald zu uns.«

Sie ergriff die Hand, die er ihr reichte: »Leben Sie wohl, Halwig, und werden Sie gesund.«

»Gesund?«

»Jawohl. Jetzt sind Sie’s nicht.«

Sie blickte mit der besorgten Teilnahme einer Mutter in sein Gesicht. »Eines sagen Sie mir noch: Wie gedenken Sie Ihr Leben einzurichten?«

»Sehr einfach. Ich will bei meinem Pächter Landwirtschaft studieren. Ich will mit Aufmerksamkeit die Fortschritte der Dorfjugend in der Schule verfolgen. Ich will mit einem Worte allerlei nützliche Dinge betreiben. Da ich nie mehr etwas Schönes hervorbringen werde, will ich wenigstens versuchen, etwas Vernünftiges zu tun.«

»Und warum sollten Sie nichts Schönes mehr hervorbringen?«

»Weil ich das Gefühl dafür verloren habe, dünkt mich … das läßt sich nicht wiedergewinnen.«

Er riß sich gewaltsam aus den trüben Gedanken, die ihn von neuem zu umweben begannen: »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, lieber Halwig. Noch etwas muß ich Ihnen sagen … Denken Sie sich, es wären Monate vergangen – Sie haben ausgeruht, haben einmal wieder tief und gewaltig empfunden, daß die Welt schön und das Leben etwas wert ist – und plötzlich beginnt es in Ihrer Seele zu tönen wie einst. Sie lauschen den Klängen, Sie wollen nichts, als sich umspinnen lassen von den lieblichen Harmonien und festhalten, was die Ihnen vorgesungen. Und ohne Ihr Zutun, fast ohne Ihr Bewußtsein, strömt ein harmloses Lied von Ihren Lippen, eines von denen, wie die Nachtigallen und die Dichter sie singen, und die Welt heute nicht mehr anhören mag, und die Verleger nicht mehr veröffentlichen. Ein solches, ein so ganz unpraktisches, muß es sein. Die Stunde, Freund, in welcher dieses Lied Ihnen gelingt, ist die Stunde Ihrer Wiedergeburt. Sie wird kommen. Ich will einmal Kassandra sein und prophezeien, aber lauter Gutes. Und jetzt gehen Sie. Auch ich bin erstaunlich müde und ruhebedürftig.«

Er beugte sich über ihre Hände und küßte sie. –

»Sie haben doch nicht ganz vergessen«, sagte er leise und innig, »daß Sie einst die Braut eines Poeten waren – aber ich bin keiner mehr.«

Er ging, und Lotti rief bald darauf die alte Agnes herein und wünschte ihr mit besonderer Freundlichkeit eine gute Nacht. Der Wunsch blieb von der zürnenden Dienerin unerwidert, und dennoch schlief Lotti bis zum Morgen in einem Zuge. Sie hatte von ihren Uhren geträumt, sich wieder im Besitz derselben gesehen, und ihr wurde nichts weniger als froh zumute, als sie am folgenden Tage beim Frühstück saß, dem leeren Schranke gegenüber.

Gottfried kam, sah verlegen aus, machte im Gespräch noch längere Pausen als gewöhnlich, hatte eine Welt auf dem Herzen und war nicht imstande, ein befreiendes Wort zu sprechen.

»Was fehlt dir?« fragte Lotti.

»Brave Gesellen«, antwortete er mit verstörten Blicken. »Es ist nichts an den Leuten. Kein Ernst, kein Geschick, keine Liebe zum Handwerk. Sie können nichts und wollen nichts lernen. Wenn das der Nachwuchs ist, wohin gelangen wir? In fünfzehn Jahren gibt es in der ganzen Stadt keinen tüchtigen Uhrmacher mehr.«

Das war nun freilich sehr traurig, aber daß ihm die Sache so völlig seine Seelenruhe raubte, wie es nach und nach immer mehr den Anschein gewann, nahm Lotti doch wunder. Sie hatte noch sehr oft Gelegenheit zu fragen: »Was fehlt dir?« erhielt aber nie einen ordentlichen Bescheid. Seit dem Tage, an dem sie ihre Uhren verkauft hatte, war Gottfrieds gleichmäßig heitere Laune dahin. Wie von jeher widmete er Lotti seine ganze Sorgfalt, suchte ihr alles Unangenehme fernzuhalten, blieb immer der getreueste und aufmerksamste Freund, aber bei alledem äußerte sich doch manchmal, und gewiß ganz gegen seinen Willen, etwas wie ein stiller Vorwurf in seinem Wesen. Lotti hatte ihn wohl schon in früheren Zeiten so gesehen und bei solcher Gelegenheit eine gewisse Ungeduld niemals unterdrücken können. Jetzt empfand sie nur Rührung und Bedauern und staunte im stillen über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war.

Kapitel 3

Kapitel 3

 

Diese schreckliche Zeit war nun längst vorüber; doch hielt Lotti die Erinnerung an sie in ihrer Seele wach. Sie wollte nicht vergessen, daß auch ihr ein gehöriges Maß an Leid und Enttäuschung zugeteilt worden, sie wäre sich sonst im Vergleich mit anderen Menschenkindern ungerecht bevorzugt erschienen. Wie vielen wird es denn so gut, mit ihr sagen zu können: Ich habe das Leben, das ich brauche!

Ihrer alten Beschäftigung, zu der sie zurückgekehrt war, verdankte sie täglich neue Freude, verdankte ihr Frieden, Frohsinn und Unabhängigkeit. Wäre ihr Vater nur noch dagewesen, um dies alles mit ihr zu genießen! Aber leider, Meister Johannes ruhte schon seit geraumer Zeit in der kühlen Erde.

Er hatte keine Mühseligkeit des Alters kennengelernt; niemals hatten ihm Auge und Hand bei Ausführung der Gedanken seines erfinderischen Kopfes ihre Dienste versagt. Wohl waren seine Haare weiß geworden, hatten seine Wangen sich entfärbt, aber aus seinen klaren Zügen leuchtete der Glanz einer unverwelklichen Jugend. Die Jugend des mit Bewußtsein Werdenden. Unermüdlich strebend und lernend, hatte er sich nicht Zeit genommen, recht zu überlegen, wieviel er schon erstrebt und erlernt – da plötzlich, ohne auch nur einen seiner Vorboten geschickt zu haben, trat der Tod an ihn heran.

Und jetzt, im Angesicht der ewigen Trennung, fiel dem Meister der Gedanke schwer aufs Herz, daß er seine Tochter fast mittellos in der Welt zurücklassen müsse. Er hätte ihr so leicht eine behagliche Wohlhabenheit sichern können! – Vor einem Jahre noch fand sich die beste Gelegenheit dazu, da bot ein reicher Kenner, der sich in die Uhrensammlung Feßlers vernarrt hatte, eine Summe dafür, eine lächerlich hohe Summe, wahrhaftig ein Vermögen. Allein Johannes hatte nicht einmal geschwankt, war ruhig dabei geblieben: »Die Uhren sind mir nicht feil.«

Über diesen Leichtsinn, diese törichte Selbstsucht machte er sich in seiner letzten Stunde bittere Vorwürfe und bat noch sterbend seinen Sohn Gottfried, jenen abgewiesenen Käufer aufzusuchen und ihm zu melden, die Sammlung, nach welcher er so heißes Verlangen trage, stehe ihm nun zur Verfügung. Lotti jedoch erklärte, daß sie ebenso gern ihre Seele verkaufen ließe wie diese Uhren.

So blieben sie denn in ihrem Besitze, wenn auch nicht ohne manchen harten Kampf. Die Sammlung Meister Feßlers war allmählich doch in einem Kreise von Kennern und Liebhabern zu dem ihr gebührenden Rufe gelangt. Es fehlte nicht an zudringlichen Leuten, die trotz der standhaften Zurückweisungen, die sie erfuhren, immer wieder erschienen, immer neue Bewerbungen anstellten, immer glänzendere Anerbietungen machten. Das war denn oft herzlich langweilig, trug aber nur dazu bei, die Liebe, welche Lotti für ihre Uhren empfand, noch zu erhöhen. Sie hörte niemals auf, ihnen ihre Sorgfalt angedeihen zu lassen, und wenn es noch soviel zu tun gab und wenn die Zeit noch so sehr drängte, ging sie nicht an ihr Tagewerk, ohne ihren Uhren einen Besuch abgestattet zu haben. Hätte sie das jemals unterlassen müssen, die rechte Begeisterung, die rechte Lust zur Arbeit hätte ihr gewiß gefehlt.

Auch heute war sie an das Schränklein getreten, das in der Ecke stand neben der Schlafzimmertür, dem großen Schreibtisch gegenüber. Eben fiel ein Sonnenstrahl schräg durch das Fenster auf das Kästchen, auf Lottis Hände, und als sie die erste Lade öffnete, schlupfte er sogleich hinein. Prächtig war’s, wie er die kleinen ehrwürdigen Meisterwerke beleuchtete, welche darin auf einem Bettlein von purpurrotem Sammet lagen.

Die glatten Gehäuse aus Messing, Kristall, Silber und Gold und die reich verzierten und die durchbrochenen, und in dieser die sorgfältig geputzten, polierten und wieder zusammengesetzten Werke erglänzten und gaben dem leuchtenden Strahl des Lichtes, der sie in ihrer Verborgenheit und Ruhe besuchen kam, seinen Gruß zurück, Das war Lade Nummer eins!

Sie enthielt drei sogenannte »lebendige Nürnberger Eier« und drei »Halsvrln«. Kein einziges Stück jünger als dreihundert Jahre, manches noch älter und gerade die ältesten von der künstlichsten Beschaffenheit. Was wollten sie nicht alles können, diese kleinen Maschinen, was trauten sie sich nicht zu? Sie begnügten sich keineswegs damit, die bürgerlichen Stunden anzuzeigen und zu schlagen und den Schläfer zu wecken, wann immer es ihm beliebte, auch den Wochen-und Monatstag verzeichneten sie, kontrollierten die Aspekte und Phasen des Mondes und behaupteten, den Stand der Sonne nachweisen zu können. Sie wandten den Himmelszeichen ihre Aufmerksamkeit zu, wußten Auskunft zu geben über die Sternzeit und nahmen Notiz vom türkischen Kalender …

Wahrhaftig, die braven Männer, denen sie ihre Entstehung verdankten, hatten sich Schweres vorgesetzt – und mit wie geringen Mitteln gedachten sie es zu erreichen! Mit Spindelechappements – mit Löffelunruhen, deren kläglich humpelnder Gang von einer Schweinsborste reguliert wurde! Sie verfertigten alle Räder aus Eisen, und von einer Schnecke war ihnen nicht einmal die Ahnung aufgekommen.

Aber – so ärmlich ihre Kunst, so reich war ihr Vertrauen. Sie wußten – das heißt, sie glaubten, und weil sie glaubten, wußten sie –, daß Schwäche zur Stärke erwachsen kann, wenn nur der rechte Segen auf ihr ruht. Kühn und demütig zugleich riefen sie die Hilfe desjenigen herbei, dem nichts unmöglich ist, und stellten die Werke ihres Fleißes unter seinen allmächtigen Schutz, empfahlen sie auch wohl der Fürsprache der Mutter Gottes oder eines vornehmen Heiligen. Einer der alten Meister hatte in den Boden des Federhauses, das die Kraft umschließt, von welcher alle Bewegung ausgeht, die das ganze Getriebe gleichsam beseelt, den Namen Jesu eingegraben. Von einem andern war aus dem feingeschnittenen, prächtig ornamentierten Monogramm der heiligen Jungfrau Maria der Schutzdeckel des Zifferblattes gebildet worden. Auf der Innenseite des Gehäuses standen die Worte eingraviert:

 

Kasper Werner hat mich gemacht

Vnd der heiligen Jvngfrav dargebracht

Da. man. zelt. 1541.

 

Immer reichere Schätze gelangten zum Vorschein, als Lotti ein Lädchen nach dem andern öffnete und schloß. Taschenuhren in allen Formen und Gestalten, achteckig, rund, oval, elliptisch, sternförmig, in Gehäusen aus Gold und Silber, aus Smaragd, Rauchtopas, Bergkristall. Unter andern gab es eine Uhr in Kreuzform, mit dem Augsburger »Stadtphyr«, »Wardein- und Wichszeichen« versehen. Das Gehäuse, das Zifferblatt und der innere Deckel waren mit Darstellungen des Leidens Christi bedeckt, die dem besten Künstler zur Ehre gereicht hätten. Leider fehlte das Meisterzeichen. Aber mit Blindheit hätte man geschlagen sein müssen, um nicht sogleich zu erkennen, daß die prächtige deutsche Arbeit aus der Zeit Kaiser Rudolfs II. stammte und vermutlich von Hans Schlotheim hergestellt worden war.

Über den Ursprung ihrer nächsten Nachbarin, gleichfalls kreuzförmig, mit Gehäuse aus einem Stück Rauchtopas, konnte kein Zweifel obwalten. Ihr Schöpfer hatte sie nicht namenlos in die Welt geschickt, sondern neben dem Stellungsgrade brav und deutlich sein »Conrad Kreizer« eingeschrieben.

Eine ganze Schar anmutiger Französinnen folgte. Köstliche Ührchen, geschmückt mit Emailmalereien von den Brüdern Huaut, oder mit erhaben geschnittenen Blumen, mit buntem Blattwerk, mit durchbrochenen Arabesken aus vielfarbigem Golde. Die Sammlung enthielt nicht minder merkwürdige Arbeiten von Tompion in England, Albrecht Erb in Wien, Gerard Mut in Frankfurt, Matthäus Degen, Christoff Strebell. Kurz, es fehlten wenig große Namen, und wer die vorhandenen mit recht scharfen Augen betrachtete, der sah mehr als nur Namen, in eine Metallplatte eingeritzt, der sah das Wesen des Meisters sich deutlich in seinem Werke spiegeln.

Nach all den köstlich verzierten Stücken erschienen die einfachen Taschenuhren von Pierre le Roy, Berthoud, Breguet, eine Emmery … Ach, die weckt traurige Erinnerungen, mahnt an die große Enttäuschung in Lottis Leben. Mit einer solchen Uhr in der Hand trat dereinst … Hinweg! – Schlafe du nur ruhig weiter. Hinweg von dir zu dem unerhörtesten Kuriosum der Sammlung – zu der Seetaschenuhr von Mudge dem Ersten.

Die Geschichte will wissen, daß dieser berühmte und unsterbliche Mann in seinem Leben nur drei Seeuhren verfertigt hat, und zwar die erste im Jahre 1774, und die beiden andern, der blaue und der grüne Zeithalter genannt, im Jahre 1777. Nun, die Geschichte hat einmal wieder geirrt. Hier war sie auf die gründlichste Art der Welt widerlegt, durch eine Tatsache – hier war eine vierte Mudge. Zwillingsschwester der älteren, der von Maskelyn in Greenwich geprüften, und sicherlich in demselben Jahre mit dieser entstanden, wie denn auch die beiden jüngeren in einem Jahre gemacht worden waren.

Die weltbekannten Beschreibungen, die wir von der ersten Seeuhr Mudges besitzen, paßten genau auf die, welche sich in Lottis Händen befand.

Die Uhr war echt, ihr edler Ursprung über jeden Zweifel erhaben, es war eine ganze Mudge – die Leistungsfähigkeit ausgenommen. Die durfte man freilich nicht mehr von ihr verlangen, der über hundert Jahre alten Greisin.

Die letzte Lade, die von Lotti geöffnet wurde, enthielt schöne Arbeiten von Arnold, Richard, Recorder, Robert, Courvoisier, Ruderas, von hölzernen Unruhen Simon Henningers und Lorenz Freys und eine vollständig erhaltene hölzerne Taschenuhr von Andreas Dilger aus Gütenbach.

Ein Familienerbe! – Als Bräutigam hatte sie der Urgroßvater Lottis ihrer Urgroßmutter zugleich mit seinem Herzen dargebracht. Gottfried nannte sie die Majoratsuhr. Sie war nie getragen worden, hatte als Schaustück im Glasschranke der Urgroßmutter geruht. Nur an hohen Festtagen wurde sie hervorgeholt und zur Freude des Enkelchen Lotti aufgezogen. Dann setzte sie sich aber auch stracks in Bewegung und vollführte einen so akkuraten und energischen Gang und bimmelte so fleißig fort, als ob sie noch in der Blüte ihrer Jahre stände und als ob sie all die Zeit einholen wollte, die sie in unfreiwilliger Muße versäumt.

Wie war sie nett! Wie waren ihre hölzernen Räder, Platten, Kloben so bewunderungswürdig ausgearbeitet. Wie sauber aus-gestochen der Unruhkloben und die Stellungsflügel, und wie schön verziert die beiden und die Klobenplatte. Man sah der kleinen Dilger gar deutlich die Liebe an, mit welcher sie ausgeführt, und auch die, mit welcher sie zeitlebens gehegt und gepflegt worden war. Ihr gehörte Lottis letzter und zärtlicher Blick, bevor sie die Lade zuschob und dabei dachte: Ja, meine Uhren – die machen mir noch das Sterben schwer!

In diesem Augenblick wurde die Zimmertür geöffnet.

»Guten Morgen«, sprach eine tiefe und wohlklingende Stimme. Lotti wandte sich rasch: »Du, Gottfried? Ist es denn schon acht Uhr?«

»Noch nicht«, war die Antwort, »ich bin heute unpünktlich.« »Zeichen und Wunder«, rief Lotti, »was ist geschehen? Was gibts’?«

Gottfried war an den Arbeitstisch getreten. Er hob die kleinen Glasglocken von den Uhren, welche darunterlagen, und nahm diese in den allergenauesten Augenschein.

»Du bist ja fertig«, sagte er nach einer Weile.

»Beinahe – aber antworte mir doch – was gibt’s?«

Er richtete sich empor, sah Lotti mit geheimnisvoller Miene, halb freudig, halb zweifelnd, an und sagte: »Eine Überraschung.«

Kapitel 1

Kapitel 1

Fräulein Lotti war soeben erwacht. Die Repetieruhr, die an einem zart geschweiften Schnörkel am rechten Kopfende des altertümlichen, reich geschnitzten Bettes hing, schlug mit zartem Klange sechsmal an. Gleich darauf begann die deutsche Stockuhr, eine solide Arbeit Meister Anton Schreibelmeyers, von der Kommode am Pfeiler aus, die Morgenstunde zu verkünden. – Auf! auf! befahl ihre gebieterische Stimme, an die Arbeit! der Tag beginnt! – Ihre Glocken hatten kaum ausgezittert, als auch schon die französische Wanduhr, in aller Bescheidenheit, eilig und leise zu melden begann: Sechs! sechs! gehorsamst zeig ich’s an.

Eine kleine Pause – und am linken Kopfende des Bettes erhob das Seitenstück der Repetier-, eine Spieluhr, ihre Silberstimme und gab ein Schäferliedchen zum besten, so lieblich, als hätten kleine Engel es gesungen.

Mit unendlichem Wohlgefallen lauschte das Fräulein dem Konzerte, das ihre Uhren abhielten, und hätte in den Schlußgesang beinahe mit eingestimmt, so fröhlich war ihr zumute. An dem Lichte, das durch die herabgelassenen Vorhänge in das Zimmer drang, erkannte sie, daß es heute einen schönen Tag gebe – war das nicht genug, um den reichen Quell von Heiterkeit in ihrer Seele zum Überströmen zu bringen?

Sie stand auf und kleidete sich an; sehr sorgfältig zwar, aber ohne dabei mehr, als durchaus nötig war, in den Spiegel zu sehen, denn – sie war sich kein angenehmer Anblick. Die Zeit, in welcher sie ihren Mangel an Schönheit gar schmerzlich und fast wie eine Schmach empfunden, war freilich vorbei. Jetzt, mit fünfunddreißig Jahren als ehrenfeste alte Jungfer, hatte sie längst aufgehört, ihr Äußeres gehässig anzufeinden, aber so ganz erloschen war das letzte Fünkchen Eitelkeit in ihrem Frauenherzen doch nicht, wenn es sich auch nur in dem Gedanken aussprach: Es ist ein Glück, daß ich anderen anders vorkomme als mir selbst, sonst könnte mich niemand leiden.

Nach beendeter Toilette begab sie sich aus dem Schlaf- in das Wohnzimmer. Es war ein trauliches Gemach, dessen Fenster auf einen kleinen Platz sah – einen sehr kleinen, denn er wurde von nur vier Häusern gebildet; doch war er luftig und hell und gewährte den Anblick eines beträchtlichen Stückes Himmel, was gewiß kein geringer Vorzug war. Es will etwas heißen, im Herzen der Zivilisation zu wohnen, im Mittelpunkt der Hauptstadt, tausend Schritte vom Dome, den zu sehen viele Leute tausend Meilen weit hergezogen kommen, und dabei von seinem Fenster aus Wetterbeobachtungen fast wie Knauer und das Studium des Sternenlaufes fast wie ein Chaldäer betreiben zu können, Wolken und Vögel ziehen und der Sonne und dem Mond ins Gesicht zu sehen.

Dieses Stück Himmel, obwohl – nur aus einem Fenster sichtbar, erhellte dem Fräulein die ganze im übrigen ziemlich finstere Wohnung und ließ ihr das Erklimmen der drei Stockwerke, die zu derselben hinaufführten, als eine höchst anmutige Promenade erscheinen, weniger beschwerlich als eine Bergbesteigung, und beinahe ebenso lohnend.

Aber nicht nur der Himmel über dem Platze, auch die Häuser auf dem Platze und die Menschen, die in ihnen wohnten, nahmen das Interesse Fräulein Lottis in Anspruch. Die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, das den Platz gegen Osten in einem stumpfen Winkel abschnitt, glänzten schon im Sonnenschein. Bei den reichen Leuten in der Beletage sind die Gardinen noch nicht aufgezogen; dort schläft man in den Tag hinein, sieht den Himmel nie in seinem ersten, sanft umflorten Blau, in seiner duftigsten Schönheit. Im dritten und vierten Stock hingegen gibt’s freien Eintritt für Licht und Luft des goldenen Maimorgens.

Auf den Mauervorsprüngen der beiden Häuser nebenan trippeln dicke graue Tauben in großer Aufregung. Sie warten voll Ungeduld auf das Frühstück, das ihnen Lotti auf das Fenstergesimse zu servieren pflegt. Kaum weniger gespannt als sie, sehen noch andere Geschöpfe dem anziehenden Schauspiel der Taubenfütterung entgegen. Es sind die nächsten Nachbarn des Fräuleins, und sie gehören zu ihren Bekannten, wenn auch nicht zu ihrem Kreise. Der Nachbar zur Linken erhält ihren ersten Gruß, dann kommen die Nachbarn zur Rechten. Jener, ein gebrechliches Männchen, engbrüstig und kahl, das Urbild eines alten Damenschneiderleins, diese, drei frische Jungen, mit runden, dank der frühen Morgenstunde sauber gewaschenen Gesichtern. Prächtige Bursche, noch zu jung für die Schule und doch beinahe schon der weiblichen Zucht entwachsen; mit Worten wenigstens richtet die Mutter nichts mehr bei ihnen aus, obwohl sie dieselben nicht spart, die brave Frau. Der Mann und Vater hat seine Werkstätte nebenan in den Hof hinaus und plagt sich an der Drehbank vom Morgen bis zum Abend. Er ist Pfeifenschneider, aber im Rohre scheint er nicht zu sitzen und Überfluß hat er nur an Kindersegen. Die drei Erstgeborenen haben angefangen, sich um den besten Platz am Fenster zu balgen, die Mutter tritt unter sie, ein zweijähriges Mädchen auf dem Arme, zieht den Pantoffel vom Fuße und schlägt wacker auf die Buben los. Der Pantoffel fällt, gleich der Hand des Schicksals, ohne Unterschied auf das Haupt des Gerechten wie des Ungerechten, und bald herrschen Ruhe und Frieden. Die neuen Horatier liegen still nebeneinander im Fenster und beobachten die grauen Tauben, mit innigstem Verständnis für ihre Rauflust und ihren guten Appetit.

Die Aufmerksamkeit des Schneiderleins hingegen ist auf das Fräulein gerichtet. Das braune Mohairkleid, das seine Gönnerin heute zum erstenmal angetan hat, ist seiner Hände selbsteigenes Werk. Der Schnitt hat sich seit wenigstens zehn Jahren als vortrefflich bewährt, und genäht und ausgefertigt ist das Kleidungsstück mit einer Sorgfalt, die ihresgleichen sucht. Alles solid und geschmackvoll. Der Rock so faltenreich, die Taille weder zu lang noch zu kurz, sondern gerade dort angebracht, wo der liebe Gott sie hingesetzt hat. Sie wird von einem breiten Gürtelband umgeben, aus reiner Seide, fein, weich und dauerhaft. Aus demselben Stoffe bestehen auch die Biais, die den Kragen und die enganliegenden Ärmel schmücken. Von den letzteren heben sich die glatten Manschetten, welche das Fräulein zu tragen pflegt, gar schön ab, und diese bilden die schneeweiße Einfassung der zarten schlanken Hände. Ach, diese Hände! das Schneiderlein vermag sie niemals ohne innere Rührung zu betrachten. Sie waren das erste, was er erblickte in jenem unvergeßlichen Momente, in dem er die Augen aufschlug, die er für immer geschlossen zu haben meinte, freiwillig geschlossen, nach schwerem, entsetzlichem Kampfe. Der Alte besinnt sich nur noch wie eines bösen Traums des hoffnungslosen Elends, das ihn zu einer Tat der Verzweiflung getrieben; er hat die Ursache fast vergessen und begreift ihre Wirkung nicht mehr. »Ich muß wahnsinnig gewesen sein!« sagt er jetzt, wenn er der Stunde gedenkt, in welcher er sein kleines Töchterchen zu sich gerufen, Tür und Fenster desselben Zimmers, das er heute noch bewohnt, verriegelt und das Kohlenbecken entzündet hat.

Damals hatte der Zufall Fräulein Lotti zur Retterin des armen Schneidermeisters gemacht, ihre Güte machte sie zu seiner Beschützerin. Nachdem er unter ihrer Pflege gesund und wieder erwerbsfähig geworden, sammelte sie allmählich für ihn einen kleinen Kundenkreis. Der Schneider befand sich jetzt in guten Verhältnissen, war sogar imstande, einen Sparpfennig zurückzulegen. Er hätte das ruhigste Leben gehabt, wenn nur die revolutionären Ideen seiner Tochter nicht gewesen wären. Aber die Leopoldine, ein ehrgeiziges junges Ding, ein Feuerkopf, hatte an den Arbeiten des Vaters immer etwas auszusetzen und schwärmte, zu seinem Grauen und Entsetzen, für die unsinnigsten, lächerlichsten, abscheulichsten Moden, nämlich für die neuesten.

Soeben haben sie wieder einen scharfen Streit gehabt und sitzen jetzt einander gegenüber im Fenster und nähen an einer schwarzen Seidenmantille mit einem Eifer, den ihr nicht ganz ausgebrauster Zorn beflügelt. Die Mantille braucht erst morgen fertigzuwerden, wird es aber gewiß heute noch, wenn die Furie anhält, mit der Vater und Tochter die Nadel führen.

Inzwischen hat sich das Dachfenster über der Schneiderwerkstätte geöffnet; eine Frau und eine Katze sind an demselben erschienen, beide wohlgenährt und weißhaarig. Die Katze schleicht zur Morgenpromenade auf das Dach hinaus, bleibt öfters stehen und wirft begehrliche Raubtierblicke nach den Tauben, die von Fräulein Lotti gefüttert werden. – Wer eine von euch erwischen könnte! denkt sie. Saubere Weltordnung, in der wir leben! – Gäb’s eine Gerechtigkeit – ich hätte Flügel!

Frau Katze schüttelt den Kopf, schließt die Augen, leckt die fadendünnen Lippen und gähnt wie ein Tiger.

Ihre Gebieterin hakt den Fensterflügel ein, damit die Spaziergängerin bequem eintreten könne, wenn es ihr genehm sein würde heimzukehren. Die Rückkunft ihres Lieblings kann die Bewohnerin der Dachstube nicht abwarten, sie muß an ihren Posten, in den kleinen Laden im Durchhause nebenan, wo sie im Winter altgebackenes Brot, im Sommer auch Obst feilbietet und zu allen Jahreszeiten Näschereien, die ihre Katze verschmähen würde, die aber an den Schulkindern beharrliche Abnehmer finden.

Fräulein Lotti sandte bereits viele Grüße zu der dicken Frau empor, die so freundlich aussah wie des Teufels Großmutter und sich’s lange überlegte, bevor sie mit einem kaum merkbaren Nicken dankte. Aber auch damit ist Lotti zufrieden. An Zuvorkommenheit von Seite der Frau Brotsitzerin wurde sie nie gewöhnt und hat auch kein besonderes Herzensbedürfnis danach. Sie wünscht nur, konservativ wie sie einmal ist, daß alles beim alten bleibe und daß sie sich täglich sagen könne, was die Potentaten jährlich einmal in ihren Thronreden sagen: »Unsere Beziehungen zu den Nachbarstaaten sind die freundschaftlichsten.«

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Lotti schloß ihren unersättlichen Tauben das Fenster vor den Schnäbeln zu und zog sich in das Zimmer zurück. Auf einem Tischchen, in der Nähe des Kamins, hatte Agnes, die goldene Säule des kleinen Haushalts, schon alle Vorbereitungen zum Tee getroffen. Lotti begann nun, ihn zu bereiten. Dabei musterte sie ab und zu ihr Stübchen mit wohlgefälligen Blicken.

Je länger sie es bewohnte, desto gemütlicher erschien es ihr, desto mehr mußte sie selbst die geschickte Benützung des Raumes bewundern, die es möglich gemacht, so viele Tische, Schränke und Schränkchen in dem schmalen Zimmer unterzubringen. Sehr frei bewegen konnte man sich darin freilich nicht, am wenigsten dann, wenn zufällig mehrere Schranktüren zu gleicher Zeit offenstanden. Doch – was lag daran? Lotti empfing ja keine Gäste, hatte auch für solche nicht vorgesorgt. Außer dem Fauteuil, den sie bei ihren Mahlzeiten benützte, war nur noch ein Sitzmöbel vorhanden, ein altdeutscher, geschnitzter Holzsessel, ein wahrer Ausbund von Schwerfälligkeit. Er überragte, kaum beweglicher als ein Berg, einen Arbeitstisch, auf dem mehrere zerlegte Uhrwerke unter Glasglocken und alle erdenklichen Uhrmacherwerkzeuge lagen. Auf der linken Seite des Fensters, in der dunklen Ecke, welche das Zimmer dort bildete, befand sich ein großer, bis an die Decke reichender Schrank. Der glich einer gotischen Kapelle, war aber ein Schreibtisch, sehr schön, sehr merkwürdig und sehr unbequem – der Schreibtisch einer Person, die nicht schreibt. Um so zweckmäßiger war der niedrigere Bücherschrank, der den größten Teil der Längenwand, dem Eingange zu Agnesens Zimmer gegenüber, einnahm. Schlanke Säulen mit korinthischen Kapitälchen verzierten die Glastüren des Aufsatzes, hinter dessen blanken Scheiben eine sehr gemischte Gesellschaft friedlich beisammen wohnte.

Da standen Schillers Werke in einem Bande, im allerdings ziemlich abgenützten Prunkgewand aus rotem Saffian, neben zwei kleinen dicken Büchlein in schweinsledernen Schlafröckchen, den Mémoires du Maréchal de Bassompierre. Goethes Benvenuto Cellini hatte zwei ganz unähnliche Nachbarn, Dom Jacques Martins Histoire des Gaules und ein ehrwürdiges Inkunabel: Unser lieben frawen psalter, gedruckt zu Augspurg. Von Luca Zeisselmair. Am mitwoch nach Jakobi. In dé iar als man zelet 1495. Gibbons Geschichte des Verfalles des römischen Reiches blickte gnädig auf den Herrn Quintus Fixlein herab, Krummachers Parabeln lehnten sich mit naiver Zutraulichkeit an die Annalen des Tacitus. Lessings Laokoon war durch ein Versehen mitten hineingeraten zwischen den Barometermacher auf der Zauberinsel und die Familie von Halden; Prinz von Gotland, der Bramarbas und Himmelstürmer, hielt sich ruhig neben dem weisen Pascal. Viele Klassiker der Weltliteratur, alte und neue, fanden sich durch irgendein Hauptwerk vertreten; vollständig vorhanden jedoch waren alle Lehrbücher der Uhrmacherkunst. Ihre lange majestätische Reihe wurde durch Hieronymus Cardani (1557) eröffnet und schloß mit M.L. Moinets Traité général d’Horlogerie.

Kein einziges von allen diesen Büchern war seiner Eigentümerin ganz fremd, mit manchen stand sie auf dem vertrautesten Fuße, und gerade in diese vertiefte sie sich mit dem größten Vergnügen immer von neuem. Denn, meinte sie, ein schönes Buch nicht wiederlesen, weil man es schon gelesen hat, das ist, als ob man einen teuren Freund nicht wieder besuchen würde, weil man ihn schon kennt.

Übrigens – ein gutes Buch, einen guten Freund, die lernt man nicht aus. Ein weises Buch ist ebenso unergründlich wie ein großes Menschenherz.

Viele dieser Werke besaßen außer ihrem eigenen auch noch einen besonderen, für Lotti unschätzbaren Wert. Sie waren mit Randbemerkungen von der Hand eines Mannes versehen, der ihr unter allen Lebenden am Höchsten gestanden – ihres Vaters.

Sie meinte ihn sprechen zu hören, wenn sie die kurzen zierlich geschriebenen Sätze, Früchte reiflicher Überlegung und solider Fachkenntnis, überlas.

Meister Johannes Feßler hatte nicht zu den Leuten gehört, die einen Gedanken deshalb schon für gut halten, weil er in ihrem Kopf entstanden ist. Das Handwerk, das er ein halbes Jahrhundert hindurch getrieben, hatte ihn gelehrt, dreißig »vielleicht« und »ich glaube« leichter auszusprechen als ein »so ist’s«, oder ein »das steht fest«.

Ein gewissenhafter Uhrmacher, wie er gewesen, ein Mann, der so oft erfahren hatte, daß am Ende einer Reihe scheinbar richtiger Schlüsse ein Irrtum lauern kann, der hütet sich wohl, leichtsinnig Behauptungen aufzustellen. Dafür haben die seinen aber auch bei allen Leuten, die es verstehen, einen Ausspruch auf dessen Feingehalt an Wahrheit zu prüfen, ihr gehöriges Gewicht.

Aus den Randglossen des Meisters ließ sich erkennen, wie ernst es ihm war mit seinem Beruf und welche Liebe er für denselben gehegt. Man sah es wohl, was er auch gelesen hatte, wie sehr ein Buch seine Aufmerksamkeit gefesselt haben mochte, seines Handwerks hatte er dabei nie vergessen. Niemals war ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte der Menschen zu seiner Kenntnis gekommen, ohne daß er gesucht hätte, es mit einem ebensolchen in der Geschichte der Uhren in Verbindung zu bringen. So befand sich zum Beispiel in einem historischen Werke, an einer Stelle, wo die Rede war vom Tode Kaiser Rudolfs von Habsburg, von Feßlers Hand die Anmerkung: In demselben Jahre erhielt die Kirche von Canterbury eine Schlaguhr, für welche dreißig Pfund Sterling bezahlt wurden. Weiter, als der Goldenen Bulle Erwähnung geschah, hatte der Meister seinerseits erwähnt: Gleichzeitig ehrte die Stadt Bologna sich selbst, indem sie die erste öffentliche Uhr aufstellen ließ. – Noch weiter: Eduard III. entsagt seinen Ansprüchen auf den französischen Thron – und – fügte Feßler hinzu – erteilt dreien Uhrmachern aus den Niederlanden Schutzbriefe, damit sie nach England kommen können. Anno 1368. In demselben Geschichtswerke war der Beiname König Karls V., der Weise, nachdrücklich unterstrichen und daneben stand: Muß, wie der gleichnamige große deutsche Kaiser, eine besondere Freude an den Werken der Uhrmacherkunst gehabt, ja vielleicht selbst dabei Hand angelegt haben. Der berühmte Meister Jouvence hätte sich sonst schwerlich erlaubt, eine seiner Uhren mit der Inschrift zu versehen:

 

Charles le Quint, Roi de France

Me fit par Jean Jouvence.

 

Der nämliche weise König ließ auch (1364) Herrn Heinrich von Wick nach Paris kommen, wo dieser eine Uhr für den Turm des königlichen Schlosses verfertigte. Er erhielt Wohnung in demselben Turm und eine Besoldung von sechs Sous täglich. –

Noch andere Randglossen machten darauf aufmerksam, daß Luther seine Bibelübersetzung zu derselben Zeit geschrieben hat, zu welcher Peter Hele, Andreas Heinlein und Caspar Werner in Nürnberg die ersten Taschenuhren zustande brachten, daß im Jahre des Unterganges der spanischen Armada Andreas Landek, Schüler Abraham Habrechts und Verfertiger der ersten Kirchenuhr in Nancy, zu Wertheim in Franken geboren wurde; daß Anno 1690 – glorreichen Andenkens für Deutschland wegen der Gründung der Universität Halle, und für Frankreich wegen der Siege Luxemburgs, Catinats und Tourvilles – in Paris, wo bisher nur kleine Taschenuhren beliebt gewesen, plötzlich sehr große in die Mode kamen … Und so weiter! noch viele wichtige und höchst seltsame Zusammenstellungen, die jedem, der ein Herz hat für die Uhrmacherei, gar viel zu denken geben.

Was ihm selbst dabei eingefallen, hatte Meister Johannes niemals verraten, sehr oft aber sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß er nur ein ungelehrter Mann war und nicht imstande, eine ausführliche und genaue Geschichte der Entwickelung der Uhrmacherkunst zu schreiben. Das beste Material, das es geben kann – wenigstens zu einem Hauptzweig eines solchen Werkes –, besaß er selbst. Er hatte im Laufe seines langen Lebens eine Sammlung von Taschenuhren zusammengebracht, wie sie vor ihm so vollständig und lückenlos schwerlich ein Privatmann (Herrn Asthon Levers ausgenommen, das versteht sich!) besessen haben dürfte. Lauter seltene und auserlesene Exemplare, jedes der Vertreter einer eigenen Gattung, jedes wertvoll an und für sich und doppelt wertvoll als Teil des Ganzen, zu dem es gehört. Wäre diese Sammlung bekannt, sie wäre gewiß auch berühmt geworden, sie hätte die Bewunderung aller Kenner erwecken müssen. Aber dem Meister Johannes war um Berühmtheit gar nicht zu tun, und was die Bewunderung betrifft, die ihm eigentlich ganz recht gewesen wäre – wer hört nicht gern loben, was er liebt? –, so hat sie doch meistens Neid und Verlangen in ihrem Gefolge, die Feßler um keinen Preis zu erwecken wünschte. Er freute sich im stillen an seinem Schatze, was nicht heißen soll, daß er sich allein daran freute. Es gab zwei Getreue, die keine anderen Interessen kannten als die seinen, für die sein Wort das Evangelium war, sein Beifall das Ziel aller Wünsche, seine Zufriedenheit das höchste Lebensgut. Die beiden waren seine Tochter Lotti und sein Ziehsohn Gottfried. »Meine Gesellen« nannte er sie in ihrer Kindheit, und später mit Stolz »meine Gehilfen«. Endlich schien ihm auch diese Bezeichnung nicht mehr ehrenvoll genug, und er sprach sie niemals aus, ohne sich dabei in Gedanken zu verbessern: Ich sollte eigentlich sagen: Meine Berufsgenossen … solche noch dazu, die im besten Zuge sind, mich zu überflügeln.

Daß sie es doch möchten, und recht bald, und recht weit – sein liebster Traum wäre erfüllt. Aber nicht allein dieser, jeder Traum von Erfolg und Glück, den er für seine Kinder im treuen Vaterherzen hegte, schien in Erfüllung gehen zu wollen. Ihr Lebensweg lag so glatt geebnet vor ihnen, sie waren so ganz geschaffen, die Bahn, die das Schicksal ihnen vorgezeichnet, eines auf das andere gestützt, ohne Abirrung, ohne Wanken und Straucheln zu verfolgen. Sie waren beide brav und talentvoll, hatten ein und dasselbe geistige Interesse und dienten ihm mit dem gleichen Eifer. Niemals war ihre Einigkeit getrübt worden. Von dem Augenblick an, in welchem Feßler den kleinen Gottfried, den Sohn eines in der Fremde verstorbenen Verwandten, in sein Haus aufgenommen, hatte sich dieser, so jung er selbst war, zum Beschützer des noch jüngeren Mühmchens aufgeworfen. Gottfried war völlig verwaist, Lotti hatte vor kurzer Zeit ihre Mutter verloren.

Die beiden Kinder wuchsen munter heran. Er wurde ein kräftiger, ernster Jüngling von nachdenklichem, etwas zurückhaltendem Wesen, sie ein hochaufgeschossenes, schlankes Mädchen, verständig, sanft, und dabei immer lustig und guter Dinge. Sie bewunderte und verehrte ihren Vetter und fürchtete seinen Tadel mehr noch als den ihres Vaters. Ihren ersten großen Schmerz erfuhr sie, als Gottfried nach London geschickt wurde, um dort seine Lehrjahre durchzumachen. Er selbst hatte die Stunde der Abreise kaum erwarten können, aber als sie herankam, war sie so düster und leidvoll, wie sie aus der Ferne licht und freudig geschienen. Lotti schluchzte bitterlich. Der frohe Mut, mit dem sie bisher der Trennung von ihrem Jugendgespielen entgegengesehen, war plötzlich verschwunden, sie wollte nicht mehr begreifen, warum er denn fort müsse und wie es sich ohne ihn leben lassen solle.

Feßler jedoch bestand auf seinem Sinn. Er umschloß seine beiden Kinder in einer Umarmung, dann trennte er sie sanft:

»Leb wohl, Gottfried«, sagte er, »in drei Jahren bist du wieder bei uns. Geh, lieber Sohn. Im Vaterlande eines Harrison« – in seinen feuchten Augen leuchtete es begeistert auf-, »eines Mudge, eines Arnold müssen unsere künftigen Meister leben. Wenn du heimkommst, werde ich von dir lernen.«

Allein dieses Wort sollte nicht zur Wahrheit werden. Als Gottfrieds Lehrzeit um war und er nach Hause zurückkehrte, behauptete er, bei seinen neuen Meistern nichts so gut gelernt zu haben, als seinen alten Meister und dessen Kunst zu schätzen. So berühmt jene auch seien, so teuer ihre Arbeiten bezahlt werden, Feßler dürfe sich mit dem Größten von ihnen messen. Eines nur verstände auch der Geringste unter allen besser, nämlich seine Geschicklichkeit geltend zu machen und zu verwerten. Diesen Vorwurf wies Feßler lächelnd zurück. Beehrten ihn die vorzüglichsten Uhrmacher nicht mit ihren Bestellungen? zögerten sie, ihren Namen in eine Uhr schreiben zu lassen, die aus seinen Händen kam?

Aber Gottfried schüttelte den Kopf und meinte, das sei es eben, was ihn kränke. – »Ihr Name auf deinem Werk! wo steht denn der deine? Wer kennt dich? wer weiß etwas von dir!… Was hast du von deinen unvergleichlich schönen und genauen Arbeiten?«

»Die Freude, sie zu machen!« war die Antwort Feßlers, und das Herz schwoll ihm vor Wonne über die Anerkennung, die sein weitgereister Sohn ihm zollte.

Die kleine Familie verlebte damals eine herrliche Zeit. Eine Zeit voll beseligenden Friedens und erfolgreicher Tätigkeit. Feßler war mit der Vollendung eines Chronometers beschäftigt, den er selbst für sein bestes Werk hielt. Gottfried lieferte dazu eine Kompensationsunruhe von so einziger und zarter Ausführung, daß Meister Johannes bei ihrem Anblick laut ausrief:

»Unübertrefflich!« – Dieses Lob hatte er noch nie einer Leistung gespendet, die aus seiner Werkstatt hervorgegangen war. Lotti hingegen gelang es, eine höchst merkwürdige und komplizierte Taschenuhr aus dem 16. Jahrhundert in Gang zu bringen. Es bedurfte dazu außerordentlicher Geschicklichkeit, unsäglicher Geduld – aber welche Freude, als sie belohnt wurden und das seltsame kleine Ding seine abenteuerlich geformten Räder in Bewegung zu setzen begann. Feßler und Gottfried lachten, staunten, bewunderten; das Herz des jungen Mädchens pochte vor Entzücken … Ja, es war eine herrliche Zeit! – warum mußte sie so rasch vergehen? Warum mußten ihr, die so erfüllt war von stillem und harmlosem Glück, Tage folgen voll Pein und Qual? Böse Tage, in denen die fleißigen Hände Lottis ruhten, aus ihrer Seele jedoch die Ruhe gewichen war. Tage, in denen alles, was sonst ihr Leben erhellte, ihr gleichgültig geworden, und das Leben selbst – eine Last.