Fortunas Schildknappen

Fortunas Schildknappen

Zur selben Zeit lag das Dorf, das einst zu dem Schlosse gehört, fern unterm Berg in Trümmern. Es war seit dem letzten Durchzug der Schweden zerstört und verlassen, nun rückte der Wald, den die Bauern so lange tapfer zurückgedrängt, über die verrasten Beete unter Vogelschall mit Stacheln, Disteln und Dornen wieder ein und hatte sich das verbrannte Gebälk schon mit Efeu und wilden Blumen prächtig ausgeschmückt und auf dem höchsten Aschenhaufen einen blühenden Strauch als Siegesfahne ausgestreckt, nur einzelne Schornsteine streckten noch, wie Geister, verwundert die langen, weißen Hälse aus der verwilderten Einsamkeit. Heute aber fing auf einmal der eine Schornstein wieder zu rauchen an, ein helles Feuer knisterte unter demselben, und so oft der Wind den Rauch teilte, sah man in der Glut des Widerscheins wilde, dunkle Gestalten, wie Arbeiter in einem Eisenhammer, mit aufgestreiften Ärmeln vor dem Feuer hantieren, kochen und Bratspieße drehen; einer saß im Grase und flickte sein Wams, ein andrer lag daneben und sah ihm verächtlich zu, den Arm stolz in die Seite gestemmt, daß ihm im Mondschein der Ellbogen aus dem Loch im Ärmel glänzte, während weiterhin zwei holkische Jäger soeben durch das Dickicht brachen und ein frischgeschossenes Reh herbeischleppten. Es waren versprengte Landsknechte, die das Ende des Dreißigjährigen Krieges plötzlich vom Pferd auf den Friedens- und Bettelfuß gesetzt. In solchem Schimpf hatten sie beschlossen, den Krieg auf ihre eigne Faust fortzusetzen und sich mitten durch ihren gemeinschaftlichen Feind, den Frieden, nach Ungarn durchzuschlagen, wo sie gegen den Türken neue Ehre und Beute zu gewinnen hofften.

«Hartes Bett, gemeines Bett!» sagte der Stolze mit dem Loch im Ärmel, «heute ists gerade ein Jahr, es war auch so eine blanke Nacht, da hings nur von mir ab, ich konnte auf kostbaren Teppichen liegen mit eingewirkten Wappen, in jedem Zipfel mein Namenszug in Gold.» –

Da kniff ein grauer Kerl seitwärts den neben ihm liegenden Dudelsack, der plötzlich schnarrend einfiel. – «Ruhe da!» rief ein breiter Landsknecht hinüber, und mehrere Schalke rückten zum Feuer, um den Schreckenberger (so hieß der Stolze) besser zu hören. Dieser warf dem Dudelsack einen martialischen Blick zu und fuhr fort:

«Denkt Ihr noch dran, nach der Schlacht bei Hanau, wie wir da querfeldein mit der Regimentskasse retirierten, nichts als Rauchwirbel in der Ferne und Rabenzüge über uns, in den Dörfern guckten die Wölfe aus den Fenstern, und die Bauern grasten im Wald.» – «Freilich», versetzte der schlaue Landsknecht, «und eine Dame auf kostbarem Zelter, einen Pagen hinter sich, immer neben uns her, und als wir am Abend an einem verbrannten Dorfe haltmachten, kehrte sie auch über Nacht ein in dem wüsten Gartenschloß daneben.» – «Ja, und die Augen», sagte Schreckenberger, «spielten ihr wie zwei Spiegel im Sonnenschein, dich und die andern hats geblendet, ihr wart alle vernarrt in sie. Nun denk ich an nichts und gehe abends am Schloß vorüber, da schreibt sie euch aus dem Fenster ordentlich: ‹Vivat Schreckenberger!› mit den feurigen Blicken in die Luft, und wie ich mich wende, ruft sie: ‹Ach!› und fällt in Ohnmacht vor großer Lieb zu mir. So was war mir schon oft passiert, ich fragt wenig darnach, da ich aber tiefer im Garten bin, kommt plötzlich der Page im Dunkel daher mit einem Brief an mich auf rosenfarbenem Papier.» Hier zog Schreckenberger ein Brieflein aus dem Wams und reichte es mit vornehm zugekniffenen Augen über die Achsel den andern hin. Der Landsknecht nahm es hastig und las: «Im Garten bei Nacht – Das Lusthaus ohne Wacht – Sturmleiter daran – Cupido führt an – Um Mitternacht Runde – Parol: Adelgunde.» –

«Das klappt ja wie ein Trommelwirbel», sagte der Landsknecht, indem er, den Brief zurückgebend, neugierig noch näher rückte, «ja, Cupido hat schon manchen angeführt, nur weiter, weiter!»

«Kurz: Um Mitternacht bin ich auf meinem Posten», hub Schreckenberger wieder an, «im Garten nichts als Mondschein, große Stille, das Lusthaus wies im Briefe steht, droben ein offnes Fenster auf dem Dach, drunten eine Leiter, ich weiß nicht mehr, ob von Sandelholz oder Seide oder Frauenhaaren. Ich fackle nicht lange, die Büchse auf dem Rücken, in jeder Hand ein Pistol, den blanken Säbel zwischen den Zähnen, so klettr ich hinauf -»

«Also du warst es doch!» fiel hier der Landsknecht verwundert ein.

«Nun wer denn sonst?» erwiderte Schreckenberger, «und Jasmin, wie ich hinaufsteige, Rose von Jericho, Holunder, Jelängerjelieber, alles umhalst und umschlingt mich vor Freuden, das riß sich ordentlich um mich, daß ich die Sporen nicht nachbringen konnte, und vom Fenster droben hoben mich plötzlich zwei alabasterne Schwanenarme aus dem Brunnen der Nacht, und über mir ein prächtiges Gewitter von schwarzen Locken, da blitzen Augen und Juwelen draus, und in dem Brunnen gehen immerfort goldne Eimer auf und nieder mit Muskateller und Konfekt, und die Gräfin Adelgunde sitzt neben mir auf einem mit Diamanten gesprenkelten Kanapee, und: ‹Langen Sie zu›, sagte sie, und: ‹oh ich bitte sehr› sag ich – da hör ich auf einmal unter uns in dem Lustpalaste inwendig ein Gesumse wie in einem Bienenstock. ‹Was war das?› ruf ich -»

Jetzt brach plötzlich ein Lachen aus. «Wir warens», sagte einer der Zuhörer, «denn wir steckten ja alle drin, der Page hatte uns alle nacheinander auch ins Lusthaus geladen und drauf die Tür hinter uns verriegelt.»

Aber Schreckenberger, einmal im Strom der Erzählung, ließ sich nicht irremachen; «ich springe auf», fuhr er fort, «’ha, Verrat!‘ schrei ich –»

Nun sprachen alle rasch durcheinander: «Ja, du machtest einen Teufelslärm auf dem Dache, denn sie hatten hinter dir die Leiter weggenommen, und das Fenster oben war verschlossen.»

«Und die Gräfin in dem einen Arm, den Säbel im andern, und unter mir kochts und zischts und rumpelts –»

«Freilich, im dunklen Lusthaus stießen wir einer auf den andern, und einer fragte den andern trotzig, was er hier suche, und jeder hatte seine Parole Adelgunde, bis wir zuletzt alle aneinander gerieten und aus der Parole ein großes Feldgeschrei und Geraufe wurde.»

«Und ich steche links, steche rechts, die Gräfin, ohnmächtig, ruft: ‹Genug des Gemetzels!› Aber ich laß mich nicht halten und feure prasselnd alle meine Pistolen ab nach allen Seiten wie ein Feuerwerk -»

«Das hörten wir wohl», fiel nun der Landsknecht wieder ein, «und hieltens für einen feindlichen Überfall, da arbeiteten wir und stemmten uns an die verriegelte Tür und die Wände, bis das ganze morsche Lusthaus über uns in Stücken auseinanderging. So kamst du auch kopfüber mit herunter – du machtest einmal Sprünge quer übers Feld fort, ohne dich umzusehn! wir erkannten dich nicht in der Verwirrung und wußten dann gar nicht, wo du auf einmal hingekommen; später hieß es, du wärst zu den Kaiserlichen desertiert in dieser Nacht.»

«Nacht?» fuhr der unverwüstliche Schreckenberger noch immer fort, «ja recht mitten durch die Nacht auf einem schneeweißen Zelter, sich die Tränen wischend mit dem goldbordierten Schleier und mir zuwinkend, flog die dankbar gerettete Gräfin –»

«Mit eurer verlaßnen Regimentskasse in die weite Welt», versetzte einer der holkischen Jäger, «denn es war unsere Marketenderin, die schöne Sinka, die hatts euch allen angetan, das merkte sie wohl und vexierte euch von der Feldwacht fort.»

Schreckenberger schwieg und warf wieder einen martialischen Blick rings in die Runde. Aber der Jäger fuhr fort: «Und gleich am andern Morgen, da wir bei unserem Regiment sie alle kannten, wurden wir kommandiert, ihr nachzusetzen. Das war eine lustige Jagd, wir strichen wie die Füchse auf allen Diebswegen und schüttelten jeden Baum, ob das saubre Früchtchen nicht herabfiele. So kamen wir am folgenden Abend – es war gerade ein Sonntag – in ein kleines Städtchen; da war großes Gewirr auf dem Platz, ein Stoßen und Drängen und Lärm von Trommeln und Pfeifen, in allen Fenstern lagen Damen wie ein Blumengeländer bis an die Dächer herauf, wo die Schornsteinfeger aus den Rauchfängen guckten und vor Lust ihre Besen schwangen. An des Burgemeisters Hause aber war vom Balkon ein Seil gespannt über die Stadt und die Gärten weg bis zum Waldberg jenseits überm Fluß. Ein schlanker Bursch stand auf dem Geländer des Balkons in flimmernder spanischer Tracht mit wallenden Locken. Der alte Burgemeister schien wie vernarrt in das blanke Püppchen, plauderte und nickte ihm freundlich zu, daß die Sonne in den Edelsteinen seines kostbaren Hutes spielte, der Bursch reckte ihm lachend den Fuß hin, er mußte ihm mit einem großen Stück Kreide die Sohlen einreiben. Auf einmal wendet er sich herum: – ‹das ist Sinka!› ruf ich erstaunt meinen Kameraden zu. – Aber sie hatte uns auch schon bemerkt, und eh wir uns durchdrängen können, nimmt sie rasch dem Burgemeister den kostbaren Hut von der Glatze, drückt sich ihn auf die Locken, und zierlich mit zwei bunten Fähnchen schwenkend und grüßend schreitet sie unter großem Jubelgeschrei über Köpfe, Dächer und Gärten fort. Der Abend dunkelte schon, das Seil wurde unkenntlich aus der Ferne, es war, als ginge sie durch die leere Luft, die untergehende Sonne blitzte noch einmal in den Steinen am Hut, so verschwand sie wie eine Sternschnuppe jenseits überm Walde; niemand hat sie wiedergesehn.»

«Meinetwegen, Stern oder Schnuppe!» fiel hier Schreckenberger ein, tat einen Zug aus seiner Feldflasche und sang:

Aufs Wohlsein meiner Dame,
Eine Windfahn ist ihr Panier,
Fortuna ist ihr Name,
Das Lager ihr Quartier.

Und wendet sie sich weiter,
Ich kümmre mich nicht drum,
Da draußen ohne Reiter
Da geht die Welt so dumm.

Statt Pulverblitz und Knattern:
Aus jedem wüsten Haus
Gevattern sehn und schnattern
Alle Lust zum Land hinaus.

Fortuna weint vor Ärger,
Es rinnet Perl auf Perl.
«Wo ist der Schreckenberger?
Das war ein andrer Kerl!»

Sie tut den Arm mir reichen,
Fama bläst das Geleit,
So zu dem Tempel steigen
Wir der Unsterblichkeit.

Nun schwenkten die andern die Hüte, und: «Vivat das hohe Brautpaar», schrien sie jubelnd, «hoch lebe unser Tempelherr der Unsterblichkeit!» und der Dudelsack schnurrte wieder einen Tusch dazu.

Da schlugen plötzlich die großen Hunde an, die jede Nacht um ihr Lager die Runde machten, die Gesellen horchten auf, es war auf einmal alles totenstill. Man hörte in der Ferne Äste knacken, wie wenn jemand durchs Dickicht bräche, es kam immer näher, jetzt vernahmen sie deutlich Fußtritte und Stimmen, die Wipfel der Sträucher bewegten sich schon, Schreckenberger nahm schnell seine Muskete und zielte nach der Gegend hin.

Plötzlich aber ließ er Arm und Flinte wieder sinken: «ih, Pamphil, wo kommst denn du hergezigeunert?» rief er ganz verwundert aus. Der Puppenspieler trat aus dem Gebüsch, Seppi und Denkeli hinter ihm, die großen Hunde, denen sie Brocken zuwarf, gaben ihnen frei Geleit. Der Puppenspieler visierte erst die ganze Gesellschaft rings im Kreise scharf mit dem einen Auge, dann, da er lauter bekannte Gesichter bemerkte, nahm er das schwarze Pflaster vom andern. «Hast du wieder Mondfinsternis gemacht, um besser zu mausen?» fragte lachend der Landsknecht. – «Wir sind alle im abnehmenden Mond bei dem wachsenden Frieden», erwiderte Pamphil, «Wir haben den faulen Bauern die Felder mit Blut gedüngt, nun schießt alles in Kraut und Rüben, die Welt wird noch ersticken vor Langerweile. Aber was treibt ihr hier, ihr alten Kriegsgurgeln, man hört euch ja eine halbe Meile weit durch die stille Nacht, ich konnt nicht fehlen.»

Nun raschelte es in allen Winkeln, immer mehr wilde Gestalten richteten sich aus dem Dunkel empor, da war des Begrüßens, Händeschüttelns und Fragens kein Ende. Wie sie aber hörten, daß Pamphil soeben von dem Schlosse kam, das sie unterwegs von fern überm Wald gesehn, trat alles um ihn herum, und da er von zwei Kavalieren droben erzählte und von einem schönen Reisewagen im Hofe, mußt er ihnen alles ausführlich beschreiben; sie zweifelten nicht, daß es die beiden Edelleute mit der Karosse seien, die sie vor einiger Zeit bei Nacht in dem Städtchen gesehen und die ihnen dann im Walde mitten durchs Kreuzfeuer ihrer Pistolen so schnöde entwischt.

Unterdes saß Denkeli seitwärts auf einem Baumsturz, den Kopf in die Hand gestützt und ohne sich um die andern zu bekümmern, man wußte nicht, ob sie müde oder traurig. Das stach den Gesellen in die Augen, einige wollten sich galant zeigen und scharrten und gollerten wie aufgeblasene Truthähne um sie herum. Der holkische Jäger, kecker als die andern, schlich sich leis von hinten heran, um das Mädchen zu küssen, da wandt sie sich und gab ihm unversehens eine Ohrfeige, daß es laut klatschte. Der Überraschte griff wütend nach seinem Hirschfänger, aber der Puppenspieler, der alles bemerkt, hatte ihn schon von unten an dem einen Bein gefaßt und hob ihn so, zu allgemeinem Gelächter, mit ausgestrecktem Arm hoch über sich in die Luft. «Bleibt meiner Denkeli vom Leib», rief er mit martialischen Mienen, «oder ich mach meine schönsten Kunststücke an euern eignen Knochen durch.» – «Laßt sie nur», sagte Denkeli, «ich werde schon allein mit ihnen fertig, heute kommen sie mir gerade recht.» – Der Jäger, da er wieder auf dem Boden war, sah den Puppenspieler halb verwundert, halb trotzig vom Kopf bis zu den Füßen an, wie ein Mops, der unverhofft auf einen Bullenbeißer gestoßen.

Denkeli aber blickte scharf zur Seite zwischen die dunkeln Bäume, dort waren die andern unterdes wieder zusammengetreten und redeten heimlich untereinander in der Spitzbubensprache. Eine entsetzliche Ahnung stieg plötzlich in ihrer Seele auf, denn sie hörte von Zeit zu Zeit des reichen Fräuleins auf dem Schloß und der beiden Kavaliere erwähnen. Ihr Herz klopfte; scheinbar gleichgültig am Feuer kauernd und die Flamme schürend, horchte sie mit wachsender Angst hinüber, da erfuhr und erriet sie nach und nach alles: wie sie noch heute den Berg hinaufschleichen, das schlechtverwahrte Schloß im ersten Schlafe überfallen und die Beraubten auf ewig still machen wollten. Auch der Vater trat nun hinzu und schien mancherlei guten Rat zu erteilen.

Denkeli dachte mit Schrecken an Siglhupfer, den sie oben gesehn. Sonst achtete sie wenig auf die Anschläge der Männer, sie war von Jugend dran gewöhnt; jetzt kam ihr auf einmal alles ganz anders und unleidlich vor. Aber zu verhindern wars nicht mehr, das wußt sie wohl, eher hätte sie den Sturmwind im Fluge wenden können. So suchte sie nach kurzem Bedenken unbemerkt die Pistolen des Vaters hervor, lud sie und legte drauf hastig ihren schönsten Putz an, ihre Augen funkelten, und wie sie auf einmal, von den schwarzen Locken umringelt, sich in ihrem Schmuck am Feuer aufrichtete, erschrak alles, so prächtig war sie. Der Vater lobte sie, daß sie etwas auf sich hielt vor den Leuten. Sie erwiderte rasch, sie wisse schon alles, sie habe sich die Gegend wohl gemerkt und wolle nach dem Schloß vorausgehn, um auszukundschaften, ob der Wald sicher, eh die andere nachkämen. Es fiel dem Vater nicht auf, er kannte sie, wie beherzt sie war. Da stand sie noch einen Augenblick zögernd. «Lebt wohl», sagte sie dann aus tiefstem Herzensgrund. Der Vater stutzte bei dem ungewöhnlich bewegten Klang der Stimme und sah ihr in Gedanken nach, aber, ihr Tamburin schwingend, war sie schon im Walde verschwunden.

Erzählung (1841)

Erzählung (1841)

Die Glücksritter

Der Abend funkelte über die Felder, eine Reisekutsche fuhr rasch die glänzende Straße entlang, der Staub wirbelte, der Postillon blies, hinten auf dem Wagentritte aber stand vergnügt ein junger Bursch, der, im Wandern heimlich aufgestiegen, bald auf den Zehen lang gestreckt, bald sich duckend, damit die im Wagen ihn nicht bemerkten. Und hinter ihm ging die Sonne unter und vor ihm der Mond auf, und manchmal, wenn der Wald sich teilte, sah er von ferne Fenster glitzern im Abendgold, dann einen Turm zwischen den Wipfeln und weiße Schornsteine und Dächer immer mehr und mehr, es mußte eine Stadt ganz in der Nähe sein. Da zog er geschwind die Ärmel seines Rocks tiefer über die Handgelenke, denn er hatte ihn ausgewachsen, auch war derselbe schon etwas dünn und spannte über dem Rücken. Im Walde neben ihm aber war ein großes Gefunkel und Zwitschern und Hämmern von den Spechten, bald da, bald dort, als wollten sie ihn necken, und die Eichkätzchen guckten um die Stämme nach ihm, und die Schwalben kreuzten, jauchzend über den Weg: «Kiwitt, kiwitt, was hat dein Rock für einen schönen Schnitt!

So gings wie im Fluge fort, es wurde allmählich dunkel, jetzt klangen schon deutlich die Abendglocken über den Wald herüber. «Sind wir bald dort?» fragte eine wunderliebliche Stimme aus dem Wagen. – «Gleich, gleich», antwortete rasch der Bursch, der sich in der Freude vergessen; da bemerkten sie ihn erst alle. «Wart, ich will dir herunterhelfen!» rief der Postillon und hieb mit der Peitsche zurück nach ihm, eine Hand haspelte eifrig von innen am Wagenfenster. Indem aber fuhren sie eben an einer Gartenmauer hin, über die der Ast eines Apfelbaumes weit herauslangte, der Bursch hatte ihn schon gefaßt und schwang sich behend auf die Mauer und von der Mauer auf den Baum. Darüber öffnete sich das Glasfenster der Kutsche, ein junges Mädchengesichtchen guckte neugierig hervor. «Gott, wie ist die schön!» rief der Bursch und schüttelte aus Leibeskräften den Baum vor Lust, daß der Wagen im Vorbeifliegen ganz von Blüten verschneit war. Über dem Schütteln aber flog ihm droben der Hut vom Kopf, er wollte ihn haschen, darüber verlor er sein Bündel, und eh er sichs versah, fuhren Hut und Bündel und Bursch prasselnd zwischen den Zweigen in den fremden Garten hinab.

Jetzt tats plötzlich unten einen lauten Schrei, er aber erschrak am allermeisten, denn als er aufblickte, bemerkte er in der Dunkelheit eine Dame und einen Herrn dicht vor sich, die dort zu lustwandeln schienen. Da ruft ihm aber zu seinem großen Erstaunen auch schon der Herr lachend entgegen: «Nun, endlich, endlich, willkommen!» und: «Wir haben schon recht auf Sie gewartet», sagt die Dame. Der Bursch, ohne sich in der Konfusion lange zu besinnen, macht ein Kompliment und erwidert: Sein Kurier wäre an allem schuld, der hätte zur Unzeit mit der Peitsche geschnalzt, da habe sein Roß einen erstaunlichen Satz gemacht, daß er mit der Frisur am Aste hängen geblieben; so habe er in der Geschwindigkeit die Gartentür verfehlt – und den rechten Ton getroffen, meinte die Dame, Sie spielen zum Entzücken. – «Bloß das Klarinett ein wenig», sagte der Bursch verwundert. – «Aber wo bleibt denn dein Schatz?» fragte der Herr wieder. «Schatz?» – entgegnete der Bursch – «oh, die kommt mir mit Extrapost nachgefahren wie eine Ananas im Glaskasten.» – Und wahrhaftig, als er unter den dunkeln Bäumen umherschaute, sah er seitwärts am Gartentor den Wagen, den er kaum verlassen, soeben im hellen Mondschein stillhalten. Aber die andern bemerkten es nicht mehr, sie waren schon lachend vorausgeeilt. «Er ist da, Herr Klarinett ist da!» riefen sie und sprangen nach dem Hause im Garten, daß der taftene Reifrock der Dame im Winde rauschte.

Indem aber hüpft auch das hübsche Frauenzimmer am Tor schon aus dem Wagen und gleich hinter ihr ein junger Mensch, schlank, gesellenhaft, ein Bündel auf dem Rücken; die streichen im Dunkel an dem Burschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht, schnell vorüber gerade nach dem Hause hin, und wie sie ankommen, geht eben die Haustür auf, ein Glanz von Lichtern schlägt blendend heraus, drin sumst und wimmelt es ordentlich vor Gesellschaft. Da, Herr Klarinett und sein Schatz – und süperb und tausendwillkommen, hört der Bursch von dem Hause, drauf noch ein großes Scharren und Komplimentieren auf der Schwelle, dann klappt auf einmal die Saaltür hinter dem ganzen Jubel zu, und der Bursch stand wieder ganz allein draußen in der Nacht.

Das ärgerte ihn sehr, denn wußt er gleich in der Finsternis nicht recht, wo eigentlich Fortunas Haarzopf hier flatterte, so hatte er ihn doch fast schon erwischt und sah nun unschlüssig zwischen einem Holunderstrauch hervor. Da eilt plötzlich ein galonierter Bedienter dicht an ihm vorüber, und in demselben Augenblick öffnet sich leise seitwärts ein Fensterchen und: «pst, pst, bist du’s?» reicht ein weißer Arm fix eine Flasche Wein heraus. Der Bursch, nicht zu faul, langt schnell nach der Flasche, der Bediente, der soeben der prächtigen Felsentorte, die er nach dem Hause trug, heimlich zugesprochen, hatte beide Backen voll und konnte weder gleich reden noch zugreifen. Und eh er sich noch besinnt, hat der Bursch auch schon der Torte das Dach eingeschlagen und schiebt sie zur Flasche in den Schubsack, das ging alles so still und rasch hintereinander, daß man’s nicht so geschwind erzählen kann. Nun aber bekam der Bediente endlich Luft und schrie: «Diebe, Spitzbuben!» Das Frauenzimmer am Fensterchen kreischte, ein Hund schlug im Garten an, mehrere Türen im Hause flogen heftig auf. Der Bursch indes war quer durchs Gesträuch schon am andern Ende des Gartens. Kaum aber hatte er beide Beine über den Zaun geschwungen, so schreits schon wieder draußen: «Wer da!» neben ihm. Er, ohne Antwort zu geben, mit den dickgeschwollenen Rocktaschen über ein frischgeackertes Feld immerfort, daß der Staub flog, zwei Kerls mit langen Stangen hinter ihm: «hallo! und fangt den Schnappsackspringer!» und Gärten rechts und Gärten links, so stürzten endlich alle miteinander durch ein altes Tor unverhofft mitten in eine Stadt herein.

Hier wäre er ihnen um ein Haar entwischt, denn er hatte einen guten Vorsprung und flog eben in ein abgelegenes Seitengäßchen, aber das war zum Unglück eine Sackgasse, dort trieben sie ihn hinein und warfen ihm ihre Stangen nach den Füßen, worüber in der ganzen Gegend ein großes Verwundern und Tür- und Fensterklappen entstand. Da trat aber plötzlich ein langer Mann in einem zottigen Mantel um die Ecke, wie ein Tanzbär in Stiefeln, der faßte, ohne ein Wort zu sagen, den einen Häscher am Genick, den andern an der Halsbinde, warf den dahin, den dorthin, riß dem dritten seine Stange aus der Hand und versetzte damit dem vierten, der etwas dick war und nicht so geschwind entspringen konnte, einen Schlag über den breiten Rücken, und in einem Augenblick war alles auseinandergestoben und der Platz leer. Nun wetzte er die eroberte Stange, die unten mit Eisen beschlagen war, kreuzweise auf dem Pflaster, daß es Funken gab, und rief zu wiederholten Malen: «Hoho, sind noch mehrere da, die Prügel haben wollen?» Da sich aber niemand weiter meldete, so nahm er die Stange, die er einen Bleistift nannte, unter den einen Arm und den Burschen unter den andern und führte ihn über die Straße fort. Unterwegs, als dieser sich wieder etwas erholt und nach allen Seiten umgesehen hatte, fragte er endlich, was denn das für eine Stadt sei? – «Das wird Halle geheißen», erwiderte jener.

So kamen sie an ein kleines Haus und über eine enge Treppe, wo der Graumantel mit seinen ungeheuren Reiterstiefeln mehrmals stolperte, in eine große, wüste Stube, in der eine Öllampe verwirrte Scheine über die kahlen Wände und in die staubigen Winkel umherwarf. Der alte Student (denn das war der im Mantel) warf, wie er eintrat, seinen Bleistift mitten in die Stube und zog mühsam das Docht der halbverloschenen Lampe zurecht; da tauchte nach und nach allerlei Gerümpel ringsher aus der Dämmerung: ein ausgetrocknetes Tintenfaß, leere Bierflaschen, die als Leuchter gedient, Rapiere und ein alter Stiefel daneben, da hatt er seine Wäsche drin. Er selbst aber nahm sich, so bei Licht besehen, ziemlich graulich aus: große, weitherausstehende Augen, eine lederne Kappe auf dem zerzausten Kopf, einen Strick um den Leib und lauter Bart wie ein Eremit.

Als er mit der Lampe fertig war, reckte er sich zufrieden, daß ihm alle Glieder knackten. «Ach», sagte er, «solche Motion tut not, wenn man so den ganzen Tag über den Büchern hockt.» – Der Bursch sah sich überall um, aber es war kein Buch zu sehen. – Drauf wandte der Student sich zu ihm: «Aber Fuchs, bist du denn des Teufels», sagte er, «gleich zwischen Spießen und Stangen hier mit der Tür ins Haus zu brechen!» – «Zerbrochen?» entgegnete der Bursch, erschrocken nach seinem Schuhsack greifend, «nein, da ist die ganze Bescherung.» Mit diesen Worten brachte er Flasche und Torte aus den Taschen hervor. Als der Student das sah, fragte er nicht weiter nach dem Herkommen, sondern verbiß sich, obgleich es fast über Mitternacht war, sogleich mit so erstaunlichem Appetit in die Felsentorte, daß ihm die Trümmer über den Bart herabkollerten. «Wie heißt du denn?» fragte er dazwischen. – Der Bursch, ohne sich lange zu bedenken, erwiderte: «Klarinett.» – «Hm, ein guter Klang», meinte der Student. Dann griff er nach dem Wein, und da kein Glas da war, trank er ihm aus der Flasche zu: «Daß dich der Donner erschlage Klarinett, wenn du nicht ein ordentlicher Kerl wirst! Überhaupt», fuhr er, sich den Bart wischend, fort, «wenn du studieren willst, da mußt du die Bücher in die Nase – wollt sagen die Nase in die Bücher stecken und Cajo, Cujacio und allen den schweinsledernen Kerls auf den Leib gehen und wenn sie noch so dick wären!»

«Aber», fiel ihm hier der Bursch ins Wort, «ich bin ja gar kein Student, sondern eigentlich ein wandernder Musikus.»

«Was, ein Musikant?» rief der Student, «was spielst du?» – «Das Klarinett.» – «Oho», sagte er, «du pfeifst also deinen eignen Namen wie der Kuckuck.» Hier ging er, wie in reiflicher Überlegung, mit langen Schritten ein paarmal im Zimmer auf und nieder, dann blieb er plötzlich vor dem Burschen stehen und vertraute ihm, wie er eine große heimliche Lieb gefaßt hätte seit langer Zeit zu einer vornehmen Dame hier im Ort; er wüßte aber nicht, wie sie hieße, sondern ginge nur zuweilen an ihrem Hause vorüber, wo sie mit ihrem dicken Kopfzeug wie eine prächtige Hortensia am Fenster säße, aber sooft er unter die Fenster käme, hörte er bloß ein angenehmes Flüstern droben und sähe nichts als weiße Arme flimmern und Augen funkeln durch die Blumen.

Der Bursch versetzte darauf, er solle sich nur etwas besser herausputzen bei solchen Gelegenheiten. – Der Student sah an sich herunter, schüttelte den Kopf und schien ganz zufrieden mit seinem Aufzuge. Dann sagte er, er hätte schon lange die Intention gehabt, vor ihren Fenstern eine Serenade aufzuführen, aber seine Kommilitonen könnte er dazu nicht brauchen, die würden ihn auszustechen suchen bei ihr; nun aber wolle er ihr morgen abend das Ständchen bringen, da sollte der Bursch mit blasen helfen.

Dieser war damit zufrieden, und nun sollte auch sogleich die Serenade eingeübt werden. Der Student nahm voller Eifer ein Waldhorn von der Wand, staubte es erst sorgfältig ab, setzte ein wackelichtes Notenpult unter Zorn und Fluchen, weil es nicht feststehen wollte, mitten in der Stube zurecht, legte die Notenbücher drauf, und beide stellten sich nun einander gegenüber und fingen mit großer Anstrengung ein sehr künstliches Stück zu blasen an. Darüber aber war bei der nächtlichen Stille nach und nach die ganze Nachbarschaft in Aufruhr geraten. Ein Hund fing im Hofe zu heulen an, drauf tat sich erst bescheiden ein Fenster gegenüber auf, dann wieder eins und endlich unaufhaltsam immer mehrere vom Keller bis zum Dach und dicke und dünne Stimmen durcheinander, alles schimpfte und zankte auf die unverhoffte Nachtmusik. Zuletzt wurde es doch dem Studenten zu toll, er warf voller Wut das Horn weg, ergriff ein altes, verrostetes Pistol vom Tisch und drohte zum offenen Fenster hinaus, den Zipfel von jeder Schlafmütze herabzuschießen, die sich ferner am Fenster blicken ließe. Da duckten auf einmal alle Mausköpfe unter, und es wurde wieder stille draußen, nur der Hund bellte noch ein Weilchen den Mond an, der prächtig über die alten Dächer schien.

Der Student aber, sich den Schweiß von der Stirn wischend, streckte sich nun ganz ermüdet der Länge nach auf das zerrissene Sofa hin, Klarinett sollte sichs auch kommode machen, aber es war nur ein einziger Stuhl in der Stube, und als er ihn angriff, ging die Lehne auseinander. Da wies der Student auf einen leeren Koffer neben dem Kanapee, dann verlangte er gähnend, Klarinett sollte ihm seinen Lebenslauf erzählen, damit er ihm danach gute Ratschläge für sein weiteres Fortkommen erteilen könnte.

Der Bursch schoß einen seltsamen, scharfen Blick herüber, als wollt er erst prüfen, wieviel er hier vertrauen dürfte, dann rückte er sich auf seinem Koffer zurecht und begann nach kurzem Besinnen: «Ich weiß nicht, ob mein Vater ein Müller war, aber er wohnte in einer verfallenen Waldmühle, da rauschten die Wasser lustig genug, aber das Rad war zerbrochen und das Dach voller Lücken, in den klaren Winternächten sahen oft die Wölfe durch die Löcher ins Haus herein.

«Was lachst du denn?» unterbrach ihn hier der Student. – «Wahrhaftig», erwiderte der Bursch, «Ihr gemahnt mich heut ganz an meinen seligen Vater, wie ihn mir die Mutter einmal beschrieben hat.» «Was geht mich dein seliger Vater an», meinte der Student. Aber der Bursch fuhr von neuem lachend fort: «Es war nämlich gerade den Abend nach einer Schlacht, man hatte den ganzen Tag in der Ferne schießen hören, da ging mein seliger Vater eilig ins Feld hinaus, denn die Mühle lag seitwärts im Grunde tief verschneit; so war der Krieg darüber weggegangen. Draußen aber hatte er mancherlei Plunder im Schnee verstreut, zerhauene Wämser, Fahnen, Pickelhauben und Waffen; mein Vater konnte alles brauchen; er fuhr sogleich in ein Paar ungeheure Reiterstiefel hinein, zog hastig Pappenheimsche Kürasse, schwedische Koller und Kroatenmäntel an, eins über das andre, dabei war er in der Geschwindigkeit mit beiden Armen in ein Paar spanische Pluderhosen geraten, der Wind blies den Kroatenmantel im Freien weit auf, je mehr er zuckte und reckte, je verwickelter wurde die Konfusion von Schlitzen, Falten, flatternden Zipfeln und Quasten, und als nun meine Mutter, die eben guter Hoffnung war, ihn so haspelnd und fluchend mit ausgespreizten Armen wie einen fliegenden Wegweiser daherstreichen sah, mußte sie so darüber lachen, daß sie plötzlich meiner genas. Und in demselben Augenblick, wo ich zur Welt kam, ging draußen klingendes Spiel durch die stille Luft, die Kaiserlichen bliesen noch im Fortziehen Viktoria weit auf den Bergen, daß es lustig über den Schnee herüberklang, mein Vater meinte, das wäre ein gutes Zeichen, ich würde ein glücklicher Soldat werden. Ich selbst aber weiß mich von allem dem nur noch dunkel so viel zu erinnern, daß ich so recht still und warm in der wohlgeheizten Stube in meinen Kissen lag und verwundert die spielenden Ringe und Figuren betrachtete, welche die Nachtlampe an der Stubendecke abbildete. Das zahme Rotkehlchen war von dem ungewohnten Licht und Nachtrumor aufgewacht, schüttelte die Federn, wie wenn es auch sein Bettlein machen wollte, setzte sich dann neugierig auf die Bettlade vor mir und sang ganz leise, als wollt es mir zum Geburtstag gratulieren. Meine Mutter aber neigte sich mit ihrem schönen, bleichen Gesicht und den großen Augen freundlich über mich, daß ihre Locken mich ganz umgaben, zwischen denen ich draußen die Sterne und den stillen Schnee durchs kleine Fenster hereinfunkeln sah. Seitdem, sooft ich eine klare, weitgestirnte Winternacht sehe, bin ich immer wieder wie neugeboren.»

Hier hielt er plötzlich inne, denn er hörte soeben Herrn Suppius (so hieß der Student) auf dem Kanapee schon tüchtig schnarchen. Der Mondschein lag wie Schnee auf den Dächern, da wars ihm in dieser Stille, wie der Lampenschein so flatternd an der Decke spielte, als hörte er draußen die Wasser und den Wind wieder gehen durch die Wipfel im Wald und das Rotkehlchen wieder dazwischen singen.

Die Entführung

Erzählung (1839)

Die Entführung

Der Abend senkte sich schon über der fruchtbaren Landschaft, welche die Loire durchströmt, als ein junger Mann, jagdmüde und mit der Büchse über dem Rücken aus dem Walde tretend, unerwartet zwischen den grünen Bergen in der schönsten Einsamkeit ein altes Schloß erblickte. Er konnte durch die Wipfel nur erst Dach und Türme sehen, von Efeu überwachsen, mit geschlossenen Fenstern, halb wie im Schlafe. Neugierig drang er durch das verworrene Gebüsch die Anhöhe hinan, es schien der ehemalige Schloßgarten zu sein, denn künstliche Hecken durchschnitten oben den Platz, weiterhin schimmerte noch eine weiße Statue durch die Zweige, aber rings aus den Tälern ging der Frühling, mit Waldblumen funkelnd, lustig über die gezirkelten Beete und Gänge, alles prächtig verwildernd.

Jetzt, um eine Hecke biegend, sah er auf einmal das ganze Schloß vor sich, mitten im Grün, als wollts in alle Fenster steigen; auf der steinernen Rampe vor der Saaltür, vom Abendrot beschienen, saßen eine ältliche Dame und eine schlanke Mädchengestalt am Stickrahmen, ein zahmes Reh graste neben ihnen in der schönen Wildnis, alle drei den Ankommenden erstaunt betrachtend.

Dieser stutzte überrascht, aber schnell entschlossen näherte er sich den Frauen und entschuldigte mit vielem Anstand seinen unwillkürlichen Überfall; er kenne hier die Waldgrenzen noch zu wenig, so sei er in dies fremde Revier geraten und lege nun als Wildschütz sein Geschick in ihre Hände. Die alte Dame, ohne seine Entschuldigung besonders zu beachten und ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit den Blicken messend, bat ihn, da er fein gekleidet erschien, ziemlich kalt, neben ihnen Platz zu nehmen, indem sie auf einen Lehnstuhl wies, den auf ihren Wink ein bejahrter Diener in etwas verschossener Livree soeben aus dem Gartensaal brachte.

Die Unterhaltung stockte einen Augenblick, aber der Fremde, der sich in der maskenhaften Freiheit eines Unbekannten zu gefallen schien, wußte bald mit großer Gewandtheit das Gespräch zu ergreifen und zu beleben. Sie sprachen demnächst von der Räuberbande, die sich in diesem Frühjahr hier zwischen den Bergen eingenistet und durch ihre verwegenen Züge die ganze Gegend in Furcht und Schrecken setzte. Der Gast sagte lachend, das komme von der langen Friedenszeit, da spiele der Krieg, der sich sein Recht nicht nehmen lasse, auf seine eigne Hand im Lande. Der Mensch verlange immer etwas Außerordentliches, und wenn es das Entsetzlichste wäre, um nur dem unerträglichsten Übel, der Langeweile, zu entkommen. – Die neueste Zeitung lag soeben auf dem Tischchen vor ihnen, sie enthielt eine ungefähre Personbeschreibung des vermutlichen Hauptmannes der Bande. Der Fremde las sie mit großer Aufmerksamkeit, und es fiel der Dame auf, da er darauf um die Erlaubnis bat, das Blatt mitzunehmen, und es hastig einsteckte.

Währenddes war Frenel, der alte Diener, mit sichtbaren Zeichen von Bestürzung wieder hinzugetreten. Er schien aus dem Hofe zu kommen, und der Dame einen heimlichen Wink gebend, sprach er lange leise und lebhaft mit ihr im Hintergrunde des Saales. Er meldete, daß sich im Walde, unweit des Schlosses, unbekannte, bewaffnete Männer zu Pferde gezeigt, sie hielten ein lediges Roß, das schöner und kostbarer gezäumt als die andern. Der Waldhüter, der unbemerkt in ihrer Nähe gewesen, habe deutlich vernommen, wie sie von ihrem Herrn geredet, mehrmals ungeduldig nach dem Schlosse schauend, als ob sie jemanden von hier erwarteten. – Die alte Dame, bei dieser seltsamen Nachricht einen Augenblick nachsinnend, überflog unwillkürlich in Gedanken die Beschreibung des Räuberhauptmannes aus der Zeitung; er war als ein junger, schöner, wohlgewandter Mann geschildert – es fuhr ihr auf einmal wie ein Blitz durch die Seele, wie alles gar wohl auf ihren rätselhaften Gast bezogen werden konnte.

Indem sie so in großer Bewegung mit sich selber schnell beriet, wie sie in dieser sonderbaren Lage sich zu benehmen habe, schien der Fremde von alledem nichts zu bemerken. Er unterhielt sich heiter und angelegentlich mit dem Fräulein, während der Abend über dem wilden Garten schon immer tiefer hereindunkelte. Da fiel plötzlich ein Schuß unten im Walde. Die Dame trat entschlossen einige Schritte auf den Fremden zu. «Das sind meine Leute», sagte dieser, rasch aufspringend. – «Ihre Leute?» – «Gewiß», erwiderte er. – Da er aber auf einmal den Schreck der erbleichten Dame bemerkte, entschuldigte er sich abermals wegen dieser Unruhe, versprach, den Frevler ernstlich zu bestrafen und nahm sogleich Abschied, indem er, flüchtig seinen Namen nennend, noch um die Erlaubnis bat, wiederkommen zu dürfen. Aber niemand hörte oder antwortete ihm in der Verwirrung; so flog er den Schloßberg hinab. Der Abend tat noch einen roten, falschen Blick über die Bergkuppen; unten war schon alles finster und still, man hörte nur den Hufschlag von mehreren Rossen den Waldgrund entlang. Das Fräulein, das nun auch den entsetzlichen Verdacht vernommen, rief aufs tiefste erschrocken: «O Gott, o Gott, er kommt gewiß wieder!»

Wirklich konnte die Lage der verwitweten Marquise Astrenant – so hieß die Dame – gerechte Besorgnis erregen. Die Erinnerung an den alten Glanz und den verschwenderischen Aufwand ihres verstorbenen Gemahls war in der Gegend noch frisch genug, um die Anschläge des Raubgesindels auf das abgelegene Schloß zu lenken, und doch war sie in der Tat so verarmt, daß sie nicht daran denken konnte, in diesem Augenblick mit ihrer Tochter Leontine diese gefährliche Einsamkeit zu verlassen. In dieser Not fiel ihr ein, daß der Graf Gaston, wie sie von ihren Leuten gehört, soeben auf kurze Zeit auf einem seiner benachbarten Jagdschlösser angekommen war. Diesen glücklichen Umstand benutzend, stellte sie dem Grafen, obgleich sie ihn noch nicht persönlich kannte, schriftlich in wenigen Worten ihre Abgeschiedenheit und Gefahr vor und beschwor ihn, als Nachbar sie in ihrer hilflosen Lage zu beschützen. Mit diesem Briefe wurde noch denselben Abend ein reitender Bote nach dem Jagdschlosse gesandt.

So war die Nacht allen unter mancherlei Vorsichtsmaßregeln schlaflos vergangen. Schon am folgenden Morgen aber erhielten sie die Antwort: der Graf werde nicht ermangeln, ihren Wünschen nach Kräften zu entsprechen und womöglich heute noch selbst seine Aufwartung machen. Diese Zusage und das tröstliche Morgenlicht hatten alle Sorge gewendet. Sie schämten sich fast und lachten über die übertriebene Furcht und Besorgnis, womit die Wälder ringsumher im Dunkeln sie geschreckt. Und wie nach Gewittern oft ein heiterer Glanz über die Landschaft fliegt, so brachte auch hier der angekündigte Besuch des Grafen Gaston sehr bald das ganze stille Haus in eine ungewohnte, fröhliche Bewegung. Die gläsernen Kronleuchter, die so lustig funkelten, wurden sorgfältig geputzt, die verstaubten Tapeten ausgeklopft und Teppiche gelüftet, der Morgen glänzte durch die verbleichten, rotseidenen Gardinen seltsam auf dem getäfelten Boden der Zimmer, während draußen über dem sonnigen Rasenplatz vor dem Hause die Schwalben jauchzend hin und her schossen. Leontine erschien besonders fleißig, sie war aufgewachsen zwischen diesen Trümmern des früheren Glanzes, nun schien ihr alles so prächtig, weil es ins Morgenrot ihrer Kindheit getaucht. Die Marquise lächelte schmerzlich, aber sie mochte die Freude der Tochter nicht stören.

Die Sonne stieg indes und senkte sich schon wieder nach den Tälern, und der Graf war zu ihrem Befremden noch immer nicht angekommen, noch hatte er den ganzen Tag über etwas von sich hören lassen. Sie mußten seinen Besuch für heute schon aufgeben, und als endlich der Abend von neuem die Wälder färbte, saßen beide Frauen, durch die Geschäftigkeit des Tages zerstreut und zuversichtlicher geworden, wie sonst wieder auf der steinernen Rampe vor dem Garten an ihrer Arbeit, als wäre eben nichts vorgefallen. Leontine, in vergeblicher Erwartung des Grafen, war geschmückt wie eine arme Braut, die nicht weiß, wie schön sie in ihrer Armut ist. Aber die Abendsonne blitzte über ihre frischen Augen und hüllte sie ganz in ihr schönstes goldnes Kleid, und ihr Reh sah von fern verwundert nach der prächtigen Herrin, es war, als hätt es alle seine Spielkameraden mit herbeigerufen, so neugierig wimmelten die Waldvögel im Garten und guckten durch die Zweige und schwatzten vergnügt untereinander. Vor dem Hause aber ging die Abendluft lind durch die Blumen unter ihnen. Leontine sah oft in Gedanken über ihre Arbeit ins Tal hinaus und sang:

Überm Lande die Sterne
Machen die Runde bei Nacht,
Mein Schatz ist in der Ferne,
Liegt am Feuer auf der Wacht.

Die Marquise sagte: «Das hast du von unserm alten Frenel, da er noch Soldat war; sollte man doch glauben, du hättest einen Offizier zum Liebsten.» Leontine lachte und sang weiter:

Übers Feld bellen Hunde,
Wenn der Mondschein erblich,
Rauscht der Wald auf dem Grunde:
Reiter, jetzt hüte dich!

«Ists denn schon so spät?» unterbrach sie sich selbst, «sie läuten ja schon die Abendglocken, der Wind kommt über den Wald her, wie schön das klingt aus der Ferne herüber.» Sie sang von neuem:

Um das Lager im Dunkeln
Jetzt schleichen sie sacht,
Die Gewehre schon funkeln –
So falsch ist die Nacht!

«Was steigt denn da für ein Rauch auf im Walde?» fragte hier die Mutter. – «Es wird wohl der Köhler sein», erwiderte Leontine, aber sie sah doch gespannt hin und sang zögernd:

Ein Gesell durchs Gesteine
Geht sacht in ihrer Mitt,
Es rasseln ihm die Beine –
Hat einen leisen, leisen Tritt –

«Nein!» sprang sie auf, «das ist ein Brand, da schlägt ja die helle Flamme auf, horch, sie läuten die Sturmglocken drüben!»

Indem nun beide sich erhoben, hörten sie in derselben Richtung ein paarmal schießen, dann war alles wieder still. «Da haben gewiß die Nachbarn großes Jagen», sagte die Marquise, «sie können nun einmal nicht fröhlich sein ohne Lärm.» Da sie aber jetzt das Schloßgesinde am Abhange des Gartenberges versammelt sah, in großer Aufregung untereinander redend und nach jener Gegend hinausschauend, rief sie hinab: Was es gebe? – «Blutige Köpfe!» hieß es zurück, der Waldwärter sei eben aus den Bergen gekommen, der Graf Gaston habe vor Tagesanbruch heimlich alle seine Bauern und Jäger bewaffnet und die Räuberbande aufgespürt und treibe sie von einem brennenden Schlupfwinkel zum andern durch den Wald, es gehe scharf her da drüben! – Da wandte sich Leontine, die bisher wie im Traume gestanden, plötzlich herum, sie sagte: Es sei schändlich und gottlos, die Schlafenden zu überfallen und Menschen zu hetzen wie die wilden Tiere! – Die Mutter sah sie erstaunt an. Aber sie hatte keine Zeit, dem sonderbaren Betragen der Tochter nachzudenken, denn der alte Frenel trat soeben voll Eifer aus dem Hause, er hatte hastig seine Büchse geladen und wollte mit hinunter. Die Marquise beschwor ihn, zum Schutze bei ihnen zu bleiben, wenn etwa einzelne versprengte Räuber hier vorüberschweiften, die andern sollten das Hoftor schließen, sich mit Beilen und Sensen versehen und den offenen Garten umstellen.

Leontine aber war indes schon in das obere Stockwerk gestiegen, die Fledermäuse in den wüsten Sälen schossen verstört aus den offenen Fenstern, sie schaute aus einem Erker angestrengt in die Waldgründe hinaus, als wollte sie durch die Wipfel sehen. Es dunkelte schon über den Tälern, die Schüsse schienen näher zu kommen, manchmal brachte der Wind einen wilden Schrei aus der Ferne herüber, vom Walde sah sie ein Reh von dem Lärm erschrocken unten über die Wiese fliegen. O wäre ich doch ein Mann! dachte sie tausendmal, dazwischen betete sie wieder still im Herzen vor der aufsteigenden Nacht, dann lehnte sie sich weit aus dem Fenster und winkte mit ihrem weißen Schnupftuch über die dunkeln Wälder, sie wußte selbst nicht, was sie tat.

Jetzt hörte sie, wie unten im Garten nach und nach mehrere Boten zurückkamen, die die Mutter auf Kundschaft ausgeschickt; sie konnte in der Stille jedes Wort vernehmen. Die Bande, hieß es, sei völlig geschlagen, gefangen oder zerstreut. Ein anderer erzählte von der außerordentlichen Kühnheit des Grafen Gaston, wie er, überall der erste voran, den Hauptmann selber aufs Korn genommen. Auf der Felsenkante im Walde seien sie endlich aneinander geraten, da habe der Graf ihn, immerfort fechtend, samt dem Pferde über den Abhang hinabgestürzt. Aber Unkraut verdirbt nicht, unten sich überkugelnd seien Roß und Reiter, wie die Katzen, wieder auf die Beine gekommen; nun jagten sie alle den Räuber hier nach dem Schlosse zu, aber er sei ganz umzingelt, er könne nicht mehr entwischen. Gott segne den tapfern Grafen! rief die Marquise bei diesem Berichte aus, er hat ritterlich sein Wort gelöst.

Leontine aber sah wieder unverwandt nach dem Walde, denn draußen hatte die wilde Jagd sich plötzlich gewendet, ein Schuß fiel ganz nah, darauf mehrere, immer näher und näher, man sah die einzelnen Schüsse blitzen im Dunkeln. Auf einmal glaubte sie einen Reiter in verzweifelter Flucht längs dem Saume des Waldes flimmern zu sehen, die Jäger des Grafen, eine andere Fährte einschlagend, schienen ihn nicht zu bemerken, er flog gerade nach dem Schlosse her. Da, in wachsender Todesangst sich plötzlich aufraffend, stürzt sie pfeilschnell über die steinernen Treppen durch das stille Haus hinab und unten an dem alten Walle durch eine geheime Pforte, den Riegel sprengend, ins Freie. Als sie aber am Fuß des Schloßberges atemlos anlangt, vor Ermattung fast in die Knie sinkend, kommt auch der Reiter schon durch die dunkelnde Luft daher – es war, wie sie geahnt, der Fremde von gestern, verstört, mit fliegenden Haaren, sein Pferd ganz von Schaum bedeckt.

«Was wollen Sie hier?» rief sie ihm schon von fern entgegen. – Er, bei ihrem Anblick stutzend, hielt schnell an, und sich vom Pferde schwingend erwiderte er höflich: er wolle, seinem Versprechen gemäß, sie und die Marquise noch einmal begrüßen. «Um Gottes willen, sind Sie rasend? heut, in dieser Stunde?» – Der Reiter entschuldigte sich, der Kampf sei ernster geworden und habe ihn länger aufgehalten, als er gedacht, es sei der einzige noch übrige Augenblick, er müsse sogleich wieder weiter. – «O Gott! ich weiß», fiel Leontine ein. – «Sie wissen?» –

Leontine schauderte, da er, dicht vor ihr, sie auf einmal so durchdringend ansah. – «Sie bluten», sagte sie dann erschrocken. – «Nur ein Streifschuß», entgegnete er; «doch Sie haben recht», fuhr er lächelnd fort, «es ziemt sich nicht, in diesem Zustande bei Damen Besuche abzustatten.» Aber Leontine hörte kaum mehr, was er sprach, sie stand in tiefen Gedanken. «Ich wüßte wohl einen verborgenen Ort für diese Nacht», sagte sie darauf und leise, «wenn nur – nein, nein, es ist unmöglich! Das Schloß ist voll Leute, vielleicht kommt der Graf selbst noch.» – Und den Fremden in steigender höchster Angst fortdrängend, wies sie ihm einen abgelegenen Fußsteig, der führte zu einer Furt des Flusses, da solle er hinüber, dann den Pfad rechts einschlagen – «nur schnell, schnell», flehte sie, «da kommen schon Leute zwischen den Bäumen, sie suchen» – «Wen?» fragte der Reiter, sich rasch umsehend. – «O mein Gott», rief Leontine fast weinend, «Sie selbst, den unglücklichen Hauptmann!» – Der Fremde, bei diesen Worten plötzlich wie aus einem Traume erwachend, schlug schnell den Mantel zurück und nahm sie in beide Arme: «Kind, Kind, wie liebst du mich so schön! Das werde ich dir gedenken mein Leben lang, du sollst noch von dem Räuberhauptmann hören. – Jetzt drängt die Zeit. Grüß die Mutter oben, sag ihr, das Land sei frei, sie könne ohne Sorgen schlafen, leb wohl!» Noch vom Pferde aber bat er sie um ihr weißes Tuch, sie reicht es ihm zögernd; das wollte er um seine Wunde schlagen, da heilt es über Nacht. – So ritt er fort.

Jetzt bemerkte sie erst, daß ihr Handschuh blutig geworden von seinem Arm, sie verbarg ihn, heftig an allen Gliedern zitternd. Im Walde indes und droben im Schlosse gingen verworrene Stimmen, sie sah noch immer dem Reiter nach und atmete tief auf, als er endlich in der schirmenden Wildnis verschwunden. Dann setzte sie sich auf den Rasen, den Kopf in beide Hände gestützt, und weinte bitterlich.

 

Noch in derselben Nacht brach auch Graf Gaston von seinem Jagdschlosse wieder auf, wohin er nur erst vor wenigen Tagen mit dem Ruhme eines ausgezeichneten Offiziers aus fremdem Kriegsdienste zurückgekehrt, um sich in der Einsamkeit zu erholen. Aber der Ruf seiner Tapferkeit war ihm längst nach Paris vorangeeilt, und fast gleichzeitig mit der Bitte der Marquise um seinen Schutz vor den Räubern erhielt er den unerwarteten Befehl des Königs, sich unverzüglich an den Hof zu begeben, wo man bei den damaligen heimlichen Kriegsrüstungen seine Erfahrung benutzen wollte. So war es gekommen, daß er, um sein Wort gegen die besorgte Dame zu lösen, die Räuberjagd auf das gewaltsamste beschleunigt, dann aber keine Zeit mehr übrig hatte, bei der Marquise noch den versprochenen Besuch abzustatten.

In Paris zog er wie im Triumphe ein. Der frische Lorbeerkranz stand der hohen, schlanken Gestalt gar anmutig zu dem gebräunten Gesicht. Nun folgte ihm auch noch das vergrößernde Gerücht der Kühnheit, womit er soeben die lange vergeblich aufgesuchte Räuberbande wie im Fluge zwischen den Bergen vernichtet. Der König selbst hatte ihn ausgezeichnet empfangen, jedermann wollte ihn kennenlernen, und die Damen sahen scheu und neugierig durch die Fenstergardinen, wenn er im vollen Schmuck soldatischer Schönheit die Straßen hinabritt. – Unter ihnen aber zog nur eine seine Aufmerksamkeit auf sich, und diese hatte er bis jetzt noch nirgends erblickt.

Ganz Paris sprach damals von der jungen, reichen Gräfin Diana, einer amazonenhaften, spröden Schönheit mit rabenschwarzem Haar und dunkeln Augen. Einige nannten sie ein prächtiges Gewitter, das über die Stadt fortzöge, unbekümmert, ob und wo es zünde; andere verglichen sie mit einer zauberischen Sommernacht, die, alles verlockend und verwirrend, über seltsame Abgründe scheine. So fremd und märchenhaft erschien diese wilde Jungfräulichkeit an dem sittenlosen Hofe.

Über ihr früheres Leben konnte Graf Gaston nur wenig erfahren. Schon als Kind elternlos und auf dem abgelegenen Schlosse ihres Vormunds ganz männlich erzogen, soll sie diesen in allen Reiter- und Jagdkünsten sehr bald übertroffen haben. Da verliebte sich, so hieß es, der unkluge Vormund sterblich in das wunderbare Mädchen, dem schon längst der benachbarte junge Graf Olivier mit aller schüchternen Schweigsamkeit der ersten Liebe heimlich zugetan war. Um den Vormund zu vermeiden, hatte er, wie von einem Spazierritt oder vom Jagen zurückkehrend, sich fast jeden Abend, wenn im Schlosse schon alles schlief, unter ihren Fenstern eingefunden, wo sie in der Stille der Nacht, da sie seine zärtlichen Blicke nicht verstand, sorglos und fröhlich mit ihm zu plaudern pflegte. – Jetzt aber, da er eines Abends spät wiederkommt, trifft er zu seinem Erstaunen die Gräfin reisefertig draußen im Garten. Sie verlangt ein Pferd von ihm, sie könne mit dem Vormund nicht länger zusammen wohnen. Überrascht und einen Augenblick ungemessenen Hoffnungen Raum gebend, bietet er ihr sein eigenes Roß an und schwingt sich freudig auf das seines Dieners, der unter den hohen Bäumen am Garten hielt. So reiten sie lange schweigend durch den Wald. Da öffnet ihm die schöne Einsamkeit das Herz, er spricht zum ersten Mal glühend von seiner Liebe zu ihr, während sie eben an einem tiefen Felsenriß dahinziehn. Diana, bei seinen Worten erschrocken auffahrend, sieht ihn verwundert von der Seite an, drauf, nach kurzem Besinnen plötzlich ihr Pferd herumwerfend, setzt sie grauenhaft über die entsetzliche Kluft – sein störrisches Pferd bäumt und sträubt sich, er kann nicht nach. Drüben aber hört er sie lachen, und eh sie im Walde verschwunden, blitzt noch einmal die ganze Gestalt seltsam im Mondlicht auf; es war ihm, als hätt er eine Hexe erblickt. – So kam sie mitten in der Nacht ohne Begleitung auf dem Landhaus ihrer Tante bei Paris an. Olivier aber hatte wenige Tage darauf seine Güter verlassen und fiel im Auslande im Kriege; man sagt, er habe sich selbst in den Tod gestürzt.

Der Tor! dachte Gaston, wer schwindelig ist, jage nicht Gemsen! Es war ihm recht wie Alpenluft bei der Erzählung von der schönen Gräfin, und er freute sich auf das bevorstehende Hoffest, wo er ihr endlich einmal zu begegnen hoffte.

 

Der Ball bei Hofe war halb schon verrauscht, als Gaston, den Besuche, Freunde und alte Erinnerungen auf jedem Schritte aufgehalten hatten, in seinen Domino gewickelt, die Treppen des königlichen Schlosses hinaufeilte. Betäubt, geblendet trat er mitten aus der Nacht in das erschreckende Gewirr der Masken, die sich gespenstisch schrillend kreuzten, durchblitzt vom grünen Gefunkel der Kronleuchter und in den Spiegelwänden tausendfach verdoppelt, wie wenn das heidnische Gewimmel von den gemalten Decken der Gemächer plötzlich lebendig geworden und herabgestiegen wäre.

Als er, sich mühsam durchdrängend, endlich den großen Saal erreicht, fiel eben die Musik majestätisch in ein Menuett ein, die tanzfertigen Paare, einander an den Fingerspitzen haltend, verneigten sich feierlich gegen den Eingang, als wollten sie den Eintretenden bewillkommnen, der sich nicht enthalten konnte, die Begrüßung mit einem tiefen Kompliment zu erwidern. Da schwang der Kapellmeister auf dem goldverschnörkelten Chor seine Rolle wieder: ein neuer Akkord, und wie auf einen Zauberschlag mit den taftenen Gewändern auseinanderrauschend, auf den Zehen sich zierlich wendend und wieder verschlingend, wogt es auf einmal melodisch den ganzen, kerzenhellen Saal entlang.

Gaston aber sah wie ein Falk durch die duftende Tanzwolke, denn sooft sie sich teilte, erblickte er im Hintergrunde mitten zwischen den fliegenden Schößen und Reifröcken, gleich einer Landschaft durch Nebelrisse, eine prächtige Zigeunerfürstin, hoch, schlank, mit leuchtendem Schmuck, die Locken aufgeringelt über die glänzenden Schultern.

Und wie er noch so hinstarrend stand, kam sie selber quer durch den Saal und ein Kometenschweif galanter Masken hinter ihr, die ihr eifrig den Hof zu machen schienen. Sie war in seltsamer Geschäftigkeit. Aus ihrem Handkörbchen ein Band aufrollend, schwang sie es plötzlich wie einen Regenbogen über die Verliebten, jeder griff und haschte graziös darnach. Drauf hier und dort durch den Haufen sich schlingend und alle wie mit Zaubersprüchen rasch umgehend, das eine Ende des Bandes fest in der Hand, schlang sies behend dem einen um den Hals, dem andern um Arm und Füße, immer schneller, dichter und enger. Die überraschten Liebhaber, Ritter, Chinesen und weise Ägyptier, als sie die unverhoffte Verwickelung gewahr wurden, wollten nun schnell auseinander, aber je zierlicher sie sich wanden und reckten, je unauflöslicher verwirrte sich der Knäuel; auf dem glatten Boden ausglitschend, verloren sie Larven, Helme und phrygische Mützen, daß die Haarbeutel zum Vorschein kamen und der Puder umherstob, das Menuett selbst kam aus seiner Balance, man hörte im Saale ein kurzes, anständiges Lachen – die Zigeunerin aber war unterdes in dem Getümmel verschlüpft.

Gaston aber, eh sich die andern besannen, flog ihr schon nach, aus dem Saal, durch mehrere anstoßende Zimmer. Dort in den Spiegeln ihn hinter sich gewahrend, wandte sie sich einmal nach ihm herum, daß er vor den Augen erschrak, die aus der Larve funkelten. Dann sah er sie durch den Gartensaal schweifen, jetzt trat sie aus der Tür auf die Terrasse und schien plötzlich draußen in der Nacht zu verschwinden, wie ein Elfe, der nur neckend zum flüchtigen Besuch gekommen.

Gaston wollte dennoch seine Jagd nicht aufgeben, wurde aber durch einen ungewöhnlichen Aufruhr der Gesellschaft aufgehalten. Die Masken traten rasch auseinander, ehrfurchtsvoll eine Gasse bildend; der König mit seiner vertrautesten Umgebung nahte, nach allen Seiten sprechend und lachend, unmaskiert in bürgerlicher Kleidung, ein schöner Jüngling voll lebensfrohen Mutwillens, wie damals Ludwig der Fünfzehnte war. «Hütet Euch, Gaston» – sagte er, diesen sogleich an Größe und Haltung erkennend -, «dies ist eine gefährliche Räubernacht, es wird mit Augen um Herzen gefochten.»

Alle Blicke waren auf den Grafen gerichtet, der nun, die Larve abnehmend, dem König folgen mußte. Sie traten, um sich zu erfrischen, vor den Gartensaal hinaus. Es war eine schwüle Sommernacht, der Himmel halb verdunkelt von finstern Wolken, aus denen sich die weißen Statuen fast gespenstisch abhoben, tiefer im Garten hörte man eine Nachtigall schlagen, zuweilen blitzte es von fern über den hohen, schwarzen Bäumen.

Der König, indem er sich tanzmüde und gähnend unter den Orangenbäumen auf der Terrasse niederließ, wollte zur Unterhaltung von Gaston irgendein Abenteuer seiner Fahrten hören. Diesem, der noch immer zerstreut und unruhig in den Garten schaute, wo die Zigeunerin verschwunden, war bei dem plötzlichen Anblick der stillen Nacht soeben ein seltsamer Vorfall wieder ganz lebendig geworden, und ohne sich lange zu besinnen, erzählte er, wie er auf seiner jetzigen Reise hierher eine alte, verfallene Burg, in der es der Sage nach spuken sollte, aus Neugier besucht und, da es gerade schwüle Mittagszeit, unter den Trümmern im hohen Grase rastend eingeschlummert.

«Gute Nacht, gute Nacht!» unterbrach ihn der König, «das ist ein schläfriges Abenteuer.»

«Es wird gleich wieder munter, Sire», entgegnete Gaston, «denn auf einmal, mitten in dieser Einsamkeit, fiel ein Schuß ganz in der Nähe, traumtrunken seh ich ein Reh getroffen vor mir in den Abgrund stürzen, und wie ich erschrocken aufspringe, steht über mir zwischen den wilden Nelken im zerbrochenen Fensterbogen der Burg eine unbekannte, wunderschöne Frauengestalt auf ihr Gewehr gestützt, die wandte sich nach mir, – den Blick vergesse ich nimmer, gleichwie das Wetterleuchten überm Garten dort!»

Der König lachte: das sei eine Waldfrau gewesen mit dem Zauberblick, von dem die Jäger sprechen, die hab es ihm angetan.

«Und Sie setzten ihr nicht nach?» riefen die andern.

«Wohl tat ich das», erwiderte Gaston, «aber ich konnte so bald über das Gemäuer und Geröll nicht den Eingang finden, und als ich endlich in die Hallen eintrat, war alles still und kühl, nur ein wilder Apfelbaum blühte im leeren Hofe, die Bienen summten drin, kein Vogel sang den weiten Wald entlang – Herr Gott, das ist sie!»

«Wie, unsere Amazone?» rief der König überrascht herumgewendet.

Die Zigeunerin, ihre Larve am Gürtel und vom Streiflicht der Fenster getroffen, trat aus einer der Alleen zu ihnen auf die Terrasse. Gaston war ganz verwirrt, da sie ihm gleich darauf als die Gräfin Diana vorgestellt wurde.

Sie aber, als sie seinen Namen nennen hörte, der so tapfern Klang hatte, sah ihn mit großer, fast scheuer Aufmerksamkeit an. «Wenn ich nicht irre», sagte sie, «so traf ich schon letzthin auf der alten Burg -»

«Ein edles Wild mit Zauberblicken», fiel rasch der König ein. – «Also auch schon lahm!» erwiderte sie halb für sich und wandte plötzlich dem Grafen verächtlich den Rücken. – Die Umstehenden blickten ihn schadenfroh an, Gaston aber lachte wild und kurz auf und verschwor sich innerlich, die Stolze zu demütigen, und sollt er auf den Zinnen von Notre-Dame mit ihr den Tanz wagen!

Über des Königs Stirn aber flog eine leichte Röte, denn er hegte seit Gastons Anwesenheit in Paris insgeheim den Wunsch, ihn mit Diana zu verbinden. Etwas verstimmt, um nur die plötzlich eingetretene peinliche Stille zu unterbrechen, fragte er Diana: ob sie denn so allein im Garten nicht fürchte, daß sie entführt werde? – Sie lachte: der König habe alles zahm gemacht, sie hätte nur Grillen gefunden in den Hecken, die zirpten lieblich, dort wie hier. – Gaston meinte: die Gräfin habe ganz recht, solche Grillenhaftigkeit sei nicht gefährlich, und mache auch manche noch so weite Sprünge, jeder wackere Bursch überhole sie leicht. – Diana schüttelte die Locken aus der Stirn; es verdroß sie doch gerade von ihm, daß er ihr trotzte. Und da einer der Kammerherren, um wieder einzulenken, soeben zirpte: selbst die Heimchen brächten ihr Ständchen, wenn sie träumend durch den nächtlichen Garten ging, erwiderte sie rasch in heimlicher Aufregung: «Wahrhaftig, mir träumte, der Tag mache der Nacht den Hof, er duftete nach Jasmin und Lavendel, blond, artig, lau, etwas lispelnd, mit kirschblütenen Manschetten und Hirtenflöte, ein guter, langweiliger Tag.» – Man lachte, keiner bezog es auf sich; ein Vicomte, als Troubadour die Zither im Arme, sagte zierlich: «Aber die keusche Nacht wandelte unbekümmert fort, ihren Elfenreihen ätherisch dahinschwebend.» – «Nein», entgegnete Diana, indem sie ihm in ihrer wunderlichen Laune die Zither nahm und, sich auf das Marmorgeländer der Terrasse setzend, zur Antwort sang:

Sie steckt mit der Abendröte
In Flammen rings das Land,
Und hat samt Manschetten und Flöte
Den verliebten Tag verbrannt.

Und als nun verglommen die Gründe:
Sie stieg auf die stillen Höhn,
Wie war da rings um die Schlünde
Die Welt so groß und schön!

Waldkönig zog durch die Wälder
Und stieß ins Horn vor Lust,
Da klang über die stillen Felder,
Wovon der Tag nichts gewußt.–

Und wer mich wollt erwerben,
Ein Jäger müßts sein zu Roß,
Und müßt auf Leben und Sterben
Entführen mich auf sein Schloß!

Hier gab sie lachend die Zither zurück. Gaston aber bei der plötzlichen Stille erwachte wie aus tiefen Gedanken. «Und wenn es wirklich einer wagte?» sagte er rasch in einem seltsamen Tone, daß es allen auffiel. – «Wohlan, es gilt», fiel da der junge König ein, «ich trete der Herausforderung der Gräfin als Zeuge und Kampfrichter bei, ihr alle habts gehört, welchen Preis sie dem Entführer ausgesetzt.»

Diana stand einen Augenblick überrascht. «Und verspielt der Vermessene?» fragte sie dann ernst. «So wird er tüchtig ausgelacht», erwiderte der König, «wie ein Nachtwandler, der bei Mondschein verwegen unternimmt, wovor ihm bei Tage graut.» Mit diesen Worten erhob er sich, und im Vorbeigehen dem Grafen noch leise zuflüsternd: «Wenn ich nicht der König wär, jetzt möcht ich Gaston sein!» wandte er sich, wie über einen herrlich gelungenen Anschlag lebhaft die Hände reibend, durch den Gartensaal in die innern Gemächer. Diana aber schien anderes bei sich zu beschließen, sie folgte zürnend.

Jetzt umringten die Hofleute von allen Seiten den Grafen, ihm zu dem glänzenden Abenteuer, wie einem verzauberten Prinzen und Feenbräutigam, hämisch Glück wünschend. Die übrige Gesellschaft unterdes, da der König sich zurückgezogen, strömte schon eilig nach den Türen, die Masken hatten ihre Larven abgenommen und zeigten überwachte, nüchterne Gesichter, durch die Säle zwischen den wenigen noch wankenden Gestalten strich die Langeweile unsichtbar wie ein böser Luftzug.

Gaston blieb nachdenklich am offenen Fenster, bis alles zerstoben. Er sah sich hier unerwartet durch leichtsinnige Reden, die anfänglich nur ein artiges Spiel schienen, plötzlich seltsam und unauflöslich verwickelt. Es war ihm wie eine prächtige Nacht, vor der eine marmorkalte Sphinx lag, er mußte ihr Rätsel lösen, oder sie tötete ihn.

Währenddes war Diana schon in ihrem Schlafgemache angelangt. Als sie in dem phantastischen Ballschmuck eintrat, erstaunte die Kammerjungfer von neuem und rief fast erschrocken aus: «wie sie so wunderschön!» Die Gräfin verwies es ihr unwillig, das sei ein langweiliges Unglück. Und da das Mädchen drauf ihr Befremden äußerte, daß sie durch solche Härte so viele herrliche Kavaliere in Gefahr und Verzweiflung stürze, erwiderte Diana streng: «Wer nimmt sich meiner an, wenn diese Kavaliere bei Tag und Nacht mit Listen und Künsten bemüht sind, mich um meine Freiheit zu betrügen?» –

Draußen aber rollten indes die Wagen noch immer fort, jetzt flog das rote Licht einer Fackel über die Scheiben, in dem wirren Widerschein der Windlichter unten erblickte sie noch einmal flüchtig den Gaston, wie er eben sein Pferd bestieg, die Funken stoben hinter den Hufen, sie sah ihm gedankenvoll nach, bis er in der dunkeln Straße verschwunden. Dann, vor den Wandspiegel tretend, löste sie die goldne Schlange aus dem Haar, die schwarzen Locken rollten tief über die Schultern hinab, ihr schauerte vor der eigenen Schönheit.

 

Kurze Zeit nach diesem Feste war der Hof fern von Paris zum Jagen versammelt. Da ging das Rufen der Jäger, Hundegebell und Waldhornsklang wie ein melodischer Sturmwind durch die stillen Täler, breite ausgehauene Alleen zogen sich geradlinig nach allen Richtungen hin, jede an ihrem Ende ein Schloß oder einen Kirchturm in weiter Ferne zeigend. Jetzt brachte die Luft den verworrenen Schall immer deutlicher herüber, immer näher und häufiger sah man geschmückte Reiter im Grün aufblitzen, plötzlich brach ein Hirsch, das Geweih zurückgelegt, aus dem Dickicht in weiten Sätzen quer über eine der Alleen und ein Reiter leuchtend hintendrein, mit hohen, steifen Jagdstiefeln, einen kleinen, dreieckigen Tressenhut über den gepuderten Locken, in reichgesticktem grünem Rock, dessen goldbordierte Schöße weit im Winde flogen – es war der junge König. – «Das ist heute gut Jagdwetter, man muß es rasch benutzen!» rief er flüchtig zurückgewandt zu Gaston herüber, der im Gefolge ritt. Gaston erschrak, er wußte wohl, was der König meinte.

Diana aber fehlte im Zuge, sie war zuletzt auf einer der entfernteren Waldhöhen gesehen worden. Des Treibens müde und ohne jemandem von ihrem Vorhaben zu sagen, hatte sie sich mitten aus dem Getümmel nach einem nahe gelegenen, ihr gehörigen Jagdschloß gewendet; denn sie kam sich selber als das Wild vor auf dieser Jagd, auf das sie alle zielten. Es war das Schloß, wo sie als Kind gelebt, sie hatte es lange nicht mehr besucht. Die Nacht war schon angebrochen, als sie anlangte, niemand erwartete sie dort, alle Fenster waren dunkel im ganzen Hause, als ständ es träumend mit geschlossenen Augen. Und da endlich der erstaunte Schloßwart, mit einem Windlicht herbeigeeilt, die alte, schwere Tür öffnete, gab es einen weiten Schall durch den öden Bau, draußen schlug soeben die Uhr vom Turme, als wollte sie mit dem wohlbekannten Klange grüßen.

Diana, fast betroffen oben im Saale umherblickend, öffnete rasch ein Fenster, da rauschten von allen Seiten die Wälder über den stillen Garten herauf, daß ihr das Herz wuchs. Mein Gott, dachte sie, wo bin ich denn so lange gewesen! O wunderschöne Einsamkeit, wie bist du kühl und weit und ernst und versenkst die Welt und baust dir in den Wolken drüber Schlösser kühn wie auf hohen Alpen. Ich wollt, ich wäre im Gebirg, ich stieg am liebsten auf die höchsten Gipfel, wo ihnen allen schwindelte, nachzukommen – ich tus auch noch, wer weiß wie bald!

Unterdes war das Nötigste zu ihrer Aufnahme eingerichtet, jetzt wurde nach und nach auch im Schlosse alles wieder still, sie aber konnte lange nicht einschlafen, denn die Nacht war so schwül und in den Fliederbüschen unter den Fenstern schlugen die Nachtigallen, und das Wetter leuchtete immerfort von fern über dem dunkeln Garten.

Als Diana am folgenden Morgen erwachte, hörte sie draußen eine kindische Stimme lieblich singen. Sie trat rasch ans Fenster. Es war noch alles einsam unten, nur des Schloßwarts kleines Töchterlein ging schon geputzt den stillen Garten entlang, singend, mit langem blondem Haar, wie ein Engel, den der Morgen auf seinem nächtlichen Spielplatz überrascht. Bei diesem Anblick flog eine plötzliche Erinnerung durch ihre Seele, wie einzelne Klänge eines verlorenen Liedes, es hielt ihr fast den Atem an, sie bedeckte die Augen mit beiden Händen und sann und sann, auf einmal rief sie freudig: «Leontine!»

Da sprang sie schnell auf, es fiel ihr ein, daß die Marquise Astrenant mit ihrer Tochter ja nur wenige Meilen von hier wohnte. Sie setzte sich gleich hin und schrieb an Leontine. Sie erinnerte sie an die schöne Morgenstille ihrer gemeinschaftlichen Jugendzeit, wo sie immer die kleine Elfe genannt wurde wegen ihren langen, blonden Locken, wie sie da in diesem Garten hier als Kinder wild und fröhlich miteinander gespielt und seitdem eines das andere nicht wiedergesehen. Sie werde sie auch nicht mehr schlagen oder im Sturm auf dem Flusse unterm Schlosse mit ihr herumfahren wie damals. Sie solle nur eilig herüberkommen, so wollten sie wieder einmal ein paar Tage lang zusammen sich ins Grüne tauchen und nach der großgewordenen Welt draußen nichts fragen. – Diese Aussicht hatte sie lebhaft bewegt. Sie klingelte und schickte noch in derselben Stunde einen Boten mit dem Brief nach dem Schlosse der Marquise ab.

Darauf ging sie in den Garten hinab. Sie hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt, so verwildert war alles, die Hecken unbeschnitten, die Gänge voll Gras, weiterhin nur glühten noch einige Päonien verloren im tiefen Schatten. Da fiel ihr ein Lied dabei ein:

Kaiserkron und Päonien rot,
Die müssen verzaubert sein,
Denn Vater und Mutter sind lange tot,
Was blühn sie hier so allein?

Jetzt sah sie sich nach allen Seiten um, sie kam sich selbst wie verzaubert vor zwischen diesen stillen Zirkeln von Buchsbaum und Spalieren. Die Luft war noch immer schwül, in der Ferne standen Gewitter, dazwischen stach die Sonne heiß, von Zeit zu Zeit glitzerte der Fluß, der unten am Garten vorüberging, heimlich durch die Gebüsche herauf. Es war ihr, als müßte ihr heut was Seltsames begegnen, und die stumme Gegend mit ihren fremden Blicken wollte sie warnen. Sie sang das Lied weiter:

Der Springbrunnen plaudert noch immerfort
Von der alten, schönen Zeit,
Eine Frau sitzt eingeschlafen dort,
Ihre Locken bedecken ihr Kleid.

Sie hat eine Laute in der Hand,
Als ob sie im Schlafe spricht,
Mir ist, als hätt ich sie sonst gekannt –
Still, geh vorbei und weck sie nicht!

Und wenn es dunkelt das Tal entlang,
Streift sie die Saiten sacht,
Da gibts einen wunderbaren Klang
Durch den Garten die ganze Nacht.

Ich weckte sie doch, sagte sie, wenn ich sie so im Garten fände, und spräch mit ihr.

Unterdes aber waren die Wolken von allen Seiten rasch emporgestiegen, es donnerte immer heftiger, die Bäume im Garten neigten sich schon vor dem voranfliegenden Gewitterwinde. Die schwülen Traumblüten schnell abschüttelnd, blickte sie freudig in das Wetter. Da gewahrte sie erst dicht am Abhang den alten Lindenbaum wieder, auf dem sie als Kind so oft gesessen und vom Wipfel die fernen weißen Schlösser weit in der Runde gezählt. Er war wieder in voller Blüte, auch die Bank stand noch darunter, deren künstlich verflochtene Lehne fast bis an die ersten Äste reichte. Sie stieg rasch hinauf in die grüne Dämmerung, der Wind bog die Zweige auseinander. Da rollte sich plötzlich rings unter ihr das verdunkelte Land auf, der Strom, wie gejagt von den Blitzen, schoß pfeilschnell daher, manchmal klangen von fern die Glocken aus den Dörfern, alle Vögel schwiegen, nur die weißen Möwen über ihr stürzten sich jauchzend in die unermeßliche Freiheit – sie ließ vor Lust ihr Tuch im Sturme mit hinausflattern.

Auf einmal aber zog sie es erschrocken ein. Sie hatte einen fremden Jäger im Garten erblickt. Er schlich am Rande der Hecken hin; bald sachte vorgebogen, bald wieder verdeckt von den Sträuchern, keck und doch vorsichtig, schien er alles ringsumher genau zu beobachten. Sie hielt den Atem an und sah immerfort unverwandt hin, wie er, durch die Stille kühn gemacht, nun hinter dem Gebüsch immer näher und näher kam; jetzt, schon dicht unter dem Baume, trat er plötzlich hervor sie konnte sein Gesicht deutlich erkennen. In demselben Augenblick aber hörte er eine Tür gehen im Schlosse und war schnell im Grünen verschwunden.

Diana aber, da alles wieder still geworden, glitt leise vom Baume; darauf, ohne sich umzusehen, stürzte sie durch den einsamen Garten die leeren Gänge entlang nach dem Schlosse, die eichene Tür hinter sich zuwerfend, als käme das Gewitter hinter ihr, das nun in aller furchtbaren Herrlichkeit über den Garten ging.

Sie achtete aber wenig darauf. In großer Aufregung im Saale auf und nieder gehend, schien sie einem Anschlage nachzusinnen. Manchmal trat sie wieder ans Fenster und blickte in den Garten hinab. Da sich aber unten nichts rührte als die Bäume im Sturm, nahm sie ein Paar Pistolen von der Wand, die sie sorgfältig lud; dann setzte sie sich an den goldverzierten Marmortisch und schrieb eilig mehrere Briefe. Und als das Wetter draußen kaum noch gebrochen, wurden im Hofe gesattelte Pferde aus dem Stalle geführt, und bald sah man reitende Boten nach allen Richtungen davonfliegen.

Gleich darauf aber rief sie ihr ganzes Hausgesinde zusammen. Sie mußten schnell herbeischaffen, was die Vorräte vermochten, Wild, Früchte, Wein und Geflügel. Einer der Jäger, dessen Vater einst Küchenmeister gewesen, verstand sich noch am besten unter ihnen auf den guten Geschmack und mußte, zu allgemeinem Gelächter, eine weiße Schürze vorbinden und den Kochlöffel statt des Hirschfängers führen. Bald loderte ein helles Feuer im Kellergeschoß, die halbverrosteten Bratspieße drehten sich knarrend in der alten, verödeten Küche, überall war ein lustiges Plaudern und Getümmel. Alle guten Stühle und Kanapees aber ließ die Gräfin oben in den großen Saal zusammentragen, Spieltische wurden zurechtgerückt und in der Mitte des Saales eine lange Tafel gedeckt. Die feierlichen Anstalten hatten fast etwas Grauenhaftes in dieser Einsamkeit, als sollten die Ahnenbilder, die mit ihren Kommandostäben ernst von den Wänden schauten, sich zu Tische setzen, denn niemand wußte sonst, wer die Gäste sein sollten.

So war in seltsamer Unruhe der Abend gekommen und das Gewitter lange vorbei, als Diana allein mit ihrer Kammerjungfer unten in das Gartenzimmer trat, die sich beim Hereintreten rasch und verstohlen nach allen Seiten umsah. Sie hatte, ohne zu wissen zu welchem Zweck, das schöne Kleid anziehen müssen, das die Gräfin heute getragen, das hinderte sie, es war überall zu knapp und zu lang. Sie ging vor den Spiegel, als wollte sie sichs zurechtrücken, ihre Blicke aber schweiften seitwärts durchs Fenster, und als Diana sich einmal wandte, benutzte sies schnell und schien zornig jemanden in den Garten hinauszuwinken. Die Gräfin, sie an ihre Verabredung erinnernd, hieß sie vom Fenster wegtreten, ordnete rasch noch die Locken des Mädchens und setzte ihr ihren eigenen Jagdhut auf. Dann, die Verkleidete von allen Seiten zufrieden musternd, schärfte sie ihr nochmals ein, sich in diesem Zimmer still zu verhalten und nicht in den Garten zu gehen, bis sie draußen dreimal leise in die Hände klatschen höre, denn es dunkele schon und die Nacht habe wilde Augen. – «Wo?», rief das ganz zerstreute Mädchen heftig erschrocken. Aber Diana, eilig wie sie war, bemerkte es nicht mehr; heftig einen Jägermantel umwerfend, der über dem Stuhle lag, und einen Männerhut tief in die Augen drückend, flog sie in den dämmernden Garten hinaus.

Kaum aber war sie verschwunden, so sprang die Kammerjungfer geschwind ans Fenster. «Aber, Robert, bist du denn ganz toll!» rief sie einem fremden Jäger entgegen, der schon längst draußen im Gebüsch steckte und nun rasch hinzutrat. – «I Gott bewahre, hast du mich doch erschreckt!» entgegnete dieser, sie erstaunt vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend, das ist ja ganz wie deine Gräfin! – Das Mädchen aber nannte ihn einen Unverschämten, daß er sie hier auf dem Lande besuche; wenn die Gräfin ihn sähe, sei es um ihren Dienst geschehen, er solle auf der Stelle wieder fort. «Nicht eher», erwiderte der eifersüchtige Liebhaber, «bis ich weiß, wer der Mann war, der soeben von dir ging.» – Da lachte sie ihn tüchtig aus, er sei ein rechter Jäger, der auf dem Anstand das Wild verwechsele, es sei ja die Gräfin selber gewesen. «So?» – sagte Robert sehr überrascht und einen Augenblick in Nachsinnen versunken. Dann plötzlich mit leuchtenden Blicken fragte er hastig, warum denn die Gräfin sich verkleidet, wohin sie ginge, ob sie diesen Abend in dem Mantel bleibe? Aber das ungeduldige Mädchen, in wachsender Furcht, drängte ihn statt aller Antwort schon von der Schwelle über die Stufen hinab. Er gab ihr noch schnell einen Kuß, dann sah sie ihn freudig über Beete und Sträucher fortspringen.

Als sie wieder allein war, fiel ihr erst die seltsame Hast und Neugierde des Jägers aufs Herz, es überflog sie eine große Angst, daß sie in der Verwirrung die Verkleidung der Gräfin ausgeplaudert. Auch schreckte sie nun in dieser Stille die aufsteigende Nacht im Garten, es war ihr, als blickten wirklich überall wilde Augen aus dem Dunkel auf sie, manchmal glaubte sie gar Stimmen in der Ferne zu hören. Sie konnte durchaus nicht erraten, was es geben sollte, und verwünschte tausendmal ihre Liebschaften und die unbegreiflichen Einfälle der Gräfin und das ganze dumme Landleben mit seiner spukhaften Einsamkeit.

 

Ein tiefes Schweigen bedeckte nun schon alle Gründe, nur fern im Garten war noch ein heimlich Knistern und Wispern überall zwischen den Büschen, als zög eine Zwerghochzeit unsichtbar über die stillen Beete hin, von Zeit zu Zeit funkelte es aus den Hecken herüber wie Waffen oder Schmuck. Dann hörte man von der andern Seite eine Zither anschlagen, und eine schöne Männerstimme sang:

Hörst du die Gründe rufen
In Träumen halb verwacht?
Oh, von des Schlosses Stufen
Steig nieder in die Nacht! –

Drauf alles wieder still, nur eine Nachtigall schlug in dem blühenden Lindenbaum am Abhange. Auf einmal raschelt was, eine schlanke Gestalt schlüpft droben aus dem Gebüsch. Es war Diana, in ihren Jägermantel dicht verhüllt, die über den Rasen nach dem Schlosse ging. Tiefer im Garten sang es von neuem:

Die Nachtigallen schlagen,
Der Garten rauschet sacht,
Es will dir Wunder sagen
Die wunderbare Nacht.

Jetzt stand Diana vor der Tür des Gartenzimmers und klatschte dreimal leise in die Hand. In demselben Augenblick aber sieht sie auch schon zwei dunkle Gestalten zwischen den Bäumen vorsichtig hervortreten. – «Bist du es, Robert? und wo ist sie?» flüstert der eine dem andern leise zu.

Sie zog sich tiefer in den Garten zurück. Da sah sie, wie die Kammerjungfer auf das verabredete Zeichen oben aus dem Hause getreten, die eine Gestalt schien sich ihr zu nähern. – Diana triumphierte schon im Herzen, als jetzt plötzlich der andere gerade auf ihren Versteck losschritt. Bei dieser unerwarteten Wendung flog sie erschrocken über den Rasenplatz den Gartenberg hinab, seitwärts sah sie den Fremden bei ihrem Anblick rasch durch die Hecken brechen, als wollt er ihr den Vorsprung abgewinnen, sie verdoppelte ihre Eile, schon glaubte sie unten Bekannte zwischen den Bäumen zu erblicken, jetzt trat sie atemlos am Fuß des Berges aus dem Garten, zu gleicher Zeit aber war auch der Fremde angelangt, und vor ihr stand Graf Gaston.

Hut und Mantel waren ihr im Gebüsch entfallen, Gaston, rasch die Zither wegwerfend, blickte ihr lächelnd in die Augen. – «Ihr seid der kühnste Freier, den ich jemals sah», sagte sie nach einem Weilchen finster. Gaston küßte feurig ihre Hand, die er nicht wieder losließ. Vor ihnen aber, vom Gesträuch halb verdeckt, stand ein leichter Wagen mit vier Pferden, die Kutscher in den Sätteln, die Pferde schnaubend scharrend, alles wie ein Pfeil auf gespanntem Bogen, der eben losschnellen will.

Indem aber, wie Gaston den Kutschern winkend und ihr ehrerbietig den Arm reichend, sie in den Wagen heben will, sieht er, daß sie, einige Schritte zurückgetreten, mit einem Pistol nach ihm zielt. Er stutzt, sie aber lacht und feuert das Pistol in die Luft. Da, bei dem Knall, wie ein Schwarm verstörter Dohlen, brechen plötzlich seitwärts aus allen Hecken Gestalten mit Haarbeuteln, Staubmänteln und gezückten Stahldegen. Gaston erkennt sogleich mit Erstaunen die alten Gesichter aus der Residenz, alles jubelfröhlich, siegesgewiß.

«Fahrt zu!» ruft er da, ohne sich zu bedenken, den Kutschern zu, die nun, ihre Peitschen schwingend, gerade in den glänzenden Schwarm hineinjagen, der sogleich von allen Seiten lachend den Wagen umringt, um die vermeintlich Entführte daraus zu erlösen. Gaston und Diana aber standen währenddes dicht am Bergstrom, der unter dem Garten vorüberschoß, ein Kahn lag dort am Ufer angebunden. Der Graf, eh Diana sich besinnt, schwingt sie hoch auf dem Arm in den Nachen, zerhaut mit seinem Hirschfänger das Tau und lenkt rasch mitten ins Fahrwasser; so flogen sie, bevor noch die am Wagen es gewahr wurden, in der entgegengesetzten Richtung pfeilschnell den Fluß hinab.

Er selbst war es gewesen, den Diana am Morgen vom Lindenbaum umherspähend erblickt. Da zweifelte sie keinen Augenblick länger, daß er sein verwegenes Vorhaben in der folgenden Nacht auszuführen gedenke. Ihr Anschlag war schnell gefaßt. Voll Übermut lud sie durch vertraute Boten sogleich das ganze Hoflager zu Entführung und Abendbrot herüber, die einzeln und ohne Aufsehen eingetroffenen Hofleute wurden am Wege versteckt; Gaston in der Verwirrung und Dunkelheit sollte, statt ihrer, das verkappte Kammermädchen entführen und so vor den Augen des hervorbrechenden Hinterhalts doppelt beschämt werden. – Nun aber hatte die unzeitige Liebschaft des Mädchens und Dianas eigene Unbesonnenheit im entscheidenden Augenblick plötzlich alles anders gewendet!

Schon waren Schloß und Garten hinter den Fortschiffenden dämmernd versunken, immer ferner und schwächer nur hörte man von dorther noch verworrenes Rufen, Schüsse und Hörnersignale der bestürzten Hofleute, die sich wie durch eine unbegreifliche Verzauberung auf einmal in allen Plänen gekreuzt sahen und nun die auf Gaston geladenen Witze verzweifelt gegeneinander selbst abschossen.

Der Fluß indes ging rasch durch wüsten Wald, Diana wußte recht gut, daß hier kein Haus und keine menschliche Hilfe in der Nähe war; so saß sie still am Rand des Kahnes und schaute vor sich in die Flut, die von Zeit zu Zeit in Wirbeln dunkel aufrauschte. Gaston aber, wohl fühlend, daß in dieser unerhörten Lage alle gewöhnliche Galanterie und Entschuldigung nur lächerlich und in den Wind gesprochen sei, blieb gleichfalls stumm, und so glitten sie lange Zeit schweigend zwischen stillen Wäldern und Felsenwänden durch die tiefe Einsamkeit der Nacht, während der Graf immerfort Dianas Spiegelbild im mondbeschienenen Wasser vor sich sah, als zöge eine Nixe mit ihnen neben dem Schiff.

Endlich, um nur die unerträgliche Stille zu brechen, sagte er, als wäre nichts geschehen, alles hier erinnere ihn wunderbar an eine Sage seiner Heimat. Da stehe im Schloßgarten ein marmornes Frauenbild und spiegele sich in einem Weiher. Keiner wage es, in stiller Mittagszeit vorbeizugehen, denn wenn die Luft linde kräuselnd übers Wasser ginge und das Spiegelbild bewegte, da seis, als ob es sachte seine Arme auftät.

Diana, ohne ein Wort zu erwidern, fuhr unwillig mit der Hand über das Wasser, daß alle Linien ihres Bildes drin durcheinanderlaufend im Mondesflimmer sich verwirrten.

Von diesem Bilde, fuhr Gaston fort, geht die Rede, daß es in gewissen Sommernächten, wenn alles schläft und der Vollmond, wie heut, über die Wälder scheint, von seinem Steine steigend, durch den stillen Garten wandle. Da soll sie mit den alten Bäumen und den Wasserkünsten in fremder Sprache reden, und wer sie da zufällig erblickt, der muß in Liebesqual verderben, so schön ist die Gestalt.

«Was ist das für ein Turm dort überm Walde?» rief hier Diana, sich plötzlich aufrichtend, daß er zusammenschrak, als hätt er selbst das Marmorbild erblickt, von dem er sprach – es waren ihre ersten Worte. Er sah sich verwundert nach allen Seiten um, weiterhin schien sich die Schlucht zu öffnen, durch eine Waldlichtung erblickte er wirklich schon flüchtig den Turm seines Jagdschlosses, tiefer unten den Fahrweg, der in weiten Umkreisen um das Gebirge ging; dort hatte er seine Leute vom Schloß zum Empfange hinbestellt. Gleich darauf aber verdeckten Felsen und Bäume alles wieder, und der Fluß wandte sich von neuem. Gaston, der das abgelegene Schloß selten besucht, kannte die Umgebung nur wenig, er stand einen Augenblick verwirrt und wußte nicht, an welchem Ufer er landen sollte.

Da bemerkte er rechts den Schimmer eines kleinen Feuers ungewiß durch die Büsche. Das sind sie, dachte er und lenkte darauf hin. Der Kahn stieß hart ans Land; indem er aber, schon am Ufer, das Gestrüpp auseinanderbog, um der Gräfin Platz zu schaffen, stieß diese, eh ers hindern konnte, im Heraussteigen den Nachen weit hinter sich, der nun unwiederbringlich mit dem reißenden Strom forttrieb. Gaston sah sie überrascht an, sie blickte funkelnd nach allen Seiten in der schönen Nacht umher.

So standen sie an einem wildumzirkten Platz, Bäume, Fels und altes Bauwerk wirr durcheinander gewachsen. Es war, wie er beim Mondlicht erkannte, eine verfallene, unbewohnte Wassermühle, hinten, wie ein Schwalbennest, an die hohe, unersteigliche Felsenwand gehängt, von zwei andern Seiten vom schäumenden Fluß umgeben. Von dort zwischen Unkraut und Gebälk kam der Lichtschein her, den er vom Strom gesehen; er trat eilig mit Diana in das wüste Gehöft, voll Zuversicht, die Seinigen zu treffen. Wie groß aber war sein Erstaunen, da er den Platz leer fand, nur einzelne blaue Flämmchen zuckten noch aus der halbverloschenen Brandstätte, als wäre sie eben von Hirten verlassen worden. –

«Ist das Ihr Schloß?» fragte Diana höhnend. Gaston aber, der einen zerbrochenen Fensterladen im Winde klappen hörte, war schon ins Haus gegangen. Dort durch die Öffnung schauend, gewahrte er zu seinem Schrecken erst, daß er auf dem falschen Ufer gelandet, drüben hinter den dunkeln Wipfeln lag sein Jagdschloß im prächtigen Mondschein – nun wußt ers auf einmal, warum Diana vorhin den Nachen zurückgestoßen!

In dieser Verlegenheit zog er schnell ein Pistol unter seinem Mantel hervor und feuerte es in die Nacht ab, ein Reh fuhr nebenan aus dem Dickicht, man konnte seinen Hufschlag noch weit durch den stillen Waldgrund hören. Zugleich aber gab zu seiner großen Freude ein Schuß drüben Antwort, bald wieder einer und drauf ein Schreien und Rufen vom Felde, daß fern in den Dörfern die Hunde anschlugen. Schon glaubte er einige der Stimmen zu erkennen und wollte eben ein zweites Pistol abschießen, als er auf einmal ein seltsames Knistern und Blinken in allen Ritzen des alten Hauses bemerkte. «Um Gottes willen, da schlagen Flammen auf!» schrie er, entsetzt hinausstürzend, der einzige Ausgang zum Walde brannte schon lichterloh – Diana, da sie bei dem Herannahen der Signale und Stimmen keine Rettung mehr sah, hatte das Haus an allen vier Ecken angezündet. Jetzt erblickte er die Schreckliche selbst hoch auf dem hölzernen Balkon der Mühle, gerade über dem Strom. Da sie ihn gewahrte, wandte sie sich schnell herum, es war wieder jenes Wetterleuchten des Blicks, das ihn schon einmal geblendet. – «Komm nun und hol die Braut!» rief sie ihm wild durch die Nacht zu, das Brautgemach ist schon geschmückt, die Hochzeitsfackeln brennen.

Unterdes aber züngelten einzelne Flammenspitzen schon hier und da durch die Fugen, der heiße Sommer hatte alles gedörrt, das Feuer, im Heidekraut fortlaufend, kletterte hurtig in dem trocknen Gebälk hinauf, und der Wind faßte lustig die prächtigen Lohen, und von drüben kam das Rufen und Schießen rasch immer näher und lauter und: «hol deine Braut!» frohlockte Diana wieder dazwischen. – Da, ohne hinter sich zu blicken, stürzte Gaston durch den wirbelnden Rauch die brennende Treppe hinan. «Zurück, rühr mich nicht an!» rief ihm Diana entgegen, «wer hieß dich mit Feuer spielen, nun ists zu spät, wir beide müssen drin verderben!» Aber die Funken von den Kleidern stäubend, stand er schon droben dicht bei ihr; am Ufer brannte ein schlanker Tannenbaum vom Wipfel bis zum Fuß, die schöne Gestalt und die stille Gegend beleuchtend. Gaston blickte ratlos in der Verwüstung umher, es schien keine Hilfe möglich, die Balken stürzten rings schon krachend in die Glut zusammen, hinten die steile Felsenwand und unter ihnen der Strom, in dem der Brand sich gräßlich spiegelte.

Indem aber hat das Feuer die dürren Wurzeln der Tanne zerfressen und, wie das Gerüst eines abgebrannten Feuerwerks allmählich verdunkelnd und sich neigend, sinkt der Baum prasselnd quer über den wütenden Felsbach. Da faßt Gaston, der alles ringsher scharf beachtet, plötzlich Dianas Hand, schwingt sie selbst, eh sie sich des versieht, auf seinen Arm, und, seinen Mantel um sie schlagend, mit fast übermenschlicher Gewalt, trägt er die Sträubende mitten durch die Flamme über die grauenvolle Brücke, unter der der Fluß wie eine feurige Schlange dahinschoß.

Jetzt hat er, aus dem furchtbaren Bezirk tretend, glücklich das jenseitige Ufer erreicht und schleudert den brennenden Mantel hinter sich in den Fluß. Diana, plötzlich Stirn und Augen enthüllt, wandte sich von ihm ab in die Nacht. «Sieh mich nicht so an, sagte sie, du verwirrst mir der Seele Grund.» – Da hörte er auf einmal auch die Stimmen wieder im Felde, mehrere Gestalten schwankten fern durch den Mondschein; es waren seine Leute, die, der Verabredung gemäß, am Fahrweg auf ihn gewartet und nun ganz erstaunt herbeieilten, da sie den Herrn auf dem Wege vom Fluß erkannten. «Zum Schloß!» rief ihnen Gaston zu, und alle Kräfte noch einmal zusammenraffend, trug er seine Beute rasch den Gartenberg hinan; schon schimmerten rechts und links ihm altbekannte Plätze entgegen, jetzt teilten sich die alten Bäume, und vor ihnen ernst und dunkel lag das stille Haus; da ließ er erschöpft die Gräfin auf den steinernen Stufen vor der Schloßtür nieder. Von drüben aber beleuchtete der Brand taghell Garten und Schloß und Dianas grausame Schönheit; Gaston schüttelte sich heimlich vor Grausen.

Indem waren auch die Diener, entschuldigend, fragend und erzählend, von allen Seiten herbeigekommen. Der Graf, ohne ihrer Neugier Rede zu stehen, befahl ihnen, rasch die Türen zu öffnen und die Kerzen anzuzünden, er schien in seinem ganzen Wesen auffallend verändert, daß sie sich fast vor ihm fürchteten. Darauf der Gräfin seinen Arm reichend, indem er sie in das unterdes geöffnete Schloß führte, sagte er mit glatter, seltsamer Kälte zu ihr, die Aufgabe sei gelöst und die wunderliche Wette entschieden, sie möge nun ausruhen und Schloß, Garten, Diener und Wildbahn hier ganz als die ihrigen betrachten. Und so, ohne ihre Antwort abzuwarten, ließ er sie im kerzenhellen Saale allein.

Draußen aber, in großer Aufregung, hieß er schnell alle Gemächer reinigen und schmücken und ordnete zu allgemeiner Verwunderung der Diener sogleich alles zu einem glänzenden Feste an. Die Jäger flüsterten mit verbissenem Lachen heimlich untereinander, der eine winkte schlau mit den Augen nach der schönen Fremden im Saale. Gaston, der es bemerkte, faßte ihn zornig an der Brust und schwor jedem den Tod, der der Gräfin drin, als ihrer Herrin, nicht ehrfurchtsvoll und pünktlich wie ihm selber diente.

Drauf ließ er ein Pferd satteln und ritt noch dieselbe Stunde fort, niemand wußte wohin.

 

Auf dem Schlosse der Marquise Astrenant ging seit jener Räuberjagd gar mancherlei Gerede. Den Anführer der Räuber, hieß es, habe von dem Augenblick an, da Graf Gaston ihn vom Felsen gestürzt, niemand mehr wiedergesehen, nur eine blutige Fährte hätten sie beim Verfolgen bemerkt, die führte endlich zwischen ungangbaren Klippen in einen Abgrund, wo keiner hinabgekonnt, da habe er ohne Zweifel in dem Felsstrom unten seinen wohlverdienten Tod gefunden. – Leontine wußt es wohl besser, aber das Geheimnis wollt ihr das Herz abdrücken.

In den Wäldern war es unterdes schon lange wieder still geworden, über den wilden Garten vor dem Schlosse schien soeben die untergehende Sonne, die Luft kam vom Tal, man hörte die Abendglocken weither durch die schöne Einsamkeit herüberklingen. Da stand Leontine, wie damals, zwischen den Hecken und fütterte wieder ihr Reh und streichelte es und sah ihm in die klaren, unschuldigen Augen. «Deine Augen sind ohne Falsch», sagte sie schmeichelnd zu ihm, «du bist mir treu, wir wollen auch immer zusammenbleiben hier zwischen den Bergen, es fragt ja doch niemand draußen nach uns.» Und da die Vögel so schön im Walde sangen, fiel ihr dabei ein Lied wieder ein, an das sie lange nicht gedacht, und sie sang halb traurig:

Konnt mich auch sonst mit schwingen
Übers grüne Revier,
Hatt ein Herze zum Singen
Und Flügel wie ihr.

Flog über die Felder,
Da blüht es wie Schnee,
Und herauf durch die Wälder
Spiegelt die See.

Ein Schiff sah ich gehen
Fort über das Meer,
Meinen Liebsten drin stehen, –
Dacht meiner nicht mehr.

Und die Segel verzogen,
Und es dämmert das Feld,
Und ich hab mich verflogen
In der weiten, weiten Welt.

«Leontine!» rief da die Marquise an der Gartentür des Schlosses, «sieh doch einmal, was wirbelt denn dort für Staub auf dem Wege?» Leontine trat an den Abhang des Gartens, und die Hand vor dem Glanz über die Augen haltend, sagte sie: «Ein Reiter kommt, die Sonne glitzert nur zu sehr, ich kann nichts deutlich erkennen.» – Gott, dachte sie heimlich, wenn er es wäre! – jetzt biegt er schon um den Weidenbusch, wie das fliegt! – ach nein, ein fremder Jäger ists, was der nur noch bringen mag.

Die Mutter aber, voll Neugier und Verwunderung, war dem Reiter schon entgegengegangen und kam gleich darauf mit einem geöffneten Briefe zurück. Es war Dianas Einladung; sie beschwor das Fräulein in wenigen Zeilen herzlich und ungestüm, doch ja sogleich zu ihr hinüberzukommen, da sie nur eben ein paar Tage für sich habe und sich selbst dort nicht losmachen könne. – Die Marquise stand einen Augenblick nachsinnend. «Daran hatt ich am wenigsten gedacht», sagte sie dann; «Diana ist übermütig, herrisch und gewaltsam, ihre Art ist mir immer zuwider gewesen, aber sie hat wie ein prächtiges Feuerwerk mit ihren Talenten, die sie selbst nicht kennt, den Hof und ganz Paris geblendet, du mußt ja doch endlich auch in die Welt hinaus, es ist wie ein Fingerzeig Gottes, sein Wille geschehe.» – Leontine aber flimmerten die Zeilen lustig im Abendrot, es blitzte ihr plötzlich alles wieder auf daraus: die schöne Jugendzeit, die wilden Spiele und kindischen Zänkereien mit Diana, alle ihre Gedanken waren auf einmal in die schimmernde Ferne gewendet, die sich so unerwartet aufgetan.

Es wurde nun nach kurzer Beratung beschlossen, daß sie, um keine Zeit zu verlieren und die angenehme Kühle zu benutzen, noch heute abreisen und die schöne Sommernacht hindurchfahren sollte; der alte Frenel sollte sie begleiten. Und nun ging es sogleich herzhaft an die nötigen Vorbereitungen, treppauf, treppab, die Türen flogen, Frenel klopfte seine alte Staatslivree aus, aus dem Schuppen wurde der verstaubte Reisewagen geschoben, der Hund bellte im Hofe, und der Truthahn gollerte in dem unverhofften Rumor.

Oben aber in der Stube saß Leontine mit untergeschlagenen Beinen fröhlich plaudernd auf dem glänzenden Getäfel des Fußbodens vor ihrem Koffer, Kleider und Schuhe und Schals in reizender Verwirrung um sie her, und die Mutter half ihr einpacken, das Schönste, das sie hatt. Dann brachte sie ihr das Reisekleid und strich ihr die Locken aus der Stirn und putzte sie auf vor dem Spiegel. Und von draußen sah der Abend durchs offene Fenster herein und füllte das ganze Zimmer mit Waldhauch, und unten sangen die Vögel wieder so lustig zum Valet, und Leontine war so schön in ihrem neuen Reisehut; es war lange nicht solche Freude gewesen in dem stillen Hause.

Endlich fuhr unten der Wagen vor, es war alles bereit, vor der Haustür stand das ganze Hofgesinde versammelt, um ihr Fräulein fortfahren zu sehen. Beim Hinabsteigen sagte die Marquise: «Ich weiß nicht, jetzt ängstigt mich ein Traum von heute nacht, ich sah dich prächtig geschmückt die große Allee hinuntergehen, da war’s, als würde sie immer länger und länger und hinten eine ganz fremde Gegend, ich rief dir nach, aber du hörtest mich nicht mehr, als wärst du nicht mehr mein.» – Leontine lachte: der Schmuck bedeute große Ehre und Freude, wer weiß, was für ein Glück sie in der Fremde erwarte. Damit küßte sie noch einmal herzlich die Mutter und sprang in den Wagen. Aber es war ihr doch wehmütig, als nun die Wagentür wie ein Sargdeckel hinter ihr zuschlug und die Mutter, die ihr immer noch mit dem Tuche nachwinkte, im Dunkel verschwand und Schloß und Garten allmählich hinter den schwarzen Bäumen versanken.

Jetzt rollte sie schon im Freien durch die einsame Gegend hin, der Mondschein wiegte sich auf den leise wogenden Kornfeldern, der Kutscher knallte lustig, daß es weit in den Wald schallte, manchmal schlugen Hunde an fern in den Dörfern, und Frenels Tressenhut blinkte immerfort vom hohen Kutschbock. Leontine hatte das Wagenfenster geöffnet, sie war noch niemals zu dieser Stunde im Felde gewesen, nun war sie ganz überrascht: so wunderbar ist die ernste Schönheit der Nacht, die nur in Gedanken spricht und das Entfernteste wie im Traum zusammenfügt. Sie hatte auch Leontinen gar bald in sich versenkt. Im Fahren durch die stille Einsamkeit dachte sie sich den Räuberhauptmann hoch im Gebirge am Feuer zwischen Felsenwänden, wie sie neben ihm auf dem Rasen schlief und er sie bewachte, tief unten aber durch den Felsenriß die Täler unermeßlich im Mondschein heraufdämmernd, Städte, Felder, gewundene Ströme und ihrer Mutter Schloß weit in der Ferne, und das Feuer, mit dem die Luft spielte, spiegelte sich flackernd an den feuchten Felsenwänden, und die Nachtigallen schlugen tief unten in den stillen Gärten, wo die Menschen wohnten, und die Wälder rauschten darüber hin, bis allmählich Wald und Strom und Flammen sich seltsam durcheinanderwirrten und sie wirklich einschlummerte.

Sie mochte lange geschlafen haben, denn als sie erwachte, hielt der Wagen still mitten in der Nacht, Frenel und der Kutscher waren fort, seitwärts stand eine einzelne Hütte, man sah das Herdfeuer durch die kleinen Fenster schimmern, im Hause hörte sie den Frenel sprechen, er schien nach dem Wege zu fragen. Sie lehnte sich an das Kutschenfenster, ein finstrer Wald lag vor ihnen und drüben auf einer Höhe ein Schloß im Mondschein. Wie sie aber so, nicht ohne heimliches Grauen, mit ihren Augen noch die Öde durchmißt, hört sie auf einmal Pferdetritte fern durch die Stille der Nacht. Es schallt immer näher und näher, jetzt sieht sie einen Reiter, in seinen Mantel gehüllt, im scharfen Trabe auf demselben Wege vom Walde rasch daherkommen. Sie fährt erschrocken zurück und drückt sich in die Ecke des Wagens. Der Reiter aber, da er den verlassenen Wagen bemerkt, hält plötzlich an.

«Wer ist da!» rief er, «wo wollen Sie hin?» – «Nach St. Lüc», erwiderte Leontine, ohne sich umzusehen. – «St. Lüc? das ist das Schloß der Gräfin Diana», sagte der Reiter; «wenn Sie die Gräfin sehen wollen, die ist seit einigen Stunden schon auf des Grafen Gaston Schloß dort überm Wald.» – «Unmöglich», versetzte das Fräulein, sich lebhaft aufrichtend bei der unerwarteten Nachricht.

«Leontine!» – rief da auf einmal der Fremde, ganz dicht an den Wagenschlag heranreitend, daß sie zusammenfuhr; ein Mondblick durch die Wipfel der Bäume funkelte über Reiter und Roß – es war der Räuberhauptmann.

Er zog, da er sie nun erkannte, schnell das weiße Tuch hervor, das sie ihm damals gegeben, und es ihr vorhaltend, fragte er, ob sie das kenne und seiner manchmal noch gedacht? – Leontine, auf das heftigste erschrocken und an allen Gliedern zitternd, hatte doch die Besinnung, nicht um Hilfe zu schreien. «Um Gottes willen», rief sie, «nur jetzt nicht, reiten Sie fort!» – Er aber, sich vorbeugend in sichtlicher Spannung, als hinge die Welt an ihrer Antwort, fragte noch einmal dringender, ob sie ihn und jene wildschöne Nacht vergessen oder nicht? «Rasender, was tun Sie!» erwiderte sie mit einiger Heftigkeit, «meine Leute sind nur wenige Schritte von hier, verlassen Sie mich auf der Stelle!» – Da ließ er langsam Arm und Tuch sinken und vor sich sehend, sagte er finster: «Was tuts, ich bin des Lebens müde.»

Jetzt hörte sie plötzlich die Tür gehen im Hause und Frenels Stimme. «Sie kommen», rief sie in Todesangst und fast in Weinen ausbrechend; «Oh, ich beschwör dich, reit eilig fort, sie fangen dich, ich überlebt es nicht!»

«Das war der alte Klang, du liebst mich noch!» jubelte da plötzlich der Reiter auf, sein Pferd lustig herumwerfend. Nun traten auch Frenel und der Kutscher wieder aus dem Hause. «Dort hinaus, immer den Wald entlang!» rief er ihnen im Vorübersprengen zu und verschwand im Dunkel vor ihnen. «Wer war denn das?» fragte Frenel, ihm erstaunt nachsehend. Aber Leontine, noch ganz verwirrt, atmete erst tief auf, als die letzten Roßtritte verhallt und sie den Reiter in der Freiheit der Nacht wieder geborgen wußte. Darauf befahl sie, sogleich nach dem Schloß des Grafen Gaston zu fahren, das sie dort über dem Walde sähen, die Gräfin Diana sei dort, sie habe es soeben von jenem Reiter gehört, einem reisenden Herrn, setzte sie zögernd hinzu, der von dorther gekommen. – Frenel, sehr verwundert, wollte noch mancherlei fragen, aber sie trieb ihn in großer Hast. – «Nun, nun, es wird auch ganz finster, der Mond geht schon unter, wir mußten ohnedies an dem Schlosse vorüber», sagte er, mühsam seinen Sitz besteigend; der Kutscher schwang die Peitsche, und sie flogen dem Walde zu; es war derselbe Weg, den ihnen der Reiter gewiesen.

So fuhren sie rasch an den Tannen hin, von der andern Seite schwebten Wiesen, Felder und Hecken leise wechselnd vorüber, das Schloß trat immer deutlicher über den Wipfeln heraus, man hörte fern schon Nachtigallen in den Gärten schlagen. Leontine, in Nachsinnen versunken, sah sich noch manchmal scheu nach allen Seiten um, es war ihr alles wie ein Traum.

«Da blitzt es von weitem», sagte sie nach einem Weilchen zu Frenel, um in der Angst nur etwas zu sprechen. Aber Frenel, der von seiner hohen Warte freier ins Land schauen konnte, schüttelte den Kopf: er sehe schon lange hin, das sei kein Wetterleuchten, sondern Raketen oder Leuchtkugeln, die sie vom Schlosse würfen, jetzt hab ers ganz deutlich gesehen, sie müßten droben heut ein Fest haben.

Während sie aber noch so sprachen, kam plötzlich ein Lakai zu Pferde, in prächtiger Liverei und von Golde flimmernd, ihnen durch die Nacht entgegen. Frenel, ganz überrascht, zog ehrerbietig seinen Tressenhut. Jener aber ritt dicht an den Wagen, das Fräulein begrüßend, indem er sich als einen Diener aus dem Schlosse ankündigte, wohin er die Herrschaft geleiten solle. Und mit diesen Worten, ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er die Sporen wieder ein und setzte sich rasch an die Spitze, in der hohen, dunkeln Kastanienallee dem Wagen vorreitend. – Frenel hatte sich von seinem Bocke ganz zurückgebogen und sah durch die Scheiben erstaunt und fragend das Fräulein an. Leontine zuckte nur mit den Achseln, sie wußte durchaus nicht mehr, was sie davon denken sollte. Ihre Verwirrung wurde aber noch größer, als sie bald darauf an mehreren kleinen Häusern vorüberkamen, wo ungeachtet der weitvorgerückten Nacht alles noch in seltsamer Erwartung und Bewegung schien. Überall brannte Licht, daß man weit in die reinlichen Zimmer hineinsehen konnte, Mädchen und Frauen lagen neugierig in den offenen Fenstern. Da kommt sie, das ist sie! hörte Leontine im Vorüberfahren ausrufen. «Mein Gott», sagte sie zu Frenel, «das muß hier irgendein Mißverständnis sein.»

In diesem Augenblick aber bogen sie rasch um eine Ecke, der Wagen rollte über eine steinerne Brücke und gleich darauf in das hohe, dunkle, lange Schloßtor hinein. Jetzt flog rotes Licht spielend über die alten Mauern und Erker, Leontine, als hätte sie plötzlich ein Gespenst erblickt, starrte mit weit offenen Augen in die Blendung, denn der ganze Hof wimmelte von Windlichtern und reichgeschmückten Dienern, und auf den Stufen des Schlosses, mitten im wirren Widerschein der Fackeln, stand schon wieder der Räuberhauptmann!

Er schien selbst auch erst angelangt, sein Pferd, noch rauchend, wurde eben abgeführt. Als der Wagen anhielt, stieg er rasch hinab, alles wich ihm ehrerbietig aus. Er hob die ganz Verstummte aus dem Wagen und führte sie, wie einen längst erwarteten Besuch, durch die Reihe von Dienern mit höfischem Anstand die Treppe hinan, ohne mit Wort oder Mienen anzudeuten, was zwischen ihnen vorgefallen. So gingen sie durch mehrere Gemächer, alle waren hell erleuchtet, eine seltsame Ahnung flog durch Leontinens Seele, sie wagt es kaum zu denken. Jetzt traten sie in den Saal.

«Mein Gott», sagte sie, «Sie sind –»

«Graf Gaston», erwiderte ihr Begleiter, «vergeben Sie die Täuschung, sie war so schön!»

Drauf blickte er rasch im Saal umher. «Wo ist die Gräfin Diana?» fragte er die Diener. Man sagte ihm, die Gräfin habe gleich, nachdem er das Schloß verlassen, Pferd und Wagen verlangt, so sei sie mitten in der Nacht fortgefahren, der Kutscher selbst habe noch nicht gewußt, wohin es ginge. – Gastons Stirne verdunkelte sich bei dieser Nachricht, er sah nachsinnend vor sich nieder.

Leontine aber hatte unterdes schnell noch einmal alles überdacht: den ersten Besuch des Unbekannten, seine flüchtige Erscheinung, dann unten vor dem Schloß die verworrenen Gerüchte von dem Tode des Räubers – wie hatte Schreck und Zufall alles wunderbar verwechselt! Sie stand verwirrt mit niedergeschlagenen Augen, tiefbeschämt, daß er nun alles, alles wußte, wie sehr sie ihn geliebt.

Da wandte sich Gaston, nach kurzem Überlegen, lächelnd wieder zu ihr. «Das Spiel ist aus», sagte er, «ein todwunder Räuber steht vor Ihnen und gibt sich ganz in Ihre Hand. Morgen geleit ich Sie zurück zur Mutter, da sollen Sie richtend entscheiden über ihn auf Leben oder Tod.»

Drauf, als wollte er schonend die Überraschte heut nicht weiter drängen, klingelte er rasch; weibliche Dienerschaft trat herein zu des Fräuleins Aufwartung. Und ihre Hand küssend, eh er schied, flüsterte er ihr noch leise zu: «Ich kann nicht schlafen, ich zieh heut mit den Sternen auf die Wacht und mach die Runde um das Schloß die ganze schöne Nacht, es ist ein heimlich Klingen draußen in der stillen Luft, als zög‘ eine Hochzeit ferne an den Bergen hin.»

Leontine stand noch lange am offnen Fenster über dem fremden Garten, Johanniswürmchen schweiften leuchtend durch Blumen und Sträucher, manchmal schlug eine Nachtigall fern im Dunkel. Es ist nicht möglich, sagte sie tausendmal still in sich, es ist nicht möglich!

Unten im Hofe aber erkundigte sich Gaston jetzt noch genauer, wiewohl vergeblich, nach der Richtung, die Diana genommen. Verblendet, wie er war von ihrer zauberischen Schönheit, hatte sich, als er in den Flammen dieser Nacht sie plötzlich in allen ihren Schrecken erblickt, schaudernd sein Herz gewendet, und, wie eine schöne Landschaft nach einem Gewitter, war in seiner Seele Leontinens unschuldiges Bild unwiderstehlich wieder aufgetaucht, das Diana so lange wetterleuchtend verdeckt. Dieser hatte er nun auf dem Schlosse hier Leontinen als seine Braut vorstellen wollen; das sollte seine Rache sein und ihre Buße. Nun aber war unerwartet alles anders gekommen.

 

Wenige Wochen drauf ging an dem Schloß der Marquise ein fröhliches Klingen durch die stille Morgenluft, eine Hochzeit zog an den Waldbergen hin: glänzende Wagen und Reiter, Leontine als Braut auf zierlichem Zelter voran, heiter plaudernd an Gastons Seite. Die Vögel sangen ihr nach aus der alten schönen Einsamkeit, das treue Reh folgte ihr frei, manchmal am Wege im Walde grasend. Sie zogen nach Gastons prächtigem Schloß an der Loire.

Hier lebte er in glücklicher Abgeschiedenheit mit seiner schönen Frau. Nur manchmal überflog ihn eine leise Wehmut, wenn bei klarem Wetter die Luft den Klang der Abendglocken von dem Kloster herüberbrachte, das man aus dem stillen Schloßgarten fern überm Walde sah. Dort hatte Diana in der Nacht nach ihrer Entführung sich hingeflüchtet und gleich darauf, der Welt entsagend, den Schleier genommen. Als Oberin des Klosters furchtbare Strenge gegen sich und die Schwestern übend, wurde sie in der ganzen Gegend fast wie eine Heilige verehrt. Den Gaston aber wollte sie nie wiedersehen.

Zehntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Fern von diesem Weltgetümmel, mitten zwischen den Waldbergen, lag in stiller Abgeschiedenheit ein altes Schloß mit wunderlichen, kleinen Fenstern, halbverfallenen Söllern und Türmchen, alles ganz verwildert und grün überwachsen. Zwischen den Tannenwipfeln qualmten die weißen Schornsteine des freundlichen Dorfes lustig herauf, sie schienen das Schloß schon lange einzuräuchern, denn es sah ganz braun aus, und zahllose Sperlinge lärmten und nisteten in dem Helm des steinernen Wappenschildes über dem Tor. Aus den alten Wallgräben war früher ein Garten und aus dem Garten mit der Zeit eine grüne Wildnis von Stachelbeeren und Haselnußsträuchern geworden, in der jetzt einige Ziegen ruhig weideten.

Dort saßen an einem schwülen Nachmittage mehrere Jagdhunde unter einer Weinlaube und unter ihnen der Gutsherr, Baron Eberstein, mit dem jungen Prediger des Orts schwatzend, der zum Besuch heraufgekommen war, um dem Baron seine neuen Meerschaumköpfe anrauchen zu helfen. Sie freuten sich beide des allmählich aufsteigenden Gewitters, denn die schillernden Täler unten lechzten nach Regen, es rührte sich kein Lüftchen in der ganzen Gegend, nur die Bienen summten um die hohen Sonnenblumen vor dem Schlosse. Seitwärts aber sah man bald einen roten Schuh, bald ein zierliches Füßchen aus dem Laube eines Kirschbaums schimmern, zwischen dem manchmal ein Paar schöne, dunkle Augen herausfunkelten. Es war Fräulein Gertrud, des Barons Tochter, die im Wipfel Kirschen naschte und die Kerne mutwillig nach den Hunden schnellte; eigentlich aber hatte sie’s auf des Predigers neue, geschniegelte Weste abgesehen.

Der Prediger aber merkte nichts davon, so vertieft war er in den Diskurs. »Ja«, sagte er, »diese Gewitterschwüle ist ein bedeutungsvolles Bild der Gegenwart, alles liegt in banger Erwartung, daß man fast den leisen Schritt der Zeit hört, Gedankenblitze spielen auf dem dunklen Grunde.« – »Ah bah!« erwiderte der Baron, sich eine neue Pfeife stopfend, »Gewitter ist Gewitter, und dummes Zeug ist dummes Zeug!« – Der Prediger, ein wenig pikiert, rückte sich vornehm zurecht und sprach von der unaufhaltsamen Intelligenz, von der Mündigkeit der Zeit und der unsichtbaren Gewalt unverjährbarer Wahrheit. Da wurde der Baron ganz hitzig. »Was ist wahr? was ist wahr?« rief er dicht heranrückend aus. Dem Prediger, erschrocken und verblüfft wie er war, wollte gerade in diesem kritischen Moment keine passende Antwort einfallen. – »Na seht«, fuhr der Baron fort, »Ihr wißt’s nicht, und ich weiß es auch nicht, das weiß der liebe Gott allein. Aber mein Jagdrevier hier das kenn‘ ich ganz genau, und wer mir in meine Wildbahn bricht, mündig oder unmündig, den schieß ich vor den Kopf, wie einen tollen Hund, und damit basta! Und wenn jeder so täte in seinem Revier, so hätten wir bald Ruhe vor der verjährten Intelligenz und der unsichtbaren Wahrheit und alle dem Plunder. Glaubt einem altgedienten Offizier, Prediger, die Zeit will nur Prügel haben, weiter ist’s nichts!«

»Gäste kommen! Gäste kommen!« rief hier auf einmal das Fräulein vom Kirschbaum. Und in der Tat, kein Schiffer vom Mastkorb blickt so scharf in die Ferne als ein Landfräulein in der Meeresstille ihrer einförmigen Einsamkeit, denn kaum noch schimmert‘ es flüchtig von dem Gipfel des gegenüberliegenden Berges herüber. Das Gewitter lag schwer über dem Berge und verdunkelte schon die ganze Gegend, nur der grüne Abhang nach dem Schlosse zu war von der Abendsonne noch hell beschienen. Da sah man auf einmal Federbüsche aus dem Grün nicken, einzelne Reiter flogen über den Plan, immer mehre folgten, Jäger und Frauengestalten auf zierlichen Zeltern, wie wenn der Herbstwind farbige Blätter verstreut; der eine der Reiter schien eine Gitarre im Arm zu haben; man hörte seine Stimme durch die stille Luft bis herüber schallen, andere bliesen auf dem Waldhorn dazu und schossen ihre Flinten ab; so bewegte sich der bunte Zug in der wunderbaren Beleuchtung heiter und eilig den Abhang hinunter – das Fräulein konnte sich nicht satt sehn daran.

»Wahrhaftig, Seine Durchlaucht mit Ihrer ganzen Literatur!« rief der erstaunte Baron aus, indem er die Pfeife schnell weglegte. »Jetzt biegen sie in den Hohlweg, es kommt alles hierher. He, Johann! meinen Hut, meine Uniform! Was das lateinische Reiter sind! Wo bleibt der Schlingel! Das wollen Jäger sein, die Juanna, das Blitzmädel, ist noch der beste Schütz unter ihnen.« – »Sie soll immer mitten ins Herz treffen«, versetzte der ästhetische Prediger. – »Prediger!« sagte der Baron, ihn bei der Hand festhaltend, »ich bitt‘ Euch um Gottes willen, lauft mir jetzt nicht davon, Ihr müßt gelehrt sprechen mit den Leuten, mir ist’s immer wie Chaldäisch im Halse unter ihnen.« – »Nun, nun, wir wollen schon machen«, erwiderte der Prediger, zufrieden schmunzelnd.

Fräulein Trudchen aber war schon wie ein Reh über Wallgraben und Sträucher nach dem Schlosse gesprungen. Da gab’s ein wahres Volksfest, die Türen flogen krachend auf und zu, die Hunde bellten, die alten Sofas und Stühle wurden ausgeklopft, daß es rauchte, zuweilen hörte man das lustige Lachen des Fräuleins dazwischen. Zuletzt band sie nur noch schnell ihre neue Schürze um; sie wußt‘ es wohl, sie war hübsch genug, so wie sie war.

Nun aber begann auch schon draußen der Lärm. In hastiger Flucht brachen Gewitter und Gäste zusammen herein; der kleine Hof füllte sich plötzlich mit Glanz und Getümmel von eleganten Uniformen, Reitern und Rossen, der Regen fiel schon in einzelnen großen Tropfen, Tücher, Mäntel und Schleier flatterten im Sturm durcheinander, und bunte Jockeis flogen von den Pferden, um in der Verwirrung den Herrschaften herabzuhelfen, während die Mägde und Knechte des Barons, ihre Mützen in der Hand, ganz verwirrt in den Türen standen. Der Fürst war der erste, der sich aus dem Knäul herauswickelte. Er befahl seinen Leuten, mit Pferden und Hunden im Dorf ein Unterkommen zu suchen, so gut es gehe; dann entschuldigte er verbindlich beim Baron den plötzlichen Überfall, das Unwetter habe sie überrascht; er bat um Schutz für die Nacht; wo könne er diesen besser finden, setzte er hinzu, als bei den alten Häusern des Landes. – »Alt und wackelig in der Tat«, sagte die Fürstin leise zu ihrem Nachbar, das Schloß bedenklich betrachtend. – »Es sieht aus«, erwiderte dieser, »wie ein altes Rolandsbild, dem der Zahn der Zeit den Kopf abgebissen.« – »Nein, wie ein einzeln stehengebliebener Backzahn der Zeit selbst«, meinte ein anderer. – Der Baron aber, in dem beim Anblick von Damen jederzeit die Ritterlichkeit seines ehemaligen Offizierlebens wieder erwachte, hatte mit scharfem Jägerblick sogleich die Fürstin aufs Korn genommen. Er half ihr kunstgerecht aus dem Sattel, bot ihr mit altmodischer Galanterie den Arm und führte sie über den Hof, immerfort französisch mit ihr sprechend, obgleich sie ihm deutsch antwortete. Aber schon am Eingange gab es unerhofften Aufenthalt. Die fürstlichen Jagdhunde schnupperten überall vornehm umher, da gebrauchten die Hunde des Barons ihr Hausrecht, und eh‘ man sich’s versah, gerade in der Türe entstand plötzlich ein Balgen und Würgen, daß die Haare davonflogen. Mit gewaltiger Stimme, mit Stock und Stiefeln stiftete der Baron endlich wieder Frieden, und wandte sich dann entschuldigend zur Fürstin. Die Fürstin aber kam darüber in ein unaufhaltsames Lachen, das steckte die andern mit an, und so zog alles fröhlich ein.

Dieser konfuse Anfang hatte die ganze Feierlichkeit verstört, welche der Baron im Schilde führte. Er brachte die Gesellschaft in ein großes Zimmer, das nicht zum gewöhnlichen Gebrauche bestimmt schien, wie man an der verstaubten Pracht der damastenen Gardinen abnehmen konnte. Anstatt aber Platz zu nehmen, eilte die Fürstin nach einer leichten Vergebung sogleich mit Kennermienen zu einer alten, sehr kunstreich mit Elfenbein ausgelegten Kommode. In demselben Augenblick fing eine vergoldete Stutzuhr auf dem Schrank mit heiseren Absätzen zu spielen an. »Mein Gott, noch aus ›Cosa rara‹!« rief die Fürstin überrascht aus. – war die erste Oper, welche die Fürstin überrascht aus. – »Ich weiß wirklich nicht « erwiderte der Baron, der es für Spott hielt, und zog die Augenbraunen finster zusammen. Aber er irrte sich. ›Cosa rara‹ war die erste Oper, welche die Fürstin noch als Kind gehört; jetzt überwältigte sie die Erinnerung, sie hütete sich aber, es zu sagen, damit niemand die Jahre nachzählte. Unterdes hatte der Fürst auch ein Klavier entdeckt, und mit der Unbarmherzigkeit der großen Welt wurde Fräulein Trudchen ohne weiteres, wie zur Schlachtbank, zum Spielen gedrängt. Der Prediger, der sich gern bemerklich machen wollte, brachte ein Pack Noten herbei und stellte sich geschäftig hinter den Stuhl, um die Blätter umzuschlagen. Dem Fräulein ging es aber wie der Spieluhr, rot bis an die Ohrläppchen konnte sie keinen vernünftigen Ton hervorbringen. Da warf sie plötzlich das Stutznäschen stolz in die Höh, schob die Noten zur Seite und sang herzhaft eines von den Volksliedern, wie sie damals noch auf den Bergen im Schwange waren. Da ging, zur Verwunderung des erschrockenen Barons, auf einmal eine freudige Bewegung durch die ganze Gesellschaft, man verglich sie einem Waldvöglein, sie mußte mehr und immer noch mehr solche Lieder singen. Dazu kam die Neuheit der ganzen Umgebung, das heimliche Gefühl der Sicherheit in der stillen Burg, während draußen schon der Sturm den Regen an die Fenster peitschte. Die Fürstin fand das altertümliche Kamin, die tiefen Fensterbogen und Erker entzückend, während der Fürst in dem einen Fenster sich nicht satt sehen konnte an dem tiefen Waldgrund unter dem Schlosse, den die Blitze von Zeit zu Zeit seltsam erleuchteten, so daß der Baron, der lange dort nicht hinausgesehen, endlich selbst neugierig mit hinunterblickte. So war alles in der heitersten Stimmung, als nun noch in dem Kamin ein lustiges Feuer angezündet wurde; der Prediger konnte mit seiner Gelehrsamkeit gar nicht aufkommen, und der Baron fand mit Erstaunen, daß es doch eigentlich gar nicht so übel leben sei uner diesen Leuten.

Es war noch zu früh zum Schlafengehen, die Fürstin schlug vor, Geschichten zu erzählen, jeder, was ihm eben einfiele. Der Prediger räusperte sich, eine Novelle, die er neulich für ein Taschenbuch geschrieben, steckte ihm schon im Halse. Aber zu aller Verwunderung bat der lange Lord vorweg um das Wort, der Baron brachte alten Ungarwein, wovon er ein Glas der Fürstin zierlich auf einem silberenen Teller präsentierte, alles setzte sich um das Kaminfeuer zurecht, und der Lord begann ohne weiteres folgende

Geschichte der wilden Spanierin

»In dem Kriege Napoleons gegen Spanien diente ich in der englischen Armee, welche damals den Spaniern zu Hülfe zog. Ich war Husarenoffizier, da hatt‘ ich vielen Ärger mit der unvernünftigen hohen Bärenmütze, die alle Augenblick das Gleichgewicht verlor, während ich mich täglich ein paarmal in dem sarmatischen Gehänge und Gebommel von Säbeltasche, Dolman und Fangschnüren mit meinen langen Beinen verwickelte. Einmal waren wir versprengt und rasteten im Freien. Es regnete in einem fort, ich stand melancholisch mitten im Felde unter meinem Regenschirm, in jeder Hand, wie ich aus Vorsicht immer zu tun pflegte, eine Pistole mit gespanntem Hahn. Auf einmal heißt’s: Die Franzosen! Wir waren unserer nur wenige, der Feind in hellen Haufen. Meine Kameraden zerstoben im Nu nach allen Seiten. Ich aber fasse mein Pferd, fahre in der Eil mit dem Bein in den Pelzärmel des Dolmans, mit einem Arm in die Säbeltasche, mit dem andern in die verfluchte Takelage von Schnüren und Troddeln, so daß ich mich nicht rühren, viel weniger die Zügel erlangen konnte; mein Pferd erschrickt vor meiner Positur und rennt gerade auf den Feind los, und so, mit ausgespreizten Armen, den Säbel zwischen den Zähnen, während meine Pistolen losgehen, wie eine wahnsinnige Fledermaus, fliege ich mitten unter die Franzosen hinein, daß ein lustiges Hussa! durch ihr ganzes Geschwader erscholl. Ich war nun in ihre Gefangenschaft geraten, sie hatten Mühe, mich aus meiner verwickelten Lage zu bringen und nannten mich den tollsten Kerl, den sie jemals gesehen. Da ich aber französisch sprach und Gold in der Börse hatte, so wurden wir bald gute Kameraden. Sie wollten mich nach Burgos führen in ihr Depot, das war aber nicht so leicht gemacht, denn bewaffnete Banden spanischer Bauern verrannten uns überall den Weg, und so zogen wir geraume Zeit miteinander im Lande umher.

Auf diesem Zuge lagerten wir einmal in einer schönen Sommernacht an einem großen Schlosse, das schon seit langer Zeit nicht mehr bewohnt schien. Die alten, zackigen Türme warfen im Mondschein lange Schatten über den wüsten Schloßgarten, wo wir lagen und unsere Pferde an die verwilderten Hecken angebunden hatten. Es war alles still in der ganzen Gegend, von Zeit zu Zeit hörte man die Pferde schnauben und die Wachen anrufen aus der Ferne, im Walde schlugen die Nachtigallen, als gäb‘ es keinen Krieg in der Welt. – Der Rittmeister, der den Zug führte, ein heiterer Gaskogner, lag rücklings auf seinen Mantel ausgestreckt, ich glaubte, er schliefe, er hatte aber, wie er mir nachher sagte, an seine ferne, schöne Heimat gedacht. Auch richtete er sich gleich darauf schnell und rüstig wieder auf. »Hier ist nicht Zeit zum Träumen«, meinte er, »wir müssen auf unserer Hut sein heut‘ nacht, denn das ist das Schloß der wilden Spanierin.« Und als ich fragte, wer die sei, benutzte er die Gelegenheit, sich munter zu erhalten, und erzählte mir alles ausführlich.

»In diesem Schlosse«, sagte er, »wohnte ehedem ein Graf aus uraltem Stamm, der nach und nach wohl sich zu beugen verlernt haben mochte. Wenigstens soll der Graf früher den Anforderungen des alten Hofes jederzeit trotzigen Stolz entgegengesetzt haben bis zu wechselseitiger, bitterer Verstimmung; um so mehr durfte man voraussetzen, daß er der neuen Ordnung der Dinge geneigt sei. Auch fanden ihn die Unsrigen, als sie das Land überzogen, einsam auf seinem Schlosse, höflich, aber finster und, wie es schien, ohne alle Teilnahme an dem, was hinter seinen Bergen vorging. Seine größte Freude war ein Töchterchen, sein einziges Kind, bei dessen Geburt die Mutter gestorben. Mit ihr pflegte er, wenn alles schon schlief, die Zinne des Schlosses zu besteigen, und zeigte ihr das Land, das ehemals ihre Ahnen beherrscht, so weit der Mond die Wälder beleuchtete, und erzählte ihr halbe Nächte hindurch von der alten, großen Zeit und der fürstlichen Freiheit, die sich dem Zwang der Städte nicht unterwerfe. Unter solchen Träumen wuchs das Fräulein auf, und da der Krieg alles vereinzelte, so sah sie fast kein anderes Frauenzimmer als ihre alte Amme, ein hexenhaftes Weib, das von ihrem Vater, einem Zigeuner, und ihrer Mutter, einer gefangenen Araberin, manch Zauberstückchen ererbt hatte, woran die Tradition dieser Stämme so reich ist.

Aber unseren Leuten blieb die junge Gräfin nicht lange verborgen, und die sie sahen, konnten nicht genug erzählen, wie wunderbar schön sie war: schwarze Locken, bleich mit brennendrotem Munde, die Augen wie ein dunkeler Abgrund. Täglich nun flimmerte es von französischen Offizieren auf dem Schlosse. Das gefiel ihr wohl, sie ritt und focht mit ihnen und war der beste Schütz auf der Jagd, sooft aber einer näher trat mit verliebten Blicken oder Worten, sah sie ihn verwundert an und wußte nicht, was er wollte, allen gleich fern und fremd, wie ein Stern in kalter Winternacht. Das verlockte aber die lustigen Gesellen nur noch immer mehr aufs Glatteis, und ein hübscher, junger Unterlieutenant – St. Val war sein Name -, der soeben erst aus der Militärschule von Paris angekommen war und davon hörte, verschwor sich mörderlich, sie müßte sein werden, oder er wollte des Teufels sein!

Unterdes wurden die Plänkeleien in der Gegend immer ernster, die Offiziere hatten vollauf zu tun und blieben aus, da konnte sich die Gräfin gar nicht wiederfinden in die alte Einsamkeit und das einförmige Rauschen der Wälder. – So stand sie auch eines Abends allein mit der Amme vor dem Schloß. Der Krieg ging unten wie eine lustige Jagd durch die Berge, zuweilen sahen sie fern in der Abendsonne ein Geschwader von Reitern aufblitzen, einzelne Trompeten klangen herüber, dann verhallte und verdunkelte nach und nach alles wieder, nur die Flammen brennender Dörfer blieben am Horizonte stehn. Die Gräfin sah lange stumm und unverwandt in das ferne Feuer, dann brach sie still in Weinen aus und sagte für sich: »Wie ist das herrlich! Ach, daß ich kein Mann geworden bin! ihnen gehört alles, sie regieren die Welt.« – Die kluge Amme erwiderte: »Desto besser, Kind, desto besser, denn die Frauen regieren wieder die Männer.« – »Wieso?« – sagte die Gräfin und sah sie groß an, daß ihr die Tränen funkelnd in den schönen Augen stockten. – »Nun, nun«, antwortete die Alte, »kein schlanker Tiger verwundet so tief, als wenn ihr lacht und ihnen die weißen Zähnchen weist oder einen beim Küssen heimlich damit beißt; keine buntgefleckte Schlange ist so schön und stark, als eure Arme, wenn ihr einen umschlingt.« – Die Gräfin hörte nur halb darauf und sagte wie in Gedanken: »Darum habe ich immer in den alten Büchern meines Vaters gelesen, wie Fürsten und Könige vor Mädchen knieten und ihnen treu und gehorsam waren bis in den Tod. – Ach, liebe Amme, du weißt so viele Künste von deinem Vater, kannst du denn nicht machen, daß alle Männer, die mich sehen, in Liebe entbrennen und mir folgen müssen?« – »Hm«, entgegnete die Amme zögernd, »wenn nur – ich wüßte wohl «

Die Gräfin aber, deren Seele ganz erfüllt war von dem Gedanken, hatte sie schon am Arm gefaßt und drängte sie ungeduldig fort: die Nacht sei dunkel und schwül, alles schlafe schon im Schloß, es sei eben die rechte Zeit. – So gingen sie weiter den stillen Garten entlang bis ans einsamste Ende. Unterwegs sagte die Amme: »Es ist nichts Geringes, dem Freier, den ich Euch zuerst zeigen werde, müßt Ihr den Ring vom Finger ziehn – aber laßt’s Euch nicht anfechten, wann er etwas bleich und wirre sieht – den Ring drückt Ihr ans Herz bis es blutet, dann ist Euer Herz liebefest, und Eure Augen werden schön funkeln wie der Stein im Ringe, der arme Junge aber muß sterben.« – Hier waren sie an ein altes, zerfallenes Gemäuer gekommen, die Amme holte ein weißes Stäbchen aus einem hohlen Baumstamme, da schwirrten plötzlich Fledermäuse hervor und schlugen mit den Flügeln in den Zweigen, eine Schlange fuhr rasch zwischen das Gestein, unter dem sie eine dicke Kröte mit großen, rötlichen Augen ansah. »Hoho, bist du auch da, Großmutter«, lachte die Alte und schien lustig auf zigeunerisch mit den Tieren zu sprechen. Darauf tauchte sie Hände und Stab in einen Topf, daß sie hell leuchteten, und beschrieb unverständlich murmelnd einen feurigen Kreis, bei dessen grüngoldenem Glanz die Eidechsen neugierig im Grase hervorschlüpften. Die Gräfin stand mitten drin, es war ihr wie im Traume, als fingen die Blumen, Büsche und Wälder in der stillen Runde leise zu singen an, Johanniswürmchen zogen leuchtend um ihr Haupt, so sah sie mit tiefer, tiefer Lust vom Berg über die mondbeschienene Gegend und in den weiten, gestirnten Himmel hinein. – Die Amme aber schien in großer Unruhe, die Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. »Siehst du noch immer nichts?« fragte sie manchmal leise dazwischen. Aber nur ein Hund bellte aus dem fernen Dorf, dann war alles wieder still, die Gräfin hielt den Atem an vor Erwartung. Auf einmal fuhren beide zusammen – ein fremder Mann, dicht im Mantel verhüllt, trat plötzlich in der Ferne zwischen den Bäumen hervor. »Um Gottes Willen!« rief die Amme und flüsterte noch etwas in der höchsten Angst. Aber die Gräfin, wie ein Falk in den Lüften hängend, stürzte mit unmenschlicher Lust schon auf ihre Beute. Der Fremde erschrak heftig, erholte sich aber, da er ein Weib vor sich erblickte. Sie sah ihn groß an, sie kannte ihn nicht. Auf ihre Frage: wo er hin wolle, erwiderte er zögernd und sichtbar verwirrt, er wolle der schönen, jungen Gräfin ein Ständchen bringen. Der Wind schlug ein wenig seinen Mantel auf, da fiel es ihr seltsam aufs Herz, daß ein französischer Offizier, doch sagte sie nichts, aber ihre Blicke gingen scharf seitwärts in die Dunkelheit, denn es war ihr, als hörte sie etwas heimlich durch den Garten huschen und Pferde schnauben in der Ferne. – »Kannst du mir die Fenster zeigen, wo sie schläft?« sagte der Fremde wieder, und da sie ihm gefiel, umschlang er sie mit einem Arme. Die Gräfin besann sich einen Augenblick. »Warum nicht!« sagte sie dann schnell, »wenn Ihr mir Euren schönen Ring gebt zum Lohne; aber Euren Mantel müßt Ihr mir borgen, damit man mich nicht erkennt.« Der verliebte Offizier hing ihr selbst den Mantel um und meinte dabei, ihre aufgeringelten Locken sähen wie Schlangen aus bei Nacht. Sie aber hatte schon ganz andere Gedanken, und als er eben den Ring vom Finger zog, ergriff sie rasch ein Pistol, das er unter dem Rock auf der Brust trug, und stieß ihn damit rücklings von der Rampe, auf der sie standen. – »Sie ist im Garten, greift die kleine Hexe« rief jetzt eine Stimme tiefer unten. Da drückte sie schnell ihr Pistol ab und: »Herr Jesus!« hörte man unten dieselbe Stimme verhallen. Dann, sich in den Mantel wickelnd, rief sie hinab: »Mir nach, sonst seid ihr alle verloren!«

Aber es war alle schon zu spät. Die Unsrigen, die unerwartet erfahren, daß der Graf es heimlich mit dem Feinde halte, hatten die dunkle Nacht benutzt, das Schloß ohne Geräusche beschlichen und den Grafen bereits gefangen in ihrer Mitte. Dieser nun, als er die Tochter an der Stimme erkannte, glaubte sich von seinem eigenen Kinde verraten, in dieser Verblendung entriß er wütend einem der Soldaten den Degen, um sie selbst zu richten. Sein Leben war ihm nichts gegen die Ehre und Freiheit; so ward ihm schnell die letzte zuteil, indem die anderen Soldaten, da sie ihn nicht mehr aufhalten konnten, ihn von hinten mit vielen Stichen durchbohrten. – Unterdes aber war, wie die Gräfin vorausgesehen, durch den Schuß alles munter geworden. Gleichwie die Krähen, wenn man nachts in die Wipfel schießt, sich mit wildem Geschrei in die Lüfte stürzen, so brachen bewaffnete Jäger, Bediente und Bauern, die damals einen leisen Schlaf hatten, plötzlich aus allen Türen, Hecken und Mauerritzen hervor. Die Unsrigen, als sie sich so umgeben sahen, folgten blindlings der Gräfin, die sie in dem Offiziermantel für ihren Kapitän hielten. Sie wollte ihrem Vater, den sie noch im Schlosse glaubte, Zeit lassen, sich zu retten, und führte, immerfort winkend, die verstörten Soldaten bis in den äußeren Hof, wo sie dem wilden Haufen grade in die Hände rannten. Da rangen sie, still und grimmig in der Dunkelheit Mann gegen Mann, die einen ums Leben, die andern um den Leichnam ihres Herrn; die Gräfin hatte unterdes eine Meute grausamer Hunde losgelassen, welche in der Verwirrung die Fliehenden zerrissen, es war eine schreckliche Nacht. – Der Offizier aber, den die Gräfin durch den Pistolenschuß so still gemacht, war derselbe junge St. Val, der damals sie zu fangen geschworen und sich nun vermessen zu dem gefährlichen Kommando gedrängt hatte. Er war aber nur verwundet und betäubt, und als er auf dem stillen Platze einmal die Augen aufschlug, sah er wie im Traum zum ersten Mal das Gesicht der Gräfin zwischen den schwarzen, herabwallenden Locken beim Widerschein einer Fackel über sich geneigt – er mußte die Augen wieder schließen, so furchtbar schön war der Anblick.«

Hier wurde der Lord plötzlich von der Fürstin unterbrochen, die schon während der ganzen Erzählung eine seltsame Unruhe gezeigt und öfters ängstlich nach der Türe gesehn hatte. »Nein, das ist gar zu traurig vor dem Schlafengehen«, rief sie mit einem bedeutenden Blick auf den Fürsten und schien aufbrechen zu wollen. Dieser aber, ganz vertieft in die Geschichte, merkte nicht darauf; »so blutigrot also war ihr Aufgang« – sagte er in Gedanken und wollte durchaus noch das Ende wissen. Der Lord stutzte, da aber der Fürst von neuem in ihn drang und die andern mit Blicken und Kopfnicken beistimmten, erzählte er ruhig wieder weiter:

»Seit dieser Stunde« – so fuhr mein Rittmeister fort – »steht das Schloß wüst und verlassen, aber die wilde Gräfin geht wie ein wunderbarer Spuk durchs Gebirge. Oft nach nächtlichen Biwaks, wenn die Sonne über der prächtigen Gegend aufgeht, erscheint sie am Saume des Waldes zu Pferd im vollen Glanze der Schönheit; da schwingt sich manch fröhlicher Reiter auf, sie zu fangen, aber keiner von allen kehrte noch jemals wieder zurück. – Seltsam! Es ist ja doch nur ein Weib. Seht, ich habe mein Liebchen in Frankreich, mir soll sie nur kommen, ich spüre eine rechte Lust, ihr einmal zu begegnen!«

Dem armen St. Val aber ging es am schlimmsten. Das Bild der Gräfin stand seit jener Nacht unaufhörlich vor seiner Seele, der lustige Bursch wurde ganz schwermütig, und eines Abends war er plötzlich verschwunden, wir wußten lange nicht, wohin er gekommen. Er aber war an diesem Abend, wie er damals oft zu tun pflegte, einsam in der Gegend herumgeschweift. Da hörte er wunderschönen Klang in der Abendluft wie eine Kriegsmusik aus der Ferne – man sagte, daß es in der Morgendämmerung vor großen Schlachten so in den Lüften musiziert – es waren die Guerillas, die im Gebirge sangen. Die Klänge verlockten ihn, er ging wie im Traume immer fort, so kam er in den Wald, wo damals die Gräfin hauste. Die Abendsonne leuchtete durchs Gebirge, als stände alles in Feuer, die Vögel sangen den funkelnden Wald entlang, dazwischen hörte er immerfort Stimmen bald da, bald dort, darunter eine wie ein Glöckchen in der Nacht, es klang ihm, als müßt‘ es die Gräfin selber sein. Ihm graute, und doch mußt‘ er der Stimme folgen. So war er schon lange gegangen, als er, plötzlich um einen Felsen tretend, auf einem stillen Rasenplatz über den Wipfeln eine weibliche Gestalt wie eingeschlummert sitzen sah, die Stirn über beiden Armen auf die Kniee gesenkt, daß die herabgefallenen reichen Locken sie wie ein dunkler Schleier umgaben. Sie hielt ein Roß am Zügel, das weidete ruhig neben ihr, von allen Seiten rauschten die Wälder herauf, sonst war’s so still daneben, daß man die Quellen gehen hörte. Und wie er noch so staunend stand in dieser Einsamkeit, erblickte er seitwärts in der Ferne einen Offizier von der deutschen Legion, der unten zwischen dem Gebüsch seine Büchse angelegt hatte, er wußte nicht, ob er auf ihn oder die Schlummernde ziele, und machte erschrocken eine heftige Bewegung. Da schüttelte die Schlafende die Locken aus den Augen und richtete sich, in der Abendglut mit den Steinen ihres Gürtels leuchtend, plötzlich auf. Der Deutsche, wie geblendet, ließ seine Büchse sinken und verschwand zwischen den Bäumen; St. Val aber erkannte mit Schauern die Gräfin, denn ihm fiel die Soldatensage ein, daß es jedem den Tod bedeute, der sie unversehens im Walde erblickt. – Die Gräfin aber sah scharf nach allen Seiten, dann ihn durchdringend an. »Ihr seid sehr vorwitzig«, sagte sie darauf, »doch es wird schon spät, ich bin so müde und verwirrt, zeigt mir den Weg aus dem Walde.« Da fiel St. Val plötzlich aufs Herz; er wußte, daß die Franzosen den Wald umzingelt hatten und in welcher Gefahr sie war, er wollte sie retten, es koste was es wolle, und dann noch diese Nacht zu seinem Regiment zurück und sich zu anderen Truppen versetzen lassen, weit von diesen Wäldern. – Während diese Gedanken verworren durch seine Seele gingen, hatte sie schon ihr Pferd gezäumt; sie befahl ihm unterdes zu satteln und lachte ihn aus, als er damit nicht zurechtkommen konnte, dann schwang sie sich hinauf, er mußte das Pferd am Zügel führen. Sie saß seitwärts auf einem Frauensattel, auf ihrem Arm über den Hals des Pferdes gelehnt, und plauderte im Waldesgrün unbekümmert wie ein Kind in ihrer schönen, melodischen Sprache, daß es St. Val war, als hörte er die ferne Musik wieder in der stillen Abendluft, die ihn vorhin verlockt hatte. Auf einmal richtete sie sich lauschend auf, man hörte französisch sprechen dicht unter ihnen. Sie lenkte vorsichtig hin nach den Stimmen, und durch das Gebüsch sahen sie einen Trupp Reiter in ihren weißen Mänteln, die in der Dunkelheit leuchteten, langsam vorüberziehen – nur ein Laut von St. Val, und die Gräfin war verloren. – Sie aber schaute mit kühner Lust hinab, wie man nachts in ein Gewitter sieht, dann, plötzlich sich selbst unerbrechend, streckte sie den Fuß gegen St. Val: er sollt‘ ihr das Schuhband binden, und lächelte spöttisch, da er’s tat.

Von diesem Augenblick an war er ganz in ihrer Macht. Sie sagte: sie hätte ihn nur versuchen wollen, ob er’s ehrlich meine, sie wisse den Weg besser als er, sie wolle ihn heimführen. Mit diesen Worten lenkte sie rasch herum, und in den Klüften bald hernieder, bald wieder aufwärts, an schwindelnden Abgründen vorüber, ging es immer tiefer in die Nacht und die Wälder hinein – er konnte kaum folgen durch das Gestrüpp, wie ein getreuer Hund, und als sie endlich unerwartet ins Freie kamen, sah der Entsetzte eine Guerillabande vor sich im Waldgrund gelagert. Unzählige Röhre, da sie die französische Uniform erkannten, waren plötzlich auf ihn gerichtet, aber ein zorniger Blick der Gräfin bändigte alle; die grimmigen Bestien, ihre schwarzen Mähnen schüttelnd, zogen sich knurrend zurück und wärmten wieder ihre Tatzen an den Wachtfeuern. Nun bemerkte St. Val mit Erstaunen, wie diese wilden Männer die Gräfin, gleich einer Königin, verehrten und bedienten. Ein junger Bursch hob sie aus dem Sattel, einige breiteten einen bunten Teppich über den Rasen, während andere rasch ein lustiges Zelt darüber aufschlugen, dann war auf einmal alles wieder still und feierlich. Unterdes war auch der Mond aufgegangen und beleuchtete die Wälder. Die Gräfin saß unter ihrem Zelt und spielte auf einer Zither, St. Val lag gedankenvoll zu ihren Füßen, ihm war noch nie so himmlisch gewesen. – Es war eine von den prächtigen Sommernächten jenes Landes, die alles wunderbar in Traum verwandeln. Die Gräfin hatte sich bald mit einem Teil der Bande wieder entfernt, nur wenige bewaffnete Bauern bewachten den Gefangenen, die Luft kam von der Ebene und wehte Wohlgerüche aus den blühenden Gärten herauf, die unter den Bergen lagen. Da hörte St. Val die Trompeten seines Regiments durch die weite Stille herüberklingen, sie bliesen ein fröhliches Reiterlied aus der alten, guten, Zeit. Das wandte ihm das Herz, er war wieder ganz Franzose, der die Ehre über alles stellt. Er merkte gar wohl an der geheimnisvollen Geschäftigkeit der Abenteurer, daß sei einen Hauptstreich vorhatten, da war kein Augenblick zu verlieren. So, in höchster Angst vor dem Zelt sitzend und umherspähend, sann er eben, heimlich zu entfliehen und die Seinigen zu warnen, als auf einmal die ganze Bande mit Windlichtern wieder aus dem Walde zurückkehrte. Die Gräfin, mitten unter ihnen, tritt rasch hervor und, zwischen den schweifenden Lichtern mit den losgegangenen Locken wieder über ihn geneigt, wie in jener Nacht am Schloß, blickt sie ihn streng an in ihrer ganzen furchtbaren Schönheit. Da springt er auf, entreißt einem Bauer die Fackel und, ganz verblendet und verwirrt, führt er selber den Haufen zum Überfall gegen seine Landsleute! – So, rasch und schweigend, gehen sie durch den stillen Wald.

Kaum hatte der Rittmeister diese Worte ausgesprochen, als plötzlich ein Schuß hinter uns fiel und bald ein zweiter und noch einer. »Teufel! da ist St. Val!« schrie der Rittmeister aufspringend, und ich erblickte in einem Erker des Schlosses einen schönen jungen Mann, totbleich beim Fackelschein, ohne Hut, in einer halb zerrissenen französischen Uniform, hinter ihm im roten Widerschein der Windlichter, der seltsam über die vergüldeten Wände der Säle schweifte, wurden wilde, trotzige Gestalten mit Dolchen und langen Vogelflinten sichtbar, wie sie der Rittmeister vorhin beschrieben. Sie schossen aus allen Fenstern auf uns, und mancher Franzose sank ins Gras, eh sich unser Häuflein nur besinnen konnte. Unterdes hatte sich das Gerücht verbreitet, die wilde Gräfin sei im Schlosse; der Rittmeister verlor keinen Augenblick den Kopf, er traute mir nicht mehr in solcher Gefahr und ließ mich tiefer in den Wald zurückbringen, dann erbrachen sie mit gewaltiger Anstrengung Tor und Riegel und drangen in die Burg hinein. Der erste, der ihnen dort begegnete, war St. Val, er focht wie ein Rasender und stürzte sich zuletzt in wildem Wahnsinn selbst in die französischen Klingen.

Über seinen Leichnam nun ging der Kampf von Treppe zu Treppe entsetzlich durch alle Gänge. Die Franzosen waren kriegsgewandter und zahlreicher als ihre Gegner, die Gräfin und die Ihrigen wurden immer höher hinaufgetrieben – es war keine Rettung mehr für sie. Da schlug plötzlich aus dem einen Fenster ein heller Schein hervor, dann wieder aus einem andern, immer mehr rötliche Flammen züngelten schnell an allen Ecken auf, der Sturm faßte die wachsenden Lohen und wildkühn kletterte das Feuer an den Gebälken empor, wie ein prächtiges Laubgewinde in der Nacht, mitten in der Glut sah man die dunklen Gestalten noch ringen. In dieser Not erblickte der Rittmeister auf einmal die Gräfin hoch über sich wie den Todesengel zwischen den Flammen. Ihm vergingen die Sinne bei dem Anblick, er vergaß Heimat, Liebchen und Ruhm, er wollte nur sie retten oder sterben. Vergebens riefen ihm die Seinigen nach, er hörte nicht mehr und drang verblendet die brennende Treppe hinan, unter sich in der wilden Beleuchtung sah er den Garten, die Schlüfte und den Strom, der wie eine glühende Schlange an dem Schlosse vorüberschoß – schon lange er nach ihr, sie zu umschlingen und hinabzutragen, da stieß sie ihn mächtig von der Zinne hinab, daß die Flammen wie fliegende Fahnen den braven Soldaten bedeckten.

Bald darauf stürzte der ganze Bau donnernd über Freund und Feind zusammen – man hat seitdem die Gräfin nicht wiedergesehen.«

Alles schwieg, als der Lord endigte, nur der Baron, der während der Erzählung eingeschlummert war, fuhr auf seinem Stuhle erschrocken auf über die plötzliche Stille. – »Nun – und weiter?« sagte endlich der Fürst ganz zerstreut. – Der Lord sah ihn verwundert an. »Was wollen Sie noch weiter in der spanischen Nacht, nachdem dieser schöne Stern gesunken? Das andere lohnt nicht mehr: da der Rittmeister tot war, ergriffen die wenigen noch übriggebliebenen Franzosen voll Entsetzen die Flucht, auch meine Wächter waren verschwunden. Ich eilte nun in der neuen Freiheit sogleich zum Schloß, um die Gräfin, von der ich so viel gehört, womöglich mit eigenen Augen zu schauen – es war zu spät. Als ich aber an die Brandstätte kam, da war’s, als wüchsen dunkle Reitergestalten aus dem feurigen Boden, die wühlten mit ihren Degen in den Trümmern, daß überall blaue Flämmchen aufschlugen. »Sie ist mitverbrannt«, hört ich einen von ihnen sagen. – »So war denn alles nur ein prächtiger Traum!« rief ein anderer schmerzlich aus; dann stürzten sie in den Wald, den Flüchtlingen nach. – »Später hörte ich, daß die schwarzen Gesellen von der englisch-deutschen Legion gewesen, welche das Schloß hatten entsetzen wollen.«

»Und sahen Sie den Offizier nicht, der sie anführte?« fragte der Fürst wieder. »Ich erblickte ihn nur fern und flüchtig in der wilden Nacht«, erwiderte der Lord, »bei meinem Regiment aber nannten sie nachher einen deutschen Grafen: Victor von Hohenstein.«

»Nun wahrhaftig, ihr werdet uns am Ende gar noch überreden wollen, daß die Novelle wahr ist«, sagte hier die Fürstin, indem sie sich erhob und das Signal zum allgemeinen Aufbruch gab. Man vermißte jetzt erst die Gräfin Juanna. Der Baron sagte, sie promeniere schon seit länger als einer Stunde mit seiner Tochter durch alle Winkel des Schlosses und sei dadurch um die ganze spanische Reitergeschichte gekommen. Er ergriff nun eine seidene Klingelschnur und zog erst gelassen, dann immer heftiger, aber der Draht war durch den langen Nichtgebrauch verrostet, es wollte durchaus nicht klingen, bis er endlich ganz zornig zur Tür hinausschrie. Mehrere Bedienten in alten verschossenen Livreien stürzten herein, und setzten sich mit massiven Armleuchtern an die Spitze des Zuges, den der Baron, die Fürstin an den Fingerspitzen haltend, feierlich eröffnete, in der Perspektive erblickte man durch die offenen Flügeltüren ein mächtiges Himmelbett mit schwerseidenen Gardinen und einem Federbusch darüber. Nun verliefen sich auch die andern mit ihren Lichtern auf den verwirrten Gängen; es sah von draußen aus wie ein verbranntes Blatt Papier, wo die Funken geschäftig durcheinanderirren, bis endlich der letzte plötzlich verlischt.

Und als nun alles ruhig geworden im ganzen Hause, stand der Fürst noch immer allein mit dem Lord am offenen Fenster eines dunklen Saals und konnte nicht aufhören, ihn über die erzählte Begebenheit immer genauer auszufragen. Das Gewitter draußen war vorüber, es blitzte nur noch von fern, einzelne zerrissene Wolken flogen eilig über den stillen Hof. Da fuhr plötzlich der Lord auf: »Seht da, wahrhaftig, die wilde Gräfin!« – der Mond war auf einmal zwischen den Wolken hervorgetreten und beleuchtete flüchtig Juanna, die jenseits noch auf dem Balkon stand. – Der Fürst aber schloß schnell das Fenster. »Still, still«, sagte er zu dem erstaunten Lord, der diesen Ausruf nur so gedankenlos hingeworfen, »verratet es niemand, daß Ihr sie kennt.«

Viertes Kapitel

Viertes Kapitel

Schöne, stille Zeit, du liebste Heimatsgegend mit deinen frischen Morgen und mittagschwülen Tälern, und ihr rüstigen, nun nach allen Weltgegenden hin zerstreuten Jugendgesellen, die damals von den Bergen so ernst und fröhlich mit mir in das Leben hinausgesehen – ich grüß euch alle aus Herzensgrund! Denn alles wird mir wieder lebendig hier auf den kühlen Waldbergen, wie ich den Amtmann zwischen den Kornfeldern wandern sehe und Florentinen, bald oben am Fenster beim ersten Morgenlichte singend und ihre Haare flechtend und sich streckend und putzend um die Wette mit den erwachenden Vögeln in den Bäumen vor dem Hause, bald wieder im Garten über einer französischen Grammaire eingeschlafen, die Walter ihr gegeben, um sich für das Stadtleben auszubilden. Vor allen aber hat Fortunat, der seine Abreise von einem Tage zum andern verschiebt, sich behaglich im Garten eingerichtet. Im Grün zwischen hohen Blumen, die weite Landschaft unter sich und über ihm die rauschenden Wipfel, setzt er sich jeden Morgen mit dem Schreibzeug an dem steinernen Fußgestell eines etwas verwitterten Apollos zurecht, um einige Novellen, die er in glücklichen Reisestunden auf seinem Pferde ersonnen, endlich einmal recht in Ruhe zu Papier zu bringen. Aber da geht es ihm wunderlich. Der lustige Morgenwind wirft ihm die Blätter ins Gras, wo sich die Hühner drum raufen, hinter ihm aber stimmen die Wipfel ihr uraltes Lied wieder an, das in keine Novelle paßt, die Waldvögel singen ganz fremde Noten dazwischen und Wolken fliegen über das Land und rufen ihm zu: »Menschenkind, sei doch kein Narr!« Und zog dann gar der Förster unten zur Jagd und schwenkte seinen Hut und rief hurra hinauf, da warf er gewiß Feder und Papier fort und schwang sich auf seinem Pferde mit in den frischen, glänzenden Morgen hinaus.

Auf einem solchen Morgenritt tröstete er sich einmal mit folgendem Liedchen:

Ich wollt im Walde dichten
Ein Heldenlied voll Pracht,
Verwickelte Geschichten,
Recht sinnreich ausgedacht.
Da rauschten Bäume, sprangen
Vom Fels die Bäche drein,
Und tausend Stimmen klangen
Verwirrend aus und ein.
Und manches Jauchzen schallen
Ließ ich aus frischer Brust,
Doch aus den Helden allen
Ward nichts vor tiefer Lust.
Kehr ich zur Stadt erst wieder
Aus Feld und Wäldern kühl,
Da kommen all die Lieder
Von fern durchs Weltgewühl,
Es hallen Lust und Schmerzen
Noch einmal leise nach,
Und bildend wird im Herzen
Die alte Wehmut wach,
Der Winter auch derweile
Im Feld die Blumen bricht
Dann gibt’s vor Langerweile
Ein überlang Gedicht!

Bei seiner Rückkehr fand er im Hause alles ausgeflogen, und streckte sich ermüdet im Garten an dem hohen Bogengange ins Gras. Er hatte aber noch nicht lange geruht, als er Stimmen neben sich vernahm, an denen er die Amtmannin und Waltern erkannte, die, ohne ihn zu bemerken, in dem Gange auf und nieder wandelnd, in lebhaftem Gespräch begriffen schienen. – »Das kommt bei dem Überstudieren heraus«, sagte soeben die Amtmannin, »nichts als Verse im Kopf, Reisen und dergleichen unkluges und kostspieliges Zeug.« – »Ich glaube gar«, rief Fortunat, »die spricht von mir!« – »Beruhigen Sie sich«, hörte er nun Waltern entgegnen, »ich werde versuchen, die eigentlichen Absichten dieses verschlossenen, rätselhaften Gemüts zu erforschen.« – »Bei Nacht möchte er spazierengehen«, fing die Amtmannin wieder an, »den Tag verträumt er! Und warum verbirgt er sich vor uns?« – Hier verlor sich der Diskurs in der Ferne. Fortunat sprang hastig auf. »Sie reden von meinem unbekannten Führer im Garten an jenem ersten Morgen«, dachte er, und es fiel ihm aufs Herz, daß er ihn in der Zerstreuung so ganz vergessen hatte.

Als am Abend alle unter den Linden vor der Haustüre sich wieder versammelten, beschloß er, der Sache näher auf den Grund zu kommen. Der Amtmann war der erste auf dem Platz, er erzählte ihm sogleich das ganze Begegnis, wie er damals den Unbekannten schlafend am Springbrunnen getroffen und was sie miteinander gesprochen hatten. Dieser hörte sehr aufmerksam zu, er mußte ihm Größe, Kleidung, Haare und Stimme des Fremden ausführlich beschreiben, aber der Amtmann wußte alles besser als er, alle seine Fragen trafen wunderbar ein. »So kennen Sie ihn also?« fragte Fortunat. – Der Amtmann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht, wer es war«, sagte er, »und darf nicht sagen, was ich vermute.« – Unterdes war seine Frau herausgekommen, er bat Fortunaten schnell, vor den Weibern nichts von der Geschichte zu erwähnen. Jetzt trat auch der Student Otto, der von einem weiten Spaziergange zurückzukommen schien, zu der Gesellschaft. Als er sich bei ihnen niederließ und in der warmen Luft seinen Rock schnell öffnete, fiel ein sauber eingebundenes Buch daraus zu Boden; es war des Grafen Victors neuestes poetisches Werk, das er bisher noch nicht gekannt und heute früh unter den zerworfenen Büchern des Amtmanns gefunden hatte. – »Ach, ich dachte, es wäre dein juristisches Handbuch«, sagte die Amtmannin, indem sie das Buch aufnahm und Otton zurückgab. Dann, sich gemächlich auf ihren Lehnstuhl zurücklehnend, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: »Hab‘ ich doch heute vor Tagesanbruch in Haus und Hof zu schaffen gehabt, daß mir ordentlich alle Glieder wehtun. Nun dafür schmeckt auch am Abend die Ruhe, wenn man sich wacker gerührt und seine Pflichten erfüllt hat.« – Otto errötete flüchtig, ohne etwas darauf zu erwidern. – Fortunaten aber fiel es bei diesen Worten erst auf, wie sonderbar allerdings Otto seit einiger Zeit erschien. Alle Morgen zog er ganz allein in den Wald hinaus und kam selten vor Mittag wieder zum Vorschein. Dann war er einsilbig, schüchtern, zerstreut, und oft mitten in den heitersten Augenblicken flog es über sein freundliches Gesicht wie ein Wolkenschatten über eine schöne, sonnenhelle Gegend.

Man hatte unterdes das Abendessen aufgetragen, und die rüstige Amtmannin, die es nun heut einmal auf Otton abgesehen zu haben schien, begann, indem sie den Braten zerschnitt und jeden reichlich davon beteilte, sich mit allerlei weisen Redensarten und spitzigen Ausfällen über die teuren Zeiten zu verbreiten, und wie notwendig es sei, daß ein junger Mensch jetzt frühzeitig darauf denke, dereinst sein sicheres Brot zu haben. Da seien noch immer Toren genug in der Welt, um reichen Leuten die Zeit zu vertreiben mit schönen Bildern, Komödienspielen oder Versemachen – das sei ein bloß herrschaftliches Vergnügen, setzte sie schnell verbessernd hinzu, indem ihr dabei Graf Victor einfallen mochte. – Der Amtmann hatte die Salatschüssel vor sich geschoben und aß hastig, man konnte nicht erraten, ob er sich über Otto oder über seine Frau ärgerte. – »Da fällt mir immer mein seliger Bruder ein«, hub die letztere wieder an; »er hat auch studiert, aber das war ein gescheuter Kopf, der ließ die Phantasten ablaufen, setzte sich auf seine Brotwissenschaften, heiratete eine gebildete, vernünftige Frau, und Gott hat seinen Ehestand gesegnet. Nun, du kannst es ja selber bezeugen« – fuhr sie zu dem Amtmann gewendet fort, empfindlich, daß er ihr gar nicht beistimmte – »der ließ sich zu seiner Hochzeit von den besten Poeten Schäfergedichte machen, Gott weiß, wo die nun selber die Schafe hüten.« – Hier brach Otto, der bis jetzt sichtbar mit sich selbst kämpfte, plötzlich mit verbissener Bitterkeit und einem höhnischen Stolze los, den niemand dem sanften Jünglinge zugetraut hatte. »Lieber Schweine hüten«, sagte er, »als so zeitlebens auf der Treckschuite gemeiner Glückseligkeit vom Buttermarkt zum Käsemarkt fahren. Der liebe Gott schafft noch täglich Edelleute und Pöbel, gleichviel, ob sie Adelsdiplome haben oder nicht. Und ich will ein Herr sein und bleiben, weil ich’s bin und jene Knechte sollen mich speisen und bedienen, wie es ihnen zukommt!« – Das war der bestürzten Amtmannin zu toll. »Unsinniger, aufgeblasener Mensch!« rief sie hochrot vor Zorn; »so iß meinetwegen trockenes Brot, wenn du Butter und Käse verachtest! Aber wir wissen’s wohl, wo du die Komödiantensprüche gelernt hast. Denke nur nicht, in unser ehrliches Haus einmal eine Theaterprinzessin heimzuführen, die nicht so viel hat, um die Löcher zu flicken, die sie in ihre Lappen gerissen, so eine von aller Welt ausgeklatschte Kreatur!«

Aber Otto hörte nicht mehr, er war rasch aufgestanden und schritt zürnend in den nächtlichen Garten hinein. Walter, in sichtbarer Verlegenheit, wollte ihm folgen, wurde aber von Fortunat aufgehalten, der ihn schnell in einen Seitengang führte. »Sage doch nur«, fragte er Waltern, »was gibt’s eigentlich hier, und wo willst du hin?« – »Den Gekränkten trösten«, erwiderte Walter, »und – vermag ich’s sonst – ihm auch den Kopf ein wenig zurechtsetzen. Komm mit!« – »Das laß ich wohl bleiben«, rief Fortunat aus, »ich bin froh, wenn mir mein eigner Kopf zuweilen noch so leidlich sitzt.« – »Mein Vorhaben«, sagte Walter, »ist wahrhaftig edler, als es dir nach deinem ironischen Gesicht auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. Denke dir nur recht diesen stillbeschränkten, heiteren Familienkreis, dessen ganzes Trachten und Hoffen auf den einzigen Jüngling gerichtet ist, der auf der Schule immer für den aufgewecktesten und geschicktesten galt. Und nun kehrt er von der Universität zurück, verwandelt, träumerisch in sich gekehrt, unlustig zu jeder tüchtigen Arbeit und einer verworrenen Welt von ausschweifenden Gedanken und wünschen nachhängend, um – wie ich fürchte – dereinst zu spät von der grausamsten Täuschung zu erwachen und ein verlornes Leben zu bereuen. Nein, ich will es endlich versuchen, ihn auf das Gefährliche eines Pfades aufmerksam zu machen, der einsam über die Köpfe der anderen Menschen weggeht und immer nur für sehr wenige bestimmt scheint.« – Fortunat war über diese Worte ernst und nachsinnend geworden. »Du ehrliche Seele!« sagte er endlich, dem Freunde herzlich die Hand schüttelnd, »so versuche dich denn an ihm. Ist der junge Mensch ein halber Philister, so hilf ihm völlig aus dem tollen Poetenmantel heraus, und ist es rechter Ernst mit seinem Talent, so muß er doch weiter und rennt dich über, wärst du auch der weise Salomo selber.«

Alle vor dem Hause waren durch den Vorfall gestört, die kleine Gesellschaft sah stumm und kopfhängend auf die Teller. Draußen über den Tälern war es indes schon stiller und dunkler geworden, nur in weiter Ferne sah man zuweilen leichte Blitze über den Bergen schweifen. Die Amtmannin blickte mit heimlicher Besorgnis, wie es schien, bald in das Wetterleuchten, bald nach der Richtung hin, wo Otto verschwunden war, und ging dann, ohne ein Wort zu sagen, in das Haus hinein. Endlich brach der Amtmann ärgerlich die unheimliche Stille. »Es geht auch alles konfus jetzt«, sagte er zu Fortunat, »im Frühling Gewitter, im Sommer kalt, in der Jugend alt und im Alter närrisch! Glauben Sie mir, unsere ganze Zeit jetzt ist gerade wie dieses verrückte Frühlingswetter, die Schwüle brütet und treibt alles vorzeitig hervor, und ich fürchte, es schießt mehr ins Kraut als in die Blüte. Unsere Jungens wissen schon jetzt mehr, als wir jemals erfahren haben, und recken und sehnen sich aus allen Gelenken heraus, während wir in unserer lustigen und gesunden Jugendzeit ohne besondere Sehnsucht hinreichend dumme Streiche machten und erst die fatalen Lümmeljahre überstehen mußten. Ja, es ist recht verdrießlich! Man möchte sich gern bequem, fröhlich, und auf die Dauer einrichten, wie in der guten, alten Zeit, aber der ferne Donner verkündigt überall den unheimlichen Ernst, und so sitzen wir verwirrt, ungewiß und in banger Erwartung vor dem dunklen Vorhang, hinter dem fortwährend Gott weiß, was! unruhig und feurig zuckt.« – Unterdes hatte Walter den verscheuchten Otto im Garten aufgefunden. Empört und in innerster Seele verletzt, saß er wie eine Nachteule mitten im Gestrüpp. Als er Waltern erblickte sprang er rasch auf und kam ihm mit erzwungener, gleichgültiger Höflichkeit entgegen. »Die Tante«, sagte er, »ist gewiß schon besorgt, daß ich draußen nicht den Schnupfen bekomme. Freilich die Nase ist ein empfindlicher Teil, da sitzt die Seele schon tiefer und wärmer, die ficht so leicht nichts an.« – Walter stand einen Augenblick verblüfft, denn es war ihm, als säh er auf einmal sich selber als Studenten vor sich stehn, er war ganz aus seinem Konzept gebracht und ergriff gerührt die Hand des aufgeregten Jünglings. »Ich komme keineswegs«, sagte er endlich, »um das harte, heftige Wesen der Amtmannin zu verteidigen, obgleich es auch nur eine andere, ungeschickte Form der Liebe ist. Das Angedenken meiner eigenen Jugend ist es, was mich herführt, der aufrichtige Schmerz um ein junges, heitres Gemüt, das auf diesem Wege sich immer tiefer und tiefer in der blühenden Öde junger Seelen gar wohl das Heimweh ohne Heimat, diese labyrinthische Selbstquälerei. Sie stehn verlassen auf der Welt, ohne Vater und Mutter – verlangt Sie in dieser Einsamkeit nach einem Freunde, und wollen Sie’s mit mir versuchen, so biete ich Ihnen meine Hand bis in den Tod und will raten, schützen, helfen, wo ich kann!« – Otto sah ihn erstaunt an, denn in Walters Worten war jener wunderbare Klang ernster Güte, der überall unmittelbar zum Herzen geht. – »Sie sind im Amte, angesehen, ruhig« – sagte er dann nach einer kurzen Pause. »Und wenn ich Ihnen nun auch erzählen wollte von dem zauberischen Spielmann, der jeden Frühling, wenn der Sonnenschein sich munter über die Felder ausbreitet, aus dem Venusberge kommt mit neuen, wunderbaren Liedern und die Seelen verlockt, von dem in schwüler Mittagsstunde der einsame Vogelsang schallt, von dem die Ströme und Quellen verworren rauschen im Mondschein und die badenden Nixen wie im Traume singen durch die stille, goldne Nacht – Sie würden mich ja doch nur für verrückt halten!« – Walter erschrak fast, so irr und fremd leuchteten die Augen des Jünglings im Streiflicht des Mondes. – »Und ich bin es ja auch in der Tat!« fuhr dieser fort, »bildete mir da ein, dem Zauberstrom von Klängen unversehrt folgen zu dürfen und ein Dichter zu sein, der die Zauber regiert! Aber nun weiß ich’s besser. Alle Engel, die durch die erste Dämmerung meiner Kindheit zogen, was ich oft betend heimlich ersehnte und immer und immer vergeblich auszusprechen versuchte: ich fand es heut auf einmal mit freudigem Erschrecken in des Grafen Victors Buch, er hat es kühn, frisch und jung wie eine Zauberinsel entdeckt – und ich weiß nicht mehr, was ich will. – Aber es ist noch immer Zeit, ich bin noch jung. Und wie ich das Buch hier vom Berge in den Fluß hinunterschleudere, so entsag‘ ich von heut ab der fröhlichen Dichtkunst, der Metze! Und gleich den anderen, die ich verachtet und die so unsäglich besser sind als ich, will ich von heut an allein und ganz der Rechtswissenschaft leben und von den Büchern nicht wieder aufstehen!« – Hier brach er plötzlich in Weinen aus und stürzte wie vernichtet an Walters Brust.

Beide neuen Freunde schritten nun durch den stillen Garten, nur eine Nachtigall tönte schluchzend in der Ferne. Otto schwieg und schien gefaßter. Walter sagte: er brauche ja darum die Poesie nicht ganz aufzugeben, es bedürfe eines des andern, die Poesie des strengen, ernsten Lebens und das Leben der heiteren Dichtkunst. Aber er fühlte bald, wie albern solcher Trost in solcher Stunde war, und schwieg endlich auch still.

So kamen sie an das Haus, wo sie die Amtmannin in Angst und Tränen fanden. Sie hatte zuletzt gefürchtet, daß Otto in seiner Heftigkeit sich selbst ein Leids angetan, und fiel nun dem Geretteten mit großer Freude um den Hals, die dieser herzlich erwiderte. »Es ist vorbei«, rief Otto in seiner seltsamen Hast, »ihr habt mich nun ganz wieder, und nächstens, will’s Gott, ist Examen!« – Die Gläser gaben einen hellen Klang, und so endigte der Abend noch in Freuden; die fernen Gewitter hatten sich auch verzogen, und der Himmel glänzte mit tausend Sternen über den Versöhnten.

Fünftes Kapitel

Fünftes Kapitel

Aber es blieb nicht lange so ungestört; ein Zufall, Mißverständnis, oder wie sonst der Mensch des Himmels Führung oder sein eigenes Ungeschick nennen mag, stellte unerwartet alles anders auf Hohenstein.

Es war ein schwüler Nachmittag, die Blätter im Garten rührten sich kaum, der Amtmann war auf der Bank vor der Haustür eingeschlummert, Walter schrieb Briefe im Hause, Fortunat hatte sich mit einem Buche ins Gras gestreckt, und ließ es sich vor der weiten Aussicht gern gefallen, daß die leise Luft ihm das Buch verblätterte. Florentinen wurde ganz wehe in dieser Stille, sie mußte immer etwas zu schaffen haben; so schlich sie sich heimlich nach dem Wald, um für den Abend Erdbeeren zu pflücken, die Walter für sehr gesund hielt, weil er sie gern aß. Fortunat sah sie mit ihrem Körbchen unten aus dem Dorfe gehen, er warf sein Buch weg und folgte ihr, konnte sie aber im Walde nicht wiederfinden.

Florentine war unterdes, bald sammelnd, bald naschend, von Strauch zu Strauch geschlendert und so unvermerkt an die Ruine der gräflichen Stammburg gekommen. Überrascht sah sie in der Einsamkeit an den halbzerfallenen Mauern, Toren und Fensterbogen empor; steinernes Bildwerk, das von der ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Grase zerstreut, aber der Frühling hatte den verlassenen Berg wieder bestiegen und spielte fast wehmütig in dem stillen Hause. Seltsame Sagen gingen in der Gegend von diesem einsamen Ort. Die Hirten hörten oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wunderschöne, bleiche Frau sollte sich manchmal dort in dem ausgebrochenen Fenster sehen lassen. – Florentine war noch nie allein hier gewesen, jetzt verlockte sie der eigene Reiz des Grauens, sie betrat erst vorsichtig und zaudernd, dann immer kecker die kühlen, von oben verschatteten Hallen. Durch die Mauerlichkeiten blickten zuweilen die Täler schillernd aus der sonnenhellen Tiefe herauf, nur hin und her sang ein Gebirgsvogel mit fremdem Schall, und verstörte Eidechsen fuhren raschelnd unter das Unkraut, daß sie unwillkürlich zusammenschrak.

Jetzt kam sie in den innern Burghof, da stand ein wilder Kirschbaum in voller Blüte, dunkelrote Blumen glühten zwischen den Steinen, einzelne Schmetterlinge flatterten ungewiß in der trüben, brütenden Schwüle; und als sie plötzlich um den Pfeiler trat, sah sie eine schöne, bleiche Frau in einem seltsamen, himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Rasen sitzen, die wandte sich nicht und kämmte schweigend ihr lang herabwallendes, rabenschwarzes Haar. – Florentine blickte noch einmal scharf hin, dann, vom Entsetzen überwältigt, ergriff sie die Flucht.

Aber wie es oft in ängstlichen Träumen geht, sie verfehlte in der Hast die rechte Pforte; aus einem Zwinger in den andern rennend, glaubte sie sprechen zu hören, die Stimmen kamen immer näher, sie konnte den Ausgang nicht finden. Auf einmal standen zwei fremde Männer vor ihr in abgetragenen Ritterwämsern, Pickelhauben auf den Köpfen. Der eine wollte sie am Körbchen festhalten, in der Todesangst ließ sie ihm fliehend die Beeren und hörte sein schallendes Lachen hinter sich.

Wie atmete sie tief auf, als sie endlich Gottes freien Himmel wiedersah! Der erste, der ihr begegnete, war Fortunat. Atemlos, mit heftig klopfendem Herzen flog sie an seine Brust, er drückte das schöne Kind fester an sich und fühlte einen flüchtigen, brennenden Kuß auf seinen Lippen. – In demselben Augenblicke aber war auch Walter, der sie zu suchen schien, neben ihnen aus dem Gebüsch hervorgetreten. Florentine besann sich schnell wieder, strich die Locken aus der heißen Stirn und reichte ihm die Hand hin, um ihr über die letzten Trümmer herabzuhelfen.

Nun erzählte sie in lebhafter Aufregung, und oft noch scheu zurückblickend, ihr wundersames Abenteuer. Walter war still und schien nur halb hinzuhören. Fortunat wollte sogleich in die Burg zurück, um die bleiche Frau zu sehen, aber Florentine gab es durchaus nicht zu. Während sie aber noch stritten, stutzte sie plötzlich und wies dann ganz erstaunt nach dem Tale hinaus. Dort wurde fern am Saume des Waldes ein abenteuerlich bepackter, langsam einherziehender Wagen sichtbar, ihm folgte ein seltsam gekleidetes Mädchen zu Pferde in blauem Gewand, mit dunkelem, fliegenden Haar, mehrere Männer, grüne Zweige auf ihren Hüten, schritten rüstig nebenher; unter ihnen erkannte man sogleich die beiden Burgkobolde wieder, deren Pickelhauben weit in der Sonne funkelten. Ein fröhlicher Chorgesang schallte von dem Zuge durch das Grün herauf. – »Reisende Komödianten!« rief Fortunat lachend, »nun bedarf es keiner Untersuchung weiter, das waren die Spukgeister, der Weg kommt gerade von der Burg.«

So traten sie nun alle beruhigter den Rückweg nach Hohenstein an. Florentine, die sich völlig wieder erholt hatte, lachte jetzt selber mit; dann wandte sie sich noch einmal nach den Blütentälern, in die sich die künstlerischen Wandervögel gesenkt. »Es geht doch nichts übers Reisen«, rief sie fröhlich aus, »wenn ich so manchmal im Sommer recht früh erwache und höre unten aus den Dörfern die Hähne krähen oder ein Posthorn von fern über den Garten herüber, da wünsch‘ ich mir oft, ich wäre ein Mann und könnte auch so mit in die Welt hinaus.« – »Ich meine«, fiel hier Walter etwas grämlich ein, »man müsse erst sich selbst und die kleine Welt um sich herum recht verstehen gelernt haben, ehe man sich weiter umsieht, und das Reisen zieme überhaupt nur dem reiferen Alter.« – Fortunaten ärgerte der Schulmeisterton. – »Gerade umgekehrt«, rief er aus, »nur die Jugend versteht recht aus Herzensgrunde die Schönheit der Welt mit ihren morgenroten Gipfeln und kühlen Abgründen und funkelnden Auen im Grün, und malt es alles fresko nach, daß das Alter einst sich daran erfrische, wenn draußen die Blätter fallen und die sinkende Herbstsonne die Schildereien noch einmnal wunderbar beleuchtet. Während dein sogennantes reifes Alter vom Schifflein sorgsam die Tiefe mit dem Senkblei mißt, sitzt die Jugend über Bord geneigt, und sieht ihr eignes weinbekränztes Haupt in der klaren Flut und hört die Glocken der versunkenen Stadt aus der Tiefe heraufklingen. Ja, glaubt nur, die Welt ist wie eine eigensinnige Schöne, die nur in jungen Augen sich mit ihrem fröhlichsten Schmucke spiegeln mag, für Klugheit und Kenntnisse gibt sie nur Brot, für Liebe und rechte Freude an ihr aber wieder Freude und Liebe.«

So waren sie vor der Amtmannswohnung anglangt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten bereits die Bäume vor dem Hause, unter denen die Amtmannin schon wieder den Tisch gedeckt hatte. Ein jeder machte sich’s in der Abendkühle behaglich bequem, und Florentine mußte, ausruhend, ihre Burggeschichte nochmals umständlich erzählen. Nur Walter fehlte. Auf einmal trat er, ganz reisefertig, mit dem Amtmann aus dem Hause. »Schlechte Neuigkeit«, sagter der letztere, »Walter hat dringende Briefe bekommen, er muß in die Stadt und will noch heut reisen, um die nächtliche Kühle zu benutzen.« – Die Amtmannin machte besorgt Einwendungen gegen das gefährliche Reisen in der Nacht, Florentine ereiferte sich über die Geschäfte, die sie von jeher als eine unbekannte, feindliche Macht betrachtete, aber Walter blieb unerschütterlich und nahm, auch von Fortunaten, schnell Abschied. Ganz zuletzt wandte er sich noch einmal zu diesem, als wollt‘ er ihm etwas sagen, schüttelte ihm aber nur rasch die Hand und ging schweigend fort. – Fortunat begleitete ihn noch heraus bis zu seinem Pferde, dem Florentine den Hals streichelte und, als es dann beim Aufsteigen unruhig wurde, schnell nach der Haustür zurücksprang. »Herrje!« sagte er heimlich zu Waltern, »Was machst du da für ein langes Gesicht! Und überhaupt, warum willst du gerade heut noch fort? die Geschäfte sind’s ja doch nicht.« – »Ich will nicht stören«, entgegnete Walter empfindlich, »du bleibst ja doch noch längere Zeit hier, ich sag‘ dir’s vielleicht ein andermal, leb wohl!« – Hiermit gab er seinem Pferde die Sporen und war bald zwischen den Bäumen verschwunden. – »O langweilige Welt!« rief Fortunat ihm nachsehend aus, »wie glücklich könnte er sein mit seinem schlanken Reh im schönen grünen Wald, wenn er frisch vom Herzen weg liebte, anstatt den Talar von Melancholie, Eifersucht und anderen hergebrachten Liebestücken durch alle Paradiese jämmerlich hinter sich nachzuschleppen!«

Als er in den Garten zurückkam, bermerkte er auf der Linde vor dem Hause zwei zierlich beschuhte Füßchen zwischen den Zweigen. Es war Florentine; sie saß im Baume, mit den Füßchen baumelnd, während sie Waltern nachschaute, der sich soeben in der Dämmerung zwischen Wiesen und Kornfeldern verlor. Das heitere Mädchen schien in ihrer Unbefangenheit von seinem Mißmute gar nichts zu ahnen.

Fortunat aber ging allein und unruhig durch den Garten. »Ich werde doch kein Narr sein und mich verlieben?« sagte er zu sich selbst »Und doch bin ich auf dem nächsten Wege dazu. Und hinter mir langsam und feierlich der abgemagerte Geist des sich selbst erschossenen Walters, und vor mir ein Zug von Tanten und Basen, und gute Wirtschaft, und Kindergeschrei, und ein Haus machen«

Der Angstschweiß trat ihm ordentlich bei diesen Gedanken vor die Stirn. Er rannte eiligst nach dem Hause zurück und eröffnete dort ohne weiteres der erstaunten Familie, wie er zwar heute gerade keine Briefe aus der Stadt bekommen habe, aber eigentlich ebenfalls schleunigst fortreisen müsse; daß er daher für Speis und Trank und alle die schöne, stille, herrliche Zeit aus Herzensgrund Dank sagen und hiermit sogleich schon heut Abschied nehmen wolle, da er noch vor Tagesanbruch weiterzuziehen gedenke. Florentine wurde bei diesen Worten ganz rot, sie setzte sich schnollend auf eine entfernte Bank, und Fortunat glaubte zu bemerken, daß ihre abgewendeten Augen von Tränen glänzten. Auch die andern machten ihm durch ihre aufrichtige Trauer das Herz schwer, denn sie hatten sich alle in der kurzen Zeit an seine fröhliche Weise gewöhnt. Er mußte versprechen wiederzukommen und ihnen noch ausführlich von den Ländern und Städten erzählen, wohin seine Reise ging; so saßen sie noch lange plaudernd vor der Haustür beisammen. Beim Schlafengehen endlich flüsterte ihm Florentine noch heimlich zu: »Und ich werde doch auf sein, eh‘ Sie wegreiten!«

Er hatte alle Fenster des Schlafzimmers offen gelassen, um den Morgen nicht zu verschlafen. Da war es ihm, als gingen draußen fröhliche Stimmen unter den Fenstern auf und nieder und riefen immerfort in seinen Schlummer hinein: »Frisch auf, schlafe nicht mehr! Wunderbare Berge und Gründe, schimmernde Fernen, frisch auf! Und schöne, helle, fröhliche Zeit!« – Er sprang endlich empor und blickte durchs Fenster. Es war noch Nacht; dennoch kleidete er sich in langentbehrter Reiselust sogleich an, ging durch das stille Haus an Florentinens Schlafkammer vorüber und machte noch schnell einen Gang durch den Garten. Es war in der Nacht ein warmer Regen gefallen, die Nachtigallen schlugen überall aus den erfrischten Büschen, hin und her bellten Hunde fern in den Dörfern, sonst lag alles noch still im prächtigen Mondschein unter dem weiten, gestirnten Himmel. – Als er zurückkehrte, hörte er unten im Hause leise ein Fenster öffnen, es war Florentine, die sich in leichter Morgenkleidung hinauslehnte. »Zisch aus! zisch aus!« rief sie ihm entgegen, »ich bin früher wach gewesen als Sie!« Dann, sich im Garten umsehend, sagte sie, »das ist gerade wie damals, da Sie hier das Ständchen brachten und wir Sie zum erstenmal sahen. – Nun wird es hier wieder recht einsam sein, und ich wollte Sie eben nur noch bitten, daß Sie auf Ihrer Reise von sich hören lassen und manchmal an Waltern schreiben, der Ihnen außerordentlich gut ist und gern von fremden Ländern hört.« – Fortunat versprach es und bat sie um einen Kuß zum Abschiede. – »Warum nicht gar!« rief das Mädchen lachend, indem sie ihm schnell die Hand hinausreichte, dann schloß sie geschwind das Fenster, und er sah sie nicht wieder. Fortunat warf sich nun ungesäumt auf sein Pferd und ritt durch die hohe, dunkle Allee an dem Gittertor des Gartens und dem stillen Dorfe vorüber. Draußen auf dem Berge aber wandte er sich noch einmal zurück. »Gesegnet«, rief er, »du schönes Waldtal, in deiner glückseligen Abgeschiedenheit, möge der Sturm der Welt dich nie verstören!«

Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel

Ein schweres Gewitter zog eben an dem Gebirge hin und sandte seine Regenschauer in die Ebenen hinaus, während Fortunat, durchnäßt und lange vom Wege abgekommen, über ein weites, in Regen und Abenddunkel verhülltes Feld dahintrabte. Da hörte er unerwartet den Gesang einer schönen Männerstimme von fern herüberschallen, wovon er nur folgende Worte verstehen konnte:

Bei dem angenehmsten Wetter
Singen alle Vögelein,
Klatscht der Regen auf die Blätter,
Sing ich so für mich allein.
Denn mein Aug kann nichts entdecken,
Wenn der Blitz auch grausam glüht,
Was im Wandeln könnt erschrecken
Ein zufriedenes Gemüt.

Er gab seinem Pferd die Sporen und erreichte in kurzer Zeit ein Häufchen Wanderer, die neben einem Paar Pferde einherschritten, auf denen zwei junge Frauenzimmer saßen. Mit freudiger Überraschung erkannte er sogleich die abenteuerlichen Gestalten der Schauspieler wieder, die an Victors Stammburg vorübergezogen waren, von denen aber jetzt die Dunkelheit nur die ungefähren Umrisse erraten ließ.

Fortunats Gruß fand nur eine halbe Erwiderung, die Gesellschaft schien in üblem Humor zu sein, und langsam und schweigend, wie ein schwerer Traum, bewegte sich das Ganze weiter. Endlich unterbrach der Voranschreitende, welcher soeben gestolpert war, die Stille mit einem derben Fluche, prustete und glitt gleich wieder aus und kam gar nicht aus der Wut. – »Das haben wir davon«, hub die eine Dame zu Pferde zu der andern Reiterin an, »das haben wir nun von eurer schönen Natur. Brächen die Herren nicht ihren Flaschen auf das Wohlsein jeder alten Burg die Hälse, so wäre uns allen jetzt wohler und wir säßen im Trocknen, denn unser Wagen ist gewiß längst in der Stadt.« – Dabei breitete sie mühsam einen, wie es schien, nicht sonderlich konditionierten Regenschirm über sich aus. Aber der Wind verarbeitete ihn sogleich mit solcher Fertigkeit, daß ihre berittene Nachbarin laut auflachte und die Dame ihre Segel erbost wieder einziehen mußte. Fortunat, welcher hier heimlich auf ein ergötzliches Gezänk hoffte, ermahnte die Gesllschaft, den beiden Damen in diesem Kampfe mit den Elementen durch ein gemeinschaftliches, angemehmes Gespräch galant unter die Arme zu greifen. Die Männer antworteten gar nicht darauf, die Dame mit dem Regenschirme aber fragte: ob er vielleicht auch ein Künstler sei und es so gut haben wolle wie sie? »Oh«, setzte sie spitzig nach ihrer Nachbarin gewendet hinzu, »Liebhaberrollen sind hier jederzeit zu haben.« – »Bitte sehr«, erwiderte die Nachbarin mit einer wohlklingenden Stimme, »bei Ihnen ist ja diese Stelle seit geraumer Zeit vakant.« – Ein plötzlicher Blitz beleuchtete hier auf einen Augenblick ein schönes, feines, aber bleiches Gesichtchen, über welches zu beiden Seiten lange schwarze Haare triefend herabhingen. – »Mein Gott, was ist das für eine Wirtschaft um das bißchen Regen!« rief einer der jungen Männer aus, »quamquamsint sub aqua, sub aqua maledicere tentant!« – »Sparen Sie doch Ihr Latein«, sagte die Dame mit dem Schirm, »Sie memorieren wohl eben den Bettelstudenten?« Sie wollte noch mehr sprechen, aber der Literatus fiel schnell in das Lied wieder ein, das Fortunat schon vorhin von fern gehört hatte, und übersang sie lustig:

Frei von Mammon will ich schreiten
Auf dem Feld der Wissenschaft,
Sinne ernst und nehm zuzeiten
Einen Mund voll Rebensaft.
Bin ich müde vom Studieren,
Wann der Mond tritt sanft herfür,
Pfleg ich dann zu musizieren
Vor der Allerschönsten Tür.

»Land! Land!« schrie hier plötzlich der Voranschreitende dazwischen, und man erblickte zu allgemeiner Freude von weitem Mauern und Türme, die sich wie dunkle Riesen immer deutlicher aus dem trüben Grau aufrichteten. Einzelne Lichter schimmerten schon den Reisenden trostreich entgegen, ein jeder strengte neu belebt seine letzten Kräfte an, und so waren sie bald an dem Tore eines kleinen Städtchens angelangt. – Wie Zugvögel mit begossenen, hängenden Flügeln strichen sie stumm durch die engen, finsteren Gassen, wo sich die Lichter aus den Fenstern blendend und verwirrend im Wasser spiegelten, während der Regen von den Dächern aus abenteuerlich vorgestreckten Drachenköpfen auf sie herabstürzte.

So kamen sie endlich in den Hof eines Wirthauses. Hier war der Reisewagen der Gesellschaft, den man unterwegs umgeworfen hatte, auch soeben erst angelangt. Der Theaterprinzipal Sorti, ein kleines, fixes Männchen, rannte eifrig hin und her, vom Wagen wurden Burgen, Drachen und lange Kamelhälse eilig über den Hof getragen, die Hofhunde bellten, überall war ein Rufen, Drängen und Schimpfen in der undurchdringlichen Finsternis, die nur von einzelnen Blitzen manchmal durchkreuzt wurde. Mitten aus diesem Rumor hob der Literatus die jüngere Reiterin schnell vom Pferde und trug sie auf seinem Arme in das Haus. Das Mädchen war arg durchnäßt, mit dem dünnen, vom Regen knapp anliegenden Kleide, mit den lang herabhängenden, tröpfelnden Locken sah sie wie ein Nixchen aus, das eben den Wellen entstiegen. Sie hielt beide Hände vor das Gesicht, um sich vor dem plötzlich aus dem Hause dringenden Lichte zu schützen, aber zwischen den kleinen Fingern funkelten zwei schwarze Augen hindurch, die Fortunaten im Vorüberfluge durchdringend anblickten.

Dieser konnte nur mit Mühe ein besonderes Stübchen gewinnen, wo er schnell seine Kleider wechselte, während draußen nach und nach ein gewaltiges Türzuwerfen, Streiten und Lachen von einzelnen Operntrillern und Laufern durchschwirrt, das ganze Haus erfüllte. Unterdes hatte auch das Wetter sich wieder verzogen, und der Mond trat klar zwischen dem zerrissenen Gewölk hervor. Er verließ daher gar bald seine enge, schwüle Kammer wieder und eilte zwischen den Reifröcken, Rüstungen, Fahnen und Miedern, die über dem Treppengeländer zum Trocknen ausgehängt waren, in den Garten hinab. Ein einsames Frauenzimmer saß dort vor der Haustür auf der Bank, an dem etwas verbrauchten Federhut, dem hohen Kragen und der ganzen Haltung erkannte er die Dame mit dem Schirme wieder. – »Ich bin mir selbst noch Genugtuung schuldig«, hub sie sogleich an, als sie Fortunaten bemerkte, »Sie werden vielleicht eine ungünstige Meinung von mir gefaßt haben; aber Sie glauben nicht, welche Verleugnung es einem zarteren Gemüt kostet, mit den rohen Scherzen dieser Menschen, wenn auch nur zum Schein, gleichen Schritt zu halten.« – »In der Tat«, erwiderte Fortunat, »der Lateiner schritt wacker und lustig aus.« – »Lustig?« sagte die Dame, »Sie kennen diesen Wilden noch nicht, er hat keine Ahnung von jener geistigen Seelenlust, die schon diesseits die Gipfel der Menschheit erklimmt -« «Und jenseits rücklings wieder herunterschurrt«, fiel hier der feindliche Literatus ein, der eben mit einer Gitarre aus dem Hause tretend, das letzte Kapitel von der Lust mit angehört hatte und, einzelne Akkorde anschlagend, sich nun weiterhin auf dem Platze im Dunkel verlor. Fortunat lachte, denn ein leiser Zornesblitz zuckte plötzlich über das Gesicht der Dame und brachte die ganze Muskeldekoration in eine augenblickliche, widerliche Unordnung, zumal da gleich darauf auch die andere hübsche Reiterin aus der Tür guckte, ihr Näschen rümpfte, da sie die beiden beisammen erblickte, und dann gleichfalls in den Garten an ihnen vorüberschlenderte. – »Die arme Kleine! Sie hat keinen ganzen Strumpf«, bemerkte die Dame hämisch. Und in der Tat, auch der Mond hatte das schon bemerkt, und beleuchtete wohlgefällig ein Streifchen des zierlichsten Beinchens, das blendend über dem Schuhe hervorblickte, während die hochgeschürzte Kleine unbefangen unter den Linden bemüht schien, Blüten von den herabhängenden Zweigen zu streifen.

Unterdes ging ein frisches Wehen durch die Wipfel, die letzte Wolkendecke zerriß und die alte Stadtmauer und die Waldberge darüber standen plötzlich wunderbar beglänzt. Die Dame hatte sich erhoben und unter der Linde vor der Bank eine malerische, melancholisch-heroische Stellung genommen. Das Haupt in die rechte Hand an den Baum gestützt, sah sie eine Zeitlang, wie in Gedanken verloren, nach den Höhen – »Tiedge!« – sagte sie endlich bedeutungsvoll, und drückte Fortunaten leise die Hand. – Fortunat, den die ganze wunderliche Wirtschaft dieses Polterabends schon lange innerlichst aufgeregt hatte, sprang rasch auf. »O Gott, wahrhaftig!« rief er, ihre Hand festhaltend, aus, »da schwebt er dahin als ein Veilchenduft, die Sterne scheinen ihm durch den Leib – o hören Sie nichts? – nun lispelt er mit jemand, wie gedämpfte Musik der Sphären, es ist Lafontaine, mit dem er kost, er hat einen perlendurchwirkten Schlafrock an, aber die Perlen alle sind Tränen – sie wandeln miteinander auf der Milchstraße – aber was ist das!« – »Wo!« sagte die Dame erschrocken und versuchte verbeglich, ihm ihre Hand zu entwinden. – »Sehen Sie die bärtige Wolke dort«, fuhr er fort, »da kommt ihnen Kotzebue auf einem Ziegenbock entgegen, ach, Lafontaine weint, daß ihn der Bock stößt – oh, es ist keine Tugend mehr auf der Welt!« – Hier hatte die Dame sich endlich losgemacht, sie hielt ihn längst für betrunken oder wahnsinnig, stammelte verlegen eine kurze Entschuldigung und stürzte in das Haus zurück. Er aber sprach noch immer fort, bis sie ihr Zimmer erreicht und die Tür eilfertig hinter sich abgeschlossen hatte.

Lachend warf er sich nun wieder auf die Bank hin, die Wälder rauschten in der plötzlichen Stille von den Bergen herüber, hin und her erwachten einzelne Nachtigallen, in einiger Entfernung hörte man den Literatus singen:

Die fernen Heimatshöhen,
Das stille, hohe Haus,
Der Berg, von dem ich gesehen
Jeden Frühling ins Land hinaus,
Mutter, Freunde und Brüder,
An die ich so oft gedacht,
Es grüßt mich alles wieder
In stiller Mondesnacht.

Die zierliche Reiterin hatte sich bald nach den ersten Klängen dem Sänger genähert. »Du, du« – sagte sie mit dem Finger drohend, »du hast heute wieder deine melancholische Stunde!« – »Ach«, erwiderte der Literatus, halb unwillig abbrechend, »was weißt du davon, wie einem Gelehrten manchmal zumute ist!«

Ein plötzliches Getümmel an der Haustür verhinderte hier Fortunaten, mehr von dieser Unterredung zu vernehmen. Ein ganzer heller Haufe von Schauspielern kam nämlich samt einem langen, mit Weinflaschen und Gläsern besetzten Tische, den sie alle mühsam trugen, zum Hause heraus, der Gastwirt, voll Besorgnis um seine Gläser, ihnen auf dem Fuße nach. »Der liebe Gott hat hier draußen den Vorhang wieder aufgezogen«, sagte der eine zum Wirt, »seht da, Menschenkind, den prächtigen Saal! Ein Reverbère, der bis auf einige verjährte Rostflecke ziemlich blank ist, eine Unzahl von Lichtern, die sich selber putzen, an allen Wänden ganze Mondlandschaften al fresco.« – Die Gesellschaft hatte sich unterdes nicht ohne bedeutenden Tumult um den Tisch gelagert. Ein starker, wohlleibiger Mann von gesetzten Jahren zündete qualmend seine lange Pfeife an dem flackernden Lichte an, das in einer Glaskugel auf dem Tische stand und in dessen Widerschein sein vom Wein und Wetter verbranntes Gesicht sich noch dunkelroter ausnahm, es schien derselbe, der vorhin im Regen der Gesellschaft voranschreitend, verschiedentlich gestolpert und geflucht hatte. – »Sie sollten auch Komödie spielen, mein Herr Wirt«, sagte er, mit der Pfeife in breiter Behaglichkeit auf dem Stuhle zurückgelehnt. – Der Wirt äußerte Bedenklichkeiten gegen seine Geschicklichkeit. – »Ach, Flausen!« fiel ihm der Schmauchende in die Rede, »sehen Sie, so wie ich hier vor Ihnen sitze, so sitz‘ ich auch auf dem Theater als Oberförster, als gutmütig polternder Alter usw., ich rauche, ich plaudere und trinke mein Gläschen Wein so gut wie hier.« – »Das würd‘ ich allenfalls wohl auch treffen«, meinte der Wirt. – »Nun, so seid kein Tor!« fuhr jetzt jener fort, »wollt Ihr gratis Eure Schlafmütze aufsetzen, Euer Abendpfeifchen schmauchen, Euren Kindern rührende Ermahnungen geben? Laßt’s Euch bezahlen, Mensch!«

Fortunat, dem der Mann gar nicht übel dünkte, verließ hier seine Bank. »Aber mein Bester« – sagte er, sich mit an den Tisch setzend – »wird Euch denn nicht manchmal angst, daß die neuere Poesie Eure Oberförstereien aufhebt und Euch Eure häuslichen Vergnügungen legt?« – »Keineswegs«, entgegnete der Oberförster sehr ruhig, »im Gegenteil, die neuesten kurzen Dramen machen sich wieder ganz vernünftig und familiär. Und wenn ich auch in Versen spreche oder vielleicht gar ein Ritterwams anlege, ich bleibe doch der alte. Oh, mein Herr, solange noch deutsche Biederkeit waltet, und Bier getrunken und Tabak geraucht wird, steht mein Charakter unerschütterlich, wie auf Elefantenfüßen.« – Hier mischte sich ein junger, blasser Schauspieler mit in das Gespräch, der bisher für sich allein an dem Stümpfchen Licht in einem Buche gelesen hatte, ohne an dem Lärm der andern teilzunehmen. »Bester Herr Ruprecht«, redete der den Oberförster an, »wer Sie so zum erstenmal schwatzen hört, könnte leicht an Ihnen irrewerden. Ich aber weiß es wohl, wie Sie, gleich jenem Herrn, in der Kunst nur das Edlere, das Ideale schätzen.« – Ruprecht, der sich nicht wenig damit wußte, daß er in seiner Jugend die Kantische Philosophie gehört hatte, räusperte sich und rückte sich soeben wohlgefällig in seinem Stuhle zurecht, als plötzlich die kleine Reiterin herbeisprang und ihm von hinten den Mund zuhielt. »Um Gottes willen«, rief sie, »fangt nicht wieder von dem langweiligen Zeuge an, ihr guten Leute und schlechten Philosophen!« – »Armer Shakespeare!« entgegnete der Blasse, mit einem unsäglich verachtenden Blicke. – »Oh«, fiel ihm Kordelchen – so hieß die Reiterin – in die Rede, »der Ruprecht ist ein eingefleischter Shakespeare, hat er sich nicht schon allmählich Bardulphs feurige Nase anstudiert?« – Und in der Tat, seine Stolze Nase leuchtete immer schöner, je trüber das Licht in der Glaskugel zu verlöschen begann. Er begab sich für einen Augenblick der feierlichen Gravität, in die ihn die Erinnerung an seine akademischen Studien versetzt hatte, und, täppisch Kordelchen zu sich zerrend, rief er: »So komm und gib deinem Bardulph einen Kuß, du süße Dortchen Lakenreißer!« – Da gab ihm Kordelchen, durch diese unzeitige Vergleichung beleidigt, geschwind eine derbe Ohrfeige, Ruprecht aber sprang zornig ihn festzuhalten. Bei der allgemeinen Bewegung warfen sie mit ihren Ellbogen einige Stühle und mehrere volle Gläser um, der Blasse, der ganz entrüstet sein Buch retten wollte, fiel über ein Stuhlbein, der hinzugesprungene Wirt über den Blassen, Ruprecht mit seinen Verfolgern über den Wirt, und so war auf einmal alles wie ein Rattenkönig von wundersam durcheinanderarbeitenden Armen und Beinen. In diesem Augenblick hörte man Säbelscheiden über die Hausschwelle klirren, und zwei bärtige Polizeidiener traten in den Garten. »Was für eine skandalöse Aufführung!« rief der eine die Erschrockenen an, »ist das jetzt die Zeit, durch schnöden Lärm eine gesittete Bürgerschaft zu turbieren, die, nach sauer erfüllter Berufspflicht, soeben schon den einen Fuß in das Bett gesetzt hat -« »Und die durchreisenden Herrschaften! Da fährt eben eine ehrwürdige Matrone erschrocken empor«, fiel sein Gefährte ein, indem er auf ein Fenster wies, wo die Dame mit dem Schirm neugierig hervorguckte, bei dieser Apostrophe aber schnell wieder verschwand. – »Nur nicht noch gar räsoniert!« – fuhr der andere zornig fort, da die Schauspieler reden wollten – »wir kennen uns, wir sind verwegene Schuldenmacher, denen kein Gläubiger mehr glauben will.« – Rasch an das Licht tretend und ein Papier entfaltend, las er: »Da ist Herr Ruprecht – feurig von Nase, erhaben von Nase, blühend von Nase – was? Nichts als lauter Nase! – Herr Lothario dann, auch Literatus genannt. – Charakter: erster Tenor; besondere Kennzeichen: verdrehte Schleife am Halstuch, ungekämmtes Haar, spricht am vernünftigsten, wenn er betrunken ist, in summa: großes Genie. – Aber der Teufel mag aus der Beschreibung klug werden, ich verhafte in dem Klumpen da die ersten besten Beine. – Greif zu!« – Sein Gefährte packte nun ohne weiteres den Ruprecht an den Füßen, der in dem Gedränge vergeblich bemüht war, seine Stiefeln in den Händen des Häschers zu lassen und sich auf die Strümpfe zu machen. Unterdes hatten sich endlich auch die anderen eiligst vom Boden aufgerafft, der Direktor Sorti, schon halb entkleidet, flog in größter Bestürzung herzu, der Hofhund dicht an seinen Waden hinter ihm drein, Kordelchen lachte, der Wirt schimpfte, der Blasse deklamierte fortwährend von persönlicher Freiheit und unverletzlichen Menschenrechten.

»Seid ihr nicht rechte Narren!« rief da auf einmal der Polizeidiener dazwischen und warf Bart, Hut und Rock von sich – es war der Literatus Lothario. Sein Gefährte aber verwandelte sich ebenso rasch in Herrn Fabitz, den Komikus der Bande.

»Ich wußt‘ es lange« – sagte Ruprecht, der sich zuerst von dem Schreck erholt hatte – indem er ruhig seine Pfeife ausklopfte. Die übrigen konnten den Scherz nicht so schnell verwinden, dem einen hatten sie auf das Hühnerauge getreten, ein anderer fuhr wütend mit dem Ellbogen aus dem Ärmel und behauptete, das Loch sei erst von jetzt, alle keiften auf Lothario los, während ihene Fabitz unvermerkt ihr Bier austrank. Lothario aber hatte unterdes vom Reisewagen schnell eine Trommel geholt, setzte sich damit auf den Tisch und begann lustig zu wirbeln, bald piano, bald crescendo, nach der jedesmaligen Stimmung des Redenden. Kein Mensch konnte sein eigenes Wort verstehen, die Zänker schrien sich ganz heiser und verloren die Geduld, einige lachten, Lothario trommelte immerfort, bis alle nach und nach den Platz geräumt und der letzte zornig die Haustür hinter sich zugeschmissen hatte. Nur Kordelchen war zurückgeblieben. Sie setzte sich trotzig neben Lothario auf den Tisch. »Und ich bleibe grade noch draußen«, sagte sie, »mir gefällt die Nacht. Überhaupt«, fuhr sie fort, »ich habe dir’s schon oft gesagt, dieses stolze, herrische, hochfahrende Wesen sollst du mir endlich ganz lassen!« – »Ich bitte dich«, erwiderte Lothario die Trommel weglegend, »du bist sonst gescheut, und ich kann dich wohl leiden, aber mit dem Lassen und Anderswerden, Kind, da ist gar nicht die Rede davon bei mir!« – Kordelchen sah ihn eine Weile an, dann brach sie plötzlich in lautes Lachen aus. »Das wollt ich nur«, sagte sie, »es steht dir gar zu schön, wenn du zornig bist. Gute Nacht!« hiermit gab sie ihm einen Kuß und war schnell im Hause verschwunden.

Fortunat aber, der untedes an einem entfernteren Tische sein Abendessen verzehrte, war nicht wenig erstaunt, als er in Lothario, da er vorhin seine Polizeimaske abwarf und ins volle Licht getreten war, auf einmal den wunderlichen Cicerone wiedererkannt hatte, der ihn am ersten Morgen in Hohenstein durch den Garten begleitet. Er benutzte die plötzliche Stille, um den alten Bekannten zu begrüßen. Lothario schien überrascht und sah Fortunaten einen Augenblick durchdringend an. – »Hat mich sonst noch jemand dort gesehen?« fragte er endlich, und als Fortunat es verneinte, schien er noch viele Fragen auf dem Herzen zu haben, besann sich aber schnell wieder. »Ich liebe Hohenstein«, sagte er nach einer kurzen Pause, »vor allen andern Orten und mache, sooft wir in der Nähe vorüberziehen, einen Abstecher nach dem Garten. – Doch heut ist’s schon zu spät, wir sprechen wohl noch morgen mehr davon.« – Hiermit schüttelte er Fortunaten die Hand und ging nach dem andern Flügel des Hauses hin.

Fortunat konnte in seiner Kammer lange nicht einschlafen. Im Hause und unter den Fenstern war alles still geworden, nur die Bäume neigten sich rauschend im Winde, während ferne Blitze zuweilen noch eine plötzliche, gespenstische Helle über den Garten warfen. Da war es ihm, als nahten sich zwei Gestalten von fern dem Hause. Er erkannte Lotharion, der mit einem fremden Manne, den er bisher in der Gesellschaft nicht bemerkt hatte, in lebhaftem Gespräch begriffen schien. Sie verloren sich bald wieder zwischen den Bäumen, nach einem Weilchen kam Lothario allein zurück, dann wurde alles wieder still.

Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel

Noch war keine Spur des Morgens am Himmel, da lagen mehrere der jüngeren Schauspieler, denen es zu schwül im Hause geworden war, in ihre Mäntel gehüllt, schlafend auf den Stühlen und Bänken unter den Linden umher. Fabitz, der Komikus, welcher sich über den langen Tisch hingestreckt hatte, erwachte zuerst. Er blickte erschrocken in den Himmel, und da er an dem Stand der Gestirne bemerkte, daß es lange nach Mitternacht war, sprang er sogleich auf den Tisch hinauf und fing wie ein Hahn zu krähen an.

Da fuhr eine dunkle Gestalt nach der andern fröhlich in die dämmernde Nacht empor, schauernd und sich schüttelnd in der kühlen Luft. Lothario aber kam, schon ganz reisefertig, tiefer aus dem Garten und pochte lustig an die Haustür. »Glück auf!« rief er, »fröhliche Botschaft! Heraus da! Ich habe Fortunam beim Schopf!« – Nun fuhren schlaftrunkene Mädchengesichter neugierig aus den Fenstern, immer mehr Stimmen wurden nach und nach drinnen wach, Türen flogen heftig auf und zu, und bald glich das ganze Haus einem Bienenstocke, der schwärmen will.

Fortunat, von dem wachsenden Lärm aufgeschreckt, eilte gleichfalls hinab und fand schon die ganze Gesellschaft in der liebenswürdigsten Laune um Lothario versammelt. Dieser hatte nämlich in der Nacht durch einen Freund die Nachricht erhalten, daß der Fürst auf seinem eine Tagereise von hier gelegenen Jagdschlosse angekommen, wo er jeden Sommer einige Wochen hindurch sich den Freuden der Jagd und allerlei wunderlichen, romantischen Einfällen zu überlassen pflege. Dem Briefe lag zugleich eine Einladung des Fürsten an Herrn Sorti bei, mit seiner Truppe so schnell als möglich sich auf dem Schlosse einzufinden. – Dieser unerwartete Glücksfall verbreitete einen allgemeinen Jubel. Ein jeder schnürte eiligst sein Bündel, alle versprachen sich goldene Berge von dem reizenden Aufenthalt, die Männer Ruhm und gutes Leben, die Mädchen vornehme Liebschaften und Geschenke. Fortunat selbst, den sein Weg ohnedies an dem fürstlichen Schlosse vorbeiführte, beschloß, die Fröhlichen bis in die Nähe desselben zu begleiten.

Die aufgehende Sonne traf die muntere Karawane schon draußen auf den Bergen. Kamilla – so wurde die Dame mit dem Schirm genannt – schien Fortunaten ausweichen zu wollen und war daher mit Herrn Sorti auf dem Packwagen vorausgefahren. Die andern hatten in dem Städtchen einen Burschen gedungen, der sie auf den Fußsteigen durch den schönen Wald führen mußte, alle waren freudig aufgeregt und sprachen viel von den Festen auf dem fürstlichen Schlosse und den schönen Tagen, denen sie entgegenwanderten. Ruprecht schritt Tabak rauchend wieder voraus und intonierte an den schönsten Waldstellen zuweilen: »In diesen heiligen Hallen« oder eine andere würdige Baßarie, während Fabitz unermüdlich die mannigfaltigsten Vögelstimmen nachahmte. Lothario schweifte unterdes, seine Flinte auf dem Rücken, allein auf den Bergen umher, von Zeit zu Zeit hörte man ihn fern im Walde schießen, was jedesmal von der Gesellschaft mit einem lauten Hurra erwidert wurde. – Fortunaten aber war wunderlich zumute in der ungebundenen Freiheit. Er atmete fröhlich die kühle Waldluft, sich oft zurückwendend und des munteren Zuges erfreuend, wie die heiteren Gestalten mit ihren bunten Tüchern und phantastischen Reisetrachten bald über ihm auf überhängenden Felsen erschienen, bald tief im dunklen Grün wieder verschwanden.

Als die Sonne schon hoch stand, ruhte die Truppe auf einer schönen Waldwiese aus. Da kam plötzlich auch Lothario aus dem Walde zu ihnen. »Wer ist der fremde Herr hier in den Bergen?« fragte er rasch den Führer, »da ist so ein Kerl im Frack, der schlüpft schon die ganze Zeit über von Strauch zu Strauch, sieht sich manchmal nach euch um und flieht dann von neuem vor eurem Singsang und Geschnatter, wie ein Hase auf der Klapperjagd.« – »Das ist gewiß der Doktor«, erwiderte der Führer lachend, »der kam einmal mitten in einem Platzregen ins Dorf, wie vom Himmel gehagelt. Die Gegend gefiel ihm, es war grade ein Haus droben leer, da wohnt er seitdem darin, eine alte Frau aus dem Dorfe besorgt ihm das Essen. Am Abend aber, wenn die jungen Burschen und Mädchen vor den Haustüren sitzen, kommt er auch herab, und sie müssen ihm Lieder singen und Märchen erzählen, da hat er schon manche Maulschelle bekommen, wenn er die Mädchen heimlich in die Arme kniff. Aber es ist ihm nicht zu trauen«, fuhr der Führer fort, »er hat droben kuriose Bücher, da ist kein christlicher Buchstabe drin, lauter Zirkumflexe, wie wenn eine Spinne übers Blatt gelaufen wäre, und sooft er aus den Büchern murmelt, zieht sich an den Bergkoppen ein Wetter zusammen, dann hört man ihn drinnen im Hause laut sprechen und schimpfen, und ist doch kein Mensch bei ihm.«

In demselben Augenblick erblickten sie auch den Zauberer selbst in der Ferne, wie er soeben hastig den Berg hinanklomm, daß die Steine hinter ihm herabkollerten. – »Den muß ich doch sprechen!« rief Lothario, dem Fliehenden sogleich rasch nachsetzend. Fortunat und noch einige andere von der Gesellschaft schlossen sich neugierig an.

So verfolgten sie rasch die Spur des Fremden, der unterdes schon den Gipfel des nächsten Hügels erreicht hatte; nur seine Rockschöße sahen sie noch manchmal zwischen den Gebüschen fliegen, bis sie ihn zuletzt ganz aus den Augen verloren. Nach mühsamen Umherirren gelangten sie endlich an ein halbverfallenes, rings von hohem Unkraut umgebenes Haus, dessen Türen und Fenster fest verschlossen waren. – »Da ist er gewiß hineingeschlüpft«, sagte Lothario und klopfte an die alte Tür. Es erfolgte keine Antwort, aber im Innern des Hauses hörten sie ein gewaltiges Gepolter, als würden Tisch und Bänke hastig an die Türe geschoben. Lothario pochte von neuem, stärker und immer stärker. Da flog plötzlich oben eine Dachluke auf, und mit zornblitzenden Augen erschien in der Öffnung ein kleiner, lebhafter Mann, in dem Fortunat zu seinem Erstaunen sogleich den nächtlichen, seltsamen Geiger aus dem Weinkeller in Walters Städtchen wiedererkannte. – »Doktor! – Dryander!« riefen die Schauspieler überrascht aus.

»Was wollt ihr?« fuhr sie der Musikus von oben sehr heftig an. »Denkt ihr, ich werde aus den frischen Berglüften zu eurem dicken Lampendunst hinabkommen und das Volk lassen um das Publikum und das Rauschen der Wälder um eure Triller und Sentenzen? Geht hinunter und weint um Hekuba, wenn ihr nicht über eure eigene Misere weinen könnt!« – Hier sah er erst seine Zuhörer einen nach dem andern genauer an. »Entsetzlich«, sagte er nach einer kurzen Pause zu Ruprecht, »du schaust wie ein brennender Busch aus. – Und du, idealer, blaß verwaschener Musenbräutigam, redest du jede Magd noch Jungfrau an und forderst den Stiefelknecht in Jamben? – Aber dich, Barbar, der in Blut watet und von den Tränen des Publikums lebt, dich erkannt‘ ich gleich an der roten, tyrannischen Stirne wieder!« – Jetzt wurde er plötzlich auch Lotharion gewahr, er stutzte, und wie ein Morgenleuchten überflog es sein ganzes Gesicht, dann warf er schnell das Dachfenster zu. – Lothario aber hatte unterdes schon die morsche Tür eingerannt und über die umgeworfenen Stühle, womit sie verrammelt war, das Zimmer erreicht.

Als die übrigen eintraten, fanden sie beide in einem leisen, heftigen Gespräch, das Laub vor dem Hause verbreitete eine wunderbare, grüne Dämmerung über die kleine Stube, durchs offene Fenster hörte man den mehrstimmigen Gesang der zurückgebliebenen Schauspieler von unten heraufschallen:

Wir wandern wohl heut noch weit.
Wie das Waldhorn schallt!
O grüner Wald,
O lustige, lustige Sommerzeit!

Dryander war auf einmal wie verwandelt. »Das ist noch das alte Lied«, sagte er und schob ein paar Bücher in seine Rocktasche, »das hab‘ ich euch damals komponiert, um eure Affekte von den Wirtshäusern auf die schöne, erhabene Natur zu lenken. Seid ihr noch immer so durstig? Und lebt Kordelchen noch, den Kennern zur Freude und den Frauen zum Trotz?«

»O lustige, lustige Sommerzeit!«

Klang es wieder herauf. Da hatte der Doktor hastig wieder ein paar Bücher eingesteckt, nahm die Geige unter den Arm und setzte seinen Hut auf. Lothario stopfte ihm schnell noch ein Bündel Wäsche nach, die andern drängten ihn schon zur Tür hinaus, und so stiegen sie eilig mit dem Doktor die Höhe hinab.

Unten auf der Waldwiese fanden sie alles soeben schon im Begriff, wieder aufzubrechen. Ein allgemeiner Jubel begrüßte die Ankommenden, und alle umringten den wiedergefundenen Doktor, der früher einmal als Musikdirektor die Gesellschaft eine Zeitlang begleitet hatte. Dieser embrasssierte die alten Kameraden nach der Reihe durch, küßte dann der Dame Kamilla, die eben nicht sehr erfreut schien, ihn wiederzusehen, zierlich die Hand und half ihr, da Herr Sorti ängstlich zur Fortsetzung der Reise trieb, mit ausnehmendem Anstande auf den Rüstwagen.

Unter diesem Bewillkommnungsgetümmel bewegte sich endlich der Zug langsam weiter. Dryander aber mit seinen dick angeschwollenen Rocktaschen setzte sich an die Spitze desselben, ergriff seine Geige und spielte und sang, daß es weit durch den Wald erschallte:

Mich brennt’s an meinen Reiseschuhn,
Fort mit der Zeit zu schreiten
Was wollen wir agieren nun
Vor so viel klugen Leuten?
Es hebt das Dach sich von dem Haus,
Und die Kulissen rühren
Und streckten sich zum Himmel ‚raus,
Strom, Wälder musizieren!
Und aus den Wolken langt es sacht,
Stellt alles durcheinander,
Wie sich’s kein Autor hat gedacht:
Volk, Fürsten und Dryander.
Da gehn die einen müde fort,
Die andern nahn behende,
Das alte Stück, man spielt’s so fort
Und kriegt es nie zu Ende.
Und keiner kennt den letzten Akt
Von allen, die da spielen,
Nur der da droben schlägt den Takt,
Weiß, wo das hin will zielen.

Die Sonne stand schon tief und warf ihre letzten Strahlen zwischen den Baumstämmen schimmernd über die Wanderer, als diese durch die zierlichen Jägerhäuser und die im Walde sich kreuzenden Alleen daran erinnert wurden, daß sie dem Ziel ihrer Reise nicht mehr fern sein konnten. Von weitem vernahm man nun auch Waldhornsignale, einzelne Schüsse und Rufen dazwischen, wie das letzte Verhallen einer großen, weitverbreiteten Jagd. Die Gesellschaft wurde nun nach und nach stiller, jeder rückte sorgsam seine Kleidung zurecht und blickte erwartungsvoll vor sich in die Ferne hinaus. Fortunat aber fühlte sich unbehaglich überrascht, da nun das bisherige fröhliche Reiseleben plötzlich zum förmlichen Metier werden sollte.

Jetzt senkte sich der Weg allmählich ins Tal hinab, da sahen sie eine luftige Säulenhalle, rote Ziegeldächer und stille Wasserspiegel wechselnd aus der Tiefe aufblicken, immer geheimnisvoller, je weiter sie kamen, schimmerte es bald da, bald dort zwischen dem Grün herauf, durch die Wipfel aber leuchtete ein Gewitter, das sie im Walde nicht bemerkt hatten. Auf einmal schrien die Frauenzimmer kreischend auf, denn grade über ihnen, wie aus den Lüften, ließen sich plötzlich fremde Stimmen vernehmen und auf der in viele Klüfte zerspaltenen, fast unzugänglichen Felsenwand erblickte man zwei Schützen, die sich offenbar dort zwischen den Steinen verstiegen hatten. Der eine, ein kleiner, dicker runder Mann, der immer da, wo man ihn am wenigsten vermutete, wie ein Kürbis vom Felsen hing, trat beständig zu kurz, während sein überlanger, hagerer Begleiter jederzeit über sein Ziel hinausschritt. Dieser gab sich zum Ärger des andern, das Ansehn, ihm beizustehn, obgleich er selbst jeden Augenblick das Gleichgewicht verlor und so den Dicken erst recht mit ins Unglück brachte. Endlich konnten beide weder vor noch zurück mehr und begannen, aus Leibeskräften um Hülfe zu schreien. Da erschallte vom höchsten Gipfel ein mutwilliges Lachen. Die Abendsonne warf unter der schwarzen Gewitterwolke einen dunkelroten Glanz über die ganze Gegend, und in der scharfen Beleuchtung erschien droben plötzlich eine schöne, hohe Mädchengestalt zu Pferde, ein grünsamtenes Jagdkleid umschloß die schlanken Glieder, lange, weiße Federn wogten vom Barett über ihre Schultern hinab. Während ihr Pferd ungeduldig den Boden scharrte, betrachtete sie mit großen dunklen Augen die Erstaunten, die unwillkürlich die Unbekannte ehrfurchtsvoll begrüßten. Sie nickte mit dem schwarzgelockten Köpfchen kaum einen flüchtigen Dank, wandte sich dann rasch und war bald in den Abendgluten wieder verschwunden.

»Herrlich!« riefen mehrere von der Gesellschaft aus. – »Bei Gott«, sagte Lothario, die Reiterin mit durchdringenden Blicken verfolgend, »die haben gewiß heut wieder einmal ihren romantischen Tag!« – Unterdes waren die andern schon mit langen Stangen, Stricken und Leitern herbeigeeilt, und es gelang ihnen endlich, unter größerem Lärm, als eben nötig war, die beiden Verirrten Schützen glücklich auf die Ebene zu bringen. Diese waren indes übel zugerichtet, der eine hatte den Hut, der andere den Rockschoß droben gelassen, am abenteuerlichsten sah der Lange aus mit knappen, grauen Kamaschen und modernem Jagdkleid, halb Überrock halb Frack, fast lauter Tasche. Kaum aber sahen sie sich unten in Sicherheit, als sie, Gefahr und Dank vergessend, sogleich mit spitzigen Worten aufeinander losgingen. Jeder schob dem andern die Schuld zu, es schien, als habe die schöne Jägerin, der sie in verliebter Galanterie nachgesetzt, sie absichtlich in dieses Klippenlabyrinth verlockt. – So schritten beide, ohne sich um die Schauspieler weiter zu bekümmern, eilend dem Schlosse zu, und man hörte sie noch weit durch die Dämmerung zanken.

Jetzt aber fegte der Sturm alles zusammen, von allen Seiten sah man einzelne Jäger an den einsamen Waldesabhängen hernierdersteigen. Da begann es auch im Schlosse sich wundersam zu rühren, Türen wurden geöffnet und geschlossen, Bediente in bunten, reichen Livereien liefen die Marmortreppen auf und ab, die hellerleuchteten Fenster, hinter denen sich in prächtigen Gemächern einzelne Frauengestalten bewegten, warfen einen magischen Schein weit über den dunklen Garten. Dann wurde auf einmal alles still in der ganzen Runde, die Nacht und das Gewitter zog immer tiefer herein, Fortunat, der keine Lust hatte, wieder naß zu werden, war bereits allein nach der Dorfschenke geritten, die Schauspieler schimpften, sie hatten zu ihrem Empfange sich Triumphbogen geträumt, einholende Kammerjunker und den Fürsten von hohem Balkon ihnen entgegenwinkend. – Endlich sahen sie vom Schlosse her sich Fackeln durch den Waldgrund bewegen und erkannten bei den wirren Scheinen mit klopfenden Herzen die bunten Livereien der fürstlichen Bedienten. » Heda, ihr Herren Komödianten!« rief der eine, »wo Teufel steckt ihr denn?« – »Nun Gott behüt‘ uns!« – sagte ein anderer im Kreise umher leuchtend – »das hängt ja wie Meltau an allen Sträuchern, als hätt‘ es Plunder geregnet!« – Kamilla, höchst entrüstet, rauschte mit ihrem vornehmsten Anstande daher und ließ einiges von impertinenten Domestiken fallen. Da war aber nicht lange Zeit zum Ärgern und Händemachen. Denn der Gewitterwind wühlte schon in den Flammen der Fackeln und in den Tüchern der Damen, die Bedienten trieben zur Eile, Mäntel und Regenschirme flogen verworren durcheinander, und so wälzte sich alles in unordentlicher Flucht dem Schlosse zu.

Nur Lothario war zurückgeblieben, denn die schöne Jägerin mußte noch in den Bergen sein. Und er irrte sich nicht. Zwischen den Blitzen von Fels zu Fels, daß ihm schwindelte, lenkte sie mit kühner Gewandtheit ihr Pferd langsam den schmalen Steig hinab. Von dem letzten Abhange endlich wagte es einen verzweifelten Sprung und stürzte unten samt der Reiterin auf dem Rasen zusammen. In demselben Augenblick riß sie es gewaltsam wieder empor, beide hatten keinen Schaden genommen, nur der Zaum war entzwei. Da sprang Lothario rasch hinzu, ein langer Blitz beleuchtete plötzlich die ganze schöne Gestalt. »Wie das blendet!« rief er, während er, auf den Nacken des Pferdes gelehnt, ihr lächelnd unter dem Barett in die Augen blickte. – Sie sah ihn groß an – »da, die Kinnkette noch«, erwiderte sie kurz und stolz, dann, als er dan Zaum in Ordnung gebracht, drückte sie rasch die Sporen ein, und zwischen den roten Scheinen der Windlichter sah er ihren weißen Federschmuck, wie einen Schwan, durch die finstere Nacht dahinziehen.

Achtes Kapitel

Achtes Kapitel

Als Fortunat erwachte, blickte er erstaunt in einem hohen, vom Morgenrot schimmernden Gemache umher. Nach und nach erst besann er sich auf alles, wie er gestern noch vor Ausbruch des Gewitters aus der Dorfschenke in das fürstliche Schloß geladen worden, wie wunderbar da beim Widerschein der Blitze das Schloß in der Nacht aussah, das Getümmel dann im Hofe und wie darauf ein Bedienter ihn mitten aus dem Gewirre in dieses Gemach gewiesen. Hier hatte er durch das Fenster bemerkt, daß die übrigen Schauspieler nochmals weiterziehen mußten und beim trüben Schein einiger Windlichter einen dunklen Baumgang hinabführt wurden, bis zuletzt die Lichter, das Rumpeln des Reisewagens und die wohlbekannten Stimmen sich in dem Plätschern des Regens verloren, der nun plötzlich in Strömen herabstürzte.

Jetzt aber regte sich noch kein Laut, nur draußen blickten einzelne Flüsse und Landschaften mit funkelnden Kirchtürmen schon geheimnisvoll zwischen den hohen Bäumen herauf. Da kleidete Fortunat sich schnell an und eilte durch das stille Haus die breiten, dämmernden Marmortreppen hinab. Unter einer luftigen Säulenhalle, die von beiden Seiten mit hohen, ausländischen Blumen besetzt war, trat er in den prächtigen Garten. Hier war nach dem erfrischenden Regen der Morgen wie ein bunter Teppich ausgebreitet, auf dem das Schloß gleich einer schlummernden Sphinx noch rätselhaft ruhte. – Er wollte eben tiefer in das Grün hineingehen, als er überrascht in einiger Entfernung folgendes Lied singen hörte:

Aus Wolken, eh im nächt’gen Land
Erwacht die Kreaturen,
Langt Gottes Hand,
Zieht durch die stillen Fluren
Gewaltig die Konturen,
Strom, Wald und Felsenwand.
Wach auf, wach auf! die Lerche ruft,
Aurora taucht die Strahlen
Verträumt in Duft,
Beginnt auf Berg und Talen
Ringsum ein himmlisch Malen
In Meer und Land und Luft.
Und durch die Stille, lichtgeschmückt,
Aus wunderbaren Locken
Ein Engel blickt.
Da rauscht der Wald erschrocken,
Da gehn die Morgenglocken,
Die Gipfel stehn verzückt.
O lichte Augen, ernst und mild,
Ich kann nicht von euch lassen!
Bald wieder wild
Stürmt’s her von Sorg und Hassen
Durch die verworrnen Gassen
Führ mich, mein göttlich Bild!

Fortunat folgte dem Gesange, der von einem entfernten Flügel des Schlosses herzukommen schien. Die hohe Tür war nur angelehnt, er trat hinein und befand sich in einer schönen, großen Kapelle, die durch eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Gerüste stand dort ein Maler, welcher in dieser stillen, kühlen Einsamkeit, zwischen den von oben einfallenden Morgenlichtern und den halbvollendeten, betenden Gestalten mit ihren reichen, leuchtenden Gewändern, wie in dem Kelch einer wunderbaren Blume schwebte. Er hörte auf zu singen, als er unten den Fremden gewahrte, und wandte schnell ein munteres Gesicht zwischen umwallenden, braunen Locken aus seinem Himmel hinab. – »Glück auf!« rief ihm Fortunat, überrascht von der ganzen, unerwarteten Erscheinung, fröhlich zu, »das ist eine herrliche Werkstatt!« – Der Maler nickte lächelnd und fuhr in seiner Arbeit fort, kehrte sich dann aber, plötzlich abbrechend, wieder zu Fortunat: »Sind Sie nicht gestern abend mit den Schauspielern gekommen?« – »Ja, und zugleich von ihnen abgekommen, ich weiß nicht wie«, erwiderte Fortunat. – »Oh, die sind gar nicht weit«, sagte der Maler. »Und eigentlich ist auch heut Aurora zu schön, um ihr hier ins Gesicht zu klecksen, ich will Sie lieber gleich zu Ihren Kameraden führen.« – Bei diesen Worten hatte er rasch Pinsel und Palette weggelegt und kam die Leiter herab. Es war ein kecker, vollwangiger Jüngling mit bloßem Hals und knappem, sehr zierlichen deutschen Rock. Er verschloß die Tür, da sie hinaustraten, und führte Fortunat eilig durch den Baumgang, in welchem gestern nacht die Schauspielergesellschaft verschwunden war. »Das muß ein glückliches Leben sein«, sagte er, »wie oft hab‘ ich mir schon gewünscht, so mit fröhlichen Gesellen ins Blaue hineinzuziehen! Wir Maler sind überall an Ort und irdisches Material gebunden. Da sind die andern Künstler besser dran, zumal der Dichter. Die ganze schöne Welt ist sein Revier, und wo er singt, ist der Himmel. – Aber da sind wir schon!« unterbrach er sich hier. »Sehn Sie dort. Es ist eigentlich ein altes Gartenpalais, das lange wüst und verlassen stand. Ich wohne auch drin, seit ich hier male, nun hat der Fürst auch die Gesellschaft mit hineinquartiert. Hören Sie doch, was für ein Rumor darin! Das ist ja wahrhaftig wie eine Menagerie, wo unzählige Loris und Papageien durcheinanderkreischen und manchmal eine alte Hyäne dazwischengähnt.«

Fortunat erblickte nun am Ende des Baumganges einen weiten, grünen Platz, wo mehrere Figuren von Buchsbaum, halbzertrümmerte Statüen und vertrocknete Wasserkünste einen ehemaligen französischen Garten andeuteten, der jetzt nur noch durch einzelne Kaiserkronen und dunkelglühende Päonien seltsam an die alte Herrlichkeit erinnerte. Im Hintergrunde stand ein alter, schwerfälliger, von der Zeit gebräunter Palast, dessen vornehme Gesimse mit Verachtung auf die aus den Fenstern flatternde Wäsche und auf Kordelchens Regenschirm herabzublicken schienen, den sie vor ihrem Schlafzimmer als Markise ausgespannt hatte.

Fortunat trat mit dem Maler hinein und begrüßte seine lustigen Reisegefährten, die vor Freuden auch nicht mehr schlafen konnten und sich hier nach jahrelangem, dunklem Umhertreiben in den Dachstübchen kleiner Städte sehr behaglich und laut in dem ungewohnten Glanze sonnten. Ein großer Saal mit Stuckverzierungen, verblichenen Tapeten und einem altväterischen Billard in der Mitte diente ihnen zum Versammlungsplatz, und wenngleich die Boursen des Billards zum Teil vom Zahn der Zeit schon abgenagt waren, so hatten die erfindsamen Geister doch sogleich ihre eigenen, ohnedies ziemlich überflüssigen Geldbeutel daran geheftet, und schnitten ihre Karoline mit mehr Behagen als Geschicklichkeit. Nur Kordelchen erwies sich als Meisterin, wobei sie, in gewandten Stellungen über der grünen Tafel schwebend, ihr zierliches Figürchen zu zeigen willkommene Gelegenheit hatte.

Der enthusiastische Maler begann sogleich eine Partie mit ihr, und Fortunat wollte eben Lotharion aufsuchen, den er in der Gesellschaft vermißte, als der sonst friedfertige Komiker Fabitz plötzlich mit einem seltsamen jungen Manne, mit welchem er draußen in Zank geraten, in den Saal hereinstürzte. Der junge Mensch trug die altdeutsche Tracht, deren verschossenes Schwarz aber schon bedeutend ins Gräuliche spielte; lange, grobe Haare hingen ihm von beiden Seiten bis über die Schultern herab und gaben dem langen, eckigten Gesicht ein gewisses antiquitätisches Ansehen. Es ergab sich, daß er gleichfalls ein Maler, namens Albert, war, der auf seiner Rückreise von Rom hier seit einiger Zeit Beschäftigung und günstige Aufnahme gefunden. Dieser hatte nun kaum in Erfahrung gebracht, daß bei der eben angekommenen Gesellschaft ein Herr Fabitz den Kasperl zu spielen pflege, als er sogleich mit wahrem Missionarieneifer auf den Unglücklichen losging und ihm über das Unwürdige, Verkehrte und daher Unhaltbare seines Kunstgewerbes die gemessensten Vorstellungen machte. Er sprach viel vom ernsten Norden, wo die edlen Eichen höherer Bildung solch niederes Unkraut gar nicht aufkommen ließen, ja eine norddeutsche Zunge, wie die seinige, entsetzte sich schon vor dem barbarischen Laute: Kasperl! Fabitz dagegen meinte, er kenne zwar von den nordischen Zungen bloß die geräucherten, die langen, norddeutschen Kaspars aber seien wahrscheinlich nur zu langweilig, um auf das Theater gebracht zu werden. – Zuletzt aber, da ihm die ganze Erscheinung des Norddeutschen etwas Neues war, überwältigte ihn sein Naturell. Unwillkürlich nahm er nach und nach, Zorn und Streitpunkt vergessend, die wunderliche Haltung, Gesicht und Stimme seines Gegners, der in seinem fanatischen Eifer nichts davon merkte, selber an und focht so verzweifelt in aufgeschnappten, hochtrabenden Sentenzen, daß sein Gegner ganz konfus wurde. – Kordelchen hatte schon lange vom Billard zugehorcht. »Allerliebster Narr«, rief sie nun hinzuspringend aus und gab ihm einen herzhaften Kuß. »Pfui! Wenn er nur nicht so häßlich wäre!« sagte sie dann, sich den Mund schnell abwischend.

Währenddes hatte sich, ohne von dem Streit Notiz zu nehmen, ein kurzer, runder Mann zu Fortunaten gesellt, der sich ihm als den fürstlichen Schulrat vorstellte, und in welchem er sogleich den dicken Schützen wiedererkannte, dem sie gestern vom Felsen geholfen. Fortunat wußte gar nicht, wie ihm geschah, da der Kleine auf einmal sehr gelehrt von Poesie, Kunst und Religion zu sprechen anfing und sich endlich angelegentlich erbot, ihn in den wenigen Augenblicken der Muße, die ihm blieben, mit den mancherlei Merkwürdigkeiten des Orts bekannt zu machen. Kaum hatte der kämpfende Maler Albert den Schulrat erblickt, als er vornehm den Streit abbrach und sich zu ihnen wandte. – »Vortrefflich«, sagte der Schulrat, sich an Fortunats Arm hängend, »so geleite ich Sie gleich zu einem Götterfrühstück, womit ich mich jeden Morgen für meine Berufsgeschäfte zu stärken pflege.« – So schritten sie eilig durch einen langen Korridor zu einer schweren, eichenen Tür, die Albert mit einer gewissen Feierlichkeit öffnete. Es war sein Atelier, ein hohes, ritterliches Gemach, an dessen schmuckloser Hauptwand ein großes, mit der Jahreszahl 1813 bezeichnetes Schwert hing, um das sich ein verwelkter Eichenkranz wand. »Das ist mein treuer Reisegefährte«, sagte Albert zu Fortunat, »und wenn mich schlaffe Ruh oder weichliche Lust überschleichen wollen, blick ich die Eisenbraut an und gedenke der ernsten, großen Zeit.« – »Ach, das ist schon eine alte Geschichte!« entgegnete Fortunat lachend. – »Sind Sie damals mit zu Felde gewesen?« fragte der Maler etwas spitzig. – »Freilich«, erwiderte jener, »das versteht sich ja aber ganz von selbst.«

Inzwischen befand sich der Schulrat schon mitten unter Alberts Arbeiten, die in dem Gemach umherstanden und von dem erstaunenswerten Fleiße des Malers zeugten. Da waren die ungeheuersten Anstalten zur Kunst: Gliederpuppen, sorgfältig gefaltete Mäntel, Modelle und Büsten, dazwischen mehrere vollendete Bilder, Historienstücke aus der antiken Heroenzeit von sehr zusammengesetzter, studierter und nicht leicht faßlicher Komposition. »Göttlich!« rief der Schulrat einmal über das andere aus, während er mit Kennermiene beschäftigt war, jedes Bild genau in das rechte Licht zu stellen. »Sehen Sie den ätherischen Hauch des Inkarnats, die Perspektive, diesen klassischen Ausdruck!« – »In der Tat, ein philosophischer Pinsel«, erwiderte Fortunat. Denn diese anmaßlichen, affektierten Heldengestalten voll Männerstolz und Männerwürde wollten ihm nicht im mindesten behagen, und die Jungfrauen mit ihrer langgesstreckten, anmutlosen Tugendlichkeit kamen ihm gar wie gemalte Begriffe der Jungferschaft vor.

»Nun, ich muß mich nur wieder mit Gewalt losreißen«, sagte endlich der Schulrat, seinen Hut ergreifend, »ernstere Gesschäfte rufen mich. – Ein Genie!« flüsterte er, im Fortgehen auf Albert deutend, Fortunaten zu. – »Ein tiefer, umfassender Geist!« sagte Albert, als der Schulrat verschwand.

Fortunaten aber hatte unterdes eines von den kleinern Bildern angezogen. Man sah Rom in der Ferne mit seinen phantastischen Trümmern und Palästen in der vollen Glut des südlichen Abendhimmels. Im Vorgrunde, von Rom fort, schritt einsam durch das schon dunkelnde, öde Feld ein einzelner Mann mit antikem Faltenwurf des Mantels und feierlich ernster Miene, an der Fortunat sogleich den Maler selbst erkannt hätte, wenn er auch nicht zum Überfluß noch mit dem obengedachten Schwerte vom Jahre 1813 umgürtet gewesen wäre. – »Aber warum in aller Welt kehren Sie dieser leuchtenden Wunderpracht hier so eilfertig den Rücken?« fragte er erstaunt. – »Dieses Bild«, erwiderte Albert, mit seinem allerlängsten Gesicht, »bezeichnet eigentlich die dunkle Führung überhaupt, die in meinem Leben waltet. Rom ist herrlich, und ich nahte voll Ehrfurcht den alten Heldenmalen. Aber das leichtsinnige Geschlecht und das Klingeln der Bonzen über den Gräbern versunkener Größe störte und empörte mich. Ich konnte mich den Anmutungen des Aberglaubens, auch nur zum Scheine, nicht gefällig erweisen und hatte beständig Verdruß. Dazu kam, daß das Geschick meines deutschen Vaterlandes, wo eine neue, große Zeit sich ausgebärt, heimlich an meinem Herzen fraß, ich hatte nirgends Ruhe. Meine Kameraden gefielen sich dort bald höchlichst – ich aber ermannte mich zur rechten Zeit und flüchtete vor den gleißenden Schlingen doppelter Knechtschaft nach dem ernsten, heimatlichen Norden.«

»Norden?!« – rief Fortunat erschrocken über dieses plötzlich wiederkehrende Lieblingsthema des Malers aus und griff hastig nach seinem Hute. Albert, welcher dies für eine Aufwallung übereinstimmender Empfindung halten mochte, drückte ihm stumm die Hand, aber mit so seltsamer Kreuzung der Finger, daß es Fortunat sogleich für das heimliche Zeichen irgendeines ihm fremden Bundes erkannte. Fortunat besann sich nicht lange, sondern erwiderte den Druck, zu Alberts Verwunderung, mit noch abenteuerlicheren Handgriffen und stürzte dann ins Freie hinaus.

»Verdammte Wirtschaft!« rief er draußen, durch den Baumgang eilend, »überall vertreten einem solche lange Gesichter das Morgenlicht! Lassen sich da von irgendeinem kritischen Kleinmeister eine angeräucherte Brille aufheften, womit sie dann in alle Welt gehen, die Völker zu richten. So zieht das Geschmeiß, wie die Wanderraupen, durch den Glanz der Länder in stillem Wahnwitz fort, wenn es sonst Wahnsinn ist, die Dinge anders anzusehen, als sie wirklich sind!« – Zuletzt mußte er selbst laut auflachen über den wunderlichen Zorn, in den ihn das Larven-Kunstkabinett des Malers versetzt hatte. Die Morgensonne spielte golden durch die Wipfel der Bäume, und unzählige Vögel sangen. Er blickte fröhlich umher und fand, daß die Welt trotz aller Narren so schön und lustig blieb, wie sie war.

Neuntes Kapitel

Neuntes Kapitel

Es war schön anzusehen, wie auf der luftigen Rampe des Schlosses, die gleich einer Blumenzinne weit über die Wälder hinausragte, schlanke Frauengestalten und bunte Uniformen zwischen den dunklen Orangenbäumen hervorschimmerten. Oben saßen die Fürstin, Herren und Damen in der heiteren Morgenkühle auf buntgestickten Feldstühlen umher, die Abenteuer der gestrigen Jagd besprechend. Mehrere Bände von Shakespeare mit funkelndem Goldschnitt lagen auf einem zierlichen Tischchen, Notenhefte und eine Gitarre daneben; der Morgenwind blätterte lustig darin und ging durch die Saiten, daß es von Zeit zu Zeit zwischen dem Plaudern und Lachen einen fröhlichen Klang gab. – Weiter zurück aber standen die zur Musterung heraufbeschiedenen Schauspieler in ihren besten Feierkleidern, ganz verwirrt unter den Fürsten und Grafen, die sie doch so oft auf ihren Brettern gespielt hatten. Vergebens suchten sie unter den fremden Gesichtern den geraden Kriegshelden, den schlauen Beichtvater, den falschen Minister, Herr Sorti vergaß darüber ganz seine wohlersonnene, altmodische Anrede, sie fanden alles anders, als sie sich’s unten eingebildet hatten. Mit ehrerbietiger Neugier blickten sie zuweilen seitwärts durch die offene Tür in die prächtigen Gemächer hinein, aus denen der glatte Fußboden, hohe Spiegel und Statüen zwischen bronzenen Kandelabern geheimnisvoll glänzten. Manches junge Herz aber wünschte sich hundert Meilen von hier, denn unter der Terrasse pfiffen die Vögel lustig in der alten Freiheit, und zwischen den Wipfeln blickte die Landschaft so heiter herauf, als riefe es: kommt nur wieder hinunter, da draußen ist’s doch viel schöner!

Der Fürst, ein junger, schöner Mann in bequemer Jagdkleidung, war unterdes zu ihnen getreten und entschuldigte seine gestrige Vergeßlichkeit so leicht und vornehm, daß sie ihm für ihren schlichten Empfang noch danken mußten. Er belobte Herrn Sorti über die Eile, mit der er seiner Einladung gefolgt, und wußte in aller Geschwindigkeit durch Andeutungen seltner Belesenheit und Sachkenntnis allen zu imponieren. Dazwischen blickte er manchmal verstohlen nach Kordelchen, die das auch sogleich bemerkte und, schlau ihre Augen niederschlagend, die Verwirrte spielte. Kammerherren, junge Offiziere und Jagdjunker mischten sich nun mit in die Unterhaltung, die Schauspieler wollten in auserlesenen Redensarten ihren Weltton zeigen, die Mädchen waren naiv, die Junker charmant, zwischen ihnen und den Feldstühlen der Damen flogen häufig französische Witzworte, wie zierliche Pfeile, über den glatten Boden hin und her, deren Zielscheibe eben nicht zweifelhaft war. Unter ihnen fiel der lange Schütz von gestern am meisten auf, ein reisender Lord, der überall wie ein Kamelhals mit seiner Lorgnette über die andern hervorragte. Er versicherte jeden seiner Protektion und sprach immerfort von Kunst und dramatischer Kunst und mimischer Kunst in so wunderlichem Deutsch, daß einer den andern nicht verstand.

Die Konfusion aber wurde noch immer größer. Denn seitwärts hinter einer phantastischen Palme, auf deren breiten Blättern ein Papagei linkisch auf und nieder kletterte, stand die kühne Reiterin von gestern und neckte, wie es schien recht absichtlich, den Vogel, dessen durchdringendes Gekreisch jeden Augenblick den galanten Diskurs verstörte. Sie beachtete die Komödianten nicht, aber zuweilen funkelten ihre Blicke zwischen den Zweigen nach Fortunaten und Lothario herüber, welcher den ersteren mit heraufgeschleppt und soeben der Fürstin als einen geistreichen, nur erst kürzlich zu ihnen gestoßenen Volontär vorgestellt hatte. Die Fürstin, eine junge, schmächtige Dame mit schwarzem Haar, bleichem Gesicht und feurigen Augen, in graziöser Lebhaftigkeit bald zu diesem, bald zu jenem Herrn ihres Gefolges plaudernd zurückgewandt, nun witzig, dann sinnig, dann wieder gelehrt, wechselte in wenigen Minuten verschwenderisch alle Farben der neuesten Bildung. Dazwischen blickte sie oft Fortunaten fast lauernd an, als wollte sie prüfen, welchen Ton sie ihm gegenüber eigentlich anschlagen sollte. Sie schien es wunderbarweise recht ausschließlich auf den Beifall des unbekannten jungen Mannes abgesehen zu haben, der sich, wie in einem plötzlichen Feuerwerk, vor den Raketen und steigenden Leuchtkugeln dieser Unterhaltung gar nicht zu fassen und zu retten wußte. – Dem Fürsten aber waren die Blicke der Gräfin Juanna – so nannte man die schöne Jägerin – nicht entgangen, er wurde auf einmal verstimmt, und entließ schnell die Schauspielergesellschaft. »Das ist ein lustiges Metier«, sagte er dabei noch mit besonderem Nachdruck zu Fortunaten, »sich so täglich in einen andern zu verwandeln, gestern ein Graf, heute ein Schauspieler und immer ein Poet.« – »Ganz interessant«, meinte die Fürstin, »die Exposition ist romantisch, die Motive lassen sich ahnen, ich bin nur auf den letzten Akt begierig.« – Fortunat war ganz verwirrt, noch mitten in dem Getümmel des Abschiednehmens konnte er bemerken, wie die Fürstin der unterdes hinzugetretenen Gräfin Juanna sehr lebhaft etwas zuflüsterte, das ihm zu gelten schien. »Also dieser?« – sagte die Gräfin, den schönen Mund spöttisch aufwerfend. – Und wie sie so fortgingen und die Terrasse hinter ihnen versank und nur noch Juanna an dem marmornen Geländer hoch über dem schönen, weiten Kreise der Wälder stand, da war es, als sei sie die Fürstin hier, der alle andern dienten.

Die Schauspieler schritten nun eifrig schwatzend durch den Garten, die meisten waren ganz begeistert und wie berauscht, andere, die sich zurückgesetzt glaubten, sprachen von drückender Hofluft und dem schlüpfrigen Boden der vornehmen Welt. Fortunaten aber fiel nun erst alles auf: seine gestrige Aufnahme im Schloß, vorhin die Dienstfertigkeit des Schulrats, die Reden der Fürstin und Juannas letzter Ausruf. – Sollten sie den reisenden Baron in mir wittern? dachte er, kennen mich doch die Schauspieler selbst nicht, wie sollten die droben es wissen!

Am Abend desselben Tages ruhte er mit Lotharion auf dem grünen Abhange einer Höhe und schaute fröhlich über die Wälder in die weite, fruchtbare Gegend hinaus, in die er nun bald selbst mit dem blauen Strome hineinziehen sollte. Lothario, immer rastlos umherschweifend, hatte in der kurzen Zeit alle verworrenen Verhältnisse ihres neuen Aufenthalts schnell überblickt und entwarf nun in seiner Art eine Musterkarte davon. »Der Fürst«, sagte er, »ist ein erstaunlicher Virtuos, er spielt die schwierigste Romantik vom Blatt weg, ohne eben selbst zu komponieren. Die Fürstin ist ganz und gar sinniger Roman, durch viele Hände gegangen, schon sehr zerlesen; ich glaube, der lange Lord studiert sie jetzt. Diese wilde, schöne Gräfin dann, die ihnen wie ein Hirsch durch alle ihre künstlichen Gehege bricht und die Meute Liebhaber hinter sich für Hunde hält – wahrlich, so scheues Wild weckt recht das Jagdgelüste!« – »Nimm dich in acht«, entgegnete Fortunat; »was mich betrifft, so kümmert’s mich wenig, wie sie sind, das Ganze zusammen macht sich doch schön, und mehr verlang‘ ich nicht von ihnen.« – Lothario sah ihn ein Weilchen fast ärgerlich an. »Ich begreif’s nicht«, sagte er dann, »wie ihr Dichter es vor Langerweile aushaltet, so ein dreißig bis fünfzig Jahr auf der ästhetischen Bärenhaut rücklings über zu liegen und Kriegstrubel, Philosophie, wilde Jäger und singende Engel wie ein Wolkenspiel über euch dahinziehen zu lassen, um daraus ganz gemächlich ein paar dicke Romane zusammenzuschreiben, die am Ende niemand liest. Zum Teufel, ich bein keine Äolsharfe, die nur Klang gibt, wenn ein Poet ihr Wind vormacht! Is das Leben schön, so will ich auch schön leben und selber so verliebt sein wie Romeo und so tapfer wie Götz und so tiefsinnig wie Don Quixote. Um die Schönheit will ich freien, wo ich sie treffe, und mich mit den Philistern drum schlagen, daß die Haare davonfliegen. Warum sollte man so ein lumpiges Menschenleben nicht ganz in Poesie übersetzen können?« – »Du bist ein wunderlicher Mensch«, unterbrach ihn Fortunat, »ich glaube, du könntest ein großer Dichter sein, wenn du nicht so stolz wärest.« – »Ich?« – erwiderte Lothario fast betroffen und sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin.

Hier wurden sie auf einer weiter ins Land hinaus gelegenen Anhöhe mehrere der Schauspieler gewahr, die soeben zwischen den Gebüschen emporsteigen und sich gleichfalls an der schönen Aussicht zu ergötzen schienen. Sie konnten deutlich unterscheiden, wie Herr Ruprecht sein altes Perspektiv gemächlich aus dem Futteral nahm, es wie ein Fühlhorn bald weit ausstreckte, bald wieder einzog und damit in die Ferne zielte. Bald aber schienen sie unten etwas Besonderes auf dem Korn zu haben, das Fernrohr ging eilig aus Hand in Hand, und Fortunat bemerkte nun auch seinerseits einen Fußgänger im Tal, welcher bequem zwischen Wiesen und Büschen daherkam, zuweilen stehenblieb und sich nach den schönen, abendroten Gründen heiter zurückwandte, dann zufrieden wieder weiterschlenderte. Auf einmal erhoben die Schauspieler ein wütendes Freudengeschrei und winkten mit Perspektiv und Hüten und Schnupftüchern. Jetzt schien auch der Wanderer sie zu erkennen, er warf jubelnd seinen Hut hoch in die Luft und schritt dann eilig den Berg hinan. – »Wahrhaftig, den sollt‘ ich kennen!« rief Fortunat ganz erstaunt aus. – »Gott schütz‘, gewiß noch ein Dichter!« entgegnete Lothario, indem er aufsprang und ohne weiteres in den Wald hineinging.

Fortunat eilte sogleich zu den Schauspielern hinüber. Aber eine tiefe Kluft lag dazwischen; er verlor sie im Walde bald aus dem Gesicht und wußte nicht, wo er war, als auf einmal der Wanderer, der gleichfalls den nächsten Weg gesucht und den rechten verfehlt hatte, sich mühsam neben ihm durch das Gestrüpp hervorarbeitete. »Fortunat!« rief er höchst überrascht und sichtbar verlegen aus, da er den alten Bekannten erblickte. »Mein Gott! Otto!« erwiderte jener, »wie kommen Sie hierher?« – »Ich« – sagte der Student ganz verwirrt – »ist denn das nicht der fürstliche Park, wo die Schauspielergesellschaft des Herrn Sorti«

Fortunat aber hatte keine Zeit mehr zu antworten, denn um eine Waldecke sahen sie plötzlich einen ganzen Haufen Lumpengesindel von weitem auf sich zuwanken, das sie im ersten Augenblick für Zigeuner erkannten. Sie schienen untereinander in Händel geraten zu sein und kamen in vollem Zanke daher, einige von ihnen waren bemüht, von hinten einen widerspenstigen Esel vorzuschieben, auf dem eine seltsame, phantastisch geschmückte Weibergestalt saß, die voll Zorn nach den ungestümen Treibern zurückschimpfte. Wie eine Zigeunerkönigin hatte sie ihr langes, zottiges Haar mit einer Schnur von Gold und Edelsteinen oben in ein Krönchen zusammengefaßt, in den Ohren trug sie schwere Gehenke von geschmelzter Arbeit, ihre Schabracke war von Scharlach, das grüne Kleid mit silbernen Posamenten verbrämt, und ihr schneeweißes Hemd an den Nähten mit schwarzer Seide nach böhmischer Art ausgenäht, woraus sie hervorschien, wie eine Heidelbeere aus der Milch. – Jetzt erst erkannte Fortunat in dem Gesindel nach und nach die Gesichter der Schauspieler, ohne zu begreifen, wie sie zu dem Narrenstreiche kamen. Seitwärts bemerkte er nun auch Kamilla, welche die Rolle der Preziosa übernommen zu haben schien, wozu sie ihre große, noble Figur besonders geeignet glaubte. Sie schwärmte abgesondert von den andern, eine Gitarre im Arm, und sang: »Einsam bin ich nicht alleine.« Aber sie blieb doch allein, denn alles lief einer jungen, schönen Zigeunerin nach, die plötzlich wie ein wildes Reh aus dem Walde brach. Die pechschwarzen Haare hingen glänzend über Stirn und Wangen, ihr Gesicht war wie eine schöne Nacht. Sie blieb dicht vor Otto stehen und funkelte ihn neugierig mit den Augen von oben bis unten an. »Wußt‘ ich’s doch«, sagte sie dann, »daß es so kommen wird.« – Es war Kordelchen. »Silentium!« hörte man nun auf einmal die abenteuerliche Gestalt durch das Getümmel rufen, die unterdes auf ihrem Esel herangekommen war. »Ei, mein schöner, weißer, junger Gesell«, redete sie Otton an, »was machst du hier? Wo kommst du so allein daher?« – Der Esel, der unterwegs ein Maul voll Gras genommen, sah die Gesellschaft, seine lange Ohren schüttelnd, ruhig an und hieb mit dem einen Hinterfuß nach den Komödianten, die ihn heimlich zwickten. Otto aber, von der allgemeinen Lust mit angesteckt, antwortete: »Meine großmächtige Frau Libuschka, ich komme von Haus und bin willens, in der Welt ein mehreres zu studieren oder einen Dienst zu bekommen, denn ich bin ein armer Schüler.« – »Daß dich Gott behüte, mein Kind!« versetzte die alte Zigeunerin » – »aber zum Teufel! Laßt die Faxen, ich falle wahrhaftig herunter!« rief sie dazwischen den Schauspielern plötzlich mit grober Stimme zu, an der Fortunat sogleich Herrn Ruprecht erkannte. Dieser aber ließ sich dadurch nicht irremachen. »Wann du Lust hast, bei uns zu bleiben«, fuhr er fort, »so ist der Sache bald abgeholfen.« – »Ich will noch ein paar Tage mit mir selbst zu Rat gehen«, erwiderte Otto, »des Studierens und Tag und Nacht über den Büchern zu hocken, bin ich schon vorlängst müd worden.« – »Du hast einen weisen Menschensinn, mein Sohn«, versetzte hier Ruprecht, »und kannst hierbei leicht abnehmen und probieren, was unsere Manier vor anderer Menschen Leben für einen Vorzug habe, wenn du nämlich siehst, wie wir hier in unserer Freiheit auf den alten Kaiser leben, wie die Marder und Füchse. Was ist Reichtum, was ist Geld, Habe? Wenn ich’s nicht habe, acht ich’s für gar nichts, und wenn ich’s habe, schmeiß ich’s gleich wieder weg. Man muß immer als Philosoph denken, glaube einem alten Genie, mein Sohn, und werden die Lichter ausgeputzt und es kommt die Nacht und die Schlafenszeit, so sind doch alle wieder gleich, Zigeuner und andere Leut‘!«

»Oho!« riefen hier die anderen darein, denen der Sermon schon zu lang wurde, »eine moralische Libuschka! Eine philosophische Zigeunerin!« Ruprecht schimpfte sie ganz erbost Ignoranten, die wie Ochsen mit eingelegten Hörnern ins Blaue hineinrennten. Aber sie hörten nicht auf ihn. Ein paar rüstige Gesellen erwischten Otton bei den Beinen, und schwangen ihn vor die Frau Libuschka auf den Esel, den Kordelchen unterdes mit bunten Bändern ausgeschmückt hatte; andere faßten die Zügel, und so wälzte sich der ganze tolle Zug nach dem Gartenpalaste hin.

Hier aber wurden sie selbst überrascht, die Zurückgebliebenen hatten sich schnell verkleidet und unter den Bäumen bunte Zelte aufgeschlagen, so lagen sie an lustigen Feuern umher, und zu Fortunats Verwunderung kam es nun nach und nach heraus, daß sie Otton als ein neues Mitglied ihrer Truppe heute hier erwartet hatten. Unter ihnen erwies sich Guido besonders geschäftig, der junge, hübsche Maler aus der Kapelle, der in seiner sorgfältigen Zigeunertracht sich selbst sehr hübsch zu finden schien und, von Zeit zu Zeit Kordelchen feurige Blicke zuwerfend, wohlgefällig sein Schnurrbärtchen strich. Er hatte brennende Pechkessel besorgt und war eifrig bemüht, die phantastischen Gestalten malerisch um die Flammen zu gruppieren und überall die rechten Lichteffekte anzubringen. Er mußte indes gar bald alles gehenlassen, es war schlechterdings keine Ordnung und kein künstlerisches Motiv hineinzubringen. Über dem dunkelen Berge aber trat plötzlich der Mond aus einer Wolke und beschien die stillen Wälder und Gründe; da war auf einmal alles in der rechten, wunderbaren Beleuchtung: das öde Haus, der altmodische, halbverfallene Garten, die wildverwachsenen Statüen und die abenteuerlichen Gestalten, die auf den Bassins der vertrockneten Wasserkünste umhersaßen, wie eine Soldatennacht im Dreißigjährigen Kriege. – »Preziöschen!« rief Fortunat Kordelchen zu, »bellt von fern ein Hund liegt ein Dorf im Grund, schläft Bauer und Vieh, gibt was zu schnappen hier!« – Kordelchen antwortete munter: »Heult der Wolf in der Heid‘, ist mein Schatz nicht mehr weit; stellt aus die Wacht, gibt heut eine gute Zigeunernacht.« – »Willewau, wau, wau, witohu!« riefen die andern jauchzend dazwischen. Kordelchen aber schwang plötzlich ein Tamburin, daß es schwirrte, tanzte mit ihren roten polnischen Stiefeln auf zigeunerisch und sang dazu:

Am Kreuzweg, da lausche ich, wenn die Stern
Und die Feuer im Walde verglommen,
Und wo der erste Hund bellt von fern,
Da wird mein Bräut’gam herkommen.
Fortunat antwortete lustig:
Und als der Tag graut‘ durch das Gehölz,
Sah ich eine Katze sich schlingen,
Ich schoß ihr auf den nußbraunen Pelz,
Die macht‘ einmal weite Sprünge!
Kordelchen sang wieder:
’s ist schad nur ums Pelzlein, du kriegst mich nit!
Mein Schatz muß sein wie die andern:
Braun und ein Stutzbart auf ungrischen Schnitt
Und ein fröhliches Herze zum Wandern.

Hier schlug sie das Tamburin dem Ruprecht, der ihrem Tanze verliebt zusah, dröhnend an den Kopf und setzte sich, in der Tat wie ein Kätzchen, dem träumerischen Otto auf den Schoß.

»Weißt du« sagte sie, ihre Haare aus dem erhitzten Gesicht schüttelnd, »weißt du noch, wie wir uns zum erstenmal sahen? Du kamst vom Giebichenstein herab mit einem studentischen Helm, daß der Federbusch dir in die Augen hing; damals gefielst du mir besser als jetzt so mit dem närrischen Frack.« – Otton war’s bei diesen Worten, als tauchte seine ganze, schöne Jugendzeit wieder vor ihm auf, das Mädchen war nur so wild, das störte ihn heimlich. – »Es war in den ersten Frühlingstagen«, sagte er, »überall zogen Studenten durchs Grün, du saßest auf der Bank vor dem Wirtshause unter den Linden und spieltest die Harfe.« – »Ja, ja«, fiel ihm Kordelchen in die Rede, »und du glaubtest, ich spielte für Geld, und setztest dich neben mich und drücktest mir einen Taler in die Hand.« – »Und du«, versetzte Otto, »besahst verwundert das Geld, dann stecktest du’s lachend ein, gabst mir schnell einen Kuß und verschwandst im Hause, und ich sah dich nicht mehr wieder. Ach Kordelchen! nun ist ja alles, alles wieder gut, und« »Nun und was denn?!« rief Kordelchen lustig, sprang schnell auf und verlor sich in dem dicksten Haufen.

Kamilla, die es mit angesehen, ging eben vornehm vorüber und sprach halbleise von wilden Waldbeeren, womit man Gimpfel fange. Otto aber hielt sich nun nicht länger und fiel ganz glückselig dem Fortunat um den Hals. »Ach«, rief er aus, »ich bin so von Grund der Seele vergnügt, wie ein Vogel in der Luft!« – Sie gingen miteinander auf den mondbeschienenen Gängen weit fort, daß sie die Stimmen der Schauspieler kaum mehr vernahmen, und Otto erzählte nun, wie entsetzlich einsam es nun auf Hohenstein geworden, nachdem Walter und Fortunat fortgezogen. Er habe sich gleich nach ihrer Abreise mit redlichem Ernst und Eifer ganz auf die Bücher geworfen, nichts anderes gedichtet und getrachtet und selbst jede Erinnerung an sein früheres Leben gewissenhaft vermieden. »Aber«, fuhr er fort, »die Seele des Dichters ist wie eine Nachtigall, je tiefer man ihren Käfig verhängt, je schöner schlägt sie, und ich hörte sie oft in Träumen wunderbar klagen, aber ich hütete mich wohl, wenn ich erwachte, dem weiter nachzuhängen. Und wie nun so der Amtmann täglich um dieselbe Stunde auf das Feld hinausritt und wieder zurückkehrte und Florentine ihre Tauben fütterte und ihre Blumen band, und ringsum in der ländlichen Stille allmählich alles wuchs und wuchs, als wollte das Grün die Menschen begraben – es war mir nicht anders, als säß ich viele hundert Klaftern tief im Meer und hörte die Abendglocken meiner Heimat von weitem über mir. So verzehrte ich mich sichtbar selbst, der gute Amtmann sah mich oft insgeheim bedenklich an, die Amtmannin steckte mir die besten Leckerbissen zu, sie dachte, wenn ich nur erst fetter wäre, so würde schon alles gut werden. – In einer schönen Nacht aber träumte mir von Halle, ich stand auf dem Giebichenstein, die Kirschgärten unten blühten wieder, und lustige Kähne mit Studenten glitten die Saale hinab, da erklang ein Lied aus dem Tale, das ich damals gehört, auf das ich mich aber seitdem durchaus nicht wieder besinnen konnte. Ich wachte vor Freude darüber auf, das Fenster stand noch offen, und als ich mich hinauslehnte, klang das Lied wirklich draußen durch die stille Nacht herüber. – Seht, ein solcher Lufthauch wendet oft das Narrenschiff des Menschen! Ohne selber recht zu wissen, was ich tat oder wollte, kleidete ich mich rasch an, schnürte mein Bündel, im Hause schliefen noch alle, und ehe eine Viertelstunde verging, wanderte ich schon durch die dunkle Kastanienallee das stille Dorf entlang. Als ich ins Freie kam, tönte das Lied noch immerfort, aber sehr fern.«

Hier hielt er plötzlich erschrocken inne, man hörte tief im Garten singen; die Luft kam von dort herüber; sie konnten deutlich folgende Worte vernehmen:

Hörst du nicht die Bäume rauschen
Draußen durch die stille Rund?
Lockt’s dich nicht, hinabzulauschen
Von dem Söller in den Grund,
Wo die vielen Bäche gehen
Wunderbar im Mondenschein,
Und die stillen Schlösser sehen
In den Fluß vom hohen Stein?

»Das ist das Lied!« – rief Otto und eilte ganz verwirrt den Berg hinab. Unten aber sang es von neuem:

Kennst du noch die irren Lieder
Aus der alten, schönen Zeit?
Sie erwachen alle wieder
Nachts in Waldeseinsamkeit,
Wenn die Bäume träumend lauschen
Und der Flieder duftet schwül
Und im Fluß die Nixen rauschen
Komm herab, hier ist’s so kühl.

Fortunat glaubte jetzt in dem Grunde, woher der Gesang kam, Kordelchen zwischen den mondbeglänzten Gebüschen zu erkennen. – Dann wurde auf einmal alles still, es war eine verlockende Nacht, das Wetter leuchtete von fern, und die wechselnden Schatten der Bäume schwankten verwirrend über den Steinen und Klüften.