Fünftes Kapitel

Aber es blieb nicht lange so ungestört; ein Zufall, Mißverständnis, oder wie sonst der Mensch des Himmels Führung oder sein eigenes Ungeschick nennen mag, stellte unerwartet alles anders auf Hohenstein.

Es war ein schwüler Nachmittag, die Blätter im Garten rührten sich kaum, der Amtmann war auf der Bank vor der Haustür eingeschlummert, Walter schrieb Briefe im Hause, Fortunat hatte sich mit einem Buche ins Gras gestreckt, und ließ es sich vor der weiten Aussicht gern gefallen, daß die leise Luft ihm das Buch verblätterte. Florentinen wurde ganz wehe in dieser Stille, sie mußte immer etwas zu schaffen haben; so schlich sie sich heimlich nach dem Wald, um für den Abend Erdbeeren zu pflücken, die Walter für sehr gesund hielt, weil er sie gern aß. Fortunat sah sie mit ihrem Körbchen unten aus dem Dorfe gehen, er warf sein Buch weg und folgte ihr, konnte sie aber im Walde nicht wiederfinden.

Florentine war unterdes, bald sammelnd, bald naschend, von Strauch zu Strauch geschlendert und so unvermerkt an die Ruine der gräflichen Stammburg gekommen. Überrascht sah sie in der Einsamkeit an den halbzerfallenen Mauern, Toren und Fensterbogen empor; steinernes Bildwerk, das von der ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Grase zerstreut, aber der Frühling hatte den verlassenen Berg wieder bestiegen und spielte fast wehmütig in dem stillen Hause. Seltsame Sagen gingen in der Gegend von diesem einsamen Ort. Die Hirten hörten oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wunderschöne, bleiche Frau sollte sich manchmal dort in dem ausgebrochenen Fenster sehen lassen. – Florentine war noch nie allein hier gewesen, jetzt verlockte sie der eigene Reiz des Grauens, sie betrat erst vorsichtig und zaudernd, dann immer kecker die kühlen, von oben verschatteten Hallen. Durch die Mauerlichkeiten blickten zuweilen die Täler schillernd aus der sonnenhellen Tiefe herauf, nur hin und her sang ein Gebirgsvogel mit fremdem Schall, und verstörte Eidechsen fuhren raschelnd unter das Unkraut, daß sie unwillkürlich zusammenschrak.

Jetzt kam sie in den innern Burghof, da stand ein wilder Kirschbaum in voller Blüte, dunkelrote Blumen glühten zwischen den Steinen, einzelne Schmetterlinge flatterten ungewiß in der trüben, brütenden Schwüle; und als sie plötzlich um den Pfeiler trat, sah sie eine schöne, bleiche Frau in einem seltsamen, himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Rasen sitzen, die wandte sich nicht und kämmte schweigend ihr lang herabwallendes, rabenschwarzes Haar. – Florentine blickte noch einmal scharf hin, dann, vom Entsetzen überwältigt, ergriff sie die Flucht.

Aber wie es oft in ängstlichen Träumen geht, sie verfehlte in der Hast die rechte Pforte; aus einem Zwinger in den andern rennend, glaubte sie sprechen zu hören, die Stimmen kamen immer näher, sie konnte den Ausgang nicht finden. Auf einmal standen zwei fremde Männer vor ihr in abgetragenen Ritterwämsern, Pickelhauben auf den Köpfen. Der eine wollte sie am Körbchen festhalten, in der Todesangst ließ sie ihm fliehend die Beeren und hörte sein schallendes Lachen hinter sich.

Wie atmete sie tief auf, als sie endlich Gottes freien Himmel wiedersah! Der erste, der ihr begegnete, war Fortunat. Atemlos, mit heftig klopfendem Herzen flog sie an seine Brust, er drückte das schöne Kind fester an sich und fühlte einen flüchtigen, brennenden Kuß auf seinen Lippen. – In demselben Augenblicke aber war auch Walter, der sie zu suchen schien, neben ihnen aus dem Gebüsch hervorgetreten. Florentine besann sich schnell wieder, strich die Locken aus der heißen Stirn und reichte ihm die Hand hin, um ihr über die letzten Trümmer herabzuhelfen.

Nun erzählte sie in lebhafter Aufregung, und oft noch scheu zurückblickend, ihr wundersames Abenteuer. Walter war still und schien nur halb hinzuhören. Fortunat wollte sogleich in die Burg zurück, um die bleiche Frau zu sehen, aber Florentine gab es durchaus nicht zu. Während sie aber noch stritten, stutzte sie plötzlich und wies dann ganz erstaunt nach dem Tale hinaus. Dort wurde fern am Saume des Waldes ein abenteuerlich bepackter, langsam einherziehender Wagen sichtbar, ihm folgte ein seltsam gekleidetes Mädchen zu Pferde in blauem Gewand, mit dunkelem, fliegenden Haar, mehrere Männer, grüne Zweige auf ihren Hüten, schritten rüstig nebenher; unter ihnen erkannte man sogleich die beiden Burgkobolde wieder, deren Pickelhauben weit in der Sonne funkelten. Ein fröhlicher Chorgesang schallte von dem Zuge durch das Grün herauf. – »Reisende Komödianten!« rief Fortunat lachend, »nun bedarf es keiner Untersuchung weiter, das waren die Spukgeister, der Weg kommt gerade von der Burg.«

So traten sie nun alle beruhigter den Rückweg nach Hohenstein an. Florentine, die sich völlig wieder erholt hatte, lachte jetzt selber mit; dann wandte sie sich noch einmal nach den Blütentälern, in die sich die künstlerischen Wandervögel gesenkt. »Es geht doch nichts übers Reisen«, rief sie fröhlich aus, »wenn ich so manchmal im Sommer recht früh erwache und höre unten aus den Dörfern die Hähne krähen oder ein Posthorn von fern über den Garten herüber, da wünsch‘ ich mir oft, ich wäre ein Mann und könnte auch so mit in die Welt hinaus.« – »Ich meine«, fiel hier Walter etwas grämlich ein, »man müsse erst sich selbst und die kleine Welt um sich herum recht verstehen gelernt haben, ehe man sich weiter umsieht, und das Reisen zieme überhaupt nur dem reiferen Alter.« – Fortunaten ärgerte der Schulmeisterton. – »Gerade umgekehrt«, rief er aus, »nur die Jugend versteht recht aus Herzensgrunde die Schönheit der Welt mit ihren morgenroten Gipfeln und kühlen Abgründen und funkelnden Auen im Grün, und malt es alles fresko nach, daß das Alter einst sich daran erfrische, wenn draußen die Blätter fallen und die sinkende Herbstsonne die Schildereien noch einmnal wunderbar beleuchtet. Während dein sogennantes reifes Alter vom Schifflein sorgsam die Tiefe mit dem Senkblei mißt, sitzt die Jugend über Bord geneigt, und sieht ihr eignes weinbekränztes Haupt in der klaren Flut und hört die Glocken der versunkenen Stadt aus der Tiefe heraufklingen. Ja, glaubt nur, die Welt ist wie eine eigensinnige Schöne, die nur in jungen Augen sich mit ihrem fröhlichsten Schmucke spiegeln mag, für Klugheit und Kenntnisse gibt sie nur Brot, für Liebe und rechte Freude an ihr aber wieder Freude und Liebe.«

So waren sie vor der Amtmannswohnung anglangt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten bereits die Bäume vor dem Hause, unter denen die Amtmannin schon wieder den Tisch gedeckt hatte. Ein jeder machte sich’s in der Abendkühle behaglich bequem, und Florentine mußte, ausruhend, ihre Burggeschichte nochmals umständlich erzählen. Nur Walter fehlte. Auf einmal trat er, ganz reisefertig, mit dem Amtmann aus dem Hause. »Schlechte Neuigkeit«, sagter der letztere, »Walter hat dringende Briefe bekommen, er muß in die Stadt und will noch heut reisen, um die nächtliche Kühle zu benutzen.« – Die Amtmannin machte besorgt Einwendungen gegen das gefährliche Reisen in der Nacht, Florentine ereiferte sich über die Geschäfte, die sie von jeher als eine unbekannte, feindliche Macht betrachtete, aber Walter blieb unerschütterlich und nahm, auch von Fortunaten, schnell Abschied. Ganz zuletzt wandte er sich noch einmal zu diesem, als wollt‘ er ihm etwas sagen, schüttelte ihm aber nur rasch die Hand und ging schweigend fort. – Fortunat begleitete ihn noch heraus bis zu seinem Pferde, dem Florentine den Hals streichelte und, als es dann beim Aufsteigen unruhig wurde, schnell nach der Haustür zurücksprang. »Herrje!« sagte er heimlich zu Waltern, »Was machst du da für ein langes Gesicht! Und überhaupt, warum willst du gerade heut noch fort? die Geschäfte sind’s ja doch nicht.« – »Ich will nicht stören«, entgegnete Walter empfindlich, »du bleibst ja doch noch längere Zeit hier, ich sag‘ dir’s vielleicht ein andermal, leb wohl!« – Hiermit gab er seinem Pferde die Sporen und war bald zwischen den Bäumen verschwunden. – »O langweilige Welt!« rief Fortunat ihm nachsehend aus, »wie glücklich könnte er sein mit seinem schlanken Reh im schönen grünen Wald, wenn er frisch vom Herzen weg liebte, anstatt den Talar von Melancholie, Eifersucht und anderen hergebrachten Liebestücken durch alle Paradiese jämmerlich hinter sich nachzuschleppen!«

Als er in den Garten zurückkam, bermerkte er auf der Linde vor dem Hause zwei zierlich beschuhte Füßchen zwischen den Zweigen. Es war Florentine; sie saß im Baume, mit den Füßchen baumelnd, während sie Waltern nachschaute, der sich soeben in der Dämmerung zwischen Wiesen und Kornfeldern verlor. Das heitere Mädchen schien in ihrer Unbefangenheit von seinem Mißmute gar nichts zu ahnen.

Fortunat aber ging allein und unruhig durch den Garten. »Ich werde doch kein Narr sein und mich verlieben?« sagte er zu sich selbst »Und doch bin ich auf dem nächsten Wege dazu. Und hinter mir langsam und feierlich der abgemagerte Geist des sich selbst erschossenen Walters, und vor mir ein Zug von Tanten und Basen, und gute Wirtschaft, und Kindergeschrei, und ein Haus machen«

Der Angstschweiß trat ihm ordentlich bei diesen Gedanken vor die Stirn. Er rannte eiligst nach dem Hause zurück und eröffnete dort ohne weiteres der erstaunten Familie, wie er zwar heute gerade keine Briefe aus der Stadt bekommen habe, aber eigentlich ebenfalls schleunigst fortreisen müsse; daß er daher für Speis und Trank und alle die schöne, stille, herrliche Zeit aus Herzensgrund Dank sagen und hiermit sogleich schon heut Abschied nehmen wolle, da er noch vor Tagesanbruch weiterzuziehen gedenke. Florentine wurde bei diesen Worten ganz rot, sie setzte sich schnollend auf eine entfernte Bank, und Fortunat glaubte zu bemerken, daß ihre abgewendeten Augen von Tränen glänzten. Auch die andern machten ihm durch ihre aufrichtige Trauer das Herz schwer, denn sie hatten sich alle in der kurzen Zeit an seine fröhliche Weise gewöhnt. Er mußte versprechen wiederzukommen und ihnen noch ausführlich von den Ländern und Städten erzählen, wohin seine Reise ging; so saßen sie noch lange plaudernd vor der Haustür beisammen. Beim Schlafengehen endlich flüsterte ihm Florentine noch heimlich zu: »Und ich werde doch auf sein, eh‘ Sie wegreiten!«

Er hatte alle Fenster des Schlafzimmers offen gelassen, um den Morgen nicht zu verschlafen. Da war es ihm, als gingen draußen fröhliche Stimmen unter den Fenstern auf und nieder und riefen immerfort in seinen Schlummer hinein: »Frisch auf, schlafe nicht mehr! Wunderbare Berge und Gründe, schimmernde Fernen, frisch auf! Und schöne, helle, fröhliche Zeit!« – Er sprang endlich empor und blickte durchs Fenster. Es war noch Nacht; dennoch kleidete er sich in langentbehrter Reiselust sogleich an, ging durch das stille Haus an Florentinens Schlafkammer vorüber und machte noch schnell einen Gang durch den Garten. Es war in der Nacht ein warmer Regen gefallen, die Nachtigallen schlugen überall aus den erfrischten Büschen, hin und her bellten Hunde fern in den Dörfern, sonst lag alles noch still im prächtigen Mondschein unter dem weiten, gestirnten Himmel. – Als er zurückkehrte, hörte er unten im Hause leise ein Fenster öffnen, es war Florentine, die sich in leichter Morgenkleidung hinauslehnte. »Zisch aus! zisch aus!« rief sie ihm entgegen, »ich bin früher wach gewesen als Sie!« Dann, sich im Garten umsehend, sagte sie, »das ist gerade wie damals, da Sie hier das Ständchen brachten und wir Sie zum erstenmal sahen. – Nun wird es hier wieder recht einsam sein, und ich wollte Sie eben nur noch bitten, daß Sie auf Ihrer Reise von sich hören lassen und manchmal an Waltern schreiben, der Ihnen außerordentlich gut ist und gern von fremden Ländern hört.« – Fortunat versprach es und bat sie um einen Kuß zum Abschiede. – »Warum nicht gar!« rief das Mädchen lachend, indem sie ihm schnell die Hand hinausreichte, dann schloß sie geschwind das Fenster, und er sah sie nicht wieder. Fortunat warf sich nun ungesäumt auf sein Pferd und ritt durch die hohe, dunkle Allee an dem Gittertor des Gartens und dem stillen Dorfe vorüber. Draußen auf dem Berge aber wandte er sich noch einmal zurück. »Gesegnet«, rief er, »du schönes Waldtal, in deiner glückseligen Abgeschiedenheit, möge der Sturm der Welt dich nie verstören!«