Der hübsche Fuß.

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Wir kennen aus der vorhergehenden Novelle die reizende Viktoria de la Grange. Sie war sechzehn Jahre alt, als sie eine ebenso sonderbare, wie heftige Leidenschaft in eines jungen Mannes Herzen hervorrief. Ein ihr Unbekannter, der gar nicht zu den Besuchern des Hauses gehörte, verliebte sich in sie, ohne sie zu kennen, fast ohne sie gesehen zu haben. Er hieß de Saintepallaie und war ein junger Gelehrter, der große Kenntnisse besaß und sich schon ausgezeichnet hatte. Obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, lebte er sehr zurückgezogen und allein für sich. Nur abends machte er einen Spaziergang, nachdem er den ganzen Tag studiert hatte. Saintepallaie hatte reine Sitten, gesunde Sinne und besaß ungewöhnliche Energie. Er liebte die Frauen, fürchtete sie aber und mied sie teils aus Gewohnheit, teils aus Vernunftgründen. Und doch gab es vielleicht keinen Menschen auf der Erde, auf den Schönheit einen größeren Eindruck machte, als ihn. Der Anblick einer schönen Frau brachte ihn in Ekstase, aber dann dachte er an die unangenehmen Seiten eines Liebesverhältnisses und hatte die Energie, zu entsagen; zweifellos, weil er noch nicht der Frau begegnet war, die gerade ihn gefangen nehmen sollte.

Saintepallaie hatte einen besonderen Geschmack. Ein schönes Gesicht gefällt jedem, und überall, außer in Spanien, macht eine schöne Büste Eindruck, eine elegante, schlanke Taille und eine hübsche Hand gefielen auch ihm, der Reiz aber, für den er am meisten empfänglich war und der in ihm jenes unwillkürliche Beben hervorrief, das alle Fibern in Bewegung versetzt, war ein schöner Fuß. Nichts ging ihm über den verführerischen Zauber eines solchen, der allerdings die Feinheit und die Vollkommenheit aller anderen Reize anzuzeigen scheint. Übrigens hatten ihn nicht Vernunftsgründe auf diesen Geschmack gebracht, sondern ein gewisser Instinkt, der ihn schon in frühester Jugend dahin geführt hatte. Niemals hatte er, ohne in Zittern zu geraten, einen hübschen Frauenschuh sehen können, und wenn er Frauen begegnete, die nicht hübsch waren, aber elegante, hübsche Fußbekleidung trugen, so waren sie ihm nur aus diesem Grunde interessant.

Eines schönen Sommerabends ging er durch die Rue Dauphine und sah vor dem Tor eines Hauses eine hübsche Händlerin sitzen, die einen niedlichen, kleinen Fuß hatte und dies wußte, denn sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen so da, daß man ihre Füße, die feinen Gelenke und den unteren Teil der zierlichen Waden bewundern konnte. Der Fuß stak in weißen Schuhen und war so klein, so wohlgeformt und appetitlich, daß selbst die Gleichgültigsten nicht ohne Bewunderung vorübergehen konnten. Saintepallaie blieb bei diesem Anblick voller Staunen unbeweglich stehen, doch schämte er sich nach einiger Überlegung und setzte seinen Spaziergang fort. Kaum sechs Häuser weiter kehrte er wieder um und ging vor dem Hause hin und her, solange der hübsche Fuß sich sehen ließ. Die Händlerin ging ins Haus hinein und verschwand, aber Saintepallaie war von dem Anblick so betroffen worden, daß er ihn nicht vergessen konnte. Er kam jeden Abend wieder, bis ein noch reizenderer Gegenstand ihn anzog.

Eines Vormittags spazierte er durch die Rue Saint-Denis, als er einer jungen Dame begegnete, die in die Kirche St. Sépulcre ging und ihm hübsch vorkam. Nachdem er flüchtig ihre verführerischen Gesichtszüge gemustert hatte, warf er einen Blick auf sein Lieblingsorgan, und was sah er? Die Natur hatte Madame Le** in hervorragender Weise begünstigt: in einem zierlichen, silbergestickten Schuh stak ein Füßchen, das einer Puppe zu gehören schien. Die Dame, die ihn besaß, hatte einen leichten, sinnlichen Gang. Saintepallaie war geblendet und folgte entzückt und bezaubert ihren Schritten. Er konnte sich von dem göttlichen Weibe erst losreißen, als sie wieder ihr Haus betrat. Er merkte sich dasselbe und verfehlte nicht, jeden Tag wieder vor demselben auf- und abzugehen, bis er den bestrickenden Fuß erblickte. Davon begeistert, verfaßte er, obwohl er nicht verliebt war, ein Gedicht, das ich mir leider nicht habe verschaffen können, und schickte es der Dame, ohne sich zu nennen. Sie nahm es aber, da es von einem Unbekannten kam, sehr Schlecht auf, was Saintepallaie ein wenig abkühlte.

Ein anderes Mal sah er bei einem Schuster in der Rue des Vieux Augustins einen so wohlgeformten Schuh, dass er neugierig fragte, für wen er gemacht sei. Man nannte ihm die Marquise von M…i. Nun ließ es ihm keine Ruhe, bis er diese Dame gesehen hatte. Er fand sie reizend, aber sie war verheiratet, und Saintepallaies Tugendgefühl widersprach es, sich an eine Person zu fesseln, die er nicht heiraten konnte. Aber den Schuster bat er, ihm das Vergnügen zu machen, die Schuhe der Dame zur Anprobe zu überbringen, sie aber dann unter dem Vorwande einer kleinen Änderung wieder mitzunehmen. Er begleitete den Schuster als dessen Gehilfe, um der Einweihung des hübschen Schuhes sicher zu sein, und ließ sich dann ein gleiches Paar anfertigen, daß er höchst freigebig bezahlte. Diese Reliquie hütete er dann auf das sorgsamste.

Als er eines Abends durch die Rue de l’Arbresec ging, sah er ein hübsches junges Mädchen, ungefähr in der Stellung der Händlerin der Rue Dauphine vor einer Haustür sitzen. Es hatte nur kleine Pantoffeln an, und die reizendsten kleinen Füßchen waren fast ganz sichtbar. Saintepallaie bleibt unbemerkt neben ihr stehen und geht dann nach einigen Minuten weihevoller Betrachtung an ihr vorüber. Plötzlich bemerkt er, daß die schöne Person in lässiger Stellung auf ihrem Stuhle eingeschlafen ist. Da kann er der Versuchung nicht widerstehen, sich des verführerischen Kleinods zu bemächtigen, das sich seinen Blicken darbietet. Geschickt streckt er seine Hand aus, zieht ihr einen Pantoffel aus, steckt seinen Schatz in die Tasche und geht davon. Die Schöne erwacht, sucht den Pantoffel und stößt, als sie ihn nicht findet, einen Schrei der Überraschung und des Schreckens aus, der ihre Mutter herbeiruft.

»Was hast du?«

»Man hat mir meinen Pantoffel gestohlen.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vom Fuß weg?«

»Nun ja doch, Mama.«

»Ei, Solche Unverschämtheit!«

Die Mutter zürnt der Tochter, da sie doch auf jemand böse sein mußte. Ändern Tages ging Saintepallaie wieder an dem Hause vorüber, um die Schöne bei Tageslicht zu sehen, und fand sie entzückend.

»Soll ich sie heiraten?« überlegte er bei sich, »ich meine, ich würde sie glücklich machen, indem ich zugleich mein Glück begründe. Sie scheint mir gut erzogen zu sein, obwohl von einfacher Herkunft, und ist voller Anmut. Das muß überlegt werden …« Das tat er denn auch den ganzen Tag über. Am Abend ging er zur gleichen Stunde wieder in dem Viertel spazieren und näherte sich dem Hause der jugendlichen Schönen. Einen Augenblick später erschien auch sie und nahm ungefähr dieselbe Stellung ein, wie am Abend vorher.

»Stellen sie sich dahin, Julien,« sagte sie dann zu einem der Ladenkommis, »wir wollen sehen, ob er wiederkommt.«

Diese Worte hörte Saintepallaie, der sich im Flur des Nachbarhauses versteckt hielt. Nach einigen Sekunden antwortete Julien:

»Das kann nur ein Nebenbuhler gewesen sein, Fräulein Agathe. Ich finde es begreiflich, daß man Sie liebt, Sie sind so liebenswürdig, daß man gar nicht anders kann, ich fürchte bloß, daß der Bursche, der Ihnen den Pantoffel genommen hat, dazu ermutigt worden ist …«

»Sie sehen Gespenster, Sie sind eifersüchtig. Ich sage Ihnen doch, daß ich ihn nicht kenne und ihn nie gesehen habe! Ich war halb eingeschlafen, fühlte etwas, konnte mir aber nicht denken, daß …«

»Sie hätten sofort schreien sollen!«

»Was wußte ich? Ich dachte zuerst, es wäre der Nachbar.«

»Ah! da haben wir’s!«

»Was wollen sie damit sagen? Wollen sie sich durchaus verhaßt machen, Herr Julien? Versprechen Sie mir, nur mich allein zu lieben!«

»Das habe ich schon hundertmal getan, und was hat’s geholfen? Sie sind so hübsch, daß ich stets in Unruhe bin.«

»Nun wohl, dann will ich Ihnen versichern, daß ich Sie selbst einem Prinzen vorziehen würde. Sind Sie nun zufrieden?«

»Ja, ja, schöne Agathe.«

»Aber ich möchte doch meinen Pantoffel wieder haben und wissen, ob es der Nachbar war …«

»Nein, gewiß nicht, es war ein Unbekannter.«

Als die Unterhaltung bis dahin gelangt war, trat Saintepailaie aus dem Hausflur heraus, näherte sich dem Pärchen und sagte:

»Ich will Ihr Liebesverhältnis nicht stören und Ihnen also mitteilen, daß ich getan habe, was Herrn Julien so eifersüchtig macht. Ich will ihm daher das Kleinod wieder zurückerstatten, schöne Agathe. Seien sie davon überzeugt, daß ich, hätte ich Ihr Liebesverhältnis nicht erfahren, nie auf die Gefühle Verzicht geleistet hätte, die Sie mir eingeflößt haben. Doch nun ziehe ich mich zurück. Sie brauchen nicht mehr eifersüchtig zu sein, Herr Julien; es ist heute das erstemal, daß ich mit dem Fräulein spreche. Ich wünsche Ihnen beiden alles Glück! Adieu.«

Damit ging er, ohne daß die beiden den Mut gehabt hätten, das Wort an ihn zu richten. Nach einigen Minuten ging Julien in den Hausflur. Da er dort niemand fand, schlug er die Tür zu und ging wieder zu seiner Geliebten. Saintepallaie hatte sich im Hausflur versteckt und die Tür wieder aufgemacht, so daß er das Gespräch des Liebespaares belauschen konnte.

»Ein recht liebenswürdiger junger Mann,« meinte Agathe.«

»Das wohl, aber ein wenig zu dreist.«

»Sie werden zufrieden sein, daß es nicht der Nachbar war!«

»Ich meine, mir wär’s lieber, wenn er es doch gewesen wäre … Gebe der Himmel, daß der da nicht wiederkehrt!«

»Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Julien, ich wiederhole es Ihnen, ich würde Sie einem Prinzen vorziehen.«

»Ich vertraue Ihrem Wort, Fräulein, Sie sind mir so teuer, daß ich es nicht überleben würde, wenn ich auf sie verzichten müßte.«

»Er war in dem Hausflur! … Also muß er unser Gespräch belauscht haben, Julien!«

»Er ist ein schlauer Fuchs!«

»Wir wollen vorsichtig sein und lieber leise sprechen.«

»Oh! Ich passe auf, ich lasse den Hausflur nicht aus dem Auge. Von dort aus muß er sie immer belauscht haben.«

In diesem Augenblick wurde er gerufen. Als Saintepallaie sah, daß Agathe allein war, näherte er sich ihr und fragte sie sanft:

»Lieben sie ihn?«

»Ja, mein Herr.«

»Dann werden sie mich nicht widersehen, denn ich achte Ihre Gefühle. Adieu, liebes Fräulein!«

Damit küßte er ihr die Hand und ging. Es spricht vieles dafür, daß er mit ein wenig Hartnäckigkeit den Sieg über Julien davongetragen haben würde, ohne Prinz zu sein: aber er hatte Grundsätze. Er entsagte lieber dem Vergnügen, das schöne Mädchen wiederzusehen, als daß er vielleicht eines Tages den Tod des armen Julien auf dem Gewissen gehabt hätte, der ein braver Junge zu sein schien, und daß er sich hätte vorwerfen müssen, die liebenswürdige Agathe zur Wortbrüchigkeit verleitet zu haben. Er beglückwünschte sich bald, sich aus ein solches Abenteuer nicht eingelassen zu haben, das nur traurige Folgen für ihn hätte haben können.

Als er eines Tages auf dem Boulevard du Temple spazierenging, bemerkte er in einem Garten eine entzückende junge Person: die Feinheit ihrer Züge, die Eleganz ihres Wuchses, die durch ein anliegendes Kostüm noch hervorgehoben wurde, und vor allem die tadellose Form seines Lieblingsreizes erfüllten Saintepallaie mit Bewunderung. Sein Herz war noch mehr getroffen als seine Sinne, er sah die junge Schöne nur verstohlen an und wagte nicht, ihr näherzutreten, aber er konnte sich nicht von ihr losreißen. Nach einigen Gängen in den Alleen des Gartens näherte sie sich der Schranke, die den Garten nach der Straße abschloß. Sie ließ sich nieder und legte ihre Füße auf einen Stuhl, so daß man sie in ihrer ganzen Schönheit bewundern konnte. Welch reizendes Naturspiel diese Füße, wie klein, graziös und elegant das Schuhwerk: ein Aschenbrödelschuh, gestickt und mit Silberschnüren auf den Nähten geschmückt, mit spitzem, ziemlich hohem Absatz, der aber so angebracht war, daß er die Schönheit des Fußes nicht beeinträchtigte, nach vorn zu verengte er sich zu der zierlichsten kleinen Form. Saintepallaie war außer sich, er ging hundertmal vorüber und kehrte hundertmal wieder zurück, um verstohlen einen Blick auf den hübschen Fuß zu werfen, einige Male hob er seine Augen auch höher, um das entzückende Gesicht seiner Besitzerin zu bewundern. Viktoria de la Grange, sie war es, und der Leser kennt sie, begann zu lesen und zwar mit einer Aufmerksamkeit, die Saintepallaie zugute kam. Wenn sie einmal durch eine unwillkürliche Lageveränderung ihren Fuß den gierigen Blicken Saintepallaeis entzog, so schien es ihm, als ob eine Wolke den sonnigen Glanz verdunkelte, der sich seinen Augen bot. So blieb er gefesselt stehen, bis Viktoria von ihrer Stiefmutter, ihrem Bruder und ihren drei Schwestern zu einem Spaziergang auf dem Boulevard aufgefordert wurde. Sie gingen um den Boulevard herum, und Saintepallaie folgte ihnen Schritt auf Schritt. Als sie wieder ins Haus zurückkehrten, da fühlte er, daß er verliebt sei, und die Erregung seines Herzens sagte ihm, daß die Schöne mit dem niedlichen Fuß ihm nicht nur eine flüchtige Neigung, sondern wahre Liebe eingeflößt habe.

Von da ab galten alle anderen Gegenstände seiner Bewunderung ihm nichts mehr, die Schöne vom Boulevard hatte alle verdunkelt … Aber wie konnte er sich Eingang in ihr Haus verschaffen? Er kannte niemand, der mit Herrn de la Grange bekannt war und ihn hätte einführen können. Inzwischen kam er aber alle Tage wieder und hatte oft die Freude, den Gegenstand seiner Begeisterung zu erblicken. Seine Leidenschaft wurde täglich stärker und stieg nach sechs Wochen auf einen Punkt, daß er keine Ruhe mehr hatte. Endlich wurde auch Viktoria auf ihn aufmerksam. Sie sprach darüber mit ihrer Stiefmutter und bemerkte ihr, daß sie ihn nicht übel fände und sich von seinen Huldigungen geschmeichelt fühle. Madame de la Grange schien den Worten ihrer Stieftochter nicht viel Beachtung zu schenken. Sobald sie aber allein war, beauftragte sie einen alten vertrauten Diener, sich nach dem jungen Mann zu erkundigen. Der Diener folgte Saintepallaie auf Schritt und Tritt, sah ihn in sein Haus treten, erkundigte sich nach seinem Namen, Vermögen, Ruf usw. und kehrte wohlunterrichtet zurück, um seiner Herrin Rechenschaft abzulegen.

Anderen Tages erschien Saintepallaie wieder zur gewohnten Stunde. Viktoria war allein im Garten. Sie kam jetzt auch immer regelmäßiger, ohne es vielleicht zu beabsichtigen. Als sie ihn erblickte, näherte sie sich unbefangen dem Gitter und prüfte sein Äußeres, soweit es angängig war. Er schien sie zu interessieren. Die Züge des jungen Mannes, besonders die Augen, erschienen belebt durch den Ausdruck von Bewunderung, mit der er sie anblickte. Viktoria hatte alle Muße, sich davon Rechenschaft zu geben, denn sie konnte ihn ungeniert in den Pausen ansehen, wo er die Augen senkte, um sie auf ihren Füßen ruhen zu lassen. Sie ging darauf zu Madame de la Grange, um sie davon zu benachrichtigen, daß der Unbekannte auf dem Boulevard spazierenginge, und fügte hinzu:

»Aber ich habe eine sonderbare Entdeckung gemacht, Mama, er sieht beständig meine Füße an!«

»Das ist ja eigentümlich! Das muß ich selbst sehen … Sie trat mit ihrer Tochter ans Gitter und hatte Gelegenheit, dieselbe Bemerkung zu machen. Dann promenierten sie im Garten, und Madame de la Grange sagte mit fröhlicher Miene zu ihrer Stieftochter:

»Der junge Mann heißt de Saintepallaie, er ist reich, unabhängig und bekleidet ein ehrenvolles Amt, das er tadellos ausfüllt, er führt einen einwandfreien Lebenswandel, wenn er dich liebt, so wollen wir ruhig abwarten, bis er seinen Besuch macht.«

»Oh, Mama! Sie kennen ihn?«

»Ich weiß von ihm nur, was ich dir eben gesagt habe. Darauf wollen wir uns vorläufig beschränken.«

»Sie haben recht! Es würde sich für mich nicht passen, wenn ich mich mit einem Unbekannten beschäftigte.«

Indessen beachtete Viktoria ihren Bewunderer nach diesem Gespräch etwas aufmerksamer, als vorher, und Madame de la Grange fuhr fort, sie über das Ergebnis ihrer Nachforschungen auf dem laufenden zu halten.

So vergingen drei Monate, als folgendes sich ereignete. Viktoria hatte seit einiger Zeit schon bemerkt, daß ihr Schuster sich in Eleganz und reicher Ausstattung ihres Schuhwerks plötzlich selbst übertraf, und war davon überrascht. Sie hatte ferner bemerkt, daß sie häufiger, als früher, neue Schuhe von ihm geliefert bekam, ohne daß die Rechnung größer wurde. Sie sprach darüber mit ihrer Stiefmutter, die dazu lächelte und bemerkte:

»Dahinter müssen wir kommen …«

Hortense ließ den uns bereits bekannten Schuster in der Rue des Vieux Augustins, der ihr Lieferant war, insgeheim kommen und verlangte von ihm die Wahrheit zu wissen,

»Es ist richtig,« antwortete er, »daß ich Ihnen seit einiger Zeit mehr liefere, als sie bezahlen. Da ist aber ein junger, sehr liebenswürdiger Herr, der mir die Form und Farbe der Schuhe vorschreibt, sie bezahlt und mir versichert, daß er Fräulein de la Grange, die Älteste, zu heiraten hofft.«

»Dann müssen sie aber mit jemand hier im Hause im Einvernehmen sein?«

»Da ich nichts Böses dabei fand, so habe ich Ihre Zofe Margarete dazu überredet, mich etwas verdienen zu lassen, ohne irgend jemanden zu schädigen, indem sie die Schuhe des Fräuleins, die dieses schon getragen hat, gegen neue umtauscht.

»Ohne Belohnung?«

»Gewiß, Madame, ohne irgendwelche Belohnung. Sie gab mir die alten, die ich dem freigebigen Herrn einhändigte. Oh! wenn sie sie bei ihm sehen würden! Er hat alle die getragenen Schuhe des Fräuleins auf Regale gestellt und mit Gaze bedeckt, wie man es mit Uhren tut, um jedes Stäubchen davon abzuhalten, und betrachtet sie mit einer Ehrfurcht, die mich rührt, Madame.«

Hortense, die nun wußte, woran sie war, entließ den Schuster und befahl ihm, weder ihrer Tochter noch der Zofe ein Wort davon zu sagen. Da sie ihm nichts über die Fortsetzung seiner Tätigkeit gesagt hatte, so arbeitete er in gewohnter Weise weiter, ohne von dem Gespräch Saintepallaie etwas zu sagen, da er von diesem Vorwürfe über seine Indiskretion hören zu müssen fürchtete.

Viktoria schloß aber in Zukunft ihre Schuhe so gut ein, daß man ihr die getragenen nicht mehr wegnehmen konnte, wenn sie es auch nicht verhindern konnte, daß ihr immer mehr neue geliefert wurden. Saintepallaie hatte ihr ein Paar anfertigen lassen, die von höchster Eleganz waren, sie waren von rosafarbenem Seidenmoiré, mit grünen Absätzen und Kappen und reicher Stickerei. Viktoria fand sie nach ihrem Geschmack und zog sie an, so daß Saintepallaie am nächsten Tage schon ihre Füßchen darin bewundern konnte. Als er sie aber zurückhaben wollte, wurde ihm mitgeteilt, daß sei nicht mehr möglich, da das Fräulein jetzt die Schuhe einschlösse. Der junge Liebhaber wurde durch solche Hindernisse nur noch mehr entflammt und versprach dem Schuster eine hohe Belohnung, wenn er die Schuhe eintauschen könnte. Aber alles war vergebens, und Margarete verlor ihre Zeit und Mühe. Saintepallaie war ärgerlich über ein solches Mißgeschick, das ihn hinderte, seine Sammlung zu vervollständigen, wußte aber nicht, wie er es anstellen sollte, um sich eines Schatzes zu bemächtigen, dem der Fuß seiner Angebeteten einen so hohen Wert verlieh. Mehrere Tage ging er auf dem Boulevard spazieren, ohne an Viktoria die reizenden Schuhe zu bemerken. Endlich nach vier oder fünf Tagen trug sie sie zum zweiten Male. Diesmal sollte sein Wunsch erfüllt werden. Viktoria nahm ihren Platz am Gitter und setzte den Fuß auf den unteren Querbalken. Es war an einem Septemberabend gegen 7 Uhr und schon etwas dunkel. Saintepallaie nutzte diese Umstände aus: er war hinter einem Baum versteckt, bückte sich, ergriff einen der Schuhe am Absatz und zog ihn ohne Mühe von dem reizenden Fuß, den er schmückte, herunter, indem er dabei ausrief: »Amor! Gestatte du mir diesen Raub!« Viktoria stieß einen leisen Schrei aus. Sie glaubte, ein Gassenjunge spielte ihr diesen Streich, um die Schnalle zu rauben, die sehr schön war. Als sie aber aufgestanden war, bemerkte sie ihren Anbeter, der mit hastigen Schritten davoneilte. Sie war ein wenig ärgerlich über sein unehrerbietiges Gebaren, ohne aber gerade in Zorn zu geraten, und hinkte davon, um gleich ihrer Stiefmutter über den Vorfall zu berichten, die darüber äußerst erstaunt zu sein schien. Inzwischen war aber der alte Diener, der von Madame de la Grange beauftragt worden war, Saintepallaie stets zu beobachten, und der den Raub mit angesehen hatte, dem jungen Manne nachgeeilt, hatte ihn an der Ecke der Rue du Temple eingeholt und ihn zur Rede gestellt:

»Mein Herr, wollen sie mir gefälligst sagen, was Sie mit dem Schuh unseres Fräuleins anfangen wollen ?«

»Oh! mein Lieber, ich werde ihn ihr wiedergeben, aber nur ihr persönlich. Er ist so schön, daß ich vorher ein Modell davon anfertigen lassen will. Sie kennen den Schuster Ihrer Herrin, gehen sie mit mir zu ihm. Der Diener machte Schwierigkeiten, aber Saintepallaie benutzte einen günstigen Augenblick, als gerade viel Wagen vorüberfuhren, um zu verschwinden, nachdem er seine Börse in den Hut des Dieners geworfen hatte.

Am nächsten Tage schrieb er folgenden Brief an Fräulein de la Grange:

»Mein Fräulein,

Meiner gestrigen Kühnheit füge ich heute eine neue hinzu. Aber sie müssen mir beide verzeihen, wenn Sie nicht einen Menschen zur Verzweiflung bringen wollen, der nur lebt, um Sie anzubeten. Der Grund für die beiden Handlungen, derenwegen ich Sie um Verzeihung bitte, ist ein zu ehrenwerter, als daß Sie darüber beleidigt sein könnten. Die Glut meiner Gefühle für Sie nimmt mir die Vernunft, aber die Hochachtung, die damit verbunden ist, und meine tiefe Ergebenheit für Sie müssen mir Ihre Verzeihung gewinnen. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, im Besitz eines ehrlich erworbenen Vermögens und eines ehrenvollen Amtes. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, mich Ihnen nähern zu dürfen, damit Sie sich ein Urteil bilden können, ob mein Äußeres Ihnen zusagt. Meine Gefühle für sie, mein verehrtes Fräulein, sind Ihrer würdig. Wenn ich mich Ihnen gegenüber so eigentümlich aufgeführt habe, so müssen Sie dafür den unbeschreiblichen Zauber verantwortlich machen, der von Ihrer Person ausgeht und mich besiegt hat. Wollen sie mir zum Verbrechen anrechnen, wenn ich lebhafter als ein anderer die Wirkung Ihrer Reize empfinde? Ich habe ihnen nicht widerstehen können, und deshalb mußte ich mein Herz erleichtern, das war unbedingt notwendig.

Ich bin, verehrtes Fräulein, in tiefster Ehrerbietung Ihr sehr ergebener Diener

D. L. C. de Saintepallaie.«

Adresse: »An Madame de la Grange, in der Nähe des Boulevard du Temple.«

»P. S.«

»Madame,

»Ich wage es, diesen Brief an sie zu richten, und bitte Sie, mir einige Augenblicke Gehör zu schenken. Sie sind eine liebevolle Mutter, und ich bete Ihre Tochter an. Deshalb verdiene ich wenigstens, von Ihnen gehört zu werden.

Ich bin mit vorzüglicher Hochachtung, Madame, D. L. C. de Saintepallaie.«

Nachdem Hortense diese Zeilen gelesen hatte, händigte sie sofort, ohne erst ihrer Stieftochter davon Mitteilung zu machen, dem Lakeien des Anbeters folgenden Brief mit ihrer Antwort ein:

»Mein Herr,

Ich willige darin ein, Sie zu empfangen. Ich habe Ihnen vorläufig nichts weiter zu sagen, das werden sie begreiflich finden. Ich erwarte Sie also und bin, mein Herr, Ihre ergebenste

Hortense de la Grange
geborene de Fouchi.«

Saintepallaie fand den Ton des Briefchens etwas schroff und wußte nicht, was er davon halten sollte. Doch begab er sich sofort zu Madame de la Grange. Der alte Diener, den er bereits kannte, führte ihn bei ihr ein.

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Madame.«

»Gut. Verständigen wir uns miteinander, mein Herr … Es scheint, Sie lieben Fräulein de la Grange?«

»Ich bete sie an, Madame.«

»Das Glück des jungen Mädchens ist, seitdem ich vor zehn Jahren ihren Vater geheiratet habe, meine ständige Aufgabe, sie ist mir so teuer, wie wenn sie mein eigen Fleisch und Blut wäre. Um ihr Glück zu begründen, bin ich auf folgenden Gedanken verfallen: ich lasse in meinem Haufe eine Gesellschaft liebenswürdiger junger Leute zusammenkommen, die sich bei mir in ehrenhafter Weise vergnügen, nur zu dem Zweck, damit Viktoria, ihre Schwestern und auch ihr Bruder eine Wahl fürs Leben treffen können, die ihr Glück auf einer festen Basis begründen soll. Ich sah für Viktoria, bereits eine andere günstige Partie voraus, als sie anfingen, sich in der Umgebung unseres Hauses bemerkbar zu machen durch ein außergewöhnliches Betragen, ich denke, Sie werden den Ausdruck nicht zu hart finden. Der junge Mann, auf den, wie ich dachte, Viktoria ihr Auge werfen würde – denn, mein Herr, sie soll selbst die Wahl treffen, nicht ich – ist reich, liebenswert, sittenrein, sein Charakter, sein Geist, sein Herz, alles ist vorzüglich, besonders seine Denkungsart würde eine Frau glücklich machen können, er ist kein Leichtfuß, den nur die Sinne mit sich fortreißen. Wenn sie nun denken, mein Herr, daß Sie für meine Tochter eine bessere Partie sind, dann erklären sie sich. Ich werde meine Handlungsweise nach dem richten, was sie mir sagen werden, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß nicht ich es bin, die zu bestimmen hat, sondern daß Sie von Viktoria vorgezogen und wahrhaft geliebt werden müssen, um deren Hand zu erhalten.«

»Ihre Sprache, Madame, so sehr sie auch von der Vernunft eingegeben ist, überrascht mich und schüchtert mich ein! Wie kann ich es wagen, von mir zu behaupten, ich besäße glänzendere Eigenschaften, als der Mann, von dem Sie mir soeben ein so blendendes Porträt gezeichnet haben? Eines aber schwöre ich Ihnen, daß ich bei gleicher Ehrbarkeit, wie der junge Mann, Viktoria millionenmal mehr liebe, als er! Ihr Fräulein Tochter ist in meinen Augen ein himmlisches Geschöpf, das mein ganzes Wesen gefangen genommen hat: Ich bete Sie und alles, was sie umgibt, an, was sie berührt, ist ein Kleinod für mich. Ach, Madame, es gilt mein Leben, daß ich von ihr geliebt werde, ich würde sterben, wenn ich den Gegenstand meiner Liebe und Verehrung in den Armen eines anderen sähe! Wie soll ich Ihnen ausdrücken, welche Gefühle sie mir einflößt! Dazu bin ich außerstande, dazu fehlen mir die Worte! Wenn mir das Glück zuteil werden sollte, sie mir zu erobern, dann wird sie von mir vergöttert werden, wie es nie einer Frau geschah! Meine unauslöschliche Liebe zu ihr würde um meine Gottheit den Zauber verbreiten, den mein Herz empfindet, den ich fühle, ohne Worte dafür zu haben! … Wenn ich nur an sie denke, schwillt meine Seele in köstlichem Entzücken dahin, wenn ich mir vorstelle, daß ich sie gewonnen hätte, daß sie mein wäre, dann gibt mir meine Phantasie, erhitzt durch die Regungen meines Herzens, tausend reizende, köstliche Gedanken ein, die ich ihr sagen möchte. Ein Wort, ein Lächeln von ihr würde mich glücklich machen. Und sollte sie mich hassen – bisweilen denke ich es –, dann würde meine gefühlvolle Seele sie doch noch anbeten, anbeten sogar ihre Ungerechtigkeit und ihre Grausamkeit, und ich würde sie zu rühren und andere Gefühle in ihr zu erwecken wissen. Sollte sie Mißbrauch treiben mit ihrer Gewalt über mich und meine Liebe, so wäre ich darüber doch nicht unglücklich, und sie würde zufrieden mit mir sein! Was würde es mir ausmachen, wenn sie ungerecht zu mir wäre, ich würde sie dennoch vergöttern!«

»Sie sind liebestrunken,« unterbrach ihn Madame de la Grange lächelnd, »ein solcher Zustand flößt nicht viel Vertrauen ein.«

»Verzeihung, Madame, die Ohnmacht, Ihnen meine Gefühle zu schildern, läßt mich so sprechen.«

»Solche zärtlichen Männer werden manchmal die Schlimmsten Tyrannen, Herr de Saintepallaie!«

»Verehrte Frau, alles, was ich Ihnen sagen könnte, um Ihnen zu beweisen, daß ich das nie sein werde, würde Ihnen schwach erscheinen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich mich hüten werde, ein solcher zu sein! Ich würde mich dadurch nur gehässig machen.«

»Was mich im Interesse Ihrer Zukünftigen, wer sie auch sein mag, beruhigt, ist die Gewißheit, daß ein so verheerendes Feuer nicht lange dauert.«

»Mein ganzes Leben, Madame, werde ich der schönen Viktoria angehören!«

»Wir werden uns wiedersehen, Herr de Saintepallaie, Sie werden jetzt meine Stieftochter begrüßen, aber ich bitte Sie, mäßigen sie Ihre Worte ihr gegenüber, es ist noch nicht an der Zeit, ihr von Liebe zu sprechen.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, Madame, so gut ich kann …«

Madame de la Grange ließ Viktoria zu sich bitten. Als sie Saintepallaie sah, errötete sie und stand sprachlos da.

»Mein liebes Kind,« sagte ihre Stiefmutter zu ihr, »der Herr hat an uns beide diesen Brief hier geschrieben. Ich habe ihm darauf geantwortet, und sein Besuch ist die Folge meiner Antwort. Da lies.«

Während Viktoria las, sagte Madame de la Grange zu Saintepallaie:

»Meine Tochter wußte noch nichts von Ihrem Brief. Ich wollte Sie erst kennen lernen, bevor ich ihn ihr zu lesen gab. Sie sehen, wie offen ich handle, in Ihrer Gegenwart liest sie ihn nun. Ich lade Sie zu unseren kleinen Festlichkeiten ein, da können wir uns gegenseitig besser kennen lernen. Bis es so weit ist, soll von nichts anderem die Rede sein. Fräulein de la Grange liest Ihre Erklärung, Sie brauchen sie ihr daher nicht mündlich zu wiederholen. Sie weiß nun, daß Sie sie lieben, jetzt ist es an ihr, Ihr Herz zu prüfen, und an Ihnen, sich so zu zeigen, wie Sie sind. Seien sie versichert, daß ich mein teures Kind zu sehr liebe, um Sie nicht, wenn sie sich verstellen sollten, durch andere ausholen zu lassen … Doch sie ist zu Ende … Verlassen sie uns jetzt und kommen sie heute abend wieder. Ich erwarte Sie heute abend und … alle Tage.«

Saintepallaie sah, daß Madame de la Grange Viktoria die Verlegenheit ersparen wollte, mündlich eine Antwort auf den Brief zu erteilen, und zog sich zurück.

Als er gegangen war, sagte Hortense zu ihrer Tochter:

»Nun also, mein liebes Kind, was meinst du dazu?«

»Ich kenne ihn nur vom sehen, seine Gefühle lehrt mich der Brief, was soll ich tun, Mama?«

»Studiere du seinen Charakter, während ich Erkundigungen einziehen will. Gefällt er dir, dann befrage dein Herz. Bis du dich entschieden hast, will ich dir weiter nichts über seine Leidenschaft, seine besondere Art von Verliebtheit sagen. Dein Herz allein soll deine Wahl leiten … Sollte ich jedoch inzwischen durchaus Schlechtes über ihn erfahren, dann würde ich dich sofort warnen.«

»Oh! Das erwarte ich nicht anders, liebe Mama.«

»Sein Gesicht?«

»Ist sehr schön.«

»Erscheint er dir liebenswert?«

»Gewiss! Ich wünschte … du weißt, liebe Mama, daß ich mit dir stets aufrichtig bin? Ich wünschte also, daß ein Mann, der so verliebt zu sein scheint, verdienen würde, von mir vorgezogen zu werden.«

»Wir wollen sehen, ich werde darüber eines Tages mit dir sprechen. Inzwischen wollen wir ihn prüfen, besonders jetzt, wo wir noch unparteiisch sind, denn wenn wir damit zu lange warten, dann könnte ein kleiner Verräter kommen und uns eine Binde um die Augen legen, und dann sähen wir gar nichts mehr.«

Saintepallaie verfehlte natürlich nicht, am gleichen Abend der Einladung Folge zu leisten. Aber seine Leidenschaft hatte ihn zu sehr gefangen genommen, als daß er sich gut unterhalten hätte. Er machte Madame de la Grange den Hof, während seine Blicke beständig Viktoria verfolgten. Er tanzte mit ihr ein Menuett. Am folgenden Tage ließ er sich eine Rolle im Ballett: Das Urteil des Paris zuerteilen, das gerade einstudiert wurde. Der Proben wegen mußte er von nun an täglich zwei Besuche machen. Viktoria gab die Venus, Saintepallaie den Paris.

Der alte Grundsatz: liebe, wenn du wieder geliebt werden willst, sollte auch in diesem Falle bald zur Wahrheit werden. Saintepallaie liebte mit inniger Begeisterung, und bald fühlte Viktoria, daß ihr Herz auch für ihn schlug, was Madame de la Grange vielleicht noch früher als sie selber bemerkte. Als die ausgezeichnete Frau dessen ganz sicher war, nahm sie ihre Stieftochter beiseite und fragte sie:

»Nun, wie gefällt dir dein sonderbarer Liebhaber?«

»Nicht übel: was hältst du von ihm?«

»Ich finde ihn auch sehr nett.«

»Er ist es auch in der Tat.«

»Meinst du, ihn innig genug zu lieben, um dafür einstehen zu können, daß du ihn ewig lieben wirst?«

»Ich stehe jedenfalls dafür ein, liebe Mama, daß ich ihn allen andern vorziehe.«

»Das ist schon etwas, aber um sich zu verheiraten, um Freiheit und alles, was eine Frau ihrem Mann opfern kann, hinzugeben, dazu ist es nicht genug. Dazu ist eine lebhafte Neigung nötig, die dir den Geliebten als einen Gott erscheinen läßt. Bist du schon so weit?«

»Oh, mein Gott! Nein!«

»Dann wollen wir noch abwarten.«

»Gewiß, das wollen wir.«

»Aber er dringt so in mich.«

»Herr de Saintepallaie drängt dich, Mama?«

»Sehr! … Er hat mich gebeten, deine Gefühle für ihn zu prüfen.«

»Um die Wahrheit zu sagen, Mama, … ich glaube, ich liebe ihn …, aber doch nicht so, wie Sie sagen.«

»Er liebt dich jedenfalls so, wie ich sage, meine liebe, gute Freundin, du wirst glücklich sein, wie ich es stets gewünscht habe, ja, das wirst du, das schließe ich aus seiner ganzen Art zu lieben. Du bist schön, mehr als schön, denn du bist reizend! Aber, liebe Tochter, wieviel schöne Frauen sind nachher nicht vernachlässigt worden! Und warum? Weil sie Automaten geheiratet haben, die weder Schönheit noch Anmut, nicht einmal das Verdienst an ihrer Frau zu schätzen wissen. Bisweilen war es auch ihre eigene Schuld. Aber dein Freier weiß, was du wert bist, und spricht mit Begeisterung von dem geringsten deiner Vorzüge, nichts entgeht ihm, er hat dich ganz studiert, alles erfaßt und ist ganz Bewunderung und Anbetung. Die sonderbare Schwärmerei, du weißt, die ihn dahinführte, deinen Schuster zu bestechen, und ihn die Indiskretion begehen ließ, die seinen Brief verursacht hat, sie deutet auf einen Mann, der äußerst zarte Organe besitzt und eines tiefen, wenngleich heftigen Gefühles fähig ist. Diese Schwärmerei gibt dir das Mittel an die Hand, ihm immer zu gefallen. Wie anders ist dagegen eine Frau daran, die mit einem rohen Patron verheiratet ist, der gegen alles unempfindlich ist? Du glaubst nicht, wie sehr mich gerade dieser eigentümliche Geschmack deines Freiers zu seinen Gunsten eingenommen hat! So sehr, daß ich ihn vom ersten Tage an, wo du mir von ihm sprachst, habe beobachten lassen, weil ich ihn kennen lernen wollte. Verkenne niemals die Macht dieses Vorteils, den du über ihn hast, und pflege deinen Fuß, dessen Schönheit sicherlich Ursache deines Glückes werden wird, mit allen Mitteln, die du mich hast anwenden sehen und die ich euch beigebracht habe, ohne daß ihr den Grund dafür kanntet: ein gut gemachter, gut passender, aber nicht drückender Schuh, im Hause nie Schuhe getragen, nur Pantoffeln, sofortiges Einschreiten gegen den geringsten Druck, der Beobachtung dieser Grundsätze verdankt ihr alle euere vollkommen schönen Füße, als wenn ihr überhaupt stets nur jene hübschen Filzschuhe getragen hättet, die ihr im Winter gegen die Kälte anzieht, denn Kälte entstellt auch die Schönheit des Fußes. Ich würde ohne meinen Gatten, der die Schwärmerei Saintepallaies für einen schönen Fuß teilt, nie den Wert eines solchen Vorteils kennen gelernt haben, mit dem die Natur auch mich begünstigt hat und den ich gegen die Einwirkungen des Alters zu schützen gewußt habe. Also, liebes Kind, ich spreche aus Erfahrung und verbürge dir dein Glück. Ich sehe die zukünftige Haltung deines Freiers im Geiste voraus, teils weil ich Vergleiche angestellt, teils weil ich ihn genau studiert habe. Die Männer, liebes Kind, die diesen Geschmack besitzen, sind indessen äußerst empfindlich im Punkte der Reinlichkeit. Da ihnen nichts gleichgültig ist, so entgeht ihnen keiner unserer geringsten Vorzüge, sie bemerken aber dagegen auch die geringste Nachlässigkeit an unserm Körper und leiden darunter. Um ihnen die Illusion zu belassen, daß eine Frau ein Engel ist, muß diese mit peinlichster Sorgfalt darauf achten, daß ihnen jeder abschreckende Eindruck erspart bleibt: die Reinheit des Schuhwerks muß für sie das Symbol der Reinheit des ganzen Körpers sein. Wenn schon das, was die Erde berührt, so rein ist, denken diese Männer gewöhnlich, wie muß dann der Rest sein? Unser ganzes Wesen muß ein appetitliches Objekt sein, aus dem man auf die Reinheit unserer Seele schließen kann. Ich habe dir über diesen Punkt praktische Lehren erteilt, und ich denke, du verstehst, was ich meine, wir würden uns beide langweilen, wenn ich alles noch einmal wiederholen wollte, ich will mich nur dahin zusammenfassen: eine Frau müßte so viel Waschungen vornehmen, wie der frömmste der Muselmänner …! Doch ich komme auf deinen Freier zurück: ich gebe ihm meine Stimme.«

»Und ich, teure Mama, gebe sie ihm auch. Was sie mir soeben gesagt haben, hat mir meine letzten Bedenken genommen.«

»Du darfst deiner Neigung allein Gehör schenken.«

»Das ist auch der Fall, teure Stiefmutter. Wenn Sie wüßten, wie liebe Sachen er mir täglich zuflüstert! Wie er mir mit einem Wort seine Liebe schildert! Gestern ruhten wir uns nach dem Tanz aus, ich war erhitzt, zog meine Handschuhe aus und gab sie ihm in der Zerstreutheit. Einen Augenblick Später wollte ich sie ihm wieder abnehmen und fühlte dabei seine Hand zittern. – ›Was haben sie?‹ fragte ich ihn. – ›Es ist die Wirkung Ihrer Handschuhe: sie haben in mir das Fieber der Liebe entzündet, berühren sie meine Hand, Angebetete, und Sie werden mein Herz bis in die Fingerspitzen schlagen fühlen.‹«

»Je mehr diese Liebe, mein Kind, geeignet ist, dich glücklich zu machen, desto mehr mußt du alles daran setzen, sie dir zu bewahren: ahme nicht die Frauen nach, die sich damit begnügen, geliebt zu werden, und dabei versäumen, alles zu tun, um noch mehr geliebt zu werden, man muß nie meinen, es sei nun genug, sondern alle seine Kraft auswenden, um ein Herz, das einem schon gehört, noch weiter an sich zu fesseln. Alle unsere Gefühle müssen darauf gerichtet sein: Achtung, Ehrerbietung, Dankbarkeit, Bewunderung, wir müssen Sogar die Alltäglichkeit des Lebens zu unseren Gunsten ausnützen, uns unentbehrlich machen, dem Gatten den Aufenthalt in seinem Hause angenehm, ruhig, so fröhlich wie möglich gestalten, dadurch fesseln wir ihn ans Haus und an uns. Du hast gesehen, liebe Tochter, wie ich es mit deinem Vater gemacht habe. Er liebte mich, als er mich heiratete, Sobald ich aber seine Frau war, wandte ich alle Mittel an, um noch heißer von ihm geliebt zu werden. Ich kannte dich noch nicht, konnte dich daher auch nicht lieben. Das erste aber, was ich tat, um meinen ehrenwerten Mann mir noch mehr zugetan zu machen, war, dich zu lieben und deine Liebe zu gewinnen. Der Erfolg hat alle mein Erwartungen übertroffen, weil ich liebe Kinder antraf, die ihrer Eltern würdig waren, denn auch eure Mutter war ein göttliches Wesen! … Du weinst, teure Viktoria, wie liebe ich deine Empfindsamkeit! Ehre ihr Andenken und laß deine Tränen fließen …«

»Oh, Mama! sie fließen für sie und für dich, euch beiden gilt meine Rührung, und ich segne den Himmel, der mir, nachdem er mir die Mutter genommen hatte, ihr Herz in dir wiedergeschenkt hat! …«

»Ich habe nur eins im Auge gehabt: dein Glück. Doch war auch ein bißchen Egoismus dabei im Spiel, denn von deinem Glück hing auch das meinige ab.«

Nach dieser Unterredung war Madame de la Grange davon überzeugt, daß ihre Stieftochter Saintepallaie hinreichend liebte, um ohne Gefahr seine Frau zu werden. Sie beschäftigte sich von nun an mit den Vorbereitungen zur Hochzeit, wozu ihr Mann ihr alle Freiheit ließ. Er wußte, daß sie davon einen guten Gebrauch machen würde.

Als Saintepallaie am andern Morgen kam, bat ihn Madame de la Grange zu sich, bevor er ihre Stieftochter sah und fragte ihn:

»Haben sie es immer noch so eilig, Viktorias Gatte zu werden? Ja? Nun gut, in sechs Monaten denn!«

»Ach, Madame! so lange noch?«

»Also dann in drei Monaten!«

»Das sind für mich drei Jahrhunderte!«

»Mein letztes Wort: in einem Monat.«

»Ich wage mich nicht mehr zu beklagen. Wenn es aber nach mir ginge, dann morgen oder heute abend.«

»In einem Monat! Und daran knüpfe ich noch eine Bedingung: ich verlange einen Beweis, einen unzweideutigen Beweis, das zarte Eingeständnis Viktorias, daß sie Sie liebt … Sie sehen, daß ich nicht anderen Müttern gleiche, sondern ein eignes System befolge. Ich kenne nur zwei Wege, um meine Kinder zu verheiraten: der eine ist der, den ich befolge, nämlich sie müssen lieben, so lieben, daß über ihre Gefühle kein Zweifel bestehen kann, der andere Weg ist: sie überhaupt nicht zu befragen und nicht zu dulden, daß sie vor der Hochzeit mit ihrem Zukünftigen auch nur ein Wort wechseln, damit sie weder Liebe noch Haß fühlen. In diesem Falle würde ein vernünftiges Mädchen, das durch die Notwendigkeit zur Eingehung einer Ehe gezwungen wird, alles gelassen hinnehmen, wenn es sich auf Schlimmeres gefaßt gemacht hat, und sich glücklich fühlen, wenn es sieht, daß es weniger schlecht daran ist, als es sich vorgestellt hat… Ich scherze nicht, Herr de Saintepallaie, es gibt nur diese zwei Wege. Ich habe den ersteren gewählt und will, daß er bis zum Ende begangen wird. Es ist freilich keine kleine Aufgäbe für sie, mir diesen Beweis zu liefern, und ich bin darüber etwas unruhig!«

»Aber welches Glück auch für mich, wenn ich Ihre Bedingung erfülle!«

»Arbeiten sie mit aller Energie daran.«

Und sie führte ihn durch ihre Wohnung hindurch in die Räume ihrer Stieftochter. Viktoria war abwesend, wie sie wohl wußte. Auf einem Sofa lagen verschiedene Bekleidungsgegenstände, darunter auch ein Paar niedliche Schuhe, die Viktoria angeprobt hatte. Saintepallaie besah sich die hübschen Sachen, sobald er allein war. Madame de la Grange aber holte inzwischen eiligst ihre Stieftochter herbei. Sie wollte ein Experiment machen.

Saintepallaie, allein im Tempel der Schönheit, die er anbetete, ließ seine glühenden Blicke auf allen Gegenständen ruhen, die seiner Göttin dienten. Bald aber bemächtigten sich seine vor Freude zitternden Hände ihrer, und er drückte glühende Küsse auf die Stellen des Kleides, wo es einen Götterbusen oder lilienweiße Schultern und Arme berührt hatte, und auf die niedlichen Schuhe. Das Feuer, das ihn verzehrte, konnte er nicht mehr dämpfen , da rief er begeistert aus:

»Oh, anbetungswertes Mädchen! Alles, was dich berührt, nimmt an dem göttlichen Zauber teil, der dich umgibt!… Leblose Zeugen meiner innigen Liebe, ich beneide euch! Ich wollte, ich könnte eure Form annehmen und euch nur einen kurzen Augenblick vertreten! Ich würde erst zu leben anfangen, könnte ich von diesem kleinen Fuße, dem Inbegriff aller Grazie, getreten werden! …«

Tränen entströmten seinen Augen, und erblieb, die zierlichen Schuhe in den Händen, unbeweglich stehen … »Schöne Viktoria,« fuhr er dann fort, »warum kannst du nicht in mein Inneres schauen und in meiner Seele lesen, wie sehr ich dich liebe, welche Zärtlichkeit ich für dich fühle! … Ja, zarte Gefühle hege ich für dich, keine Gelüste. So heftig meine Wünsche auch sind, so werden sie doch von meiner Zärtlichkeit übertroffen!«

Niederkniend schloß er dann:

»Teures Mädchen, dich bete ich an, ja du bist, das fühle ich, meine Gottheit …! Ihr Gegenstände, die ihr sie verschönt, empfängt meine Huldigung! …« Er erhob sich in einer Art von Verzückung. In diesem Augenblick betrat Madame de la Grange, die wohl ahnen mochte, was sich ereignen würde, mit ihrer Stieftochter das Zimmer, und Saintepallaie stürzte bewegt, außer sich, Viktoria zu Füßen, indem er ausrief:

»Ich liebe Sie, wie noch kein weibliches Wesen geliebt worden ist. Ein Wort aus Ihrem schönen Munde wird mein Geschick entscheiden. Sprechen sie es hier aus, hier vor Ihrer Mutter, die Sie liebt.«

»Ich bin für Ihre zärtlichen Gefühle nicht unempfindlich,« entgegnete darauf Viktoria tief errötend … »Glaube es, liebe Mama, nicht unempfindlich … Oh! mein Gott! …«

Schon hatte er sie in seine Arme geschlossen, auf das Sofa gesetzt, war vor ihr niedergekniet und hatte heiße Küsse auf ihre Füße gedrückt. »Eine Liebe ohne Grenzen«, rief er aus, »betet alles an!«

»In einem Monat, Herr de Saintepallaie, oder in vierzehn Tagen, das verspreche ich Ihnen, können sie sich Viktorias Antwort holen …!«, sagte darauf Madame de la Grange zu ihm, um Viktorien, die von der Freiheit, die ihr Geliebter sich herausgenommen hatte, noch ganz bewegt war, Zeit zu geben, sich zu fassen.

Die Heirat fand 14 Tage später statt. Man konnte sich nichts Reicheres und Koketteres vorstellen, als die Schuhe der Braut: sie waren aus Perlmutter mit einer Blume in Diamanten verziert, die Seiten und Absätze waren in Brillanten gefaßt. Sie hatten 6000 Franken gekostet, nicht eingerechnet die Diamanten der Blumen, die drei oder viermal mehr gekostet hatten. Sie waren ein Geschenk Saintepallaies.

Als er am Abend mit seiner reizenden Frau allein war, kniete er vor ihr hin und zog die schönen Schuhe von ihren niedlichen Füßen herunter, er ersetzte sie durch Pantoffel, die nicht weniger kokett, aber nicht so kostbar waren. Die Schuhe legte er in einem kleinen, durchsichtigen Tempelbau nieder, und zwar in dessen Mitte, einer Rotunde, deren Kuppel auf jonischen Säulen aus Kristall und mit vergoldeten Kapitalen ruhte. Dort bewahrte er sie als das Pfand einer Liebe, die ewig währen sollte. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, und zehnmal haben sie dem Gebrauche gedient, nämlich an jedem Jahrestage der Hochzeit.

Sei es, daß die Verehrung, die Saintepallaie seiner Gemahlin entgegenbringt, seine Liebe lebendig erhält, sei es, daß Viktoria, unterstützt von den weisen Ratschlagen ihrer ausgezeichneten Stiefmutter, über wirksame Mittel verfügt, die anderen Frauen unbekannt sind, oder daß endlich Männer mit Geschmacksneigungen, wie Saintepallaie sie hat, tatsächlich liebevoller und leichter in ihrem Liebesrausche zu erhalten sind, jedenfalls sind die Liebesgefühle dieses leidenschaftlichen Mannes für seine Frau stets die gleichen geblieben. Madame de la Grange ist der Ansicht, daß wohl alles zusammen dazu beiträgt. Der Gatte der schönen Viktoria läßt sich, obwohl er sehr viel zu tun hat und keine seiner Verpflichtungen vernachlässigt, die Toilette seiner Frau angelegen sein: er trifft die Wahl, und Viktoria findet, daß er sie gut trifft. Im ersten Jahre ihrer Ehe hatte der Schuster den Auftrag, jeden Tag ein Paar neue Schuhe zu liefern, deren Farbe und Stickerei Saintepallaie vorschrieb. Er nahm sie auch in Empfang, seine Gattin trug sie einen Tag, dann nahm er sie wieder an sich und schloß sie in Glasschränke ein. Im zweiten Jahre ließ er nur weiße Schuhe anfertigen. Stets waren auf diese Weise seine Gedanken mit seiner Frau und ihrer Anmut beschäftigt. Sie war sein Abgott, seine Göttin, sein Kultus. So verflossen zehn Jahre. Drei liebliche Kinder, die alle die Schönheit der Mutter geerbt haben, konnten ihr nichts von ihrer Schönheit nehmen: innere Befriedigung und das vollkommene Glück, dessen sie genießt, haben ihr die Rosen der Jugend in voller Frische bewahrt.

»Nun also, mein liebes Kind!« sagte Madame de la Grange eines Tages zu ihr, »hatte ich es dir nicht vorhergesagt, daß Ehemänner, die ihre Frauen anbeten, länger zu lieben verstehen, ja sogar auf ewig, wenn man durch Mittel, wie du sie gebrauchst, ein wenig nachhilft?«

»Ja, liebe Mama, du hattest recht. Aber kannst du fühlen, wie überaus glücklich ich bin?«

»Sprich, liebe Tochter, und nachher werde ich dir wahrheitsgetreu sagen, ob ich mir das richtige Bild davon gemacht habe, oder nicht.«

»Liebe Mama, ich glaube, es gibt keine Lage, die der meinigen gleicht: überzeugt, daß alles, was ich trage, meinem Manne gefällt, weil er selber die Wahl trifft, überzeugt, daß die Reize, die mir die Natur geschenkt hat, ihn entzücken, daß all mein Tun, all meine Handlungen ihm gefallen, habe ich seit zehn Jahren nicht ein einziges Mal ein unangenehmes Gefühl gegen ihn empfunden. Welch köstliches Leben, liebe Mama! Mir ist, wie wenn alles, was ihm an mir gefällt, mir ebenso teuer sei wie ihm. Sie würden kaum glauben, wie große Freude mir meine Toilette macht und wie lieb mir die Sorgfalt ist, die ich anwende, um mich zu verschönern! Wie freue ich mich auf den ersten Blick, den er auf mich wirft! Sein Auge mustert mich dann von oben bis unten und nimmt einen Ausdruck von Ekstase an, der mich bezaubert! Dann lobt er alle Einzelheiten und bewundert alle meine Anmut, nichts entgeht ihm, nicht die geringste kleinste Aufmerksamkeit, die ich ihm erweisen wollte. Manchmal ersucht er mich, auf und ab zu gehen, blickt mir freudestrahlend nach und schließt mich in seine Arme. Dann gibt er mir tausend zärtliche Kosenamen und ebensoviel Küsse, die ich ihm, das kann ich Ihnen versichern, Mama, alle wiedergebe. Und dann betrachtet er seine Lieblingsreize! … Du lieber Gott! wie schmeichelhaft ist es doch für eine Frau, wenn sie etwas so in den Himmel heben hört, worauf die anderen Männer fast gar nicht acht geben! Das deutet bei meinem Mann auf eine lebhafte und anbetende Leidenschaftlichkeit, wie sie es manchmal nennen! … Wenn ich wollte, würde er mir die niedrigsten Dienste leisten, aber ich werde mich hüten, so etwas zu verlangen! Ich habe nicht vergessen, was sie mir eines Tages gesagt haben. Ich verlasse mich nicht auf sein Übermaß von Liebe zu mir, sondern behandle den zuvorkommendsten und liebevollsten aller Männer, als ob er das Gegenteil davon wäre. Ich habe Ihre Ratschläge buchstäblich befolgt. Mein Mann weiß noch nicht, daß ich wirklich nur eine arme Sterbliche bin, die sich mit tausend kleinen unangenehmen Sachen abzufinden hat: alles Abstoßende verberge ich vor ihm mit einer Sorgfalt, als ob es sich um Verbrechen handelte. Nur ungern habe ich ihm erlaubt, in meinen Wehen bisweilen nach mir zu sehen, und auch dann habe ich mich noch zusammengenommen, und ein Lächeln begleitete die heftigsten Schmerzen, Dann zerfloß er in Tränen und küßte mir die Hände, worauf ich ihn fortschickte, um ihn erst im Augenblick der höchsten Freude wiederzusehen. Mama, ich habe die Erfahrung nun gemacht: ja, es ist wahr, daß man sich seinen Mann für sich selbst bewahrt, indem man alles aufbietet, um sich seine Liebe zu erhalten, und da die Liebe das höchste Gut ist, so bewahrt man sich das Glück! … Nun, liebe Mama, hast du dir meine Glückseligkeit so vorgestellt?«

»Doch, liebes Kind! … Denn dein Schicksal, das kann ich dir heute sagen, war das meinige. Vergöttert von deinem Vater, habe ich mein Glück darein gesetzt, das seinige zu begründen … .«

»Und zugleich auch unser aller Glück, Mama! .., Oh! Mama, ich fühle es wirklich, daß man bei Männern, die heftige und ganz bestimmte Neigungen haben … wie die meines guten Gatten, viel mehr Hilfsmittel hat, sie an sich zu fesseln! … Mit einiger Sorgfalt kann man sich diesen Zauber bis ins hohe Alter bewahren, er wird auch dann noch ihre Herzen höher schlagen lassen, wenn alle anderen Reize verschwunden sind.«

»Du hast recht, auch ich kann wohl sagen, daß ich darin noch so jung bin, wie vor fünfzehn Jahren.«

»Das sehe ich, Stiefmütterchen, Sie tragen Schuhe, wie ich, ich kann nicht den geringsten Unterschied daran bemerken.«

Saintepallaie unterbrach durch seinen Eintritt das Gespräch, er kam, seine Frau zu umarmen.

»Mama,« rief diese, »wir wollen uns verstecken und einen Versuch machen!« Sie hüllten sich in eine Gardine ein, die bis zum Fußboden herunterreichte und zeigten jede einen Fuß, Viktoria den rechten, ihre Mutter den linken, so daß beide einer Person anzugehören schienen.

»Lieber Freund,« sagte darauf Viktoria, »nun suche deine Frau«.

»Oh! die werde ich schon an dem verführerischen Gegenstand erkennen, den ich bemerke.«

»Nun also?«

»Ich bin in Verlegenheit! Doch ich werde mein Herz befragen, das wird mich besser führen, als die Augen. Er berührte den rechten Fuß und rief aus:

»Das ist mein Weib.«

»Er hat mich erkannt!«

»Ja, das Herz, aber die Augen ließen sich täuschen, liebe Freundin.«

Als sie sich aus der Gardine wieder herausgewickelt hatten, sagte Saintepallaie zu ihnen:

»Darf man wissen, warum ihr so kindliche Spiele treibt?«

»Nein, das ist Frauengeheimnis und bleibt unter uns!«

»Dann werde ich es achten.«

»Immerhin will ich dir eins gestehen: wir haben vorhin von den Mitteln gesprochen, die ich anwenden muß, um dir immer mehr zu gefallen und dich noch glücklicher zu machen, das ist unser Lieblingsgespräch. Ich habe Mama über meine Tätigkeit in diesem Sinne Bericht erstattet, und sie hat mich beglückwünscht weniger wegen des Wertes der Sorgfalt, die ich aber dabei entfalte, als wegen des Wertes, den dein liebenswürdiger Charakter meiner Tätigkeit beilegt. Sie sagte mir auch, daß es ihr mit ihrem Manne geradeso gegangen sei. Darüber haben wir Vergleiche angestellt, du hast uns unterbrochen, und ich wollte einen Versuch machen, der mir durchaus gelungen ist.«

»Ich danke Ihnen, Mama, für die freundlichen Dienste, die Sie uns stets erwiesen haben,« wandte sich darauf Saintepallaie an Madame de la Grange, ihr die Hand küssend, »und ich will Ihr Verdienst und Ihre Tugenden berühmt machen. Ich werde Ihre Geschichte und die unsrige an Herrn Retif de la Bretonne einwenden, die erste soll benannt werden: ›Die gute Stiefmutter‹, und die unsrige: ›Der schöne Fuß‹. Ganz Frankreich soll wissen, daß es auf der Erde eine Hortense und eine Viktoria gibt, die beide anbetungswürdig sind und beide von ihren Männern vergöttert werden!«

Liebestod.

2-001

Wie doch die Zeit vergeht! Ach, es scheint mir, als ob es erst gestern gewesen wäre, daß ich auf der Brücke Saint Michel zwei schönen jungen Mädchen begegnete, deren Anblick meine Seele in Ekstase versetzte. Schönheit! Meisterwerk der Schöpfung, Abbild der Gottheit, dein Anblick erregt heilige Gefühle in der Seele des Reinen, dir gegenüber können nur verdorbene Gemüter Gemeines empfinden! … Beide waren brünett, aber der Teint der einen war von einer interessanten Blässe, während der der anderen in rosigem Glanze erstrahlte. Die Rose ist die Königin der Blumen, aber Lilien sind der Schmuck der Schönen. Ich ziehe die Lilien den Rosen vor. Sie sind das Sinnbild einer empfindsamen Seele, weniger heißer Sinne, eines zartfühlenden Herzens. Wenn zarte Regungen ihre Seele erfüllen, kleidet sich die Lilie in schöneres Rosa, als es die Natur hervorbringt …

Lieber Leser, diese beiden Schönheiten sind nicht mehr: die mit dem Rosenteint hat für sich die bleichen Fackeln einer unglücklichen Ehe entflammen sehen, ein trauriger Hohlkopf von Gatte hat ihre jungen Reize unter die Erde gebracht, der Kummer hatte sie bald verzehrt … Weinet, schäkernde Liebesgötter, Eure Mutter ist tot! … Und die andere … Bei ihrem Gedenken wird mein Herz von Rührung ergriffen, und meine empörte Vernunft flucht unseren Sitten, die nur grausames Interesse, ungerechter Hochmut und widernatürliche, verhängnisvolle Leiden sind, und ihre Henker waren. Luise Aegle Chéret war im Alter von sechzehn eines der schönsten Mädchen der Welt: ein schönes blaues Auge, schwarze Augenbrauen, ein Lilienteint, feine, distinguierte Züge, eine Lieblichkeit des Ausdrucks, daß sie wie eine schöne Blume erschien, die niemand anzurühren wagte, ein mittelgroßer, aber wohlgestalteter Wuchs: ein köstlicher Geschmack, wie er gewöhnlich mit Schönheit einhergeht, so war ihr Äußeres. Unmöglich aber würde es sein, den engelhaften Zug zu schildern, der allen diesen Reizen erst Leben verlieh. Sie besaß viel Geist und vor allem eine empfindsame, für alles Schöne empfängliche Seele.

Dieses Mädchen, das selbst der zartesten Gefühle fähig war, flößte einem jungen Manne die heftigste Leidenschaft für sie ein. Er hieß De Juine und war reicher als sie. Er liebte sie rasend und war auch liebenswert. So konnte es nicht ausbleiben, daß sie bald seine zärtlichen Gefühle für sie erwiderte, obwohl sie bei seinem ersten Anblick Furcht vor ihm empfunden hatte. Er hatte zuerst nicht den Wunsch in ihr hervorgerufen, ihm zu gefallen und liebenswürdig zu erscheinen, wie ihn sonst die Angehörigen beider Geschlechter beim Anblick des Gegenstandes, der ihre Herzen getroffen hat, zu hegen pflegen. Es war vielmehr eine Art Traurigkeit, die die Seele Aegles gefangen hielt, als sie bemerkte, daß De Juine Annäherungsversuche machte. So wurde er, als er sie zum ersten Male ansprach, von ihr mit großer Kälte, ja noch schlimmer, mit einem Ausdruck von Ärger empfangen. Es schien, als ob sie ihm sagen wollte:

»Warum kommen Sie zu mir? Warum wollen Sie mich der Gefahr aussetzen, Sie zu verlieren?«

De Juine, der Aegle liebte, wie sie es verdiente, geliebt zu werden, stieß sich nicht daran. Er suchte die Häuser auf, in denen sie verkehrte, hielt sich aber beiseite und zügelte seinen Eifer, sich ihr zu nähern. Doch schenkte er keiner anderen die Augenblicke, die er ihr gewidmet hatte, und die sie zurückzuweisen schien. Er interessierte sich für nichts mehr, und eine tiefe Melancholie war über seine Züge ausgebreitet. Das war die Sprache, in der er ihr länger als sechs Monate seine Liebe erklärte.

Aegle steifte sich dagegen, ihm ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, sie wollte seine traurige Miene nicht sehen, sie wollte auch nicht mehr die Häuser besuchen, wo sie sicher war, De Juine zu begegnen. Und doch beschäftigten sich ihre Gedanken nur mit ihm, und sie konnte es nicht über sich bringen, ihre gemeinsamen Bekannten zu meiden. Die hartnäckige Haltung ihres Liebhabers hatte die Folge, die sie haben mußte: sie erweckte ihr Interesse durch das Mitleid, das sie für ihn empfand, das Mitleid, in Liebessachen eine gefährliche Schlange, die sich in zarte Seelen einschleicht, um sie zu zerreißen! … De Juine bemerkte bald, daß bisweilen ihre verstohlenen Blicke ihn suchten, er sprach zu ihr, sie hörte ihn an, zwar traurig, aber nicht gelangweilt. Nachdem er diesen ersten Erfolg erzielt hatte, kam er schneller vorwärts.

Eines Tages, als er wie gewöhnlich in sich versunken abseits stand, wandte sich die Herrin des Hauses, eine junge, liebenswürdige Frau, an ihn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, und sagte zu ihm:

»Sie haben Ihren Beruf verfehlt, mein Freund, die Karthäuser erwarten Sie, wann gehen Sie zu ihnen?«

»Wenn der Tyrann, den der Himmel mir zum Herren gemacht hat, es befehlen wird,« erwiderte er traurig.

»In welchem Ton Sie das sagen!« bemerkte darauf die junge Frau lachend, »Ihr Bewunderer, der Saintval, führt stets Worte wie Eisen, Ketten, Tyrannen im Munde. Eure Verehrung dieser Besessenen verdirbt Eure Sprache und macht sie geschraubt, unnatürlich, wie diese Frau selbst. Nun sagen Sie einmal, wer ist dieser Tyrann? Ich wette, daß er nur in Ihrer Einbildung vorhanden ist, und daß die Schöne, der Sie diesen häßlichen Namen beilegen, das sanfteste kleine Schäfchen unter den Angehörigen meines Geschlechts ist … Also, wie heißt sie …«

»Ich ihren Namen nennen! Davor soll mich der Himmel bewahren! Das hieße ja sie mit einer Art Vertraulichkeit behandeln, worüber sie sicherlich verletzt sein würde.«

»Und doch gibt’s keine Tyrannen, wie Sie den Gegenstand Ihrer Liebe sich denken, Herr De Juine. Glauben Sie mir, im Erdenleben seufzt man anders als in der Tragödie.«

»Ich war früher derselben Ansicht, verehrte Frau, früher, bevor ich sie kannte, die ich bis zu meinem Tode anbeten werde, aber sie hat einen anderen Menschen aus mir gemacht.«

»Sprechen Sie doch nicht in diesem Tone weiter, das macht mich ganz traurig.«

»Sagen Sie der Grausamen, sie solle den ihrigen mir gegenüber ändern, dann werden Sie meine Melancholie schnell schwinden sehen.«

»Und ich glaube, daß Ihr Ton allein Sie zu dem macht, wie Sie sie schildern … Aber ihren Namen?«

»Ihr Name ist die Liebenswerte. Nichts in der Schöpfung kommt ihr gleich, Lilien und zarte Rosen streiten sich um die Herrschaft über ihren Teint, ihr Auge, das trügerische, da es sanft scheint, ist blau, ihr Blick rührend, ihr Mund klein, ihre Nase leicht gebogen, ihr Haar gleicht dem Ebenholz, ihr Wuchs dem der Nymphen, ihr Gang dem der Grazien, ihr Fuß dem der Venus.«

»Aber das paßt ja auf alle jungen Mädchen, die hier sind.«

»Ich weiß es, aber eine ist hier, auf die es besser paßt. Das fühlt mein Herz, und sie ist es, die ich vergöttere.«

»Aegle,« wandte sich die Dame darauf an diese, »versuchen Sie einmal, ihm sein Geheimnis zu entreißen, denn wahrhaftig, ich bin dazu weniger fähig, als irgend jemand.«

Alle drangen darauf auf Aegle ein, De Juine unter vier Augen zu befragen, weil alle verstanden hatten, daß sie es war, die er bezeichnet hatte. Sie sträubte sich erst ein wenig dagegen, ging dann aber anscheinend unbefangen darauf ein, damit es nicht so aussehe, als ob sie der Sache irgendwelche Wichtigkeit beilege.

Als beide außer Hörweite waren, und De Juine sicher war, nur von ihr verstanden zu werden, sagte er zu ihr:

»Sie allein haben über mein Schicksal zu entscheiden, gute Stunden oder traurige Tage, Freude oder Traurigkeit, alle Regungen meiner Seele hängen nur von Ihnen ab. Ich will aber nichts Ihrer Gnade verdanken, Sie auch nicht bitten, Mitleid mit meiner Leidenschaft zu haben, nein, mein Fräulein: wie ich heute mit Ihnen stehe, fühle ich die ganze Macht Ihres Zaubers, aber ich fühle auch Ihren Haß. Ich bin darüber traurig, aber Ihr Empfinden gefällt mir, denn je strenger Sie gegen mich sein werden, desto liebevoller werde ich in meinem Schmerz sein, und desto lieber werden mir die Tränen sein, die ich um Sie vergieße. Oft gefalle ich mir darin, Sie mir als unbeugsam vorzustellen und darüber vor Schmerz und Liebe in Verzweiflung geratend, dem Tode geweiht zu sein, mein Tod rührt Sie, Ihre Tränen fallen auf meinen Grabhügel, und Sie sagen: ›Er hat mich doch aufrichtig geliebt.‹ Solche Gedanken verfolgen mich, während die anderen sich amüsieren, aber ich würde die Tränen, die Sie mich heimlich vergießen lassen, nicht um alle Ihre Freuden hergeben …« Sie in Nachdenken versunken sehend, fuhr er fort:

»Ach, schöne Aegle, ich fürchte nur eines: Ihre Gleichgültigkeit, und daß Sie mich vergessen! Aber, was sage ich? Nein, ich fürchte nichts, denn wenn Sie mich vergessen, dann werde ich vor Schmerz sterben … Wenn Sie mich hassen, dann will ich sterben, um den Gegenstand Ihres Hasses aus der Welt zu schaffen, weil er mir dann hassenswerter sein wird, als Ihnen … Wenn Sie mir dann eines Tages – das Gegenteil bezeugen würden, auch dann würde ich sterben – vor Freude … So wird also immer und selbst gegen Ihren Willen, die anbetungswürdige Aegle über mein Schicksal bestimmen. Ich schwöre es Ihnen in diesem feierlichen Augenblick, in Gedanken Ihnen zu Füßen liegend, weil ich es vor der Welt nicht wage, ich schwöre Ihnen bei Gott, daß ich von nun an nur noch für Sie atme … Und nun zürnen Sie mir, umgürten Sie sich mit dem Stolz, der Sie nie verläßt, ich werde mich allem unterwerfen. Sie schulden mir nichts, ich Ihnen alles bis auf die schmerzliche Freude, Sie anbetend, in Staub zu zerfallen …«

»Ich war so wenig auf eine solche übertriebene Sprache gefaßt, Herr De Juine,« erwiderte Aegle errötend darauf, »daß ich Sie nicht zu unterbrechen vermochte. Ich weiß nicht, wer Sie dazu veranlaßt haben kann, sie mir gegenüber zu gebrauchen. Sollte ich Ihnen mehr, als eine andere, dazu geschaffen erscheinen, an dergleichen Tändeleien Geschmack zu finden …?«

Erbleichend unterbrach sie der junge Mann:

»Mein Fräulein, dieser Anfang ist zu grausam, als daß ich das Ende hören wollte. Sie sind ebenso gefühllos wie schön, das sehe ich jetzt zu meinem Leidwesen zu spät, denn hätte ich es früher gewußt, dann würde ich Sie vielleicht gemieden haben. Doch nun ist es zu spät. Ich habe das Gespräch, das Madame Rey angefangen hatte, fortgesetzt und die Gelegenheit benutzt, Ihnen meine wahren Gefühle zu erklären, weil Sie sonst stets meine Gegenwart flohen, und ich über Ihre abweisende Strenge verzweifelt war.«

»Sie nehmen einen hochtragischen Ton an,« entgegnete Aegle lächelnd, »wenn man Sie hört, sollte man meinen, ich hätte unrecht daran getan, in den einfachen Regeln der Zurückhaltung zu bleiben, die meinem Geschlecht auferlegt sind.«

»Ah! Wenn ich wüßte, daß dieses der einzige Grund für Ihre Strenge wäre!«

»Ja, Herr De Juine, es ist der einzige, und ich glaube, gerade gegen Sie mehr als gegen andere ist es angebracht, so zu handeln.«

»Und welchem Umstande verdanke ich diese grausame Auszeichnung?«

»Weil mir gerade Ihre Achtung sehr kostbar ist.«

»Ah! Schöne Aegle …,« und er wirft sich ihr zu Füßen. »Verzeihen Sie mir diesen indiskreten Ausdruck meines Glückes.«

»Gern verzeihe ich Ihnen,« erwiderte Aegle, mit Röte übergossen, »es würde mir schlecht anstehen, Ihnen darüber zu zürnen, habe ich ihn doch selbst durch meine Unvorsichtigkeit verschuldet.«

»O Gott! Wie soll ich diese Sprache deuten?«

»Beendigen wir diese Unterhaltung, Herr De Juine, die mich zu sehr der Kritik der Anwesenden aussetzt.«

»Nein, meine göttliche Aegle, nein! Wenn Sie sie jetzt abbrechen, lassen Sie mich in Verzweiflung zurück. Gewähren Sie mir das Glück, Ihnen Gefühle ausdrücken zu dürfen, die Ihrer würdig sind. Ich bete Sie an. Sie kennen meine Familie, die sie liebt. Wenn Sie mir zugeneigt sind, so würde ich wagen können, an ein Glück zu glauben, daß nur Sie mir gewähren können … Dieses Glück, reizende Aegle, wäre, mit Ihnen durchs Leben gehen zu können, eins mit Ihnen zu sein. Sie würden mein ganzes Ich adeln, wenn Sie seine Herrin wären, wenn ich ein Anrecht auf Ihre kostbaren, liebevollen Aufmerksamkeiten für mich hätte! Aus diesem Munde die zärtlichsten Worte zu hören, besonders das Wort ›mein Gatte‹, würde mich in Ekstase versetzen! Schöne Aegle! Das Leben hat seine schlimmen Stunden, aber bei einem Blick in Ihre bezaubernden Augen, beim Vernehmen Ihrer Stimme, die zum Herzen geht, im Hochgefühl Ihrer Liebe würden auch diese mir zur Freude gereichen, und das ist noch nicht alles, Aegle! Jeder ehrenvolle Mann hat den glühenden Wunsch, sich neu erstehen zu sehen! Welch ein Glück wäre es für mich, ein anderes Ich selbst aus so viel Schönheit und Tugend hervorgehen zu sehen! Wie würde ich solche Früchte Ihrer entzückenden Schönheit lieben, die meinen Namen trügen und meine Familie bildeten …«

Aegle hörte ihm mit geröteten Wangen zu, aber seine Worte mißfielen ihr nicht, und sie wurde weichmütig. Auf welches junge Mädchen, das man um seine Hand bittet, würden sie nicht Eindruck machen, besonders, wenn sie geschickt angebracht werden?

»Sie wissen gut zu sprechen, Herr De Juine,« erwiderte sie, »aber was sollen wir jetzt der ganzen Gesellschaft sagen?«

»Daß Sie mich bekehrt haben.«

»Kommen Sie,« schloß Aegle lächelnd, »wir werden uns aus der Sache ziehen, wie wir können …«

»Gut. Und ich schwöre Ihnen nochmals, daß ich nur noch für Sie leben will …«

Aegle sah, daß er die Unterhaltung im Tone des Liebhabers fortsetzen wollte, brach daher ab und näherte sich der Herrin des Hauses, die sie damit betraut hatte, in das Geheimnis De Juines einzudringen.

»Nun,« fragte diese, »ist er undurchdringlich?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, verehrte Frau, daß Sie mich da mit einer besonders heiklen Aufgabe betraut haben!«

»Aber ich bin sicher, daß Sie jetzt das Geheimnis kennen?«

»Nein,« beeilte sich De Juine für sie zu antworten, »das Fräulein hat gegen ihren Auftrag gehandelt und beständig verweigert, mich anzuhören, obwohl ich sie kniefällig darum bat.«

»So weiß sie also nichts?«

»Leider nein.«

»Kommen Sie, Aegle, dann will ich es Ihnen sagen, denn wir haben alles mit angehört.« Und sie sagte ihr ziemlich laut ins Ohr:

»Sie sind die Grausame, und das ist nicht schön von Ihnen, denn er ist wirklich lieb.«

»Ihr habt euch alle gegen mich verschworen,« antwortete Aegle darauf, »aber ich setze meine Hoffnung auf Herrn De Juine, er weiß besser, als irgendeiner, was an der Sache ist, und kann Sie enttäuschen.«

»Ah! Also doch schon ein Einverständnis,« rief Madame Rey lachend aus, »da steht es ja besser, als ich dachte.«

»Sie wollen mich ärgern, indem Sie alles, was ich sage, verdrehen. Da sage ich lieber gar nichts mehr.«

»Das ist auch besser, Aegle, denn Sie lieben die Wahrheit und leiden darunter, sie zu entstellen.«

Der Grund von Madame Reys Betragen war, daß sie, wie übrigens alle anderen, Aegle und De Juine für ein einander würdiges Paar hielten, obwohl er reicher als sie und für eine hohe Stellung ausersehen war.

Man muß gestehen, daß Madame Rey Aegle dadurch zu großem Danke verpflichtete, denn sie zog zweifellos den jungen De Juine allen anderen Männern vor, aber das liebenswürdige junge Mädchen fühlte, obwohl sie ein einziges Kind und daher selbst eine gute Partie war, doch die Entfernung, die zwischen ihr und ihrem Freier lag. Wohl hielt sie ihn, dagegen konnte sie sich nicht sträuben, für liebenswert, doch kämpfte sie dagegen an, ihr Herz dieser süßen Leidenschaft auszuliefern, und glaubte, daß ihr das auch gelingen werde. Man konnte selbst annehmen, daß ein junges Fräulein, das so gut erzogen war, ihren Kräften damit nicht allzu viel zumutete, aber das Geschick wollte nicht, daß der Ärmsten ein Schutzwall gegen die unglückliche Leidenschaft blieb.

Am Tage nach der Unterredung traf Aegle bei einem Diner in einem anderen Hause mit De Juines Mutter zusammen. Letztere war schon anwesend, als das junge Mädchen eintraf. Die Ankunft Aegles rief eine gewisse Bewegung unter den Anwesenden hervor. Sie vermutete sogleich, daß man der Mutter De Juines ihren Namen genannt habe, und errötete in einem natürlichen Gefühl von Scham. Dieses bescheidene Erröten ließ sie so reizend erscheinen, daß die Dame sich erhob, ihr entgegeneilte, sie umarmte und zu ihr sagte:

»Wie freue ich mich, liebes Fräulein, mit Ihnen zusammenzutreffen, nichts Glücklicheres konnte mir passieren. Ich lasse Sie nicht wieder los, Sie müssen neben mir sitzen und mit mir plaudern.«

Aegle fühlte sich von dem herzlichen Empfang sehr geschmeichelt und erwiderte darauf mit dankbarem Entgegenkommen. Während des ganzen Diners, das bis acht Uhr abends dauerte, unterhielt sich die Mutter De Juines mit Aegle, der sie Beweise ihres lebhaftesten Interesses gab. Sie ging sogar so weit, ihres Sohnes Erwähnung zu tun und ihr zu versichern, daß sie ihn glücklich schätzen würde, wenn ein so reizendes Mädchen, wie sie, ihn auszeichnen würde. Es wäre unmöglich, die Verwirrung zu beschreiben, in die diese Worte Aegle versetzten. Die Mutter ihres Freiers bemerkte es, neigte sich zu ihr, küßte sie und sagte zu ihr:

»Wenn mein Sohn Ihnen nicht gleichgültig ist, so können Sie keine bessere Vertraute finden, als mich.«

»Ihr Herr Sohn ist sicherlich ein junger Mann von großem Werte, aber ich versichere Ihnen, daß ich niemals an das gedacht habe, auf was Sie, verehrte Frau, anspielen. Ich halte im Gegenteil meine Gefühle mit derselben Bescheidenheit zurück, wie meine Worte und mein Handeln.«

»Ich weiß es, ich weiß es, mein liebes Kind. Wenn aber schließlich mein Sohn Ihnen Herz und Hand anbieten würde? …«

»Wenn … es durch … Ihren Mund geschehe, Madame …«

»Nun also ja, es geschieht durch meinen Mund.«

»Ah! gnädige Frau, ich fühle, daß ich Ihnen dann eine andere Antwort schuldig wäre, als ich sie ihm geben würde.«

»Nun, geben Sie mir diese Antwort, liebes Mädchen!«

»Die Ehre, eine der Ihrigen zu werden …«

»Und die Freude, meinem Sohn anzugehören?«

»Ich würde nicht gegen diese Empfindung ankämpfen, wenn …«

»Ich verstehe Sie, meine teure Aegle. Diese Verbindung paßt mir, ich gestehe es Ihnen offen. Es scheint übrigens, als ob alle Welt ihr auch ohne Ihr Geständnis zustimmt. Jedes meint, das schöne Paar müsse verbunden werden, und ich trete gern der Stimme des Publikums bei. Noch diesen Abend werde ich meinem Manne die Sache vorschlagen. Zeichnen Sie meinen Sohn ein wenig aus, liebe Aegle, denn er vergöttert Sie, er hat es mir gesagt. Ich liebe meinen Sohn zärtlich, Sie machen mir eine große Freude, wenn Sie lieb zu ihm sind. Er wird auch kommen. Zum Diner konnte er noch nicht erscheinen, weil er mit seinem Vater arbeiten mußte.«

Diese Unterredung räumte die letzte Schranke hinweg, hinter der Aegle ihre Liebe noch verbarg. Wie viel Niederträchtigkeit war doch nötig, um eines jungen Mädchens Herz, das von der Liebe schon erfaßt war, zu verleiten!

De Juine kam gegen sieben Uhr, um seine Mutter abzuholen. Er fand Aegle beinahe in ihren Armen, Der junge Mann war auf dem Gipfel seines Glücks, dieser Augenblick – er hat es seitdem selbst hundert Male gesagt – war der glücklichste seines Lebens. Aber wie teuer hat er ihn bezahlen müssen!

Ich muß dem Leser schon hier den schwarzen Verrat enthüllen, der Aegle drohte. Die Mutter des jungen De Juine war ein wahres Ungeheuer von Ehrgeiz und Habsucht. Ihr Absicht war, dem Sohne, der schon wohlhabend war, weitere Reichtümer zuzuführen und ihn mit Ehren überhäuft zu sehen. Daher erschien ihr seine Liebe zur schönen Aegle nur als ein Hindernis für ihr Vorhaben. Sie hatte es ihrem Sohne offen gestanden, sich aber an seiner Liebe gestoßen. Sie wußte, daß Widerstand Leidenschaft nur wachsen läßt, die desto schrecklicher wird, je mehr man sie stört. Sie beschloß daher, Aegle ihrem Sohne zu opfern. Diesem barbarischen Entschluß gemäß suchte sie die Gelegenheit, mit der Ärmsten zusammenzutreffen und so zu ihr zu sprechen, wie wir es gesehen haben. Sie wollte die Gefühle des Liebenden durch ein ruhiges, glückliches Verhältnis mit seiner Geliebten allmählich abstumpfen. Vielleicht hoffte sie noch auf etwas anderes, auf Folgen eines häufigen ungestörten Beisammenseins der Liebenden …

Um die Ausführung ihres Vorhabens zu beschleunigen, nahm sie Aegle beim Eintreten ihres Sohnes in die Arme, küßte sie zweimal auf den Mund und sagte zu beiden:

»Plaudert einen Augenblick miteinander, meine lieben Kinder. Ich habe mich bis jetzt nur mit Aegle beschäftigt und möchte doch, bevor wir gehen, auch die anderen Gäste kennen lernen.«

Damit ließ sie die jungen Leute allein.

»Meine teure Aegle,« sagte darauf der junge Mann zu ihr, »mit welch glücklicher Aussicht schmeichelt meine Mutter meiner schüchternen Hoffnung? Hat sie von mir zu Ihnen gesprochen? Ich beschwöre Sie, erklären Sie mir ihre Haltung.«

»Sie wird Ihnen alles selbst sagen, aber glauben Sie mir, ich liebe Ihre verehrungswürdige Mutter.«

»Sie lieben Sie?«

»Ja, ich versichere es Ihnen.«

»Ah! Sie sprach Ihnen von mir?«

»Ja.«

»Und wie drückte sie sich aus?«

»Das ist es gerade, was sie Ihnen selber sagen soll.«

»Welch liebliches Feuer entstrahlt Ihren Augen, Aegle? Nie, nein, niemals waren Sie so schön, wie in diesem Augenblicke. Sie stellen alles in den Schatten.«

»Ihre Bewunderung gefällt mir, Herr De Juine, glauben Sie mir, daß ich mich davon geschmeichelt fühle. Ich wünschte nur, sie auch zu verdienen.«

»Welche Sprache … Schöne Aegle, oh! könnte ich Ihnen doch für eine gute Nachricht dankbar sein!«

»Ich würde mich gegen Ihre Mutter undankbar zeigen, wenn ich spräche, und ich möchte nicht, daß ich mir jemals diesen Vorwurf zu machen hätte.«

»Dieses Wort sagt mir genug. Oh, welches Glück! Aegle, die Röte auf Ihrem lieblichen Gesicht bestätigt meine Vermutung … Wie glücklich ist mein Los!«

»Glauben Sie denn der einzige Glückliche zu sein, De Juine? Es gibt noch mehr Herzen, die empfänglich sind für ein Glück, das sie verursachen, und … die selbst kein anderes kennen.«

»Göttliche Aegle! Das ist die Sprache eines anbetungswürdigen, zartfühlenden Weibes, des Ideals einer Frau im strahlendsten Sinne des Wortes! Der Instinkt hat Sie gelehrt, was tiefes Nachdenken die Philosophen nur hat ahnen lassen, das schönste Geheimnis der Natur! Welch ein Glück für den Gatten, von einer Frau geliebt zu werden, die ihrerseits nur glücklich ist durch die Seligkeit, die sie verschafft! Ihr Inneres, Aegle, ist so schön, wie Ihr bezauberndes Äußere … Können Sie jetzt darüber urteilen, wie eine Liebe sein muß, die auf Grund so vieler herrlicher Eigenschaften entbrannt ist …«

Als er sah, daß sie nur die Augen niederschlug, ohne zu antworten, fuhr er fort:

»Doch ich will Sie nicht mehr drängen, Aegle, selbst nicht das jedem Liebenden so süße Geständnis zu hören verlangen. Meine Achtung vor Ihrer Tugend … vor der Tugend des Mädchens, das zur teuren Genossin meines Lebens bestimmt ist, ist ein köstlicheres Gefühl, als das, welches ich durch Ihr süßes Liebesgeständnis empfinden würde! Bleiben Sie stets Sie selbst. Ich will nicht, daß meine Liebe der Erhabenheit Ihrer Gefühle den geringsten Abbruch tut. Oh, mit welchem Hochgefühl werde ich eines Tages zu mir sagen können: ich habe mir eine Gefährtin ohne Makel gewählt, ihre jungfräuliche Schamhaftigkeit ist noch die gleiche, wie am Tage, wo ich zum ersten Male zu ihr sprach, kein Wort, über das das bescheidenste Mädchen erröten könnte, ist noch diesem schönen Munde entschlüpft. Daher wird auch das Wort, das ich von ihm erwarte, um so herzlicher an mein Ohr klingen, das Wort, das im Grunde meines Herzens ertönt, und das ich schon zu hören glaube: Mein teurer Gatte! Das ist das einzige Wort, das meine Liebe verlangen wird zu hören, wenn die Zeit gekommen sein wird …«

Aegle war köstlich erregt von diesen ehrlichen, dem Herzen entstammenden Worten und konnte kaum ihre reizende Verlegenheit verbergen. Zum Glück wurde sie durch Madame De Juine daraus erlöst, die ihr Adieu zu sagen kam. Die Verräterin küßte sie zum Abschied.

Alle Welt glaubte, daß die Heirat beschlossen sei. Die Damen umringten Aegle und beglückwünschten sie mit versteckten Worten. Als ihre Mutter kam, sie abzuholen, teilte man ihr mit, welches Glück Aegle bevorstünde. Sie war freudig erregt darüber und führte ihre glückliche Tochter heim.

Am nächsten Tage machte Madame De Juine Herrn und Frau Chéret einen Besuch und bat sie, ohne nach ihrer Tochter zu fragen, die Besuche ihres Sohnes gestatten zu wollen. Man antwortete ihr mit der Rücksicht, die ihr gebührte, und De Juine wurde im Hause empfangen. Ein intimes Verhältnis entspann sich nun zwischen den jungen Leuten, obwohl Aegle stets in den Schranken der größten Zurückhaltung blieb. Doch verrieten sie bisweilen die Regungen ihres Herzens, und solche Augenblicke waren köstlich für den Liebenden.

Eines Tages sprachen die jungen Leute von den Ursachen der unglücklichen Ehen.

»Ich glaube,« äußerte De Juine, »daß in den meisten Fällen der Mangel an Interessengemeinschaft der beiden Ehegatten daran schuld ist. Mann und Frau hegen nicht die gleiche Liebe füreinander, haben nicht den gleichen Willen, die gleichen Neigungen, die gleichen Freuden. Man achtet vor der Heirat zu wenig auf die Gemeinschaft der Bestrebungen und Neigungen, man überzeugt sich nicht genug davon, ob man auch miteinander sympathisiert. Man denkt nur an die Sympathie der Vermögen. Diese ist zwar auch sehr nützlich, aber die am wenigsten wichtige.«

»Sie haben recht, Herr De Juine,« bemerkte Aegle, »und ich muß Ihnen gestehen, daß ich seit einiger Zeit diese Fragen studiert habe. Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß ich an mir keine Neigungen bemerkt habe, die den Ihrigen entgegengesetzt wären.«

Ein reizendes Wort, das ein Liebender noch besser verstehen wird, als ein anderer.

Zwei Jahre verflossen, ohne daß Madame De Juine bei den Eltern Aegles irgendwelche Schritte tat, aber sie war stets sehr zuvorkommend zu ihnen überall, wo sie ihnen begegnete, und ganz besonders zärtlich zu dem jungen Mädchen.

Endlich glaubte sie, daß es so weit sei, um den großen Schlag auszuführen. Seit einigen Tagen legte ihr Sohn eine größere Heiterkeit an den Tag, als gewöhnlich. Sie Schloß daraus auf zwei Möglichkeiten: entweder hatte seine Liebe nachgelassen, oder er war glücklich. Beides kam auf dasselbe hinaus. Sie fragte ihn geschickt aus, aber der Liebende sagte ihr nur die Wahrheit, die er entdeckt hatte, ohne daß Aegle sie ihm offenbart hatte, daß er nämlich der am zärtlichsten geliebte aller Männer sei. Sie glaubte trotzdem, daß er ihr etwas verheimliche, und dieser Gedanke wurde zum Ausgangspunkt ihres Handelns.

Sie hatte sich als letzte Waffe stets den Widerspruch ihres Gatten vorbehalten. In geschickter Weise wußte sie ihn nicht gegen Aegle aufzubringen, aber ihn auf eine andere Schwiegertochter aufmerksam zu machen, die fast ebenso liebenswert war wie diese, aber an Vermögen und Vornehmheit ebenso hoch über ihrem Sohn stand, wie De Juine über Aegle. Bisher war von ihr niemals die Rede gewesen, und ihr Sohn hatte nicht auf sie geachtet. Nun machte sie ihren Mann auf sie aufmerksam und ließ ihn durchblicken, daß sie imstande wäre, sie und ihren Sohn zusammenzubringen. Es gehörte wirklich ein außergewöhnlich interessanter Gegenstand dazu, Herrn De Juines Vater gegen Aegle zu stimmen, die er sicherlich als Schwiegertochter zärtlich geliebt haben würde.

Als die Mutter alle ihre Geschütze in Stellung hatte und glaubte, ihr Sohn befände sich in der richtigen Stimmung für ihre Pläne, ließ sie ihm durch seinen Vater verbieten, an eine Heirat mit Aegle zu denken und ihm den freundschaftlichen Rat erteilen, das junge Mädchen nicht mehr wiederzusehen.

Das war ein Blitz aus heiterem Himmel für den jungen Mann. Er suchte Trost in den Armen seiner Mutter, die sein Geschick scheinbar beklagte – vielleicht tat sie es wirklich, denn sie liebte ihn – und ihm verhängnisvolle Ratschläge erteilte. Das Herz des jungen Mannes sträubte sich mit Abscheu dagegen, aber er versuchte seine Mutter für eine heimliche Heirat zu gewinnen. Doch wagte er nicht, Aegle einen solchen Vorschlag zu machen. Er achtete sie zu hoch und hätte keine Worte dafür gefunden, ihr zu erklären, daß ihre Verbindung mit ihm geheimgehalten werden müßte.

Die Mutter setzte indessen den Vater von den geheimen Absichten des Sohnes in Kenntnis und riet ihm, nunmehr einen aufsehenerregenden Schritt zu tun, der die Geliebten zwinge, jeden offenen Verkehr abzubrechen, »Wenn Aegle dann«, fügte sie hinzu, »in heimliche Zusammenkünfte einwilligen würde, würde sie sich verächtlich machen und brauchte nicht mehr geschont zu werden.« Diesen Rat befolgte der Vater.

Davon unterrichtet, daß die Liebenden einer Gesellschaft in einem befreundeten Hause beiwohnten, begab er sich am Abend ebenfalls dorthin. Er fand seinen Sohn an der Seite Aegles, Das liebliche Mädchen, das keine Ahnung hatte von dem, was vorging, hörte ihrem Geliebten ganz gespannt zu. Es lag noch etwas anderes in ihren Zügen, eine gewisse zärtliche Neugier. Sie hatte wohl bemerkt, daß ihr Geliebter seit einigen Tagen sehr traurig war, und suchte ihn nun zu bewegen, ihr den Grund seines Kummers anzuvertrauen. De Juine, bis ins Innerste erregt, konnte eine Träne nicht zurückhalten und wollte gerade sprechen, als sein Vater, der sich ihnen unbemerkt genähert hatte, ihm das Wort abschnitt und zu ihm sagte:

»Ich muß mit dir sprechen, erwarte mich zwei Schritte weit von hier …« De Juine gehorchte.

Dann wandte er sich an Aegle und sagte zu ihr:

»Mein Fräulein! Wichtige Gründe haben mich veranlaßt, meinem Sohn zu verbieten, in Zukunft die Ehre weiter zu genießen, die Sie ihm bisweilen erweisen, sich mit Ihnen unterhalten zu dürfen. Ich sehe, daß er Ihnen das Verbot verschwiegen hat, denn sonst würden Sie, eine Dame aus guter Familie, seine Annäherungen nicht mehr geduldet haben. Ich nehme mir daher die Freiheit, Ihnen meinen Willen persönlich mitzuteilen. Sie werden herausfühlen, mein Fräulein, von welcher Wichtigkeit für Sie die Willfährigkeit sein wird, die Sie mir bei dieser Gelegenheit bezeugen werden.«

Er sprach ziemlich laut, um von allen gehört zu werden. Aegle hörte ihm bleich und niedergebrochen zu, ohne ihn zu unterbrechen. Sie hielt auch noch an sich, als er fort war, aber welch‘ furchtbare Seelenqual für sie? Endlich zog sie sich mehr tot als lebendig zurück. Zu Hause angelangt, erfaßte sie ein Schwächeanfall. Das Schöne Mädchen verheimlichte ihrer Mutter, die über den Zustand ihrer geliebten Tochter in Verzweiflung war, nicht den Grund ihrer Unpäßlichkeit. Schon am gleichen Abend setzte ein heftiges Fieber ein. Man wandte alle Hilfsquellen der ärztlichen Wissenschaft an, aber was können diese gegen unglückliche Liebe! Die Vernunft der Ärmsten wurde getrübt, und sie delirierte. In lichten Augenblicken stieß sie schwere Seufzer aus. Aegle war härter von dem schweren Schlage getroffen worden, als eine andere davon getroffen worden wäre, ihre Schamhaftigkeit, die Sicherheit, in die sie durch die Worte ihres Geliebten und seiner Mutter gewiegt worden war, daß ihr Eintritt in die Familie ihres Zukünftigen erwünscht sei, die grausame öffentliche Absage, alles dieses vereint hatte dieses ehrliche und empfindsame Gemüt tödlich verletzt.

Der junge De Juine war inzwischen in Unkenntnis über den Zustand seiner Geliebten. Er suchte seinen Vater durch die flehendlichsten Bitten umzustimmen. Dieser erstaunte über die Gewalt der Liebe seines Sohnes und fing an, sich erweichen zu lassen. Selbst Madame De Juine, die Zeuge der Zornausbrüche, des Schmerzes und der manchmal wilden Verzweiflung ihres Sohnes war, schien zur Umkehr bereit. Aber es wurde zu lange überlegt, und unterdessen schritt die arme Aegle ihrem Grabe entgegen.

Man gestattete endlich dem Geliebten, sie zu sehen. Am Abend seines Besuches, im selben Augenblicke, fand die Kranke ihre Vernunft wieder. Ihre Mutter war bei ihr. Das liebliche Mädchen sah sie mit sanftem Lächeln an und sagte:

»Meine liebe Mama, ich fühle mich besser … mein Herz ist nicht mehr durch die unglückliche Liebe eingenommen … es ist frei… Teurer De Juine! Werde glücklich, selbst mit einer anderen …! Ich würde doch nicht mehr den Namen deiner Frau annehmen wollen, auch nicht mehr können, scheint mir …«

Eine Flut von Tränen verhinderte sie, die Gegenstände zu unterscheiden. Sie streckte der Mutter ihre Hand hin, die diese küßte. Aegle war über diesen Beweis zärtlicher Liebe gerührt, nahm die Hand der Mutter und behielt sie fest an ihre Lippen gedrückt.

Während dieser rührenden Szene trat ein Diener ins Zimmer und gab Frau Chéret durch Zeichen zu verstehen, daß man sie zu sprechen wünsche. Diese verstand zuerst nicht, so daß Aegle die Zeichen bemerkte. Ihre Schwäche war so groß, daß sie kaum noch einen Atem besaß.

»Was gibt es?« hauchte sie fast unhörbar.

»Ein Herr wünscht Madame zu sprechen.«

»Sieh nach, Mama.«

Frau Chéret entschloß sich nur schwer, ihre Tochter zu verlassen, deren Ende sie herannahen fühlte. Endlich ging sie. Es war De Juine. Er stürzte sich zu Füßen der trostlosen Mutter: »Verzeihung, Vergebung! Nicht für mich, für meine Eltern Vergebung! Sie geben endlich nach … Ich wollte zuerst Sie sprechen, bevor ich eintrat … Ich fürchte …«

»Zu spät, ich habe keine Tochter mehr, zu spät …«

»Zu spät!« schrie der Verzweifelte heraus.

Aegle erkannte diese geliebte Stimme. Sie machte eine Anstrengung, den Kopf zu erheben, aber ihre Erschöpfung war zu groß. Es war ihre letzte Bewegung: sie war tot.

Inzwischen waren ihr Geliebter und ihre Mutter darüber einig geworden, wie sie Aegle von dem Besuch und dem Glück, das ihrer harrte, in Kenntnis setzen wollten. Die Mutter tritt endlich ein, sie nähert sich … Da sieht sie ihre einzige Hoffnung, das einzige, was sie auf der Welt liebt, ihre Tochter, eine Tochter, wie Aegle, bewegungslos daliegen, sie ist nicht mehr …! Sie fällt in Ohnmacht, die Lippen auf dem Munde ihres Kindes, das sie wieder ins Leben zurückrufen will …!

De Juine wartet unterdessen … Ungeduldig streckt er schüchtern den Kopf vor und bemerkt … Aegle in der Blässe des Todes, die Mutter ohnmächtig auf den Boden hingesunken. Er stürzt herbei, bleich, entstellt, kraftlos, als er sie leblos daliegen sieht, die er mehr liebt, als sein Leben, und mit dem Verzweiflungsschrei: »Gott! Sie ist nicht mehr!« drückt er seine Lippen auf den Mund Aegles und bleibt wie leblos in dieser Stellung.

Sein Schrei hat das ganze Haus in Bewegung versetzt.

Welch ein Anblick für den unglücklichen Vater … Herr Chéret sucht seine Frau wieder ins Leben zurückzurufen, und es gelingt ihm. Andere bemühen sich um De Juine, der endlich wieder zu sich kommt. Man will ihn dem Anblick der Toten entziehen, aber er entreißt sich den Armen derer, die ihn halten wollen, und den Schleier wegreißend, den man auf das Gesicht Aegles gelegt hatte, stürzt er sich über die sterblichen Überreste der Geliebten und ruft aus:

»Nichts kann uns trennen, meine Aegle, der Tod wird uns vereinigen … Oh! du grausamer Tod, der du mir die Hälfte meines Lebens weggenommen hast, nimm auch die andere, mit der ich doch nicht weiß, was ich anfangen soll .. !« Er umarmte den Leichnam Aegles, unmöglich, ihn davon zu trennen …

Der Anblick war herzzerreißend.

Seine Eltern wurden herbeigerufen.

»Mein Leben«, ruft er ihnen entgegen, »hing von dem ihrigen ab. Das wußtet ihr nicht, sonst hättet ihr ihrer geschont … Teure Aegle, unschätzbares Gut, das ich verliere! Wenn alle, die meinen Schmerz sehen, dich gekannt hätten, wie ich, so würden sie ihn teilen! Schatz an Tugend, Liebe und Geist, den ich einst mein zu nennen hoffte, du hättest mein Glück ausgemacht, und jetzt stürzest du mich in Verzweiflung … Oh! mein Gott, und ich bin dein Henker! Wäre ich nicht gewesen und meine verhängnisvolle Liebe zu dir, so würde deine trostlose Mutter dich noch heute besitzen …«

Als er geendet hatte, verließ er Aegle und schien etwas zu suchen, womit er seinem Leben ein Ende machen konnte. Da umarmte sein Vater den Unglücklichen, führte ihn hinaus und nahm ihn mit sich nach Hause.

Am nächsten Tage fand die Beerdigung der schönen Aegle statt. Die ganze Welt trauerte um sie, und alle vergossen heiße Tränen. Als der Trauerzug an der Ecke der Rue de la Draperie anlangte, warf sich ein halbnackter junger Mann mit zerzausten Haaren ihm entgegen, eilte auf den Sarg zu, riß den Trauerschleier herunter und entblößte Aegles Antlitz. Sechs Männer konnten ihn nicht zurückhalten, er hatte sie alle zu Boden geschlagen.

»Sie ist es,« schrie der rasende, unglückliche De Juine, »sie ist die Hälfte meines Ichs … ! Barbaren, ihr entreißt sie mir …! Aber ich werde mit ihr ins Grab steigen! Darauf küßte er Aegle, bedeckte ihr Gesicht wieder mit dem Schleier und fiel ohnmächtig um. Er mußte fortgetragen werden …

Bald darauf starb auch er. Seine ehrgeizige, bösartige Mutter siecht seitdem verzweifelt dahin, bestraft, mit Recht bestraft für ihren Hochmut und ihre verbrecherischen Pläne. Unselige Egoistin, du wolltest ein reizendes junges Mädchen deinem Sohne opfern und hast deinen Sohn selbst der Sichel des Todes überliefert!

Die beiden Witwer und ihre Töchter

2-028

Zwei Männer in den Vierzigern, alte Bekannte seit langem, verloren zugleich ihre Frauen und sahen sich plötzlich als Witwer mit jenem Gefühl des Behagens, das man empfinden würde, wenn man von langer, schwerdrückender Sklaverei befreit wird. Endlich konnten sie aufatmen. Als sie sich nach dem traurigen Ereignis zum ersten Male wiedersahen, sprachen sie sich gegenseitig ihr Beileid aus. Auf ihre Trauerkleider deutend, vergoß derjenige von ihnen, dem sie leichter kamen, einige Tränen. Der andere hielt es für anständig, es ihm gleich zu tun.

»Ach!« seufzte der erstere, »nun stehe ich allein da.«

»Und ich habe keine Frau mehr«, echote der zweite.

»Sie hatte ja Fehler,« fuhr der andere fort, »aber auch ihre guten Seiten.«

»Ganz wie die meinige.«

»Zuweilen hat sie mir das Leben nicht süßer gemacht, indessen – wäre sie doch nur noch da!«

»Madame Ruffier hat mir zwar manchmal durch ihr Gebelfer Migräne verursacht, aber wie gern wollte ich doch noch ihr Gezeter hören, womit sie mich alle Tage in Zorn versetzte!«

»Madame Hymète war eifersüchtig, ich konnte keine Frau ansehen, ohne daß sie in Aufruhr geriet, aber wie gern wollte ich solches noch weiter erdulden! Dann wandelte die arme Frau doch noch auf Erden!«

»Madame Ruffier trank ein wenig!«

»Madame Hymète hatte stets etwas mit meinen Schreibern: ich habe wenigstens fünfzig ihretwegen entlassen müssen!«

»Na und Madame Ruffier erst! Wenn ich da nicht immer aufgepaßt hätte! … Das ist eine Unannehmlichkeit, die unser Stand mit sich bringt, Prokuratoren und Notare sind gezwungen, stets junge Männer der schlimmsten Art um sich zu haben!«

»Ja! Schlingel und Stutzer, die jungen Männer von heutzutage sind nur noch schamlose Gecken!«

»Die Frauen machen sie dazu. Auch Madame Ruffier, die doch die Flasche, das Spiel, Verschwendung und Bequemlichkeit liebte, die zänkisch, kränklich und unsauber war, hatte einen Hang für diese Laffen!«

»Darin glich sie allen Frauen, auch der meinigen, die dürr, eine wahre Hopfenstange, ausgemergelt und trocken wie Holz war, auch sie tat schön mit diesen Frechdächsen. Wenn sie vor ihr standen, belebten sich ihre erloschenen Augen, dann schnarrte sie das R, richtete sich gerade, schwellte ihren Busen, ein reines Wunder, denn weiß Gott, woher sie ihn bekam, spielte die Neckische und lachte, aber ohne den Mund aufzutun, damit man nicht den Zahn der Zeit sehen konnte!«

»Eigentlich hatten wir da doch ein Paar recht häßliche Vetteln, lieber Herr Ruffier!«

»Meiner Treu, Sie haben recht, mein bester Hymète!«

»Ich bin froh, daß wir sie los sind!«

»Eine furchtbare Last ist von uns genommen!«

»Was mich tröstet, lieber Ruffier, ist, daß meine Tochter ihrer Mutter nicht im geringsten gleicht.«

»Nun, wenn sie ihr auch gleichen würde, wäre es nicht so übel, denn Madame Hymète war als Mädchen sehr hübsch.«

»Das ist wahr, das ist sehr wahr, ganz wie Fräulein Ruffier: hat sie nicht auch die Züge ihrer Mutter, und ist sie trotzdem nicht reizend?«

»Finden Sie?«

»Zum anbeißen.«

»Unsere Frauen waren wirklich nicht so übel, als wir sie nahmen, hem.«

»Im Gegenteil. Sie waren die schönsten Mädchen der Rue des Bernardins, des ganzen Viertels und unseres ganzen Standes.«

»Ich glaube nicht, lieber Ruffier, daß irgendeine andere Advokaten-, Notars- oder Prokuratorsfrau ihnen das Wasser reichen konnte.«

»Das stimmt! Aber, lieber Freund, wie denken Sie darüber, wollen wir denn Witwer bleiben?«

»Das wäre, weiß Gott, wohl das beste.«

»Hat aber auch sein Unangenehmes!«

»Allerdings.«

»Mir kommt da, mein bester Hymète, ein sehr glücklicher Gedanke, aber ich will ihn erst reif werden lassen. Denken wir für den Augenblick nur daran, uns zu amüsieren.«

»Wohl gesprochen, mein Lieber.«

Bei ihrem nächsten Zusammensein fragte Meister Hymète, der Notar, Meister Ruffier, den Prokurator:

»Nun, lieber Freund, was macht Ihr glücklicher Gedanke? Ist er reif?«

»Ich denke ja.«

»Na dann lassen Sie mal hören.«

»Also die Sache ist die: wir haben jeder eine Tochter, zusammen zwei sehr liebenswerte junge Mädchen, die gut erzogen und noch ganz unschuldig sind, kurz wie geschaffen für Witwer schon reiferen Alters. Wie wär’s, wenn wir einen Tausch machten? Geben Sie mir Fräulein Hymète zur Frau, und ich gebe Ihnen Fräulein Ruffier zur Frau. Dann werden wir beide wieder glücklich werden, wie im Anfang unseres ersten Liebesverhältnisses!«

»Eine großartige Idee!« rief Meister Hymète begeistert aus, »und was das Sonderbarste ist, ich habe auch schon denselben Gedanken gefaßt, allerdings nur oberflächlich und ohne mich damit aufzuhalten. Ich fürchte nur eins, daß nämlich unsere Kinder uns für zu alt halten werden.«

»Ach was, die haben noch keinen Geschmack! … Ich garantiere jedenfalls für meine Sophie, obwohl sie älter ist, als Ihre Tochter!«

»Nun dann werde ich Ihnen auch für meine Viktoria garantieren, sie ist ja noch ein Kind und hat keinen Willen.«

Nachdem die beiden Witwer hoch erfreut dieses Abkommen getroffen hatten, gingen sie zusammen dem Vergnügen nach und kehrten dann nach Hause zurück, um sich sofort mit der Begründung ihres gegenseitigen Glücks zu beschäftigen. Nach dem Diner nahm Meister Ruffier seine Tochter bei Seite und sagte zu ihr:

»Liebe Tochter, du bist vor acht Tagen 18 Jahre alt geworden, es ist daher Zeit, dich unter die Haube zu bringen. Ich weiß einen Mann für dich, einen sehr ehrenhaften Mann, der dich liebt, und dessen Haus wohl bestallt ist. Ich bin sicher, daß du mit ihm glücklich werden wirst. Ich kenne ihn genau, denn er ist mein Kollege, ja mehr, mein Freund.«

»Lieber Papa,« erwiderte Sophie, »Sie haben es sehr eilig, mich los zu werden! Ich bin noch zu jung, um einem Haushalt vorzustehen, lassen Sie mir noch einige Jahre Ihre Lehren angedeihen, damit mein Zukünftiger keine Frau bekommt, die er heranbilden muß und dadurch die Gelegenheit erhält, mich zu beherrschen und als Kind zu behandeln. Um diese Gnade bitte ich Sie kniefällig!«

»Steh auf. Die Sache ist beschlossen, und nichts kann mich davon abbringen. Da ich dich liebe, habe ich einen Mann für dich erwählt, dessen wohleingerichteter Haushalt ganz von selber geht, einen willfährigen Gatten, der vernünftig ist und deine Unerfahrenheit als einen Vorzug, als einen Reiz mehr ansieht, der weit entfernt, dich beherrschen zu wollen, sich im Gegenteil ein Vergnügen daraus machen wird, sein Haus und sich selbst von dir beherrschen zu lassen.«

»Und wer ist es?« fragte Sophie schüchtern.

»Meister Hymète …«

»Hymète!« rief Sophie erbleichend.

»Du wirst einsehen, daß das eine großartige Partie für dich ist, er besitzt ein ungeheures Vermögen und eine vorzügliche Stellung.«

»Aber er hat eine große Tochter, lieber Vater.«

»Allerdings, aber diese Tochter wird dem Vermögen meines Freundes keinen Abbruch tun, denn er gibt sie ohne Mitgift einem Manne zur Frau, der sie liebt. Beide Hochzeiten sollen am gleichen Tage stattfinden … Sei vernünftig, liebes Kind, denke daran, daß nichts mehr an der Sache zu ändern ist, denn ich habe mein Wort verpfändet.«

Sophie zog sich in einer unbeschreiblichen Niedergeschlagenheit zurück. Sie liebte. Der erste Schreiber, ein junger Mann von 28 Jahren, schön, herrlich gebaut, hatte ihr Herz zu erobern gewußt, und in der Hoffnung, ihren Vater zu zwingen, in die Heirat mit ihm einzuwilligen, hatte sie sich sehr gefügig erwiesen. Der Schreiber seinerseits hatte gefunden, daß Sophie, abgesehen davon, daß sie reizend war, eine großartige Partie für ihn sei, seine Liebe beruhte daher auf einer doppelten sehr festen Grundlage, der der Liebe und des Interesses. Die Schöne ließ sofort ihren Geliebten rufen und teilte ihm das Unglück mit, das sie bedrohte. Sie pflogen Rats zusammen mit der Zofe, die seit dem Tode ihrer Mutter Sophiens Gouvernante war, und das Trio beschloß, daß man die Freiheit, die man noch genoß, ausnützen solle, daß Sophie Zeit zu gewinnen suche und, wenn ihre Zeit gekommen wäre, ihrem Vater ihren interessanten Zustand entdecken müsse.

Was war inzwischen bei Meister Hymète geschehen?

Er war nicht so schnell vorgegangen wie Ruffier und hatte mit seiner Eröffnung bis zum nächsten Morgen gewartet. Die liebenswürdige Viktoria war kaum aufgestanden, als man sie davon benachrichtigte, daß ihr Vater sie zu sprechen wünschte. Sie erschien vor ihm in einem allerliebsten Négligé. Als der Notar sie sah, dachte er bei sich, daß es eigentlich wirklich schade sei, so viel jugendliche Schönheit dem alten Prokurator zu opfern, aber da fielen ihm die Reize Sophiens ein, und er zwang dieses Gefühl nieder.

»Meine liebe Tochter«, hub er an, »ich will dich verheiraten, was meinst du dazu?«

»Mich? lieber Vater, nun ich werde tun, wie es Ihnen beliebt, und danke Ihnen, daß Sie mich um Rat fragen.«

»Die Partie, die ich für dich im Auge habe, paßt in jeder Beziehung. Dein Zukünftiger ist reich, angesehen und dazu einer meiner Freunde.«

»So alt, wie Sie, Papa?«

»Ja, so ungefähr.«

Das junge Mädchen schnitt ein Gesicht und äußerte: »Ich finde noch keinen Geschmack an der Ehe.«

»Das ist für den Augenblick auch gar nicht nötig, es genügt, daß du ihn später hast.«

»Wahrlich, das wird nie geschehen, Papa!«

»Du glaubst, liebe Tochter?«

»Bei Gott nicht, Papa!«

»Nun gut, dann wirst du dich also aus Gehorsam verheiraten, und dein Verdienst wird darum um so größer sein. Ich will es.«

Meister Hymète hatte zu seiner Tochter noch niemals in diesem Tone gesprochen, er hatte sie zu Lebzeiten seiner Frau eher verzogen. Die Kleine ging daher ganz in Tränen gebadet hinaus.

Sie holte sich Rat bei ihrer Zofe. Dieses Mädchen war vom ersten Schreiber bestochen worden, und er hatte ihr eine große Belohnung zugesichert, wenn es ihm mit ihrer Hilfe gelänge, die Liebe Fräulein Hymétes und ihre Hand zu gewinnen. Wir sehen also, daß die beiden Töchter der beiden Witwer sich in gleicher Lage befanden, denn das Resultat war auch in diesem Falle das gleiche gewesen. Man beriet sich zu Dritt und faßte denselben Beschluß, wie bei Meister Ruffier.

Die Witwer sahen sich am Abend desselben Tages. Sie verheimlichten sich gegenseitig, daß sie bei Ausführung ihrer Absichten auf Hindernisse gestoßen seien, und betonten, daß sie des Gehorsams ihrer Töchter sicher wären. Man machte also die Vorbereitungen für die Doppelhochzeit, und in wenigen Wochen war alles fertig.

Nun wurden die nötigen Befehle erteilt. Sophie stellte sich krank. Viktoria empörte sich fast offen gegen ihren Vater und drohte damit, dem Prokurator – der Notar hatte ihr diesen endlich genannt – ins Gesicht zu spucken, wenn er sich ihr als Geliebter nahen würde.

Zwei Monate gingen so in beständigen Kämpfen hin. Nach Ablauf dieser Zeit blieb Meister Hymète nichts weiter übrig, als Meister Ruffier, der auf Erfüllung seines Wunsches drang, über die wirkliche Stimmung seiner Tochter aufzuklären.

»Wenn es weiter nichts ist«, erklärte darauf der Prokurator, »so kümmert mich das wenig. Wenden Sie nur Ihre Autorität an, dann werden wir schon zum Ende kommen. Sophie wartet auf Sie, bleiben Sie fest.«

Hymète folgte diesem Rat und sprach gegen seine Tochter so schreckliche Drohungen aus, daß diese ganz entsetzt war. Er benutzte einen Augenblick der Einschüchterung, um ihr Meister Ruffier zuzuführen, den sie mit ehrerbietigem Abscheu empfing.

Zufrieden mit diesem Erfolg kehrte der Prokurator nach Hause zurück, ließ seine Tochter rufen und setzte den Tag ihrer Hochzeit fest. Sophie war in Verzweiflung. Sie sah, daß sie nun nicht länger warten durfte, warf sich ihrem Vater zu Füßen und gestand ihm, daß sie in der Hoffnung wäre. Ihre Röte sagte das übrige, und ihre Taille bestätigte nur zu sehr ihre Behauptung. Der Prokurator geriet in eine fürchterliche Wut, vor seinem Zorn fiel Sophie zweimal in Ohnmacht. Endlich suchte der Prokurator sein Arbeitszimmer auf, um in Ruhe zu überlegen, was angesichts dieses Streiches, den er seiner Tochter nicht zugetraut hätte, zu tun sei. Was nun anfangen! … Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Endlich blieb er dabei stehen, Sophie trotz ihrem Zustande mit Hyméte zu verheiraten, das einzige Mittel, zur Befriedigung seiner eigenen Wünsche zu gelangen. Denn er sagte sich, der gute Prokurator: »Meine Absicht ist, weniger das Glück meiner Tochter zu begründen, als das meinige. Gebe ich sie hin, dann bekomme ich Viktoria, die ich vergöttere, und wenn ich sie einmal habe, dann kann der Fehltritt Sophiens meine Ehe nicht mehr trennen. Allerdings wird sie dann vielleicht unglücklich werden, aber hat sie solches denn wegen ihres Fehlers nicht verdient? Übrigens wird Hymète es schon nicht so schlimm mit ihr treiben aus Furcht, ich könnte dann gegen seine Tochter Repressalien anwenden. Daher wird er meine Tochter schonen, und ihre Strafe wird, wenn sie überhaupt bestraft wird, sehr milde ausfallen.«

Nach dieser Überlegung ließ er seine Tochter wieder zu sich rufen und sagte zu ihr:

»Ich will dir deinen Fehltritt verzeihen, aber nur unter der Bedingung, daß du Hymète heiratest. Weigerst du dich, dann lasse ich dich in ein Korrektionshaus bringen, wo du den Rest deiner Tage bei Wasser und Brot zubringen kannst.«

Die arme Sophie war entsetzt über diese Drohung und versprach ihrem Vater alles, was er verlangte. Darauf beruhigte sie der erfreute Prokurator und teilte ihr mit, daß er ein Mittel besäße, um ihren Zukünftigen zu verhindern, mit ihr in Unfrieden zu leben, näheres darüber setzte er ihr aber nicht auseinander. Darauf nahm er Rache an seinem Schreiber, den seine Tochter ihm genannt hatte. Er jagte ihn aus seinem Hause und ließ ihn wegen begangener Untreue in ihm anvertrauten Geschäften vor Gericht laden.

Am darauffolgenden Tage erklärte Ruffier Meister Hymète, daß seine Tochter bereit sei, seine Hand anzunehmen.

»Die meinige habe ich noch nicht dahin bringen können, wo ich sie haben wollte«, erwiderte der Notar. »Welchen Mitteln verdanken Sie diesen Erfolg?« Der Prokurator schilderte ihm die erlebte Szene, indem er aber dabei alles, was Hymète hätte verletzen können, ausließ. Nun wandte der Notar gegen seine Tochter dieselbe Drohung an und kam ebenfalls damit zum Ziel.

Man hatte geflissentlich Sorge getragen, daß die jungen Mädchen sich nicht sprechen sollten, aber wie der Zufall spielt, geschah es, daß sie sich nach ihrer Einwilligung im Luxemburggarten begegneten. Als Sophie Fräulein Hymète von weitem bemerkte, wollte sie ihr aus dem Wege gehen, war sie doch die Tochter eines Mannes, der ihr verhaßt war, und glaubte sie sich doch selber als ihre zukünftige Stiefmutter von ihr gehaßt, obwohl sie diese gegen ihren Willen wurde. In gleichem Gefühle hatte Viktoria, als sie Fräulein Ruffier bemerkte, einen Umweg gemacht, und so kam es, daß beide sich plötzlich Nase an Nase gegenüberstanden. Man mußte sich begrüßen. Viktoria war von der tiefen Traurigkeit Sophiens gerührt, sie blieb stehen und sagte zu ihr:

»Glauben Sie mir, mein liebes Fräulein, alles, was sich ereignet, geschieht sehr gegen meinen Willen!«

»Nicht so sehr, wie gegen den meinigen, liebes Fräulein!«

»Mich schaudert in der Tat vor dieser Heirat, aber, wenn Sie mich nicht abweisen, werde ich Sie desto herzlicher lieb haben.«

»Ach, liebes Fräulein«, sagte da Sophie, »das würde meine Verzweiflung wenigstens in etwas mildern! Aber glauben Sie auch mir, daß das Band, das mich Ihnen nahe bringt, mir in der Seele verhaßt ist!«

»Ich werde also Ihre Schwiegermutter!«

»Wie? Was höre ich? Was sagen Sie da?« fragte Sophie überrascht.

»Sie erstaunen darüber? Sie wissen es also noch nicht? Ja, sollte ich nicht noch zuletzt im Stande sein, es zu verhindern, so werde ich Ihre Schwiegermutter werden, aber ich habe noch eine Saite auf meinem Bogen.«

»Sie meine Schwiegermutter? Und ich Unglückliche die Ihre! Ah!«

»Ich fange an«, bemerkte Viktoria, sich fassend, »in der Sache klar zu sehen: da unsere Väter uns, ihre Töchter, nicht selber heiraten können, so liefern sie sie sich gegenseitig aus!«

»Wie! Sie meine Schwiegermutter! … Und ich dachte, ich wäre die einzig Unglückliche … Nun, meine liebe Viktoria, dann wollen wir unsere alte Freundschaft erneuern, uns gegenseitig unser Herz ausschütten und uns nichts verheimlichen. Ich muß Ihnen etwas sonderbares mitteilen.«

»Und ich Ihnen auch, liebe Sophie, wir wollen diese Seitenallee einschlagen …«

Und nun vertrauten sich die beiden Schönen gegenseitig ihren Kummer an, sie sprachen von ihrer Liebe von ihrer Schwäche, und das sie sich nur hingegeben hätten, um dem Schicksal zu entgehen, das ihnen drohte. Sie gestanden sich gegenseitig, daß sie in der Hoffnung wären, und fielen sich dann, heiße Tränen vergießend, in die Arme.

»Dahin hat also«, nahm Viktoria zuerst wieder das Wort, »der Wahnsinn ihrer Väter zwei Mädchen gebracht, die dazu geschaffen waren, ehrsam zubleiben! Aber mir bleibt noch als letztes Rettungsmittel mein Fehltritt selbst: ich werde den heiklen Schritt tun und ihm jenen eingestehen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt.«

»Ach! liebe Viktoria, das habe ich bereits getan, und es hat zu nichts geführt!«

»Sie haben es gethan? Ihrem Vater haben Sie alles gestanden?«

»Ja, und trotzdem besteht er darauf, daß ich den Ihrigen heirate!«

»Dann ist es leicht möglich, daß mein Vater von mir das gleiche fordern würde! … Oh! meine liebe Sophie, was fangen wir nur an?«

»Wir müssen uns gegenseitig helfen, die engste Freundschaft schließen, und wenn das Unglück es will, daß wir unserem traurigen Geschick nicht entgehen sollen, dann müssen wir wenigstens danach trachten, uns der Wut der beiden Männer zu entziehen, die sie zweifellos erfassen würde, wenn sie die Wahrheit erführen.«

»Ich habe noch eine geringe Hoffnung, daß mein Eingeständnis vielleicht etwas nützen wird«, bemerkte Viktoria, »vielleicht ändert mein Vater danach seinen Entschluß! Es scheint, daß der Ihrige Sie nur hergibt, wenn er mich dagegen empfängt.«

»Versuchen Sie es immerhin, liebe Freundin.«

Darauf gingen die jungen Mädchen auseinander, noch eine schwache Hoffnung hegend, jedenfalls aber erleichtert, sich ihre Herzen ausgeschüttet zu haben.

Viktoria traf ihren Vater allein zu Hause an und bat ihn, sie einen Augenblick anzuhören.

»Alle deine Worte sind unnütz«, erwiderte er.

»Ich habe Ihnen nur noch eins zu sagen, mein Vater, das letzte Wort: lassen Sie mich nur noch den allerletzten Einwand machen …«

Da sie sah, daß er hartnäckig schwieg, warf sie sich ihm zu Füßen und sagte:

»Ich hoffe doch noch, meinen Vater wieder zu finden, und diejenige, die Ihnen widerstanden hat, solange sie unschuldig war, wagt zu hoffen, daß sie jetzt, wo sie schuldig ist, ihr Herz zu rühren vermag … Ich liebe … Ich war schwach … Die Folgen meiner Schwäche sind schon sichtbar.

»Sparen Sie sich«, unterbrach ihr Vater sie da, »doch die Kosten einer so dicken Lüge! Übrigens würde auch das an meinem Entschluß nichts ändern …«

»Lieber Vater, glauben Sie mir und setzen Sie mich nicht der Wut eines Mannes aus, der sich vor Zorn nicht mehr kennen wird, wenn er sich so grausam betrogen sehen wird!«

»Um so schlimmer für Sie: Es tut mir wirklich leid, aber darum bewillige ich doch keine Minute Aufschub. Sie stürzen mich in Verzweiflung … So erfahren Sie denn, daß Sophie …« »Sich töten wird? Das ist nicht mehr Mode …« »In denselben interessanten Umständen ist, wie ich.« »Ich will es wohl glauben, habe aber jetzt anderes zu tun, als solche Faselei noch weiter anzuhören. Gehen Sie auf Ihr Zimmer und lassen Sie mich in Ruh!«

»Grausamer Rabenvater!«

»Warum so handeln tat er? … Du siehst, ich mache schon Verse! Laß‘ deinen Vorwürfen und Klagen freien Lauf und laß‘ deine Tränen fließen, aber sei mir gefälligst gehorsam. Ich schwöre dir, es muß sein! Du besitzt Geist, Viktoria, wenn du nur die Hälfte davon darauf verwendest, deinen Gemahl in Raserei zu versetzen, dann bist nicht du am meisten zu beklagen!«

Bei den letzten Worten führte er sie an die Tür und übergab sie den Händen ihrer Zofe, die sie schon erwartete.

So war auch die letzte Hoffnung geschwunden, und die Mädchen mußten sich in ihr Schicksal fügen. Fräulein Ruffier wollte noch das letzte versuchen und dem Beispiel Viktorias folgen, indem sie am Abend ihrem Vater erklärte, daß diese sich ebenfalls in der gleichen Lage, wie sie, befände. Aber die arme Sophie wußte nicht, daß sich die Väter inzwischen bereits gesehen und über die vermeintliche List Viktorias viel gelacht hatten. so hatte also auch die Enthüllung dieses Geheimnisses nicht den geringsten Erfolg, im Gegenteil die Väter trafen nun alle Vorkehrungen, daß die jungen Mädchen bis zur Hochzeit weder unter sich noch mit ihren Geliebten wieder zusammenkommen konnten.

Endlich war der verhängnisvolle Tag gekommen. Die beiden Opfer wurden geschmückt und nach den fürchterlichsten Drohungen an den Altar geschleppt. Sie sagten weder ja noch nein, wer aber schweigt, willigt ein, ist ein alter Grundsatz, selbst bei dieser wichtigsten aller Zeremonien im Leben. Der Lärm der Hochzeitsfeier konnte ihren Kummer nicht verscheuchen, aber sie schluckten ihre Tränen hinunter.

Die jungen Frauen waren gezwungen, ihr Schicksal hinzunehmen, und schienen nach acht bis zehntägiger Ehe ziemlich ruhig geworden zu sein. Man erlaubte ihnen daher, sich zu besuchen und so lange, wie sie wollten, bei einander zu bleiben. Sie verließen sich beinahe nicht mehr.

Inzwischen näherten sie sich aber mehr und mehr einer anderen Katastrophe. Sie hatten zwar ihren Fehltritt eingestanden, aber man hatte ihnen keinen Glauben geschenkt. Sie waren in großer Verlegenheit, verzweifelten aber nicht, bei gemeinsamem Vorgehen einen Ausweg zu finden, wie sie ihren Männern ihre Niederkunft verheimlichen konnten. Sie arrangierten die Dinge mit großer Schlauheit, besonders legte Viktoria große Intelligenz an den Tag. Sie war auch mehr Herrin ihrer selbst, da sie sich weniger betrübte, als Sophie. Seitdem sie sich mit ihrer Lage abgefunden hatten, wurden sie von ihren Männern sehr gut behandelt, ja man kann sagen, angebetet. Wenn aber Liebe von jemandem kommt, den man haßt, so werden die Qualen nur vermehrt. Man bewilligte ihnen alles, was sie verlangten, beschränkte sie nur einigermaßen in ihrer freien Bewegung. Da Sophiens Zustand am meisten vorgeschritten war, wurde beschlossen, daß Viktoria erkranken und von ihrer Freundin Tag und Nacht gepflegt werden sollte. Alles gelang nach Wunsch. Man gewann den Arzt, und als die Krisis herannahte, wußte Viktoria geschickt den Prokurator aus dem Hause zu schaffen. Sophie genas bei ihrer Freundin eines schönen Jungen, der sofort einer Amme übergeben wurde. So hatte niemand von der Niederkunft Sophiens auch nur die geringste Ahnung. Sie blieb noch einige Tage im Hause ihres würdigen Vaters – der zweifellos ein Auge zudrückte – unter dem Vorwande eines Unwohlseins, das sie sich durch die unermüdliche Pflege ihrer Schwiegermutter zugezogen hätte.

Dieser glatte Erfolg ermutigte Madame Ruffier, die zwei Monate später ihrer Niederkunst entgegensah. In der Zwischenzeit erholte sich Sophie vollends und konnte nun ihrer Schwiegertochter Viktoria den gleichen Dienst leisten. Diese genas im Hause ihres Vaters eines kräftigen Mädchens. Der Notar hatte etwas gemerkt und wurde sehr nachdenklich, doch wollte er nicht herausplatzen und seine Tochter unglücklich machen. Nur suchte er sich über den Zustand seiner Frau Gewißheit zu verschaffen. Zum Glück hatte man alle Vorkehrungen getroffen, damit keine Spuren hinterblieben, so daß Meister Hymète seine Hausehre für intakt halten konnte. Daß seinem Schwiegersohn-Schwiegervater das kleine Unglück passiert war, war ihm herzlich gleichgültig.

Die beiden schönen jungen Frauen hatten sich, solange die Furcht der Entdeckung über ihren Häuptern schwebte, sehr klein gemacht. Sie wußten, daß die Welt heimliche Fehltritte verzeiht und nur unerbittlich ist, wenn der Skandal in die Öffentlichkeit tritt. Als sie aber nun gegen jede Katastrophe geschützt waren, da waren sie nicht mehr so leicht zu behandeln. Sie eroberten ihre volle Freiheit zurück und genossen derselben. Ihre beiden Geliebten, die sich inzwischen selbständig niedergelassen hatten, wurden trotz dem heftigen Einspruch ihrer Ehemänner von den jungen Frauen ins Haus gezogen. Man machte Ausflüge aufs Land, oft in Abwesenheit der Ehemänner, und warf das Geld für Vergnügungen hinaus. Die alten Ehekrüppel mußten alles hinunterschlucken, nicht ohne sich zu beklagen, was jedoch vergeblich war.

Nun geschah es, daß die beiden Frauen wieder in interessante Umstände kamen. Die Freude der alten Herren darüber war unbändig und machte sie gegen ihre Frauen nachsichtiger. Sophie genas eines Mädchens und Viktoria eines Knaben. Die schwächlichen Früchte einer widerwillig eingegangenen Ehe waren nicht lebensfähig, worüber sich indessen die Mütter trösteten. Beide kamen zugleich auf den Gedanken, die gesunden, kräftigen Kinder ihrer Liebhaber gegen die Wesen, die der Tod ihnen entriß, auszutauschen. Der Sohn Sophiens wurde an Stelle des verstorbenen Kindes Viktorias gesetzt, und als die Tochter Meister Hymètes verblichen war, schob man geschickt die Tochter Madame Ruffiers unter. Die Sache ließ sich leicht machen, da man die Kinder vorher auswärtigen Ammen übergeben hatte. so wußten nur die beiden Mütter um dieses Geheimnis. Nun atmeten die beiden Frauen erst auf. Ihre Liebhaber wurden in das Geheimnis eingeweiht. Sie waren glücklich, sich als Väter zu sehen, und versprachen, unverheiratet zu bleiben und ihr ganzes gegenwärtiges und kommendes Vermögen den Kindern zuzuwenden. Die beiden Frauen waren jetzt ganz Herr im Hause und führten ihre alten Männer am Gängelbande. So weit wäre alles gut gewesen, und die jungen Frauen hatten vielleicht noch nichts allzu Böses angerichtet. Wenn aber einmal eine Frau anfängt, sich schlecht aufzuführen und die heiligsten Gesetze der menschlichen Gesellschaft zu verletzen, dann halten bald alle anderen Laster ihren Einzug. Die jungen Frauen entschuldigten sich mit dem ihnen angetanen Zwang und warfen sich als Richter in ihrer eignen Sache auf. Sie hörten auf niemand und entschädigten sich für die Vergangenheit auf Skandalöse Weise, indem sie zu ihren Geliebten nunmehr ganz offen in ein verbrecherisches Verhältnis traten, worüber ihre Ehemänner allein in Unkenntnis waren. Aber der Schleier wird fallen, und die Schuldigen werden bestraft werden, die einen durch die anderen. So will es nicht der Zufall, so wollen es die ewigen Gesetze, die stets wie ein schneidendes Schwert an einem Haare über dem verbrecherischen Haupte dessen hängen, der sie verletzt. Die Gewohnheit des Lasters macht unbesonnen, man nimmt sich nicht mehr in acht, denn es wird auf die Dauer langweilig, immer Vorsicht zu üben. Eines Tages ließ Viktoria einen Brief ihres Galans folgenden Inhalts auf dem Tisch liegen:

»Liebe Freundin,

»Ich habe die Kinder Deinem Wunsche gemäß gesehen, sie sind reizend, und man sieht, daß es Kinder der Liebe sind. Ich glaube, man könnte sie wohl nach Paris bringen. Sie sind jetzt vier Jahre alt, und ich fürchte, daß ein weiterer Aufenthalt auf dem Lande ihrer geistigen Weiterentwicklung nicht förderlich sein würde. Sie sind sehr fein gebaut, fangen aber an, bäuerische Haltung anzunehmen, was man nach meinen Beobachtungen später nur sehr schwer wieder los wird. Ich denke, die beiden Untiere werden nie etwas von der Sache erfahren und stets die Kinder für die ihrigen halten. Ihr müßt vor ihnen, wenn die Kinder kommen, Eure Freude über das gute Fortkommen der teuren Früchte unserer Liebe äußern. Unsere Liebesbande haben die Barbaren getrennt! Der Himmel hat sie dafür doppelt gestraft: wir besitzen Eure Herzen und haben dazu noch das Vergnügen, sie unsere Kinder aufziehen zu lassen , nicht daß wir diese Verpflichtung nicht mit Freuden auf uns nähmen, sondern weil es bisweilen scherzhaft sein wird, zu sehen, wie die beiden Werwölfe die Kleinen liebkosen, die sie doch erwürgen würden, wenn sie wüßten, wer sie wären. Ich denke, der notwendige Umtausch Eurer Kinder wird für Euch keine Entbehrung sein, denn Ihr seht Euch ja alle Tage. Übrigens könnt Ihr sie ja auch, so oft Ihr wollt, umtauschen und dadurch für einige Zeit jede ihr eignes Kind bei sich haben. Adieu, Geliebte, Angebetete … Die Henker haben nichts gewonnen! Wir lieben uns, wir genießen, und ihnen versagt Ihr alles … Verzeih mir, süße Närrin, diesen kleinen Rachezug. Ich bin mit Leib und Seele ganz der Deine

»Marcadin, C. ch. R. N. au C***«

Meister Ruffier, der eifersüchtigste und sanguinischste der beiden alten Herren, fand diesen Brief, der an seine Frau adressiert war, zwei Monate später, als er geschrieben worden war, nachdem also die Kinder bereits zur allgemeinen Freude bei ihren Müttern waren. In der ersten Erregung wollte er furchtbare, grausame Rache nehmen, und schwarze Gedanken überkamen ihn, als die kleine Sophie ihn liebkoste und ihn ihren lieben Papa nannte, wie sie es immer tat. Er wollte sie mit Abscheu zurückstoßen, da fiel ihm ein, daß das Kind wirklich Sophiens Kind, mithin seine Enkelin sei, sein Zorn legte sich mit einem Schlage, Tränen stürzten ihm aus den Augen, und sein fühlloses Herz empfand zartere Regungen. Sein eigenes Enkelkind vernichten? Lieber wollte er auf seine Rache verzichten. Aber der fatale Brief vergiftete darum nicht weniger den Rest seiner Tage. Immer wieder fiel ihm das Eingeständnis seiner Tochter ein und wie sie ihn vor der Heirat gewarnt hatte. Diese traurigen Gedanken beschäftigten ihn beständig, stimmten ihn düster und machten ihn bisweilen rasend. Oft sah er mit Wut seinen vermeintlichen Sohn an, wenn er ins Haus kam oder wenn er ihn bei Hymète antraf, und häufig geriet er in die Versuchung, ihn zu erwürgen, anstatt ihn zu liebkosen. Zuletzt konnte er es nicht mehr ertragen, daß sein Schwiegersohn-Schwiegervater glücklicher sein sollte als er, und hatte die Grausamkeit, ihn aus seinem Irrtum zu ziehen, indem er ihm den verhängnisvollen Brief zeigte. Meister Hymète geriet in kaum geringere Wut, als sie seinen Freund gepackt hatte, und klagte noch dazu diesen an, er sei an ihrem gemeinsamen Unglück schuld. Nach unnützem Hin- und Herstreiten und reichlichen Vorwürfen sagte Ruffier endlich zum Notar:

»Es scheint, daß wir unserem Schicksal nicht entgehen konnten und dazu geschaffen waren, zweimal das zu werden, was wir sind … Wir haben, das gebe ich zu, eine große Dummheit begangen, ich habe, das gebe ich auch zu, zuerst diesen Gedanken gehabt: wir haben mit unserer Gewalt über zwei junge Mädchen, die von uns abhingen, Mißbrauch getrieben, wir haben sie zum Gehorsam gezwungen und sind nun dafür bestraft worden, so weit wäre alles in Ordnung, wenn wir die Sache als Philosophen betrachten. Andere Ehemänner als wir könnten etwas zur Ordnung der Dinge beitragen, indem sie nun auch ihre Weiber bestraften, wir aber sind dieses Vorzuges verlustig gegangen durch unser sonderbares Arrangement, das uns gegenseitig zu unseren Schwiegersöhnen-Schwiegervätern macht. Denn wen würden wir bestrafen? Unsere Töchter und unsere Enkelkinder! Ich denke daher, es wäre das beste, die ganze Geschichte zu begraben. Was meinen Sie?«

»Sie haben recht, soweit es diesen Punkt angeht. Aber die beiden Galane sollten wir nichtsdestoweniger büßen lassen!«

»Damit bin ich einverstanden.«

»Wir müssen suchen, sie zu erwischen.«

»Das wird nicht schwer sein! …«

Und die beiden Ehemänner trafen demgemäß ihre Anordnungen, um die Pärchen in derselben Falle zu fangen.

Als wieder mal ein Ausflug aufs Land nach einem Landhäuschen, das dem Galan Sophiens gehörte, verabredet wurde, stellten sich die Ehemänner krank und wiegten dadurch ihre Frauen in Sicherheit. Als die Pärchen sich auf den Weg gemacht hatten, folgten sie ihnen in Begleitung von fünf oder sechs kräftigen Männern. Sie trafen gegen zehn Uhr abends beim Landhause ein, schlichen sich dank der Dunkelheit durch den Garten bis zu den Fenstern des Salons und erblickten die beiden Paare bei Tisch sitzend und in doppeltem Rausch des Weines und der Liebe versunken. Sie konnten alles sehen und hören, was im Inneren vorging und gesprochen wurde, zumal die vier Leutchen in ihrem Sicherheitsgefühl sich nicht genierten.

»Ein reizendes Fest!« hörten sie den Liebhaber Viktorias sagen,

»Entzückend!« sie erwidern, »wenn die Kinder noch da wären, wäre der ganze Haushalt fertig.«

»Ich für mein Teil«, äußerte Sophie, »fühle mich, ihr könnt sagen, was ihr wollt, doch nicht recht glücklich, denn schließlich begehen wir doch eine schwere Sünde.«

»Eine Sünde?« rief da ihr Liebhaber, »du bist wirklich recht gescheit, dich mit solchen Gedanken zu quälen! Das ist dein einziger Fehler, liebste Sophie, ohne ihn wärest du auch zu vollkommen, du reizendes, liebes, kleines Geschöpf, das so ganz von wirklicher Ehrsamkeit erfüllt ist, gegen die es immer zu fehlen glaubt …«

»Es ist wahr,« unterbrach ihn Viktoria, »sie ist immer traurig und stimmt auch mich oft traurig. Aber was tun wir denn Böses? Ihr seid unsere richtigen Ehemänner, die Väter unserer Kinder, die Gatten, die wir uns gewählt und denen wir uns hingegeben haben. Man hat uns sozusagen aus euren Armen gerissen, um uns Männern auszuliefern, die uns dadurch verhaßt wurden, während sie doch, wenn sie gewollt hätten, unsere ganze Liebe und Achtung hätten haben können.«

»Ich möchte dich nur eins fragen,« bemerkte Sophie, »welchem ehrbaren Mädchen könntest du vorschlagen, unserem Beispiel zu folgen?«

»Allen.«

»Du würdest ihnen also sagen: gebt euch dem Geliebten hin, zeugt mit ihm ein Kind, heiratet dann einen anderen – gezwungen, will ich zugeben – und setzt dann das Verhältnis mit dem Geliebten fort, unter schiebt … Ach! Viktoria! Was für schändliche Dinge, welche Sünde! …«

»Verbiete ihr doch den Mund,« sagte da der Liebhaber Viktorias zu seinem Freunde, »sie muß uns auch jeden lustigen Ausflug mit ihren Ideen verderben!«

»Mir benimmt sie auch die Laune,« bestätigte Viktoria, »auch ich glaube, daß sie recht hat, aber ist es jetzt noch Zeit zu solchen Überlegungen? Die Würfel sind gefallen, die Ehre ist verloren, retten wir wenigstens unsere Liebe.«

»Die Ehre verloren?« mischte sich der Liebhaber Sophiens ein, »Sie gehen ja, verehrte Freundin, noch weiter als meine teure Gefährtin: sie ist ängstlich, verschüchtert, ich ehre ihre Gewissensbisse. Aber Sie, Schöne Viktoria, politisieren über die Reue, Sie denken wirklich, wir seien fähig gewesen, Ihnen die Ehre genommen zu haben! Da müßten wir doch in Ihren Augen Elende sein! Wie? teuerste Sophie, ich, der ich dich im Grunde meiner Seele hochschätze und ganz von Achtung für dich durchdrungen bin, ich sollte … Ach, Sophie, wir haben gewiß die Gesetze der Gesellschaft übertreten, das gebe ich zu, aber das Unrecht, das man uns zugefügt, hat uns dazu getrieben. Der Mord ist ein Verbrechen, das mit Recht durch die Gesetze bestraft wird, wenn er aber in der Notwehr begangen wird, dann schweigt das Gesetz, macht die Augen zu und bestraft nicht. Und in diesem Falle befinden wir uns!«

»Das heiße ich vernünftig urteilen!« rief der Geliebte Viktorias, »und ich glaube nicht, liebe Freundinnen, daß es dagegen etwas einzuwenden gibt!«

»Auch mir scheint es so,« bemerkte Viktoria.

»Und ich halte es für einen Sophismus,« sagte Sophie, »ich lasse mich durch nichts überzeugen, wenn es sich um Verletzung der guten Sitten handelt. Ich denke, es ist schon genug, wenn man sich durch seine Herzensgefühle und die Umstände fortreißen läßt, da braucht man sich nicht noch seine Seele durch falsche Grundsätze verderben lassen! Liebe Viktoria, wir beide waren dazu geschaffen, als ehrbare Frauen zu leben.«

»Und wir sind es, meine Liebe,« erwiderte ihre Freundin, sie umarmend, »denn haben wir jemals gegen unsere wirklichen Gatten auch nur in Gedanken gesündigt? Machen wir sie nicht durch unsere Liebe und Treue glücklich? Sind wir ihnen nicht ganz ergeben?«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit,« bemerkten die Männer.

»Ja gewiß, aber … wir sind gezwungen, unsere Handlungen und Gefühle zu verbergen! Die Freude, unser Glück öffentlich zur Schau zu tragen, ist uns versagt! Und wir sind genötigt, wir Unglücklichen, es vor unseren besten Freunden, sogar vor unseren Vätern zu verheimlichen! Wie groß muß doch unsere Liebe für euch sein, um ihr alles zu opfern!«

»Oh! Wie glücklich wären wir geworden!« rief da der Geliebte Sophiens, »wären die Unmenschen nicht gewesen, die zwischen uns getreten sind! … Aber warum vertiefen wir uns in so trübe Gedanken! Laßt uns fröhlich sein, herbei mit der Freude und Liebe und selbst ein wenig Ausgelassenheit!«

Und zugleich begann er ein lustiges Lied anzustimmen, dessen Inhalt die Traurigkeit bannte und selbst auf den Lippen Sophiens wieder ein Lächeln hervorrief. Bald waren alle Skrupeln vergessen, und die Liebenden gingen daran, sich gegenseitig Beweise ihrer Zärtlichkeit zu geben.

Auf diesen Augenblick hatten die Alten gewartet. Sie stürzten plötzlich in den Salon, die Männer, die sie begleitet hatten, ergriffen die beiden Liebhaber und fesselten sie, während die jungen Frauen, dem Brauche gemäß, vor Schrecken in Ohnmacht fielen. Man schleppte die Opfer fort und tauchte sie auf Befehl der Ehemänner bis zum Munde in einen Fischweiher. Man befand sich im Herbst, und es war, besonders nachts, schon ziemlich kalt. Vier Männer hielten sie in dieser Lage, während die anderen mit den Vätern den Damen zu Hilfe eilten. Letztere kamen bald wieder zu sich, aber nur, um in die höchste Verzweiflung zu verfallen. Sie waren vor Schande und Schmerz außer sich.

»Fürchtet nichts,« beruhigte sie Meister Ruffier, »Ihr seid schon genug bestraft. Auch vergessen wir nicht, daß ihr unsere Kinder seid, obwohl ihr untreue Frauen seid. Wir wollen euch verzeihen, wenn ihr versprecht, euch in Zukunft musterhaft aufzuführen und unsere Nachsicht rechtfertigen zu wollen. Seid versichert, daß wir, wenn wir noch einmal von vorn anfangen könnten, euch euren Geliebten geben würden. Wir sind auf unsere Kosten klug geworden und haben die Erfahrung gemacht, daß es nicht genügt, wenn in der Ehe nur einer liebt … Was dich betrifft, Sophie, so begreifen wir nicht, wie du mit deinen Ansichten dich ebenso schlecht aufführen konntest, wie deine Freundin! Gehe noch einen Schritt weiter und sei deiner selbst würdig.«

Zu gleicher Zeit reichten die Männer ihren Frauen die Hände. Diese fielen ihnen zu Füßen, baten um Verzeihung und versprachen, sich in Zukunft tadellos aufzuführen.

Damit schien die Sache beendet, aber sie hatte noch ein Nachspiel. Es war den beiden Galanen, die in ihrem Bade vor Kälte zitterten, gelungen, die Männer, die sie hielten, für sich zu gewinnen. Diese zogen sie aus dem Wasser. Sie kleideten sich eiligst an und stürzten in den Salon, wutentbrannt und gerade in dem Augenblick, als die halbversöhnten Ehemänner mit ihren Frauen den Salon verlassen wollten, um nach Paris zurückzukehren. Sie warfen sich auf die alten Männer, entkleideten sie, fesselten sie und ließen ihnen, ohne Rücksicht auf das Bitten und Flehen der Frauen, dieselbe Behandlung zuteil werden, die sie soeben erlitten hatten.

»Jeder nach der Reihe!« war ihr steter Refrain. Die Männer, die sie mitgebracht hatten, waren die einen für, die anderen gegen sie, daher ohnmächtig, ihnen zu Hilfe zu eilen. Nachdem die jungen Leute ihr Mütchen gekühlt hatten, wollten sie mit den Frauen in den Salon zurückkehren. Diese aber waren empört und weigerten sich, ihnen zu folgen. Sie banden ihre Männer los und kehrten mit ihnen zusammen nach Paris zurück.

Das Abenteuer war für die vier Helden desselben verhängnisvoll. Die jungen Leute erkrankten an den Folgen eines solchen kalten Bades nach dem Essen schwer. Der eine genas erst nach langer Zeit, während der andere, der Geliebte Sophiens, der Krankheit erlag. Die beiden alten Herren gingen danach, der eine an Rheumatismus, der andere an Lungenkatarrh, zugrunde.

Die beiden jungen Witwen können sich noch heute nicht von ihrem Schrecken erholen und leben mit ihren Kindern in stiller Zurückgezogenheit. Sie weigern sich hartnäckig, den einzigen Überlebenden der vier wiederzusehen. Sie sind fromm geworden, und besonders Sophie führt einen musterhaften Lebenswandel.

Verehrter Leser, ich kenne einen Mann von 55 Jahren, der äußerst häßlich ist und verzerrte Augen hat. Er hat sich soeben mit einem Mädchen von 15 Jahren verheiratet. Er meint, sie vergöttere ihn, weil er sie anbetet: Glaubst du es? … Ich auch nicht!

Liebe mit Gewalt

2-056

Wie oft hat sich seit Kassandra das Geschick dieser Tochter Priams nicht wiederholt? Man nehme einem Wesen seine Selbstachtung, und es wird allmählich bis zum letzten Grad von Niedrigkeit und Gemeinheit herabsinken. Schon Homer sagt: Wenn Jupiter einen Mann zum Sklaven machen will, dann beraubt er ihn der Hälfte seiner Tugend. Dann ist er erniedrigt, hat keine Widerstandskraft mehr, die menschlichen Züge bleiben, aber die Seele, der Stolz, Liebe zum Ruhm, die Achtung des eignen Ichs sind entschwunden: er ist auf die Stufe des Tieres herabgesunken.

Ein Mann in niedriger Stellung hatte eine Tochter von vierzehn Jahren und außergewöhnlicher Schönheit. Eine schlanke Taille, lebhafte Züge, schöne Augen, eine tadellose Hautfarbe, ein edles Gesicht, eine wohlklingende Stimme waren die Vorzüge der jungen Sagesse – das war ihr Name.

Man muß zugeben, daß ihre etwas kecken Züge – was man in Paris so gern sieht – den Gedanken erweckten, sie wäre leicht zugänglich. Richtig ist jedenfalls, daß ein Verführer solchen Charakteren gegenüber sich nicht geniert und mit den gefährlichsten Vorschlagen nicht haushält, denn die angeborene Unbeständigkeit und der geringe Wert, den jene auf ihre Haltung legen, scheint dazu förmlich herauszufordern.

Es war ein Herzog, der sein Auge auf Sagesse geworfen hatte, ein Widerstand erschien ihm fast unmöglich. Aber leichtsinnige Charaktere, wenn sie noch nicht der Verführung unterlegen sind, sind wenig empfindlich für Fragen des materiellen Interesses, und aus diesem Grunde war es nicht so leicht, Sagesse zu überrumpeln. Der Herzog unternahm mehrere Angriffe, die erfolglos waren. Obwohl natürlich in ihrer Eitelkeit geschmeichelt, merkte die Kecke kaum die Absicht des Herzogs heraus, da sie sich darüber weiter keiner Überlegung hingab. Sie war zu oberflächlich, und alles glitt an ihrem Charakter ab, der sich rasch über alles hinwegsetzte. Der Herzog wurde ungeduldig, nicht da vorwärtszukommen, wo er auf schnellen Erfolg gerechnet hatte, und er beschloß, der Sache ein Ende zu machen, indem er, wie Alexander, den Knoten durchschnitt, anstatt ihn zu lösen. Er ließ Sagesse entführen und brachte sie in ein wahrhaftes Feenschloß, in eine Villa in der Nähe von Paris, deren Zimmer mit Spiegeln ausgestattet waren, die die wollüstigsten Malereien wiederspiegelten. Als Zofen hatte er junge Mädchen engagiert, die den Befehl hatten, Sagesse wie einer Herrscherin aufzuwarten, kurz, er hatte als Modell eine der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht genommen und wollte damit zeigen, daß diese auch zu etwas anderem dienen könnten, als nur zum Vorwurf italienischer Stücke.

Sagesse war von ihrer Entführung wie betäubt. Man hatte sie eines Sonntags morgens ergriffen, als sie den Boulevard überschritt, um von der Rue de Richelieu nach der Rue Poissonnière zu gehen. Zwei kräftige Männer hatten sie wie eine Feder in die Höhe gehoben und sie in einen Wagen zu einem Dritten gesetzt, der ihr ein Tuch über den Kopf warf. Sie wehrte sich wie ein kleiner Teufel, aber vergebens, und wurde erst davon befreit, als sie an dem Bestimmungsort angelangt waren. Sie verlangte, daß man sie gehen lasse, aber Sklavinnen warfen sich ihr zu Füßen und baten sie, zu bleiben. Die Kleine lachte über ihre unterwürfigen Gebärden und darüber, sich Herrin nennen zu hören. Die ihr erwiesene Ehrerbietung machte Eindruck auf sie, aber sie begriff nicht, was das alles zu bedeuten habe. So trat sie denn ein und ließ sich in einem reizenden Boudoir auf einem prächtigen Sessel nieder. Zum ersten Male in ihrem Leben überlegte sie und fragte sich schließlich, ob sie nicht am Ende eine Prinzessin wäre? Nachdem sie einige Zeit darüber nachgedacht hatte, ohne klüger geworden zu sein, sprang sie plötzlich wie aus der Pistole geschossen auf und schrie:

»Ich bin keine Herrin, ich bin Madelon Sagesse oder Sagesse Madeleine, wie man will, die Tochter Bartholomäus Turnalos, des Sattlermeisters.«

»Das ist nur Ihr vermeintlicher Vater, gnädigste Herrin.«

»Vermeintlich, ihr seid selber vermeintlich, mein Vater war nie vermeintlich! … Vetteln seid ihr, die so tun, als ob sie mir Achtung erwiesen und dabei schlechtes von meinem Vater sagen!«

»Wir wollen nur sagen, er sei Ihr Nährvater gewesen, Madame.«

»Mein rechter Vater ist er, daß ihr es wißt!«

»Sie hielten ihn bis jetzt dafür. Aber der hohe Herr, dem dieser Palast gehört, weiß mehr darüber, als irgendjemand. Er hat Sie einem Hause entzogen, das Ihrer nicht würdig ist, um Ihnen den Rang und die Reichtümer zu verleihen, die Ihnen gebühren. Diesen Abend wird er Sie heiraten.«

»Diesen Abend und mich heiraten? Hahaha! Wo steckt er, mein schöner Zukünftiger?«

»Er wird sich erst beim Scheine der Kerzen zeigen. Hochwichtige Angelegenheiten nehmen seine Zeit jetzt noch in Anspruch. Erteilen Sie inzwischen Ihre Befehle!

Alle Freuden und Vergnügungen werden Ihnen gewährt werden.«

»Fort will ich von hier.«

»Sie sind weit, weit von Ihrem Nährvater entfernt, gnädigste Herrin. Durch einen Zauber sind Sie in die Türkei versetzt, und man hat Ihnen das Gesicht nur deshalb verhüllt, damit Sie von der Schnelligkeit des Fluges keinen Schwindel bekämen.«

»Sie reden da lauter Quatsch, meine Beste, und halten mich wohl für ein Kind, dem man alles vormachen kann, aber ich bin nicht von gestern.«

»Ich weiß es. Es sind bald 15 Jahre her, daß die Fürstin, Ihre Mutter, ihr Leben verlor, indem sie es Ihnen gab.«

»Wie sie schön sprechen kann! Man sollte meinen, es sei alles wahr!«

»Sehr wahr! Oh! Herrin!«

»Nun schön. Da ich einmal Prinzessin und in der Türkei bin, so wollen wir ein wenig spazieren gehen und mal sehen, wie dieses Land beschaffen ist. Gibt’s hier auch Kneipen?«

»Ah! Pfui! Madame! Was sagen Sie da? Kneipen! Das ist kein Aufenthalt für Sie.«

»Doch, doch, da kann man sich wenigstens amüsieren und lachen, und das liebe ich.«

»In der Türkei, Madame, gehen die Frauen nicht aus. Wir sind hier in einem Serail.«

»Ein Serail! Oh! mein Gott, ein Serail … Ihr behandelt mich als Prinzessin, und ich bin in einem Serail?«

»Das Wort erschreckt Sie?«

»Ich glaub’s! Ich weiß, was man so nennt, in der Rue Saint-Honoré und anderswo gibt’s deren genug.«

»Eh! Das ist ganz was anderes! Ein Serail oder Harem ist ein Ort, wo die Fürsten und Großen dieses Landes ihre Frauen und Kinder wohnen haben.«

»So bin ich also hier, wie ein Hering, und kann nicht fort? Das ist komisch!«

»Nur in Begleitung des Prinzen, wenn er auf die Jagd geht, aber dann sitzen Sie in einem Korb, damit kein anderer Mann Sie sehen kann.«

»In einem Korb? Wie Kapaune und Hühner, die in der Halle verkauft werden?«

»Nein, Herrin, so kleinliche Gedanken müssen Sie sich nicht machen … Wenn dann irgendein Unverschämter sich Ihnen zu nahen wagen würde, dann wird er sofort von Ihren Eunuchen erstochen.«

»Von meinen Heiducken? Werde ich schöne große haben?«

»Eunuchen.«

»Was ist das?«

»Ich werde sie Ihnen zeigen.«

Die würdige Dame, die der Herzog als Haushälterin für sein junges Opfer engagiert hatte, ließ zwei Neger rufen, die scheußlichsten Verschnittenen die Afrika je erzeugt hatte.

»Da sind sie, Herrin.«

»Ah! die häßlichen Ungeheuer! Solche Eunuchen will ich nicht! Schicken Sie sie fort und lassen Sie schönere kommen.«

»Sie sind Ihre Hüter, Herrin.«

»Meine Schutzengel? Das sind ja Teufel!«

»Je häßlicher sie sind, desto teurer sind sie. Von diesen hat jeder dem Fürsten von Transsylvanien, dem Sie angehören, tausend Goldzechinen gekostet.«

»Was kümmert mich der Preis? Verkaufen Sie sie wieder, ich will sie nicht.«

Nach dieser Unterredung wurde sie in die Gärten geführt, wo man ihr ein herrliches Mahl bereitet hatte. Darauf sangen und tanzten die Sklavinnen, und Sagesse nahm an ihren Spielen teil. So verging der Tag.

Nach dem Souper geleitete man das junge Mädchen in ein köstliches Schlafzimmer und brachte sie zu Bett. Eine der Sklavinnen legte sich zu ihr, um bei der Hand zu sein, wenn sie sich nachts ängstigen sollte. Das junge Mädchen wurde bald von Schlaf befallen.

Mitten in der Nacht wachte sie auf und fühlte sich von kräftigen Armen umschlungen. So triumphierte der Herzog, der den Platz der vermeintlichen Sklavin eingenommen hatte, über die Unschuld Sagessens. Am anderen Morgen war sie ganz träumerisch.

Der darauffolgende Tag verging unter denselben Belustigungen, wie der erste. Am Abend wollte die Sklavin wiederum das Bett ihrer Herrin teilen, aber Sagesse, die mit ihrer Aufführung sehr unzufrieden war, wollte nichts von ihr wissen, sondern wählte sich eine der jüngsten Sklavinnen dazu aus. Inmitten ihres ersten Schlafes wurde sie in gleicher Weise aufgeweckt, wie nachts zuvor. Sie gab sich darüber sonderbaren Erwägungen hin und schlief erst am frühen Morgen wieder ein, gerade, als der Tag graute und ihre Zweifel hätte aufklären können.

Beim Aufstehen besah sie sich ihre Gefährtin näher, es war eine zarte, sanfte Kleine. Abends wählte sie wiederum eine andere Schlafgenossin aus. Diesmal war sie fest entschlossen, wach zu bleiben, um einmal den Anfang der Episode zu erleben, und tat nur so, als ob sie schlief. Da fühlte sie, wie ihre Gefährtin ihr fast unmerklich langsam näher kam und – wieder das gleiche geschah. Als es vorbei war, läutete sie. Man lief mit einem Dutzend Kerzen herbei, und Sagesse sah ihre Gefährtin an ihrer Seite in tiefem Schlafe liegen. »Nun begreife ich nichts mehr,« sagte sie darauf und schickte alle wieder fort. Nur eine Kerze ließ sie vorsichtshalber brennen.

Am nächsten Tage hatte die Haushälterin einer Sklavin den Auftrag gegeben, Sagesse die Geschichte vom Falschen Mohammed aus Tausendundeiner Nacht vorzulesen, der nachts die schöne Schirine mit einem fliegenden Koffer besucht. Sagesse amüsierte sich köstlich darüber. Am Abend befahl Sagesse, daß die ganze Nacht in ihrem Schlafzimmer das Licht brennen bliebe. Doch an solchen Befehl hatte der Herzog schon vorher gedacht und für diesen Fall seine Anordnungen getroffen. Er hatte an der Decke des Schlafzimmers, die mit den wollüstigsten Malereien geschmückt war, ein bewegliches Stück anbringen lassen, das eine Sylphe darstellte, die in den Armen einer Nymphe ruhte. Durch einen Mechanismus konnte die Sylphe den Armen der Nymphe entfliehen, während diese dann ihre Arme sehnsüchtig gegen die Fliehende ausbreitete und sie zurückzuhalten schien. Vorher hatte Sagesse die Malereien nie betrachtet, an diesem Abend aber, wo sie nicht einschlafen wollte, und das Licht brannte, fielen ihre Augen unwillkürlich darauf. Als man bemerkte, daß sie sie aufmerksam betrachtete, ließ man den Mechanismus spielen … Sagesse wagte kaum zu atmen, sie starrte unverwandt auf das Wunder.

»Ach! wie schön!«, flüsterten ihre Lippen, und in diesem Augenblick verlöschten die Kerzen, und ein lebendes Wesen befand sich in ihren Armen, sie stieß einen leisen Schrei aus. Da hörte sie eine sanfte Stimme ihr zuflüstern:

»Für dich verlasse ich sie jede Nacht. Du bist tausendmal schöner, als die Nymphe, reizende Prinzessin! Gewähre mir deine Liebe!«

Unter dem Eindruck der beweglichen Malerei und ihres grenzenlosen Staunens darüber leistete Sagesse keinen Widerstand.

Auf diese Weise gewöhnte sie der Herzog, ohne sich zu zeigen, allmählich daran, seine Leidenschaft zu befriedigen. Als er davon überzeugt war, daß die Kleine seinen Genuß teilte, hielt er es nicht mehr für notwendig, so viel Vorsicht zu gebrauchen und besuchte sie am Tage. Sagesse erkannte ihn sofort und eilte mit den Worten auf ihn zu:

»Ah! Sie sind also auch in der Türkei? Sind Sie einer meiner Sklaven oder einer meiner Eunuchen?«

»Ich bin Ihr treuster Sklave, obwohl zugleich Herr dieses Hauses.«

»Ah! Sie besitzen also ein Schloß in der Türkei? Wie reich müssen Sie doch sein!«

Der Herzog lachte über so viel Naivität und wollte sie küssen.

»Nehmen Sie sich in acht!« wehrte Sagesse ab, »wenn der Genius das sehen würde, wären wir verloren!«

»Wie? Welcher Genius?«

»Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen …«

Und sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn in ihr Schlafzimmer.

»Da oben an der Decke die Sylphe kann sich loslösen«, erklärte sie ihm, »und alle Nacht kommt sie zu mir ins Bett.«

Der Herzog schüttelte sich vor Lachen und klärte sie endlich über seinen Betrug auf. Um sie zu überzeugen, forderte er sofort den Genius heraus, indem er seinen Blicken etwas darbot, was ihn wirklich hätte in Wert bringen müssen. Sagesse stellte nun weitere Fragen und erfuhr, daß sie nur eine Stunde von Paris entfernt und die Geliebte des Herzogs von *** sei.

Wer sollte meinen, daß dieses naive kleine Mädchen heute eine der geistreichsten Personen der Hauptstadt ist? Aber ich habe es stets verfochten, daß Naivität Geist durchaus nicht ausschließt, sie deutet nur auf die Gradheit des Herzens und auf eine liebenswürdige Arglosigkeit.

Nachdem Sagesse nun einmal ihre Lage kannte, war sie neugierig darauf, die Hauptstadt wiederzusehen, Anfangs wollte ihr Geliebter nichts davon wissen, später aber, als seine Liebe, des Reizes des Mysteriums und des Feenreiches nunmehr bar, ein wenig nachgelassen hatte, und er nach anderen Zerstreuungen sich zu sehnen begann, da führte er sie nach Paris und ließ sie und sich von seinen Freunden bewundern. Einige von ihnen beneideten den Herzog um ein Glück, das er schon kaum noch würdigte, und suchten ihm das Herz seiner Maitresse abspenstig zu machen. Er bemerkte es und widersetzte sich keineswegs ihren Absichten. Aber Sagesse hatte sich gerade, weil er sich gewaltsam in den Besitz ihrer Person gesetzt hatte, an ihn desto fester angeschlossen. Und das war auch ganz natürlich und beweist nur, daß Sagesse das Herz auf dem rechten Flecke hatte. Man sehe in der Geschichte der alten Helden nach: alle Halbgötter entführten die, die sie liebten, entrissen ihnen gewaltsam die letzten Gunstbezeugungen und heirateten sie dann. Alle diese Frauen, die Penelopes, Helenen, Dejaniren usw. liebten dann zärtlich und treu ihre Gatten, die so wenig ihres Schamgefühls geschont hatten. Man kann noch weiter gehen und dreist behaupten, es liege in der Natur der Sache, das eine Frau den Mann lieben müsse, der ihr die Schande der Einwilligung erspart habe, und der Grund, warum unsere Frauen von heutzutage so wenig skrupulös gegen ihre Männer sind, liege in der Tatsache, daß ihre Bescheidenheit ihnen meist nichts verdanke. Doch kommen wir auf Sagesse zurück.

Sie wies anfangs alle Anträge zurück. Als indessen die Gleichgültigkeit des Herzogs mehr und mehr zunahm und in ihr Ärger gegen ihn hervorrief, da kam es endlich dazu, daß sie einen anderen mit gleichen Augen ansah, wie sie sie bisher nur für ihn gehabt hatte. Auch wurde ihre Tugend von zu geschickten Männern attackiert, als daß sie sich solchen Angriffen hätte auf die Dauer widersetzen können. Sie unterlag also, bewahrte aber trotzdem im Grunde ihres Herzens ihrem ersten Verführer stets eine innige Zuneigung und Freundschaft, von welcher sie ihm in der Folge deutliche Beweise gab.

Nachdem sie einmal kriegsgewohnt war, gab es kein Aufhalten mehr für sie, das Eis war gebrochen. Sie machte so viele Glückliche, als sie Liebhaber hatte, und deren hatte sie viele! Ihr Geist bildete sich im Umgange mit der Welt aus, und ihre Reize entwickelten sich. Sie wurde ein begehrenswertes Objekt. Man bemerkte an ihr Talente, und diejenigen, die sie zuerst gehabt hatten, rieten ihr, als sie an ihr nichts mehr von ihrer früheren reizvollen köstlichen Naivität entdecken konnten, zur Oper zu gehen und durch Erfolge mit ihrer schönen Stimme die verloren gegangenen liebenswürdigen Eigenschaften ihrer ersten Jugend zu ersetzen. Sie stellte sich daher den Direktoren vor. Schon ihr Gesicht und ihr ganzes Äußere sprachen für sie, der harmonische Wohlklang ihrer Stimme verführte jene vollends, und sie wurde für die ersten Rollen bestimmt.

In dieser neuen Laufbahn wurde nun Sagesse in Wirklichkeit, was ihr erster Verführer ihr hatte einreden wollen, eine Fürstin, eine Königin der Bühne. Ihre Erfolge rechtfertigten die hohe Meinung, die man von ihrem Können gehegt hatte. Sie verdunkelte alle ihre Mitspieler, und ihre Kolleginnen selbst mußten ihrer Überlegenheit huldigen. Zahllose Liebhaber stellten sich jetzt ein, und sie kamen nicht vergebens. Angebetet, vergöttert schritt Sagesse über die Tugend triumphierend hinweg und machte das Laster selbst liebenswürdig. Sie sah sich von hohen und höchsten Herren gefeiert und zu ihren intimen Festen hinzugezogen, deren Würze und Seele sie war, Freude und Lust hatte sie an ihren Wagen gespannt, ohne sie herrschte Langeweile, sobald sie erschien, begann neues Leben.

Und doch meine man nicht, daß diese liebenswürdige Laïs jeder Tugend bar war!

Den ersten Beweis vom Gegenteil gab sie, als der Herzog vom Hof verbannt wurde. Da fühlte Sagesse alles Interesse, das sie ihrem früheren Freunde entgegengebracht hatte, wieder in sich wach werden, obwohl er ihr gegenüber viel Unrecht gutzumachen hatte. Sie eilte zu seiner Hilfe herbei und setzte alle ihre einflußreichen Bekanntschaften, die Talente und Reize sie hatten machen lassen, zu seinen Gunsten in Bewegung. Doch damit nicht genug, trieben ihre edlen Gefühle sie dazu, alle ihre Brillanten und Schmucksachen zu verkaufen, um die Schulden des Verbannten zu bezahlen. Dieser Mann, den alle seine Freunde in seinem Unglück im Stich gelassen hatten, fand in dem Mädchen, das er getäuscht hatte, alles das in Taten wieder, was die falschen Freunde ihm nur in leeren Worten versichert hatten. Eine solche Haltung konnte Sagesse nur zur Ehre gereichen, und man bewunderte die Größe und den Edelmut ihres Herzens.

Und doch hätte man im Grunde von ihrer Handlungsweise nicht überrascht sein brauchen: Sagesse besaß Geist, Klugheit und Schönheit, also eine schöne Seele. Verderbtheit hatte allerdings ihren Geist auf Irrwege geführt, ihr Herz aber nicht nach sich gezogen, sie hatte also alle ihre guten Eigenschaften behalten. Das bewies sie auch an ihren Kindern, denen sie eine ausgezeichnete Mutter war, und die sie für die Vorteile, derer sie ihre Herkunft beraubte, schadlos hielt. Und hätte sie ihnen nur die Schönheit und ihre Herzensgüte übertragen, so wäre das immer noch ein größerer Gewinn gewesen, sie als Mutter gehabt zu haben, als wenn sie Kinder einer Frau gewesen wären, wie es deren so viele gibt, die dezent, aber häßlich und boshaft, ein schlechtes Herz und einen noch schlechteren Charakter besitzen. Kann man auf der Welt seinen Kindern etwas Schöneres hinterlassen, als Sagesse den ihrigen?… Aber damit nicht genug, läßt sie ihnen alle Sorgfalt einer liebenden, ehrbaren Mutter zuteil werden. Bei ihnen ist sie nicht mehr die Laïs, sondern eine Lukretia, eine Volomnia, Racilia oder die tugendhafte D. C. Nichts verläßt das Gehege ihrer Zähne, als Tugendhaftes, Dezentes und Lehrreiches. Sie macht sie die Tugend lieben und pflanzt diese in ihre jungen Herzen. Sie hat der Welt ein Phänomen vorgeführt: eine Frau ohne Tugend, oder besser gesagt, ohne Züchtigkeit, die ihren Kindern die Tugend einflößt und liebenswert macht.

Besonders der Erziehung ihrer ältesten Tochter Flavienne wandte sie alle ihre Sorgfalt zu und tat alles, um sie in ihrer Unschuld rein zu erhalten. Vielleicht hat sie ihr sogar eine zu brillante Erziehung gegeben, aber darin ist sie entschuldbar, denn seit ihrer sogenannten Verzauberung hatte sie nur die Großen des Landes kennen gelernt und war daher niemals in der Lage, sich klare Ideen von den wirklichen Pflichten und der wahren Bestimmung der Frau machen zu können. So wollen auch wir in dieser Erziehung ihrer Flavienne, einer zweifellos unvorsichtigen Methode, nur die Mutterliebe erkennen, dieses edle, schöne Motiv, das alle sonstigen Schädlichkeiten derselben vergessen läßt.

Nach ihren großen Erfolgen auf der Bühne schien es, als ob die Bewunderung des Publikums der Seele Sagessens die Sprungkraft wieder verliehen hätte, die die Verführung ihr genommen hatte. Sie fühlte endlich von selber und trotz der verführerischen Sprache der Männer, die ihre Umgebung bildeten, daß es ihr möglich sein würde, die Achtung des Publikums vor ihren Talenten in Achtung auch vor ihren Sitten umzuwandeln, sie hob sich selbst auf ein anderes Niveau, indem sie ihre Lebensweise änderte und dadurch ihren Kindern als Vorbild dienen konnte. Diesem edlen Drange opferte sie mit Energie alles andere.

Zu dieser Zeit ihrer Einkehr machte sie die sonderbare Bekanntschaft einer Dame, die wie sie Schreckliches erlebt, aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte.

Als Tochter eines Senators aus Venedig war sie von einem Pariser Leichtfuß verführt worden und aus dem Kloster entflohen, um sich in seine Arme zu werfen. Er hatte versprochen, sie zu heiraten, nachdem er seine Signora Enrichetta *** aber besessen hatte, hütete er sich, sein Versprechen zu erfüllen. Er schlug ihr vor, sie möge ihn, da er gezwungen sei, abzureisen, begleiten, er würde dann später ihr Gatte werden können. Da ihr weiter nichts anderes übrig blieb, so war sie darauf eingegangen, hatte sich verkleidet und war mit dem Treulosen nach Paris geflohen. Einmal in Frankreich erklärte er ihr, daß dort ihre Eheschließung nicht gültig sein werde, und vertröstete sie auf später. In Paris warf er die Maske ganz ab und sagte ihr klar und deutlich, daß sie auf eine Heirat nicht rechnen dürfe.

Die Entführung der Signora Enrichetta hatte in Venedig viel Lärm gemacht, da die Mädchen dort sehr zurückgezogen leben. Ihre Familie ließ Nachforschungen nach ihr anstellen, die aber erfolglos waren, da Enrichetta auf ihrer Flucht eine Offiziersuniform angelegt hatte. Es dauerte nicht lange, und ihr Geliebter fand heraus, daß eine Frau sich in ihrem Vaterlande viel besser mache, und daß eine Fremde, so interessant sie auch sein möge, wenn sie in ein anderes Land versetzt wird, dessen Sitten und Sprache andere sind, stets im Vergleich zu den einheimischen Schönheiten verliert. Vielleicht hat die Natur durch diese Tatsache andeuten wollen, daß die Frauen seßhaft zu bleiben hätten, und daß es nur den Männern ungestraft erlaubt sei, das Klima zu wechseln, genug, ihr Geliebter ließ sie sitzen. Der französische Offizier, Enrichettas überdrüssig, suchte sie einem seiner Freunde aufzuhalsen. Einen Augenblick dachte er sogar daran, ihrer Familie ihren Aufenthaltsort bekannt zu geben. Die mißtrauische Italienerin kam aber bald hinter seine Pläne, und eines Tages fand man auf der Straße ihrer Wohnung gegenüber den Leichnam eines Mannes, der erstochen und dessen Gesicht offenbar nach seinem Tode so verstümmelt worden war, daß es unmöglich war, ihn zu rekognoszieren. Nach dieser Tat verließ die Signora mittellos und von Gewissensbissen gepeinigt das möblierte Zimmer, das sie seit ihrer Ankunft bewohnt hatte, und faßte einen unglaublichen Entschluß: sie stellte sich in einem der verruchten Häuser vor.

Sie fand Aufnahme. Am selben Abend passierte die Rue Pélican der Sekretär eines Prinzen, der vordem Gesandter in Venedig gewesen war. Er vernahm in der Parterrewohnung des betreffenden Hauses Zank und Streit und konnte unter den fünf bis sechs Frauenstimmen deutlich den Akzent einer Italienerin unterscheiden. Er wurde neugierig, warf einen Blick durch das halbgeöffnete Fenster und bemerkte eine schlanke, schöne Frau, die in ihrer majestätischen Haltung den anderen Frauen imponieren zu wollen schien, welche sie durch allerhand Gemeinheiten in ihren neuen Stand einweihen wollten. Er glaubte, ihre Züge zu erkennen, und da er sich vergewissern wollte, so trat er ein. Bei seinem Anblick war die Ruhe sofort wieder hergestellt. Jede der Nymphen nahm eine lächelnde Miene an und suchte den zornigen Ausdruck zu bannen. Nur Enrichetta tat nichts dergleichen, sondern warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Doch der Sekretär, der seiner Sache nun beinahe sicher war, ließ sich dadurch nicht abhalten und bezeichnete sie. Sie weigerte sich. Die Haushälterin fragte sie darauf, wozu sie denn in ihr Haus gekommen wäre? Als einzige Antwort brach Enrichetta in Tränen aus.

»Mit Tränen können wir nichts anfangen!« schrie die Haushälterin sie an und fuhr dann etwas sanftmütiger fort: »Es ist Ihr erster Verdienst, Henriette, also seien Sie vernünftig, Ihre Weigerung würde uns und Ihnen Unglück bringen.«

Da die Signora begriff, daß sie sich fügen oder das Haus verlassen müsse, so wählte sie ersteres. Ihre zitternden Hände ergriffen einen Leuchter, und sie ging schnell voran auf das ihr bestimmte Zimmer. Der Sekretär folgte ihr und schloß das Zimmer ab. Dann sagte er zu ihr:

»Liebes Fräulein, Sie haben mit einem Ehrenmann zu tun. Ich habe Sie von der Straße aus bemerkt und bin Ihretwegen hier eingetreten. Seit wann sind Sie in diesem Hause?«

»Seit diesem Morgen, mein Herr.«

»Man sagte, ich wäre der erste, der …«

»Ja, das ist richtig.«

»Wenn Ihnen das Elend hier, das Sie noch nicht kennen, Abscheu einflößt, so biete ich Ihnen meine Hilfe an, sich einen neuen Lebensunterhalt zu erwerben.«

»Ah! mein Herr, Sie sendet der liebe Gott zu mir!«

»Da sie italienisch sprechen, wollen wir uns in dieser Sprache unterhalten, damit man uns nicht versteht. Sind Sie nicht Venetianerin? …«

»Si Signor.«

Ich glaube, Sie in Venedig gesehen zu haben, aber ich kann mich nicht erinnern, wo? und wie?«

»Ich darf nicht sprechen, und ich bitte Sie, mein Geheimnis für mich bewahren zu dürfen.«

»Gern Signora, ich wünsche weiter nichts, als Ihnen dienlich zu sein … Ich möchte Sie von hier fortbringen.«

»Darein willige ich von ganzem Herzen. Da ich der Frau noch nichts schuldig bin, können wir uns unbemerkt entfernen.«

»Warum war vorhin der Streit ausgebrochen?«

»Eines Gazeschleiers wegen, mit welchem ich im SaIon mein Gesicht zu verhüllen wünschte, und den mir eines der Mädchen weggenommen hatte. Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben, und da stürzte sie sich auf mich und schlug den anderen vor, mich zu … (ein häßlicher Ausdruck). Alle waren damit einverstanden und im Begriff, mich diese Prozedur erleiden zu lassen, als die Haushälterin dazu kam, und Sie in diesem Augenblick erschienen.«

Nach dieser Erklärung ging der Sekretär mit ihr hinunter. Als er an der Salontür war, machte er eine Bewegung, als ob er eintreten wollte, damit Enrichetta hinter ihm vorbeiflüchten und unbemerkt das Haus verlassen konnte. Sie erwartete ihren Befreier an der Ecke der Rue de Grenelle.

Der Sekretär führte sie in seine Wohnung im Hause des Prinzen, die für sie beide geräumig genug war, und behielt sie bei sich unter dem Namen einer Verwandten, die in Italien erzogen worden Sei. Bald darauf hörte er von Nachforschungen, die nach einer Signora Enrichetta *** angestellt wurden, und war jetzt sicher, daß seine Schutzbefohlene mit dieser identisch sei. Er beschloß sich dann zu vergewissern und sagte eines Tages zu ihr:

»Ich liebe Sie und verlange Ihr Vertrauen. Man fahndet in Paris auf zwei Italienerinnen, nach einer, die einen französischen Offizier, dessen Geliebte sie war, ermordet haben soll, und nach einer anderen, die einem der ersten Häuser Venedigs angehört und sich hat entführen lassen. Wissen Sie etwas davon?«

»Ich will Ihnen nichts verbergen,« war die Antwort, »ich fühle, daß Sie nur meiner Sicherheit wegen diese Frage stellen: ich bin die erste der beiden Gesuchten.«

»In diesem Falle sind Sie auch die zweite, denn es handelt sich um ein und dieselbe Person.«

Enrichetta errötete vor Scham und Zorn, sich erkannt zu sehen, und gestand, daß dem so sei.

»Ich hatte sie schon früher erkannt,« fuhr der Sekretär fort, »und ich erinnere mich jetzt, Sie bei der Krönung Ihres Dogen gesehen zu haben. Sie waren mit Ihrer Mutter und Ihren beiden Brüdern auf einem Balkon. Wie glücklich werden Sie mich machen, und welch eine Chance für mich, ein Mädchen Ihres Ranges und Ihrer Schönheit mein zu nennen!«

Enrichetta rümpfte die Nase, diese Sprache verletzte sie empfindlich, sie glaubte darin den Triumph eines untergeordneten Mannes über ein Mädchen zu sehen, das weit über ihm stand. Da sie nun doch einmal erkannt war, so beschloß sie, sich von ihm zu trennen. So stark war der Hochmut dieses Mädchens, daß sie sich zwar unerkannt dem ersten besten hatte hingeben wollen, aber einmal erkannt selbst nicht von Ihresgleichen eine solche Erniedrigung hingenommen haben würde. Sie nahm sich daher vor, noch am selben Abend zu entfliehen. Indem sie darüber nachdachte, was zu tun sei, fiel ihr Sagesse ein, mit der zusammen sie vierzehn Tage vorher einem Souper beigewohnt hatte. Diese hochherzige Frau hatte sich angelegentlich mit ihr beschäftigt und schien nicht von ihrer Lage befriedigt gewesen zu sein. An diese wollte sie sich wenden, sich in ihre Arme werfen und ihr alles eingestehen. Da der Sekretär gerade beim Prinzen beschäftigt war, so konnte sie ihr Vorhaben leicht ausführen. Sie nahm ihr Geld zu sich, machte ein Paket aus ihren Sachen, nahm einen Fiaker und fuhr zu Sagesse, die leider nicht zu Hause war, denn es war die Stunde der Oper. Dorthin eilte sie darauf und wartete geduldig, bis Sagesse Zeit für sie hatte. Sagesse erkannte sie sogleich wieder, umarmte sie und bat sie, sich in Gegenwart einer Freundin, die zu bekannt ist, als daß ich ihren Namen nennen dürfte, näher zu erklären. Die unglückliche Italienerin erzählte in diesem Augenblicke nur ihr letztes Erlebnis und verschwieg den Namen ihrer Familie.

»Ich bin ganz Ihrer Sache gewonnen,« erwiderte Sagesse, »da aber mein Haus in einem zu besuchten Viertel liegt und zu vielen Leuten offen steht, so will ich meine Freundin bitten, Sie mit sich zu nehmen. Ich denke, sie wird mir gern diesen Freundschaftsdienst leisten.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte diese, »und ohne, daß ich es mir zum Verdienst anrechne, denn Signora ist eine von denjenigen Persönlichkeiten, denen man gern um ihrer selbst willen dienlich ist.«

Enrichetta ging also nach der Oper mit Fräulein G** nach Hause und blieb daselbst verborgen, umgeben von Aufmerksamkeiten aller Art. Sagesse besuchte sie jeden Tag und nahm sie auch oft mit sich nach Hause, wenn es ihnen vergönnt war, zu dritt mit ihrer lieben G** zu speisen.

Bei einer solchen Gelegenheit schüttete Enrichetta endlich, gerührt durch die freundliche Haltung der beiden ihr gegenüber, ihr Herz aus.

»Großer Gott,« rief die Freundin Sagessens, »Sie konnten nicht zu gelegenerer Zeit sprechen. Es sind gerade zwei vornehme Venetianer hier, die Ihren Namen tragen, zwei sehr liebenswürdige junge Männer. Sie waren schon mehrmals bei mir, und es hätte wenig gefehlt, so wären Sie mit ihnen zusammengetroffen!«

Es wurde beschlossen, Enrichetta mehr denn je den Blicken Fremder zu entziehen, bis ihre Brüder – das waren sie offenbar – wieder abgereist wären, und man ließ sie sofort nach Hause fahren aus Furcht, es könnte sie jemand bei Sagesse antreffen.

Als die beiden Freundinnen allein waren, äußerte Sagesse zu Fräulein G**:

»Dahin also, liebe Freundin, führt uns unsere eigne Erfahrung, denn, wenn wir beide nicht verführt worden wären, wären wir vielleicht nie so tugendhafte Frauen geworden? … Wir müssen uns daher auch dieser armen Italienerin annehmen! Vor allem müssen wir Sie, wenn irgend möglich, mit ihrer Familie aussöhnen. Da ihre Eltern nicht wissen, was sie Böses angerichtet hat, so existiert ihr Verbrechen nicht für sie. Wenn sie in Kenntnis von allem wären, würden sie ihr nicht verzeihen können.«

»Diesen Gedanken müssen Sie aufgeben,« erwiderte Fräulein G**, ein Italiener verzeiht nicht, selbst dann nicht, wenn es sich um den ersten Fehltritt handelt. Ihnen dieses Mädchen ausliefern, wäre ihr Todesurteil.«

»Wenn dem so ist, dann müssen wir sie verstecken. Doch da kommt mir ein anderer Gedanke: das Kloster scheint mir wie geschaffen für solche Mädchen, wie die Signora, die, weil sie einer hohen Familie entstammten, nur Fehler begehen können, die in den Augen der Welt nicht wieder gut zu machen sind. Ich werde mit Vergnügen die Mitgift zahlen, die man ihr auferlegen wird.«

»Die eine Hälfte bezahle ich. Ich glaube auch, daß das die einzige Rettung für Enrichetta ist.«

Enrichetta war mit dem Plan einverstanden, sie meinte sogar, ihre Familie würde sich darüber freuen, da sie sie dann, anstatt verloren, auf dem guten Wege sehen würde. Demgemäß machte sich Sagesse am anderen Morgen auf, um die Oberin eines Klosters aufzusuchen, wo sie vorteilhaft bekannt war, da sie die Pension für drei junge Mädchen und drei ältere Frauen bezahlte, die unverschuldetes Unglück getroffen hatte. Ihr Besuch war Anlaß zu einer komischen Verwechslung, da die Oberin zuerst verstand, es handle sich um Sagessens Bekehrung selbst, und schon ein Te Deum anstimmen lassen wollte. Doch klärte Sagesse sie über den Irrtum auf und fügte hinzu:

»Ich verstehe meine Pflicht anders. Ich habe Kinder und muß mich diesen unschuldigen Wesen widmen. so werde ich meine Fehler wieder gut machen, aber nicht, indem ich das Verbrechen begehe, sie zu verlassen … Nein, Schwester, ich komme nicht für mich, sondern wegen eines Mädchens aus vornehmem Hause, das Fehltritte begangen hat. Es zu bekehren, wird für Sie ein verdienstvolles Werk sein. Wäre sie Mutter, so würde ich sie veranlassen, bei ihren Kindern zu bleiben, damit diese aus ihren Verirrungen heilsame Lehren empfangen könnten.«

Sagesse vereinbarte mit der Oberin, daß das junge Mädchen am übernächsten Tage Aufnahme im Kloster finden sollte, und sprach dann bei Fräulein G** vor, wo Enrichetta ungeduldig auf Nachrichten von ihr wartete.

Während die drei Damen in eifriger Unterhaltung begriffen waren, wurde Signor ***, der Bruder Enrichettas, gemeldet. Man hatte gerade noch Zeit, letztere in einem Nebenzimmer verschwinden zu lassen. Nach den ersten Begrüßungen wurde der Italiener nachdenklich und erwiderte den beiden Künstlerinnen, die ihn damit neckten, daß ihm allerdings etwas durch den Kopf ginge, und daß er gekommen sei, um seine schwarzen Gedanken in der Unterhaltung mit ihnen zu bannen. Man suchte ihn zum Reden zu bringen, aber er ging auf einen andern Gegenstand über. Indessen blieb er so lange da, daß Sagesse sich gezwungen sah, ihre Freundin vor ihm zu verlassen. In einem gewissen Vorgefühl nahm sie Enrichetta mit und verließ das Haus mit ihr durch eine hintere Gartentür, ohne von jemandem bemerkt zu werden. Sie hatte wohl daran getan, denn der Bruder der Signora hatte endlich den Zufluchtsort seiner Schwester entdeckt und alle Vorkehrungen getroffen, um sie abzufangen. Seine Leute waren in der Umgegend versteckt, und ein Wagen harrte seiner in einiger Entfernung. An die Gartentür, die auf das Feld hinausging, hatte niemand gedacht.

Nachdem Sagesse gegangen war, sagte Signore ***zu Fräulein G* *, er wisse, eine junge Italienerin sei bei ihr, und bäte sie, sie ihm zu zeigen. Erregt antwortete sie, sie wisse nicht, was er sagen wolle. Der Italiener rief darauf seinen Bruder herbei und zeigte dann ein Dokument, laut welchem er die Erlaubnis hatte, das Haus des Fräulein G** durchsuchen zu lassen. Diese hielt Enrichetta für verloren. Man öffnete die Tür zum Nebenzimmer und fand dort zum großen Erstaunen von Fräulein G** selber niemanden vor. Das gab ihr die Fassung zurück, und von nun an sah sie der Durchsuchung des Hauses ruhig zu. Zum Schluß entschuldigten sich die beiden Italiener, ihr diese unangenehme Störung verursacht zu haben, und baten sie, ihnen zu glauben, daß sie wahrhaft triftige Gründe gehabt hätten, um einen solchen Schritt zu unternehmen. Dann sprachen sie unter sich einige Worte toskanisch, ohne zu ahnen, daß Fräulein G** diese Sprache verstand. Sie hörte den Älteren der Brüder sagen:

»Ihr Leben ist um einen Tag verlängert.«

»Aber wo kann sie sein ?« fragte der andere.

»Vielleicht bei Fräulein Sagesse?«

»Aber sie war doch hier, man hat sie ins Haus treten sehen. Wir müssen die Elende auffinden und unseren Schimpf mit ihrem Blute abwaschen.«

Fräulein G** zitterte bei dieser wilden Drohung und brannte vor Ungeduld, allein zu sein, um Sagesse dringend bitten zu lassen, sie möge Enrichetta sofort ins Kloster bringen. Endlich gingen die Brüder unter fortwährenden Entschuldigungen wieder fort. Sie bemerkten, daß sie ihr nicht zürnen könnten, wenn sie ihre Freundin verberge, daß sie ihrerseits aber alle Anstrengungen machen würden, um sie zu finden, ohne es aber den Damen gegenüber an der schuldigen Achtung fehlen zu lassen, die die Flüchtige mit ihrer Freundschaft beehrten.

Fräulein G** eilte sofort selbst zu ihrer Freundin. Aber die beiden Italiener waren bereits mit ihrer ganzen Kohorte vor ihr dort eingetroffen und sagten zu ihr:

»Wir mißbilligen es nicht, daß Sie hierher geeilt sind, um ihre Freundin zu benachrichtigen, aber es ist zu spät.«

»Sie werden begreifen, Signori,« erwiderte ihnen Fräulein G**, »daß nach dem, was vorgegangen ist, eine Frau, die eine andere Frau liebt, diese schnellstens aufsucht, um ihr alles mitzuteilen, denn für uns Frauen ist die Kenntnis eines Geheimnisses eine Last, die wir gern rasch abschütteln.«

Die Signori lächelten über ihre Worte und gingen an die Hausdurchsuchung. Aber diese war ebensowenig erfolgreich, und sie fanden nichts. Sie hatten es mit einer sehr klugen und sehr ergebenen Person zu tun, die, wenn sie es einmal übernommen hatte, jemandem dienlich zu sein, nicht das geringste verabsäumte, um zum Ziele zu gelangen. Nachdem sie Enrichetta geschickt aus dem Hause ihrer Freundin gebracht hatte, kam ihr der Gedanke, als sie an dem Garten des Herzogs von R*** vorbeiging, bei diesem vorzusprechen. Sie wurde zu ihm geführt und sagte zu ihm:

»Herr Herzog, hier bringe ich Ihnen eine schöne Fremde, nach der gefahndet wird, weil sie mit ihrem Geliebten die Flucht ergriffen hat. Es hat allen Anschein, daß ihre Brüder sie ermorden oder zum mindestens der Freiheit berauben wollen. Jeder französische Edelmann ist der geborene Ritter und Beschützer der verlassenen Schönen. Ich übergebe daher diese Ihrem Schutze, dem Schutze des loyalsten und ritterlichsten aller Kavaliere. Sie ist von vornehmster Herkunft, und Sie werden alle Ihre Macht aufbieten müssen, um sie vor ihren Feinden zu bewahren. Ich konnte mich an keinen Besseren wenden, als an Sie.«

Der Herzog hatte viele gütige Worte für Sagesse, die er hochschätzte, und versprach, über das ihm anvertraute Gut getreulich wachen zu wollen. So hatte Sagesse bereits gehandelt, als sich die Brüder des Mädchens bei ihr einstellten, um es dort zu suchen.

Sie zogen sich sehr überrascht und enttäuscht wieder zurück, umstellten aber die Häuser der beiden Freundinnen mit Spionen, um von jedem ihrer Schritte unterrichtet zu sein.

Am nächsten Tage schrieb Sagesse an den Herzog und bat ihn, die Signora heimlich, aber unter guter Eskorte ins Kloster **** zu schaffen, wo sie erwartet würde. Nachdem sie daselbst glücklich angelangt war, besuchte Sagesse sie, da sie nunmehr seitens der Signori nichts mehr zu befürchten hatte. Sie gab Enrichetta den Rat, an ihre Brüder einen Brief voll religiöser Gefühle und mit Ausdrücken der Achtung und Liebe für sie zu richten und einen anderen ähnlichen Inhalts an ihre Eltern vorzubereiten. Den Brief an die Brüder übergab sie diesen persönlich. Da sie aber sofort merkte, daß das Schreiben nicht im geringsten Eindruck auf diese seit langem wunden Seelen gemacht hatte, und da die Signori so unvorsichtig gewesen waren, sich in ihrer Gegenwart in toskanischem Dialekt über ihre weiteren Pläne zu unterhalten, begab sie sich schleunigst zum Herzog von R*** um ihn zu bitten, er möge den Schritten der Brüder beim Minister zuvorkommen und den Erlaß eines Befehls des Königs unmöglich machen, der die Brüder autorisieren würde, sich ihrer unglücklichen Schwester zu bemächtigen, denn sie habe infolge der aufgefangenen Worte der Unterredung der beiden Brüder allen Anlaß zu dieser Befürchtung. Ihr Schritt beim Herzog hatte vollen Erfolg.

Der Brief Enrichettas an ihre Eitern rührte das Herz des Senators, ihres Vaters, und er befahl sofort seinen Söhnen, sie fortan in Ruhe zu lassen, da sie den Schleier nehmen wolle.

Die Brüder gaben Sagesse Kenntnis von dem Inhalt dieses Briefes ihres Vaters. Sie schienen über das Schicksal ihrer Schwester beruhigt zu sein, verlangten aber, sie zu sehen, um ihren Eltern versichern zu können, daß sie tatsächlich Novize in einem Kloster sei. Sagesse zögerte, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, aber Frau»lein G** wußte sie umzustimmen und ihre Befürchtungen als grundlos darzustellen. So begaben sie sich denn alle vier ins Kloster. Sagesse verlangte, Schwester Henriette zu sprechen. Diese erschien und fiel in Ohnmacht, als sie ihre Brüder sah. Man half ihr, sie kam wieder zu sich und konnte sich dann ruhig und freundlich mit den Brüdern unterhalten. Als diese sich erhoben hatten, um Abschied von ihr zu nehmen, näherte sich der ältere der beiden dem Gitter und bat seine Schwester, ihm die Hand zu reichen. Sie tat es am ganzen Leibe zitternd. Inzwischen war auch der jüngere Bruder näher getreten. Während die Hand Enrichettas noch in der ihres Bruders ruhte, zog er plötzlich einen langen Dolch aus der Tasche, stieß ihn durch das Gitter und verwundete damit seine Schwester, die zu Boden stürzte. Sagesse hatte alles beobachtet, stieß ihn zur Seite und rief um Hilfe. Kalt wandten sich darauf die Brüder zu ihr um, und der ältere äußerte:

»Bei uns, meine Verehrteste, muß Blut den Schimpf abwaschen.« Zugleich zeigten sie ihr einen schriftlichen Befehl ihrer Mutter, so zu handeln, wie sie getan hatten. Sagesse eilte nun an das Schmerzenslager Enrichettas und sah, daß sie ihr durch ihr Eingreifen wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Sie vereinbarte mit der Oberin, Enrichetta für tot auszugeben, um die ganze Geschichte mit einemmal aus der Welt zu schaffen! Sie kehrte demgemäß zu den Brüdern zurück, benachrichtigte sie von dem Tode ihrer Schwester und beschwor sie, sich sofort nach Italien in Sicherheit zu bringen. Sie reisten sofort ab. Dieses Abenteuer läßt so ganz das Edle im Charakter Sagessens hervortreten.

Einige Zeit darauf lernte sie den Obersten eines vornehmen Regimentes kennen und lieben. Ihrer beider Herzen waren für einander geschaffen, und die beiden Liebenden genossen eine kurze Zeit reinen, wahren Glückes. Da brach der Krieg aus, und die Stunde der Trennung schlug. Der Soldat hatte zu viel Ehre im Leibe, als daß er die Pflicht seiner Glückseligkeit hintenangesetzt hätte, und Sagesse liebte ihn zu innig und wahr, um ihn derselben abspenstig zu machen und seine Ehre mit Füßen zu treten. Er wurde das Opfer seiner Tapferkeit und seines Wunsches, sich auszuzeichnen. Kurz bevor er den letzten Atemzug tat, schrieb er noch an Sagesse einige rührende Worte des Abschiedes. Als sie den Brief erhielt und die ersten Worte las, fiel sie in Ohnmacht. Ihre Freundin G** suchte sie zu trösten, aber Sagesse antwortete ihr:

»Es ist aus, er ist dahingegangen. Nun habe ich nichts mehr auf der Welt, was mich noch interessiert, außer deiner Freundschaft. Ich will auf alle Freuden des Lebens verzichten und nur noch meinem Schmerze leben.«

Sie hielt Wort. Am nächsten Tage kündigte sie der Oper zum großen Bedauern ihrer vielen Bewunderer, die besonders hoch an ihr schätzten, daß sie ihre Rollen mit wahrem Gefühl wiedergab, als getreue Nachahmerin der Natur. Nie hatte sie auf Kosten der Vernunft zu glänzen gesucht. Im Ausdruck des Schmerzes und der Verzweiflung war sie stets die liebenswürdige Frau und keine Besessene. Ihr Spiel dient noch heute als mustergültiges Vorbild, und alle Talente ihrer Rivalinnen haben sie bei uns nicht in Vergessenheit bringen können.

Die Unbekannte

2-086

Die Liebe macht alle Menschen gleich. Aus Liebe seufzen Könige zu Füßen einer Hirtin, aus Liebe finden unbändige Despoten Asiens ihre Glückseligkeit in dem Lächeln einer Sklavin: so hat Mutter Natur es gewollt. Ihr Sterblichen, segnet sie!

An einem schönen Sommerabend, gegen sieben Uhr, ging ein elegant gekleideter junger Mann auf dem Boulevard du Temple spazieren, als er ein junges Mädchen bemerkte, das bürgerlich, aber sehr sauber angezogen war und seine Schritte beschleunigte, um sich den indiskreten Bemerkungen zweier junger Lebemänner zu entziehen. Graf de la S, – das ist der Name meines Helden – war überrascht, daß junge, vornehm aussehende Männer ein liebenswürdiges Mädchen in dieser Weise belästigen konnten. Er sprach sie an und machte ihnen Vorstellungen, wurde aber ziemlich schroff von ihnen zurückgewiesen. Er hielt sich nun nicht weiter damit auf, ihnen im gleichen Tone zu antworten, sondern eilte der Dame nach und bat sie um die Erlaubnis, sie begleiten zu dürfen. Eine kurze Antwort, die mit einem lieblichen Erröten gegeben wurde, bewilligte ihm dies. Der Graf knüpfte eine Unterhaltung mit ihr an und zeigte sich sehr rücksichtsvoll, das junge Mädchen legte Bescheidenheit und Anmut an den Tag. So kamen sie an ein neuerbautes Haus in der Rue de la Lune. Dort dankte das junge Mädchen ihm für seine freundliche Begleitung und trat dann in das Haus. An der Tür sagte der Graf zu ihr:

»Muß ich auf das Glück verzichten, Sie wiederzusehen? Sie werden doch nicht so grausam sein, mir das liebenswerteste, was die Natur geschaffen, nur gezeigt zu haben, nur, damit ich ewig bedauern müßte, es verloren zu haben?«

»Glauben Sie mir, mein Herr,« war ihre Antwort, »jeder weitere Verkehr zwischen uns ist unmöglich. Machen Sie sich also keine Hoffnungen, die doch zu keinem Ergebnis führen würden!«

»Legt Ihnen Abneigung gegen meine Person diese Worte in den Mund? Bitte, sagen Sie es mir! Das wäre der einzige Grund, vor dem ich verstummen könnte, und dem ich mich ohne weiteres unterwerfen würde.«

»Sie würden mir doch nicht glauben, wenn ich Ihnen solche Lüge sagen würde«, erwiderte das junge Mädchen und verschwand auf der Treppe. Der Graf hörte, wie sie im zweiten Stock anklopfte, wie eine Tür sich öffnete und kräftig wieder zugeschlagen wurde. Er war im ersten Augenblick versucht, ihr nachzugehen und einen Besuch zu machen, fürchtete dann aber, die liebenswürdige Unbekannte dadurch zu kränken. Dafür nahm er sich aber vor, herauszubekommen, wer sie sei. Er fing auf der Stelle mit seinen Nachforschungen an und erkundigte sich bei einer benachbarten Obsthändlerin, diese antwortete, das neue Haus sei erst seit wenigen Tagen bewohnt, und sie kenne noch keinen von den Bewohnern.

Der Graf kehrte nach Hause zurück und dachte über sein Abenteuer nach. Er beschloß, das betreffende Viertel häufig wieder aufzusuchen, das tat er denn auch, aber alle seine Mühe war umsonst. Endlich verlor er die Geduld, betrat eines Tages das neue Haus und klopfte an die Tür im zweiten Stock, durch die die schöne Unbekannte verschwunden war. Ein Greis öffnete ihm. Der Graf blickte um sich, ob er nicht den Gegenstand seiner Wünsche entdecken könnte, bemerkte aber nichts von ihr. Da faßte er einen kurzen Entschluß und fragte nach der jungen Dame, die an dem und dem Tage, um die und die Stunde diese Wohnung betreten habe. Eine alte Magd, die das Gespräch mit angehört hatte, sagte zu ihrem Herrn:

»Das war Fräulein Cécile«, worauf der alte Herr bemerkte:

»Mein Herr, wenn Sie der Dame etwas mitzuteilen haben, so betrauen Sie mich damit oder schreiben Sie mir. Die Dame ist nämlich nicht meine Tochter, wohnt auch nicht hier. Sie ist nur fünf- oder sechsmal dagewesen, um mir eine Unterstützung zu überbringen, die ihr Vater mir gewährt.«

»Können Sie mir nicht ihren Namen und ihre Wohnung sagen?«

»Das ist mir völlig unmöglich.«

»Wie? Nicht einmal diesen kleinen Gefallen wollen Sie mir erweisen ?«

»Ich wiederhole, es ist mir unmöglich, sonst würde ich mich nicht so drängen lassen.«

Nun entschloß der Graf sich, an sie zu schreiben und den Brief dem alten Mann zur Besorgung dazulassen, Er schrieb folgendes:

»Mein Fräulein, der Herr, der die Ehre hatte, Sie Dienstag abend auf dem Boulevard zu begleiten, ist täglich in dasselbe Viertel gekommen, in der Hoffnung, Sie wiederzusehen. Sein böses Geschick hat dies aber nicht gewollt. Wollen Sie selber mir nun vergönnen, was der Zufall mir versagt? Ich muß Sie sprechen, wäre es auch zum letztenmal. Es kann in Gegenwart des ehrwürdigen Greises geschehen, bei dem ich diese Zeilen schreibe. Ich habe Ihnen Wichtiges mitzuteilen, und es wäre unrecht von Ihnen, mir meine Bitte zu verweigern.

Ich bin in aller Hochachtung

Ihr Graf de la S.«

Am anderen Morgen stellte er sich wieder ein, um zu erfahren, ob die schöne Unbekannte gekommen wäre. Gerade als er in das Haus eintreten wollte, sah er sie aus demselben herauskommen. Er eilte auf sie zu und bat sie in so eindringlicher und zartfühlender Weise um einen Augenblick Gehör, daß sie ihm seine Bitte nicht gut abschlagen konnte. Sie stiegen also zusammen in die Wohnung des alten Herrn hinauf, und dort hörte die Schöne aufmerksam den Grafen an. Er schilderte ihr seine Gefühle so kräftig und nachdrücklich, wie es gewöhnlich Liebende tun, die auf unerwartete Hindernisse stoßen. Sie ließ ihn sich aussprechen, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, sei es, daß seine Reden ihre Teilnahme erweckten, oder daß sie ihn alles, was er ihr zu sagen hatte, auf einmal sagen lassen wollte. Dann erwiderte sie:

»Ich bin, mein Herr, nicht unempfindlich gegen die schmeichelhaften Beweise Ihrer Teilnahme für mich. So freundliche Gefühle müssen meine Dankbarkeit hervorrufen, aber wären dieselben noch inniger, ja, würde ich Sie selbst lieben, so könnte doch von einer Verbindung zwischen uns nicht die Rede sein!«

»Gerechter Himmel! Wollen Sie mich denn zur Verzweiflung bringen?«

»Glauben Sie mir, mein Herr, wir dürfen uns nicht wiedersehen, und ich bitte Sie, in Zukunft keine weiteren Annäherungsversuche mehr zu machen, sondern mir lieber aus dem Wege zu gehen.«

»Ich begreife Sie nicht, verehrtes Fräulein.«

»Ich darf mich nicht näher erklären.«

»Und ich werde niemals aufhören, Sie zu verehren und mich an Ihre Fersen zu heften. Ich will Ihren Widerstand überwinden oder sterben.«

»Oh! Wenn Sie wüßten, was Sie verlangen!« flüsterte die schöne Unbekannte mit einem leichten Seufzer.

»Wie? Wären Sie vielleicht ein Mann?«

»Denken Sie das nur, das wäre besser.«

»Dann … seien Sie mein Freund und teilen Sie mit mir alles, was ich mein nenne … Aber das ist ja unmöglich!« fügte er hinzu, mit einem Blick auf ihren vor Erregung wogenden Busen.

»Mein Gott,« erwiderte sie, »wird es mir denn nicht gelingen, Sie von mir zu entfernen?«

»Nein, nein, niemals! Ich gehöre Ihnen für das ganze Leben an.«

»So muß ich also das schmerzliche Gefühl mit mir herumtragen, einen Menschen unglücklich gemacht zu haben! …«

»Gut, seien Sie schuld an meinem Unglück, dann habe ich doch wenigstens eine Beziehung zu Ihnen!«

Die Unbekannte sah ihn tränenden Auges, aber mit sanftem Lächeln an und äußerte:

»Wenn Sie wüßten, wie sehr Ihre Gefühle für mich meine Qualen noch vermehren, dann würden Sie Mitleid mit mir haben!«

Da fiel der Graf ihr zu Füßen und sagte:

»Sie kennen mich nicht. Erhören Sie mich, und ich werde alle Hindernisse überwinden, allem trotzen. Stände die ganze Welt zum Kampfe gegen uns auf, es würde mich nicht erschrecken! Nur Ihre abweisende Strenge kann mich zur Verzweiflung bringen und mich zum beklagenswertesten aller Menschen machen.«

»Ich sehe,« erwiderte die Unbekannte, »daß ich Sie nicht mit einem Male überzeugen kann, und dringe nicht weiter in Sie, doch bleibe ich fest bei meinem Entschluß.«

»Aber ich werde Sie wiedersehen?«

»Das verspreche ich Ihnen.«

»Aber Sie werden nicht ausbleiben?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde übermorgen hier sein und werde dann versuchen, Sie umzustimmen.«

»Mich vollends zu bestimmen, bei meinem Vorsatz zu bleiben! … Glauben Sie denn, mich darin erschüttert zu haben?«

»Wenn Sie fest bleiben, so bleibe ich es nicht weniger, nur mit dem Unterschiede, daß ich meine guten Gründe habe, während Sie blind drauflos gehen.«

Bei diesen Worten stand sie auf und verließ das Zimmer, indem sie dem Grafen verbot, ihr zu folgen. Er wagte es nicht, ihr ungehorsam zu sein, und begnügte sich damit, ihr mit den Blicken zu folgen, solange er sie in der Rue Poissonnière sehen konnte.

Am nächsten Tage stellte der Graf sich wieder in der Rue de la Lune ein, obgleich das Zusammentreffen erst am folgenden stattfinden sollte, und hatte das Glück, seine schöne Unbekannte wieder bei dem alten Herrn eintreten zu sehen. Er versteckte sich und wartete geduldig, bis sie ihren Besuch beendigt hatte. Dann folgte er ihr von fern. In der Rue Grange Batelière begegnete ihr ein junger Mann, der ziemlich gut gekleidet war, aber harte, grobe Gesichtszüge hatte und sogar ein wenig den Eindruck eines Raufbolds machte. Er grüßte sie ziemlich vertraulich, sie dankte lächelnd, aber ohne sich aufzuhalten. Diese Begegnung machte dem Grafen klar, daß er eifersüchtig sei, denn er gab die Verfolgung seiner Angebeteten auf, um seinem vermeintlichen Nebenbuhler nachzugehen. Dieser begab sich ebenfalls nach der Rue de la Lune zu dem alten Herrn, da dachte der Graf bei sich selber, es könne doch wohl kein Verehrer von ihr sein, denn wenn er das wäre, würden sie sich doch hier getroffen haben! Aber Eifersucht läßt sich nicht so schnell zum schweigen bringen, der Graf kam auf tausend unsinnige Gedanken, zum Beispiel, der alte Herr könnte vielleicht als Vermittler für eine Verabredung gedient haben. Er verfolgte daher den jungen Mann einen großen Teil des Tages und sah ihn in die Gefängnisse Grand-Chatelêt und Conciergerie eintreten. Daraus konnte er keine bestimmten Schlüsse ziehen, und so gab er endlich, ermüdet, seine Verfolgung auf, als der junge Mann denselben Weg wieder zurückging. Am nächsten Tage war er schon vor der bestimmten Stunde in der Rue de la Lune. Seine Schöne kam pünktlich und stieg schnell die Treppe hinauf. Der Graf folgte ihr. Sie ließ die Tür halb offen.

»Ist er schon da?« hörte er sie fragen.

»Nein, mein Kind.«

»Oh! Möchte er mich doch vergessen haben!«

»Das wäre das beste! Ihr würdet sonst beide unglücklich werden!«

»Ich weiß es, aber seine Verzweiflung war so echt! …«

»Ich glaube, er ist ein Ehrenmann, das wäre noch ein Unglück mehr!«

»Und warum wäre meine Ehrenhaftigkeit ein Unglück mehr?« rief der Graf aus, ins Zimmer hineinstürzend, »erklären Sie mir endlich das Seltsame, das ich in allen Ihren Äußerungen finde … Sie antworten nicht?« wandte er sich an den Greis, »Ihnen müßte doch das Alter Einsehen und Verstand gegeben haben! Ist sie verheiratet? Liegt sie in unseligen Fesseln, die ihre Freiheit einschränken? … Ist sie Jüdin, Mohammedanerin? … Hat jemand aus ihrer Familie, ihr Vater, ihr Bruder, ein ehrenrühriges Verbrechen begangen?… Ich bin erhaben über alles, dieses göttliche Mädchen würde sogar – Gott verzeih mir diese Lästerung! – das Verbrechen edel machen! … Wie? Noch immer dieses mich zur Verzweiflung bringende Stillschweigen? … Mein Fräulein, lieben Sie einen anderen? Außer einem solchen Unglück ist mir alles andere gleichgültig!«

Diese rührende Sprache machte großen Eindruck auf den alten Mann, der, einem inneren Drange folgend, unwillkürlich ausrief:

»Ja, sie liebt … Sie liebt Sie!«

Bei diesem Wort kniete der Graf vor der schönen Unbekannten nieder und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Dann erhob er sich und sagte:

»Nun bin ich nicht mehr beklagenswert und will auch nichts mehr fragen. Dies eine Wort erhebt mich über alles, macht mich namenlos glücklich. Ihr armen Sterblichen, deren Leben und Tod von einem Wort, einem Laut abhängt, beneidet mich! …«

»Wehe,« rief da das schöne Mädchen aus, und dabei rollte eine Träne über ihre Wange, »was haben Sie dem Himmel getan, Sie, eines seiner würdigsten Geschöpfe, daß er so Ihr Verderben will?«

»Mein Verderben? Wenn Sie mich lieben? Sie selber fordere ich heraus und erkläre, durch Sie kann ich nicht unglücklich werden!«

»Unseliger! Halten Sie ein! Das also ist das Ergebnis dieser Unterredung, von der ich alles hoffte!«

»Ja, sie hat mein Glück begründet! Erwarten Sie nun nicht mehr von mir, daß ich Sie Ihrem Schicksal überlasse. Jetzt gehören Sie mir! Ich bin der Graf de la S …«

»Großer Gott! Sie sind adlig …!«

»Ich bin mein eigener Herr, und nichts soll mich abhalten, Ihnen einen Titel zu verleihen, der mich mehr ehren wird als Sie.«

»Ihre hohe Stellung, Herr Graf, vermehrt die Hindernisse, die uns trennen. Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Es ist völlig unmöglich.«

»Befehlen Sie mir doch, zu sterben! Das wäre nicht das schlimmste, was mich treffen könnte! …«

Lange Zeit herrschte zwischen den beiden Liebenden ein Schweigen, das der Graf durch zahllose Küsse auf die Hand ausfüllte, die die Geliebte ihm überlassen hatte.

Endlich sagte sie, wie aus einem Traume erwachend und in Tränen zerfließend, zu ihrem hochherzigen Freier:

»Lassen Sie mich, Herr Graf! … Wollen Sie denn gar nicht nachgeben? Wollen Sie mich zur Verzweiflung bringen?«

»Nein, nein, ich lasse Sie nicht! Wären Sie, was nicht sein kann, die gemeinste Dirne, so würde ich Sie doch lieben, denn Ihre Seele ist unverdorben und der Tugend geweiht, und ich würde Ihnen helfen, den rechten Weg wiederzufinden.«

»Ich werde Ihnen niemals den Makel bekennen, der auf mir ruht, nein, das soll niemals geschehen!«

»Ist es Schuld des Schicksals?« fragte ängstlich der Graf, »oder Ihre eigne?«

»Erwarten Sie keine Antwort auf diese Frage!«

»Und du kannst es über dich gewinnen,« fragte er weiter mit unsagbar schmerzlichem Ton, »vor mir, deinem anderen Ich, ein Geheimnis bewahren zu wollen? …«

»Sie kann nicht anders,« mischte der Greis sich ein, »Cécile darf Ihnen niemals das Geheimnis enthüllen. Achten Sie ihre Gründe, wenn Sie sie wirklich lieben! Sie sehen mich tief bewegt und voll Mitleid mit Ihnen beiden. Ich will Ihnen daher erlauben, mit Cécile hier bei mir zusammenzukommen. Vielleicht wird die Zeit Sie beide von Ihrer Leidenschaft heilen, wenn nicht, so werden die Stunden, die Sie miteinander verleben, jedenfalls beiden einiges Glück verschaffen … Ich bin ein alter Mann und verachte alle Vorurteile. Ich habe oft dem Tode ins Auge gesehen und habe mir meine eigene Philosophie geschaffen. Treffen Sie also Cécile hier. Ich kenne sie, sie hat ein gutes Herz und eine empfindsame Seele. Seit zwei Tagen predige ich ihr, sie solle Sie lieben, den Augenblick genießen und nicht an die Zukunft denken. Cécile, mein Kind, folge dem Rat eines alten Mannes, damit du am Ende deines Lebens nicht darüber zu trauern brauchst, dich durch eigene Schuld eines glücklichen Augenblicks beraubt zu haben.«

Diese eigentümlichen Worte setzten den Grafen ins höchste Erstaunen, sie stießen ihn sogar ab, und doch – so ist einmal ein leidenschaftlich bewegtes Menschenherz – unterstützte er sie mit aller Kraft. Cécile ließ sich besiegen und versprach, so oft wie möglich den gefälligen alten Herrn zu besuchen, und erwiderte sogar schüchtern einen zärtlichen Händedruck des Grafen.

Der Graf war über das Benehmen des Greises ganz erstaunt, er wußte nicht, was er davon denken sollte. Es stieg ihm sogar ein Verdacht auf, aber wie weit war er von der Wahrheit entfernt!

Er erkundigte sich nach dem alten Mann in der Nachbarschaft. Nur der Bäcker und der Weinhändler kannten ihn oberflächlich. Sie sagten aus, daß er seit zwei Jahren in diesem Viertel wohne und keinen Verkehr habe. Nach dem jungen Mädchen scheute der Graf sich zu fragen, da er nicht die Augen der Neugierigen auf sie lenken wollte.

Von nun an sahen die Liebenden sich jeden Tag. Der Graf hoffte, mit der Zeit hinter das unselige Geheimnis zu kommen. Das junge Mädchen aber hatte ganz andere Gedanken. Sie wußte zwar nicht aus eigener Erfahrung, sondern durch die Belehrungen des Greises, daß Leidenschaft nicht ewig dauert, und sie rechnete damit, daß die Liebe des Grafen zu ihr mit der Zeit nachlassen, und daß sie also nicht gezwungen sein würde, sich zu entdecken. Daß sie nicht gleich mit dem Grafen brach, lag in ihrer beginnenden Neigung zu ihm und der mehr als nachsichtigen Moral des alten Mannes. Seitdem sie den Grafen zuerst gesehen, hatte sie auf alle Männer der Welt verzichtet, ja sogar auf den, den sie liebte, den Grafen selbst. Aber der Freude, ihn zu sehen, konnte sie nicht widerstehen, und ohne zu bedenken, wohin das alles führen könnte, ließ sie sich vom Strom forttreiben. Bisweilen kam ihr wohl der Gedanke an eine furchtbare Katastrophe, aber dann schloß sie die Augen, um nicht den Abgrund zu sehen.

Diese ihre Haltung kann niemanden überraschen, der weiß, was Leidenschaft ist. Wie oft sieht man nicht einen Mann für eine Frau schwärmen, die über ihm steht und für ihn unerreichbar ist, sie so heiß begehren, daß ihm selbst der Tod für eine Minute Glücks nicht zu teuer scheint. Und Cécile befand sich in gleicher Lage. Sie liebte diesen Mann, der so hoch über ihr stand, daß sie nie daran denken konnte, ihm jemals vor der Welt anzugehören. Die Folge dieses häufigen Zusammenseins mit dem Grafen war, daß Cécile mehr und mehr in Liebe zu ihm entbrannte. Eine köstliche Vertraulichkeit entstand zwischen ihnen, und durch die Liebe verblendet, vergaß Cécile aller Hindernisse, während der Graf, vor Leidenschaft trunken, nicht einmal mehr an das undurchdringliche Geheimnis dachte. Glückliches Vergessen, das beide selig machte!

Nach sechs Monaten eines so köstlichen Lebens wollte der Graf Cécile eines Abends ins Theater führen. Man gab Glucks Iphigenie, dieses Meisterwerk dramatischer Musik, das der Altmeister eigens geschaffen zu haben scheint, um alle seine Tadler zu zerschmettern, Cécile lehnte nicht sehr ernstlich ab …, sondern nur so, wie man sich selbst Widerstand leistet, wenn man gegen eine angenehme Versuchung ankämpft. Doch plötzlich nahm sie sich zusammen und antwortete mit einem harten Nein –, aber dabei strömten Tränen aus ihren Augen.

»Sie zerstören mein Glück,« rief sie aus, »ich hatte, ach! Schon vergessen, wer ich bin … Warum erinnern Sie mich so grausam durch diese Einladung daran? Der Graf war sprachlos, tausend Gedanken beschäftigten seine Phantasie, und einer von diesen befestigte sich in ihm: Cécile ist vielleicht Sängerin oder Tänzerin an der Oper gewesen, und das ist das große Geheimnis, das sie mir verschweigen will. Nun fürchtet sie, daß sie dort erkannt werde, und daß ich für einen Mann gelten könne, der Theaterprinzessinnen aushalte. Von diesem Gedanken aber schwieg er, tröstete Cécile und versprach ihr, nie wieder den Besuch eines Theaters vorzuschlagen.

Am darauffolgenden Tage kam das Gespräch zufällig auf die Räderung eines Unglücklichen, der einen Mord begangen hatte, und dessen ehrbare junge Schwestern nun allem Elend des Lebens ausgesetzt seien.

»Kennen Sie sie?« fragte Cécile tiefbewegt.

»Nein, aber dennoch beklage ich sie. Wie furchtbar! Ein Bruder! …« Der Graf hielt inne, weil er sah, wie sehr dieses Gespräch Cécile angriff. »Um des Himmels willen,« dachte er, »sollte sie eine der Schwestern sein?« In dieser Vermutung umarmte er die Weinende, ohne ein Wort hinzuzufügen, und seine Liebkosung war so zärtlich und zugleich so achtungsvoll, daß es ihm gelang, sie wieder zu beruhigen.

Ein anderes Mal sprach der Graf, der aus der Lothringer Gegend war, von einem schönen jungen Mädchen, das auf die ungerechte Anklage ihres Herrn, eines reichen Edelmanns, gehängt werden sollte. Der Henker aber, der nach allem, was er von der Ärmsten wußte, von ihrer Unschuld überzeugt war, wollte ihr das Leben retten. Er bereitete sie in geschickter Weise darauf vor, damit die Erregung sie nicht tötete, und bat sie, auf Gott zu vertrauen. Die Richter hatten dem Henker Befehl gegeben, den Leichnam sofort nach der Vollstreckung des Urteils zu entfernen, da sie nicht diesen jugendlichen schönen Körper einer lüsternen Neugier aussetzen wollten. Das erleichterte sein Vorhaben. Das junge Mädchen hielt ihre Hände so, wie der Henker es ihr gesagt hatte, und indem sie ihre Füße an dem eigenartig gebundenen Knoten stützte, bewirkte sie, daß sie fast keinen Schmerz empfand und am Leben blieb. Er nahm den Leichnam dann sofort vom Galgen herunter und tat so, als ob er ihn rücksichtslos in den Karren würfe. Diesen hatte er aber fürsorglich vorher reichlich mit Stroh ausgefüllt. Dann fuhr er schnell nach seinem Hause, wo das junge Mädchen sich rasch von seinem Schrecken erholte. Er schickte es nach Paris, wo es, wie man sagt, sich noch befinden soll. Doch die Sache kam heraus, und ihr Retter mußte die Flucht ergreifen. Auch er soll in Paris weilen und von den Unterstützungen des Mädchens leben, das er vor dem Tode bewahrt hat …

Cécile war während der Erzählung des Grafen bald blaß, bald rot geworden. Als er geschlossen hatte, fühlte sie sich sehr schlecht. Der Graf bemühte sich hingebend um sie. Dieser Zwischenfall hatte aber zur Folge, daß ihr Zusammensein länger dauerte als sonst, es war darüber Abend geworden. Eben erhob der Graf sich, um fortzugehen, als es klopfte. Cécile und der alte Mann zögerten, zu öffnen, doch der Graf redete ihnen zu, so daß sie sich nicht länger weigern konnten.

Ein junges Mädchen erschien in dem Türrahmen, offenbar ganz erschrocken, einen Dritten hier anzutreffen. Cécile küßte sie, während der Alte sie mit freudestrahlendem Antlitz beiseite nahm und eine Zeitlang mit ihr sprach. Dann bat Cécile den Grafen, das junge Mädchen ebenfalls zu begrüßen. Bald waren alle so vertraut miteinander, daß Cécile den Grafen zum Essen einlud, was noch niemals vorgekommen war.

Er war aber hocherfreut darüber und ging sofort, das Nötige zu besorgen. Als er zurückkehrte, fand er die beiden Mädchen engumschlungen beieinander sitzend. Ihre Augen waren gerötet, sie schienen geweint zu haben. Sobald sie ihn aber bemerkten, nahmen sie wieder eine heitere Miene an, und bei Tisch konnte der Graf mit ihrer Fröhlichkeit wohl zufrieden sein. Die Neuangekommene war reizend und schien mehr mit den Gebräuchen der Welt bekannt zu sein, als Cécile. Aber so liebenswürdig und anziehend die Fremde auch war, so genügte doch ein Blick aus Céciles schönen Augen und ihr sanftes Lächeln, um alle Reize der anderen in den Schatten zu stellen.

Als es Zeit war, aufzubrechen, fragte der Graf mit gleichgültiger Miene, welche von den Damen er nach Hause begleiten dürfe. Cécile antwortete:

»Keine von beiden!« – und indem sie seine Hand in ihre beiden nahm, fügte sie hinzu: »Mein lieber Graf, ich vertraue auf Sie, zerstören Sie nicht unser Glück!«

»Niemals, Angebetete, obwohl Sie nicht recht gegen mich handeln. Wenn es jemals zerstört werden sollte, so werde nicht ich daran schuld sein, und gewiß nicht mein Ungehorsam. Erlauben Sie mir aber wenigstens, jede der Damen zu einem Wagen zu begleiten.«

»Nein, nein, wir werden allein einsteigen.«

»Ganz, wie Sie wünschen. Aber ich darf Ihnen wenigstens mit meinen Augen folgen, bis Sie eingestiegen sind, denn es ist schon spät? …«

Dies wurde angenommen, aber unter der Bedingung, daß er dann sofort seines Weges gehen würde.

Alles wurde nach der Verabredung ausgeführt, bis auf eins. Der Graf sah die beiden Damen in ziemlicher Entfernung ihre Wagen nehmen, offenbar, damit er nicht die Nummern erkennen und sich erkundigen könnte. Cécile kannte ihren Geliebten noch immer nicht genug, er liebte sie so aufrichtig, daß er sich die größten Gewissensbisse gemacht haben würde, gegen ihre Absichten zu handeln. Der eine Fiaker nahm die Richtung nach den Petits-Carreaux, in diesem saß Cécile. Der Weg, den der andere mit der jungen Fremden einschlug, war derselbe, den der Graf zu gehen hatte. Plötzlich sah er, wie der Wagen anhielt, da die halbverhungerten Mähren nicht mehr weiterkonnten, es blieb der Dame nichts weiter übrig, als an der Ecke der Rue Beauregard auszusteigen und zu Fuß weiterzugehen. Es war bereits Mitternacht. Der Graf folgte ihr von weitem. An der Ecke der Rue de Bourbon wurde sie von drei Nachtschwärmern ernstlich behelligt. Sie bat sie flehentlich, sie doch in Ruhe zu lassen, statt dessen wurden sie noch unverschämter. Als sie einen lauten Schrei ausstieß, eilte der Graf herbei und stürzte sich mit gezogenem Degen auf die Burschen, die bei diesem Anblick die Flucht ergriffen. Als er sich nun nach der jungen Dame umsah, war sie verschwunden. Er rannte so schnell er konnte die Rue des Petits-Carreaux hinunter, in der sie verschwunden sein mußte, und als er die Rue du Bout du Monde erreicht hatte, erblickte er seine schöne Tischnachbarin von vorher in den Händen einer Polizeipatrouille! Er näherte sich und sagte: »Meine Herren, diese Dame ist anständig, ich bürge für sie. Wir haben eben erst bei einer befreundeten Familie zusammen zu Abend gespeist. Unverschämte Flegel haben sie attackiert, und ich habe sie aus deren Händen befreit, daher ist ihre Kleidung ein wenig in Unordnung. Lassen Sie sie frei!«

»Kennen Sie den Herrn?« fragte der Sergeant, da die Dame kein Wort sagte.

»Nein!«

Der Graf war außer sich vor Überraschung bei dieser unerwarteten Antwort. Noch mehr aber erstaunte er, als er bemerkte, daß das junge Mädchen dem Sergeanten etwas ins Ohr flüsterte und dieser sich darauf an ihn wandte und sagte:

»Hören Sie, das beste für Sie ist, daß Sie verschwinden, sonst verhafte ich Sie.« Zugleich befahl er zweien von seinen Leuten, ihn zu arretieren, wenn er der Dame und ihm folgen würde. Der Graf hätte seinen Namen nennen und die Leute zwingen können, in einem höflicheren Ton mit ihm zu sprechen, aber er glaubte die Absicht der Dame zu erraten, und so ging er ganz zerknirscht seines Weges weiter.

Als er sich des anderen Tages einstellte, fand er Cécile nicht vor, dafür aber einen Brief von ihr:

»Mein lieber Graf, ich hatte es wohl nicht verdient, einen Geliebten zu haben, wie ich Sie mir seit sechs Monaten geträumt hatte. Sie haben nicht gewollt, daß wir uns weiter sehen, ich werde daran sterben, aber es muß so sein! … Wie konnten Sie gestern abend dem jungen Mädchen, das mit uns gespeist hat, folgen? Sie wollten trotz Ihren Versprechungen, die Sie uns mit so treuherziger Miene gaben, in ein Geheimnis eindringen, dessen Aufdeckung uns alle, wenigstens Sie und mich, unglücklich machen würde! … Welches Vertrauen könnte ich von nun an noch in Ihre Versicherungen setzen? Ach, ich bin schwer bestraft worden! … Leben Sie wohl, Graf, und vergessen Sie mich. Ich werde Ihrer mein ganzes Leben lang gedenken … Dazu wird meine Kraft ausreichen, denn mein Leben wird kurz sein.

Cécile.«

Als der Graf den Brief gelesen hatte, war er wie versteinert. Er erklärte darauf dem Alten, wie sich in Wirklichkeit alles zugetragen hatte, und schwor bei seiner Ehre, daß er die Sache nicht entstellt habe.

»Was kann ich dazu tun?« erhielt er zur Antwort, »Cécile wird dieses Haus nicht mehr betreten, das ist beschlossene Sache.«

»Aber Sie werden Sie doch wenigstens sehen. Sagen Sie ihr, es handle sich um mein Leben, denn wenn ich sie morgen nicht sehe, dann werde ich hier unter Ihren Augen in diesem selben Zimmer … Wenn ich noch mein Unglück verdient hätte, dann würde ich mich vielleicht fügen, aber daß ich so vollkommen unschuldig leiden soll …! Ich habe doch stets ihren Willen geachtet …!«

Was auch der Graf vorbringen mochte, der Alte versprach nichts. Schon wollte er verzweifelt fortgehen, schon hatte er die Türklinke in der Hand, als er sich von zarter Hand zurückgehalten fühlte. Es war Cécile, die zu ihm sagte:

»Ich glaube Ihnen, mein lieber Graf, aber bei allem, was Ihnen teuer ist, beschwöre ich Sie, niemals unser Glück aufs Spiel zu setzen. Wenn Sie vor mir jetzt nicht vollkommen gerechtfertigt dastünden, wären wir für immer getrennt gewesen.«

»Ich verlange nur eins,« erwiderte der Graf, »Sie anbeten zu dürfen und Ihr Herz mein zu nennen. Verfügen Sie, teure Cécile, über mein Geschick, ich fühle, daß ich ohne Sie nicht leben kann. Fürchten Sie nicht, daß ich Schritte tun werde, um meine Neugier zu befriedigen, denn diese Neugier hat die Liebe getötet. Nur Liebe, nur meine Leidenschaft für Sie halten mich noch gefangen.«

Um fünf Uhr waren sie noch beisammen, als das junge Mädchen vom Tage vorher dazukam. Sie war sehr überrascht, daß zwischen dem Grafen und Cécile so gutes Einvernehmen herrschte. Er wollte sich rechtfertigen, aber Cécile überhob ihn der Mühe. Sie machte die Gründe ihres Geliebten mit so viel Nachdruck und Beredsamkeit geltend, daß er wohl sah, sie wünschte ebensosehr wie er, daß seine Schuldlosigkeit anerkannt würde. Sie speisten wieder zusammen zu Abend, blieben aber nicht so lange wie tags zuvor. Cécile ging zuerst fort, darauf ihre Freundin, die diesmal aus freien Stücken den Grafen bat, sie bis zur Rue de Cleri zu begleiten. Dort verließ sie ihn, indem sie ihr Bedauern aussprach, sich ihm nicht entdecken zu können. Sie richtete sogar an ihn eine Bitte, an die Cécile niemals gedacht hatte: niemals gegen seine Freunde ein Wort von seinem Abenteuer verlauten zu lassen. Sie sagte, ihr persönliches Geheimnis erfordere an sich nicht so große Vorsicht, wohl aber dessen Zusammenhang mit dem ihrer Freundin.

»Wenn es sich nur um ihr Glück handelte,« schloß sie, »dann hätte sie, wie ich sie kenne, es Ihnen längst geopfert, denn sie liebt Sie mehr als ihr Leben, aber sie denkt nur an Ihr Glück, das ohne Gnade zerstört werden würde. Leben Sie wohl, Herr Graf, ich habe versucht, durch meine Indiskretion wieder gutzumachen, was ich Sie gestern und heute habe leiden lassen …«

Am nächsten Tage wurde der Graf von Cécile mit unsagbarer Freude empfangen.

»Lieber Freund,« sagte sie zu ihm, »du hast mich lieben gelehrt. Niemals würde ohne dich dieser köstliche Lebensbalsam meine Seele gestärkt haben. Kann ein Weib in meiner Lage jemals geliebt werden, kann ein Mann ein Weib in seine Arme drücken, das … doch fort mit diesen unseligen Gedanken! … Ach, ich Unglückliche, ich versage mir sogar die Liebkosungen, die mir die Natur gebietet! … Lieber Freund … Ich habe nur dich, und noch dazu hängt meine Glückseligkeit an einem Faden … an deiner Unkenntnis der Dinge, teurer Freund! … Verzeih mir, daß ich dir dieses grausame Geheimnis verhehle, sage mir, daß du mir verzeihst, Liebling meiner Seele … Ja, du hast mir erst geoffenbart, daß ich ein Herz besitze, bei deinem ersten Anblick, bei den ersten Worten, die du zu mir sprachst, hat es für dich geschlagen … Woher kam dir, lieber verführerischer Mann, dieser Zauber, der mich sofort gefangen nahm?«

»Ebendaher, wo du den Zauber fandest, der mich unterjocht, meine Cécile.«

»Die Liebe gab ihn mir.«

»Dann hat die Liebe ihn auch mir verliehen.«

»Wir wollen uns also ewig lieben!«

»Das ist mein Herzenswunsch. Oh! Teure Cécile, erfülle mir eine Bitte. Ich bin reich und habe noch nie gewagt, dir ein Geschenk zu machen. Die Liebe, die du mir heute bezeugst, ermutigt mich: teile mit mir mein Vermögen, wie ich mit dir das deine teilen werde. Denke nicht, teure Freundin, daß ich dir damit eine Falle stellen will, um Kenntnis von deiner Lage zu bekommen, nein, nein. Wenn mein Vorschlag dich schmerzt, Cécile, so will ich mich auf eine Forderung beschränken, aber auf dieser muß ich bestehen, daß nämlich meine Geschenke von dir angenommen werden … Du antwortest nicht, Cécile? Ich bestehe darauf, sonst müßte ich annehmen, daß du mich weniger liebst, als ich glaubte.«

»Oh! Laß alles beim alten, lieber Freund, wir fühlten uns so wohl dabei!«

»Ja, du, hochherziges Mädchen! Aber ich, ich leide darunter, daß die Hälfte meines Ichs nicht mitgenießt, was ich besitze.«

»Ich nehme an, ich nehme alles an, aber ich will auch meinerseits die Macht haben, deiner Großmut Schranken zu setzen.«

»Einverstanden.«

»Also zu morgen wünsche ich einen Blumenstrauß.«

»Den sollst du haben, angebetete Cécile, es ist mein erstes Geschenk, und mit welcher Freude will ich es auswählen!«

Der Graf hatte seit seiner Bekanntschaft mit Cécile fast nichts ausgegeben und hatte daher viel Geld liegen. Der Strauß, den er ihr am nächsten Tage mitbrachte, hatte 15000 Franken gekostet. Er bot ihn ihr dar und sagte:

»Ich fühle, daß ich gegen deinen Willen gehandelt habe, aber ich wollte mein erstes Geschenk selbst aussuchen, alle folgenden sollen nach deinem Geschmack sein.«

Cécile nahm den Schmuck an und bemerkte:

»Ich bringe dir ein Opfer, wenn ich’s annehme, ich hätte Blumen vorgezogen. Aber mein Herr Geliebter hat mich wie die anderen Frauen beurteilt und weiß noch nicht, daß ich in gewissen Dingen über ihnen stehe. Aber, lieber Freund, da ich nur ein gewöhnliches Weib bin, so wollen wir auch die Folgerungen daraus ziehen: wie willst du mich haben? Soll ich falsch, kokett, schamlos, eigennützig, zänkisch, leichtsinnig, flatterhaft sein? Sprechen Sie, mein Herr Graf, da Sie wollen, daß ich ihnen ähneln soll!«

»Nein, um Gottes willen, nein!« rief der Graf lachend.

»Dann nimm deinen Brillantenstrauß wieder und schenke mir Blumen.«

»Cécile wollte mein Geschenk zurückweisen?«

»Nun beruhige dich, dazu bin ich zu zartfühlend, teurer Freund, aber verfalle nicht wieder in diesen Fehler. Ich bringe dir wirklich damit ein Opfer, denn ich kenne den Preis dieser Kostbarkeit.«

Der Graf erwiderte nichts, sondern ging fort und holte einen Blumenstrauß.

»Vergiß den anderen, liebe Cécile, und nimm diesen, den dir mein Herz anbietet!«

Als Ceciles Freundin dazukam, wurde der Vorschlag gemacht, bis zum Abendessen etwas vorzulesen. Dies geschah zum erstenmal. Man wählte Werke Voltaires aus, und es wurde beschlossen, alle Nachmittage mit solchem Vorlesen auszufüllen, sobald Valbrune – so hieß Céciles Freundin – eingetroffen wäre. Nach Voltaire lasen sie J. J. Rousseau und darauf Buffon. Damit unterhielten sie sich während der nächsten achtzehn Monate, bis die Katastrophe über die Liebenden hereinbrach.

Während der ganzen langen Zeit hatte der Graf nichts von dem Geheimnis erfahren. Jeden Abend begleitete er die Valbrune bis zur Rue de Cleri, wo er sich von ihr verabschiedete. Aber eines Abends sah er, wie sie, gleich nachdem er von ihr Abschied genommen hatte, von einem Mann belästigt wurde, der aus einem Kabriolett sprang. Er wußte nicht, was er tun sollte, da ihm noch der Vorfall von jenem ersten Abend in der Erinnerung war. Während er noch unschlüssig dastand, hörte er die Valbrune rufen: »Zu Hilfe, Herr Graf!« Das genügt. Er stürzt sich auf ihren Angreifer, schlägt ihn zu Boden, nimmt Valbrune in seine Arme und eilt mit ihr davon. Als sie bei der Porte Saint-Denis außer Gefahr waren, setzte er sie nieder und sagte zu ihr:

»Befehlen Sie über mich. Soll ich Sie begleiten? Soll ich Sie verlassen? Mir ist alles gleich, wofern ich nur Ihnen dienlich sein kann.«

»Es gibt keinen zweiten Menschen wie Sie auf der Welt,« erwiderte Valbrune, noch am ganzen Leibe zitternd, »und so will ich jetzt kein Geheimnis mehr vor Ihnen haben. Begleiten Sie mich. Sie haben mich aus den Händen meines Todfeindes errettet!«

Sie bogen in die Rue de *** ein, und Valbrune klopfte an ein Tor. Ein Lakai öffnete.

»Ist der Herr schon zu Hause?«

»Nein, Madame.«

»Der Herr ist mein Gatte,« erklärte sie dem Grafen, »er hat mich aus Liebe geheiratet, ohne mich zu kennen. Unsere Ehe ist in den Augen der Menschen vielleicht keine ganz gültige, aber mein Gewissen ist ruhig. Eine der Bedingungen, unter denen ich eingewilligt habe, mich ihm zu ergeben, besagt, daß ich täglich den alten Mann besuchen darf, den wir soeben verlassen haben, und daß mein Mann sich nie nach ihm erkundigen darf. Oft hat er mich dorthin begleitet, und was er da sah, hat ihm volles Vertrauen zu mir eingeflößt. Er weiß, daß ich dort meine Freundin treffe, und hat mich oft gebeten, sie in unser Haus zu führen. Da er aber bemerkte, daß ich das nicht beabsichtigte, so hat er nie wieder darauf gedrängt. Er ist der beste Mann von der Welt! Da ich nun einmal eingewilligt habe, mich von Ihnen begleiten zu lassen, so werden Sie die Güte haben, auf ihn zu warten. Denn ich will vor ihm kein Geheimnis haben, mit Ausnahme des großen, undurchdringlichen, das auch sein Glück zerstören würde.«

Während sie noch so sprach, wurde das Tor wieder geöffnet.

»Das ist mein Mann,« sagte die Valbrune und lief dem Eintretenden entgegen.

»Mein Freund,« sagte sie zu ihm, »hier stelle ich dir einen Kavalier vor, der mich nach Hause begleitet hat. Es ist derselbe, mit dem ich oft bei dem alten Mann speise, der Geliebte meiner einzigen Freundin … Dieses Wort wird dir alles sagen.«

Valbrunes Gatte begrüßte den Grafen auf das herzlichste. Sie unterhielten sich höflich einige Minuten, bis der Graf sich verabschiedete.

»Leben Sie wohl, lieber Graf,« sagte da Valbrune zu ihm, »wenn Sie Cécile vor mir sehen, so erzählen Sie ihr schonend, was sich ereignet hat. Sagen Sie ihr auch, daß meine Besuche von jetzt an seltener sein werden, und daß ich ihr daher den alten Mann doppelt warm empfehle. Sehen Sie zu, daß Sie sich schnell verheiraten, so wie wir. Sie könnten dann in der Nähe eine Wohnung nehmen, und wir würden täglich zusammenkommen … Doch kein Wort zu Cécile, daß ich es war, die Ihnen diesen Rat gegeben hat! … Leben Sie wohl, gehen Sie schnell fort.«

Der Graf war über diese Worte sehr überrascht, aber er nahm sich vor, den Rat zu befolgen und zu diesem Zweck vor allem herauszubekommen, wie es sich mit der Heirat der Valbrune verhalte.

Der Vorfall war an einem Sonnabend geschehen. Am Sonntagmorgen hatte er im Faubourg Saint-Laurent zu tun. Er befand sich in der Nähe der Kirche, als er sah, daß Cécile diese gerade verließ. Sie hielt ihr Taschentuch vors Gesicht, als ob sie ein Erröten oder Tränen verbergen wollte. Der Graf geriet in Versuchung, sie anzusprechen, doch hielt ihn die Vernunft davon zurück. Er ging in die Kirche, um ihr, falls sie ihn bemerkt hatte, durch irgendein Wahrzeichen beweisen zu können, daß er ihr nicht gefolgt sei. In dem Augenblick, als der Graf eintrat, bestieg der Vikar gerade die Kanzel. Er fing mit einem sonderbaren Aufgebot an, indem er verkündigte: der Scharfrichter habe eine Tochter zu verheiraten, der er eine Mitgift von 30000 Franken gebe, es werde nur ein ehrlicher Mann für sie verlangt von guten Sitten, gutem Charakter usw.

»Bei Gott,« sagte der Graf bei sich selber, »besser konnte ich es nicht treffen! Nun kann ich Cécile beweisen, daß ich ihr nicht gefolgt bin, indem ich ihr erzähle, daß ich diesem sonderbaren Aufgebot beigewohnt habe.« Er hörte noch eine Viertelstunde die Predigt mit an, besorgte dann seine Geschäfte und begab sich endlich in die Wohnung des Greises. Dort traf er bereits Cécile an, die erregter war denn je. Er dachte, sie wisse bereits von dem Vorfall des vorigen Abends, und fing davon an, aber sie wußte noch von nichts, und er mußte ihr die Einzelheiten berichten, wobei er betonte, wie sehr er Valbrunes Gemahl um sein Glück beneide.

»Lieber Freund,« erwiderte Cécile darauf, »ich bin sehr aufgebracht über die Unvorsichtigkeit und Indiskretion meiner Freundin, aber beneide nicht die beiden um ihr Los, ich werde dir ein viel süßeres auch ohne Heirat bereiten.«

»Ohne Heirat! Nein, das lehne ich ab.«

»Verblendeter! Glaubst du denn, ich würde deine Hand ausschlagen, wenn ich sie annehmen könnte? Was hat die Valbrune angerichtet! Welchem Unheil setzt sie mich aus! …«

»Sie ist nicht meine Geliebte und hat doch mehr Vertrauen zu mir, als du!«

»Vertrauen! Ach! Ich würde mehr Vertrauen zu dir haben, als irgendeine Frau auf der Welt, wenn solches Vertrauen wirklich einen Beweis meiner Liebe bedeutete … Geliebter! Bist du deines Glückes schon überdrüssig? Sage, langweile ich dich? Du bist mein Glück … genügt dir das nicht? …«

»Wenn ich heute früh gewollt hätte, so gäbe es kein Geheimnis mehr für mich. Ich habe dich getroffen …«

»Wo denn?«

»Ich habe dich aus der Kirche kommen sehen, habe aber, deinem Gebote getreu, keinen Schritt getan, dir nachzugehen. Ich bin in die Kirche getreten, um dir Zeit zu lassen, zu verschwinden. So habe ich gehandelt, und solltest du daran zweifeln, dann kann ich es dir beweisen.«

»Deine Diskretion, teurer Freund, kommt dir selbst zugute, sie macht dein Glück aus, denn wenn du anders handeltest, so würdest du selber einen glücklichen Traum zerstören. Ich, Geliebter, liebe dich abgöttisch: treu und liebevoll machst du mich glücklich, wärest du ungetreu und wankelmütig, würde ich dich auch dennoch lieben und von meinen Hoffnungen leben, wenn ich aber deine Achtung verlöre, dann bliebe mir nur der Tod … Du willst mir beweisen, daß du mir nicht nachgegangen bist, doch ich glaube dir, ich glaube dir, denn du würdest mich ja nicht mehr lieben, wenn du mich täuschtest …«

»Mein Beweis? Ich habe den Vikar von der Kanzel herab verkünden hören, daß die Tochter des …«

»Halt ein, halt ein«, unterbrach Cécile ihn, bleich wie der Tod. Sie war einer Ohnmacht nahe, doch erholte sie sich allmählich wieder. Der Graf bemühte sich zärtlich um sie, ganz betroffen von der Aufregung, die sie erfaßt hatte. Er sprach von Heirat zu ihr, einer heimlichen, einer öffentlichen, mit oder ohne Formalitäten, – kurz, er zeigte sich zu allem bereit, was Cécile bestimmen würde, aber er verlangte, daß endlich eins oder das andere geschähe. Cécile verteidigte sich, so lange sie konnte, willigte aber schließlich in eine geheime Eheschließung ohne alle Formalitäten, die also vollkommen ungültig sein mußte. Der Graf machte diesen Einwand, sie entgegnete aber, sie wolle es so.

»Nun, du göttliches Weib,« sagte er darauf, indem er sie in seine Arme schloß, »dann sei es so. Ich sehe, es ist das beste, ich überlasse mein Schicksal dir allein. Mach mit mir, was du willst, meine Cécile! Sei mein Schutzgeist und meine Königin! …«

Cécile wollte ihm antworten, da klopfte es. Sie glaubten, es sei die Valbrune, aber in der Tür stand ein Mann. Es war der Mann, der am Abend vorher die Valbrune angegriffen hatte.

»Ist das da der Graf de la S.,« fragte er, »den ich zu Füßen der Tochter des Henkers sehe? Gestern reichte er seinen Arm einer anderen, die dieser alte Schuft da vom Galgen rettete …«

»Halt,« rief der Graf, »du Elender! Mag, was du sagst, wahr oder erlogen sein, sie ist meine Frau, hab‘ Achtung vor ihr! Die Geschichte der anderen kannte ich, ohne zu wissen, daß es sich um sie handelte: sie ist unschuldig, und du bist ein Scheusal. Flieh! oder du bist ein Kind des Todes!«

»Fliehen?« erwiderte der schändliche Ankläger der Valbrune, »ich habe einen Degen an meiner Seite!«

Der Graf riß sich aus den Armen Ceciles, die ihn zurückhalten wollte, und stürzte hinter dem Verleumder her, den er auf der Straße stellte. Der Kampf war kurz. Der Graf brachte seinem Gegner einen tödlichen Stoß bei und streckte ihn neben dem Wagen, der ihn hergebracht hatte, zu Boden. Er konnte noch seinem Diener befehlen, ihn nach Hause zu fahren, dort starb er. Die Sache wurde totgeschwiegen, weil die Familie des Toten, die ohnehin nicht an die Schuld der Valbrune glaubte, fürchtete, der Graf möchte, wenn er angeklagt würde, die alte Geschichte wieder vorbringen und die Unschuld des Mädchens beweisen können.

Doch wenden wir uns wieder zu Cécile.

Sie war während des Zweikampfs in Ohnmacht gefallen. Als sie wieder zu sich gekommen war, sah sie sich in den Armen des Grafen.

»Träume ich,« waren ihre ersten Worte, »doch nein … es ist furchtbare Wahrheit. Sie kennen mich jetzt, Herr Graf, nun ist alles aus!«

»Ja, teure Cécile, jetzt weiß ich endlich, wer du bist. Und nun vergöttere ich dich erst recht, jetzt, wo ich die Schönheit deiner Seele kennen gelernt habe. Du wirst meine Frau werden, Cécile! Ich will es so, und von nun an werde ich als dein Gebieter sprechen und dich an den Platz stellen, der dir gebührt!«

Während er sprach, schien Cécile in tiefes Nachdenken versunken zu sein. Plötzlich raffte sie sich auf und fragte:

»Und was ist aus deinem Gegner geworden?«

»Er ist in seinem Wagen davongefahren.«

»Verwundet?«

»Ja, schwer verwundet.«

»Ach, teurer Freund! Und du bist noch hier? Rette dich, wenn du mein Leben bewahren willst!«

»Diesem Wort bin ich gehorsam«, erwiderte der Graf. »Lebe wohl, teure Gattin – denn das wirst du sein! Sonst lege ich keinen Wert mehr auf mein Leben, das du mir zu erhalten befiehlst.« Damit entfernte er sich.

Am anderen Morgen konnte er nicht dem Drange widerstehen, den Greis zu besuchen, obwohl er erfahren hatte, daß sein Gegner der Verwundung erlegen war. Er traf Cécile nicht an, sie war erkrankt und hütete das Bett. Da hörte er auf keinen Rat mehr und folgte nur den Eingebungen seiner Liebe. Er ging zu ihr. Er kannte jetzt ihre Wohnung aus den Worten, die seinem Gegner entschlüpft waren. Er verlangte ihren Vater zu sprechen und setzte diesem die Gründe auseinander, warum er Cécile sofort sprechen müßte. Man führte ihn zu ihr und ließ die beiden Liebenden allein.

»Ach! lieber Freund, welches Haus besuchen Sie!«

»Ich komme, teures Mädchen, dir ewige Liebe zu schwören und mit dir zu besprechen, wie wir es anstellen können, damit mir gewisse Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Das geht dich so viel an wie mich, denn von nun an sind wir eins. Selbst wenn ich dich nur mit den peinlichen Folgen heiraten kann, die du für mich befürchtest, werde ich es dennoch tun. Aber ich überlasse es dir, darüber nachzudenken, ob es nicht möglich wäre, diese von mir abzuwenden. Jedenfalls aber werde ich dich, meinen kostbaren Schatz, unter keinen Umständen im Stich lassen. Ich achte, ehre, liebe, vergöttere dich, Cécile. Und deshalb gibt es für mich nur eins: dich zu heiraten.«

»Nein, nein,« antwortete Cécile, »Sie dürfen sich nicht Selber ein Solches Unrecht zufügen! Dazu werde ich nie meine Einwilligung geben!«

»Dann werde ich es mir also gegen deinen Willen zufügen.«

»Ach, lieber Graf! Und die Kinder! Unseliger, die Liebe verblendet dich!«

»Ja, aber ich liebe diese Verblendung, ich liebe ihre Quelle und ich liebe ihre Ursache!«

Er sagte ihr noch vieles andere, aber er konnte sie nicht bestimmen, ihm ihre Hand zu schenken. Trotzdem traf er alle Vorbereitungen, und als der Tag gekommen war, forderte er sie auf, mit ihm vor den Altar zu treten. Sie weigerte sich und wollte nicht das Bett verlassen, das sie noch immer hütete. Da rief er den Geistlichen ins Haus, und unter Tränen mußte sie seinen dringenden Bitten nachgeben.

Graf de la S. führte seine junge Frau auf eines seiner Güter in Lothringen – den Namen verschweige ich –, wo er mit ihr ein glückliches Leben führt. Die Valbrune und ihr Gatte folgten ihnen bald ebenfalls dahin nach. Der Graf ist der einzige Mitwisser des Geheimnisses der Valbrune. Die glückliche Cécile kann ihren Mann nicht genug bewundern, der sie unsagbar liebt und sich ihretwegen über das größte und vielleicht berechtigste Vorurteil hinweggesetzt hat.

Ehrlicher Betrug

2-117

Der natürliche Sohn eines Amerikaners gewann beim Parlament einen Prozeß, wodurch Seitenverwandte ihm ein Legat von 600000 Franken streitig machten, das ihm sein Vater ausgesetzt hatte. Sein Anwalt, Meister Grasset, hatte noch eine reizende Tochter zu verheiraten und gab sie dem jungen Linars. Die Ehe war zuerst sehr glücklich: Elise Grasset, jetzige Frau Linars, liebte ihren Mann zärtlich und schenkte ihm der Reihe nach sechs Töchter. Das siebente Kind war ein Knabe. Danach trat eine gewisse Erkaltung in den Beziehungen der Ehegatten zueinander ein. Einige behaupten, Linars wäre ihrer überdrüssig, andere, Frau Linars wäre plötzlich kokett, d. h. leichtsinnig geworden; ich will dem Leser im Vertrauen sagen: beides war richtig.

Als Linars sich darüber klar geworden war, daß er in seine Frau weniger verliebt war, und daß diese ihm weniger zärtliche Gefühle als früher bezeugte, da beschloß er, sich einmal seine auswärtigen Besitzungen auf Martinique anzusehen. Seine Frau war mit der Reise einverstanden, und die Kinder, die damals noch sehr jung waren, wünschten ihrem Papa eine glückliche Reise. Die armen, unschuldigen Geschöpfe! sie ahnten nicht, daß diese Reise nur ihnen allein verhängnisvoll werden sollte! Das älteste der sechs Mädchen war zu der Zeit vierzehn Jahre alt. Ihr Gesicht versprach reizend zu werden: sie hatte die schönen Züge der Mutter, war aber nicht so dunkel wie diese. Sie und ihre Schwestern wurden wie Damen erzogen, die einst eine reiche Mitgift zu erwarten hatten.

Von den französischen Antillen sandte Linars anfangs seiner Frau einige Päckchen Ware zu, bald aber schrieb er nur noch selten, schließlich schickte er gar nichts mehr. Er ließ durchblicken, daß er sein Geld selber nötig habe, und daß sie sich und die Familie mit ihrer Mitgift zu unterhalten hätte. Leider war Frau Linars nicht eben sehr sparsam, die von ihm gesandten Waren hatte sie verschleudert, und als sie nun sah, daß auf weitere Sendungen ihres Mannes nicht mehr zu rechnen war, da zog sie Wechsel auf seinen zukünftigen Reichtum, d. h. sie machte Schulden, was ihr um so leichter war, als niemand sich weigerte, ihr Kredit zu geben. So vergingen zehn Jahre seit der Abreise ihres Mannes, ihre Hilfsquellen fingen an, zu versiegen, während vier von den Töchtern, eigentlich schon alle sechs, bereits heiratsfähig waren. Es war die höchste Zeit, daß ihr Mann zurückkehrte.

Was hatte Linars inzwischen in Amerika angestellt? Er hatte sich verheiratet und eine neue Familie gegründet, der er drei Viertel von allem, was er besaß, zwar nicht in bar, aber in Handelseffekten gegeben hatte. Nun geschah es, wieder ungefähr nach demselben Zeitraum, der ihm seine Frau in Frankreich zum Überdruß gemacht hatte, daß er auch von seiner Frau auf den Inseln genug hatte und sich daher entschloß, in die Heimat zurückzukehren. Er hatte keine Kenntnis von der traurigen Lage, in welcher seine erste Familie sich befand. Denn da er in Paris stets für alles gesorgt hatte, und da seine Frau während dieser Zeit sich stets gut aufgeführt hatte, so konnte er nicht annehmen, daß sie eine Verschwenderin geworden war, und lebte der Hoffnung, sie in gutem Wohlstand anzutreffen. Er benachrichtigte seine Angehörigen von seinem bevorstehenden Eintreffen: große Freude der ganzen Familie, besonders der älteren Töchter, die schon ihre Verehrer hatten und sich für das frohe Ereignis so herausputzten, daß sie schöner erschienen denn je. Selbst der kleine Linars, der damals zwölf Jahre alt war, setzte Hoffnungen auf die glückliche Heimkehr des Vaters, indem er sich vornahm, ihn um wenigstens zwei Monate Ferien zu bitten, um das Wiedersehen gehörig feiern zu können. Es würde zu weit gehen, wenn ich alle die törichten Gedanken hier aufführen wollte, die der Frau Linars und ihren Töchtern durch die Köpfe gingen: was sie alles anschaffen und wie sie von nun an durch ihren Luxus die reichsten Mädchen des Viertels Saint-Bernard in den Schatten stellen wollten, von denen sie in den letzten Jahren etwas verdunkelt worden waren. Um von den Hoffnungen des ganzen Hauses Linars einen Begriff zu geben, will ich nur erwähnen, daß ein prachtvolles Feuerwerk bestellt wurde, um am Abend zu Ehren des triumphierend heimkehrenden Hausherrn abgebrannt zu werden.

Endlich kam er, der Gatte und heißersehnte Vater! Er wurde wie ein Gott empfangen. Entzückt, sich plötzlich von großen Töchtern umringt zu sehen, von denen eine schöner war als die andere, gab er sich ganz der Freude des Wiedersehens hin. Dann kam sein Sohn aus dem College. Sein Anblick ließ in ihm einige traurige Gedanken aufsteigen, und er umarmte ihn tränenden Auges. Seine Tränen wurden indessen als ein Zeichen seiner tiefen Rührung angesehen. Als er dann seine Augen wieder auf den schönen, großen Mädchen ruhen ließ, deren vollendete Reize nach Gatten zu verlangen schienen, da erfaßten ihn traurige Gedanken, eine düstere Wolke legte sich auf seine Stirn, und seine Seele, die noch eben sich hoch erhoben hatte, krampft sich schmerzlich zusammen. Während seine Familie und eine Menge geladener Gäste sich der Freude über seine Rückkehr hingaben, packte ihn grausamer Kummer, den er in die tiefsten Tiefen seines Herzens verschloß. Er dachte lange ernstlich nach und faßte endlich einen Entschluß, der ihm seine angeborene Heiterkeit zum Teil wiedergab. Der Abend verging in lustiger Ausgelassenheit, an der auch er sich beteiligte. Und als gegen Ende des Mahles einer der Gäste Anspielungen auf seine in Amerika erworbenen Reichtümer machte, da dachte Linars nicht daran, einzugestehen, daß er von allen Mitteln entblößt sei, sondern rühmte sich im Gegenteil seiner Schätze und verdrehte dadurch seiner ihm mit Entzücken zuhörenden Frau ganz und gar den Kopf. Aber wie die Raketen des Feuerwerkes zerplatzend nur Dunkel zurückließen, so sollte auch diese Freude nur von kurzer Dauer sein und bald dahinschwinden!

Als die Gäste und die Kinder sich zurückgezogen hatten, fragte Linars seine Frau:

»Nun, wie gehen denn hier die Geschäfte?«

Die Dame errötete, machte einige Winkelzüge, führte Umstände an, die sie entschuldigen konnten, mußte aber schließlich gestehen, daß sie Schulden habe.

»Das ist der schlimmste Schlag, der mich treffen konnte,« rief Linars aus, »wie war es denn möglich, daß du so schlecht gewirtschaftet hast? Also während auf der einen Seite mich das Unglück verfolgte und das Meer meine Reichtümer verschlang, hast du auf der anderen Seite den Rest verschwendet und mir damit die letzte Hilfe genommen!«

Diese verzweifelten Worte trafen Frau Linars wie ein Blitzstrahl; sie fiel in Ohnmacht, und ihr Mann mußte sich lange um sie bemühen. Als sie wieder zu sich gekommen war, sagte er zu ihr:

»Ich wüßte wohl einen Ausweg, damit wenigstens unsere Kinder nicht unter unserer Armut zu leiden haben. Bist du eines festen Entschlusses fähig?«

»Ich bin zu allem fähig, lieber Mann! Selbst in den Tod will ich gehen, wenn du es verlangst!«

»Ich verlange nur strengste Verschwiegenheit von dir. Niemand darf etwas von unserem Ruin erfahren. Mach‘, daß die Leute sagen, du seist geizig geworden: lege das größte Gewicht darauf und versäume ja nicht, dies zu tun! Ich werde mit den traurigen Überresten meines Vermögens deine Schulden bezahlen, ohne mich erst mahnen zu lassen, und dabei sogar einen gewissen Eifer und einige Verschwendung an den Tag legen. Wie steht es nun mit den Herzensgeheimnissen unserer Kinder? Sie sind ja groß, herrlich gewachsen und schön, da kann es ihnen nicht an Verehrern fehlen. Ihre Herzen werden in ebenso schlechtem Zustande sein, wie deine Geschäfte?«

»Ich versichere dir, lieber Mann …«

»Sei aufrichtig, keine Umschweife und langen Reden, weiter verlange ich nichts!«

»Es ist richtig, ein Herr de Champromans macht Maîne, unserer ältesten Tochter, den Hof.«

»Ist er reich?«

»Sehr reich.«

»Und weiter?«

»Rosa, die zweite, hat dem Sohn des Herrn de Griselles den Kopf verdreht. Louise, du weißt, wie schön sie ist, ist der Abgott ihres Vetters Dampierre.«

»Alle Wetter! das ist ein Vermögen wert!«

»Charlotte hat ganz frisch erst die Eroberung des jungen de Monticour gemacht.«

»Auch nicht übel.«

»Caroline und Laurence sind noch zu jung, haben aber doch schon Eindruck auf den jungen de Saintamant und den ebenso jungen d’Angeliers gemacht.«

»Und alle diese jungen Leute kommen in unser Haus ?«

»Ja … alle Abende, da wird denn geplaudert und ein bißchen gespielt.«

»Waren sie auch heute abend hier?«

»Ich habe sie während des Feuerwerks bemerkt; sie haben einige Worte mit den Mädchen gewechselt.«

»Nun, da stehen ja die Sachen nicht so schlecht! Unterstütze mich in meinem Plan, indem du die strengen Verbote, die ich erlassen werde, milderst und die Hand dazu bietest, sie zu umgehen. Aber, Donnerwetter noch mal, hüte deine Töchter etwas besser, als du dich selber gehütet hast. Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber ich bin wohl unterrichtet.«

Diese unangenehme Auseinandersetzung stürzte Frau Linars vom Gipfel des Glücks und hoffnungsvoller Freude in einen Abgrund von Unglück und Verzweiflung. Sie wagte nicht einmal ein Wort zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen und nahm sich vor, ihrem Mann ohne Widerrede in allem zu gehorchen.

Am nächsten Morgen ließ Linars die Gläubiger seiner Frau kommen, öffnete vor ihren Augen geräuschvoll einige Geldsäcke und bezahlte alles. Diese Kundgebung seines Billigkeitsgefühls brachte ihm im Nu den Ruf großen Reichtums ein, und da das Gerücht, von Mund zu Munde weiterverbreitet, stets übertreibt, so sprach man bald von ganzen Bergen von Gold. Obwohl er selber niemals ähnliches gesagt hatte, erzählte man sich von seinen Schiffen, die mit Reichtümern beladen von Westindien her unterwegs seien: so nahm das Phantom immer größere Dimensionen an und hüllte alle Welt in Illusionen ein.

Nachdem Linars die Gläubiger befriedigt hatte, rief er einen Familienrat zusammen und verbot darin seinen Töchtern jeden weiteren Umgang mit den jungen Männern, die sie zu sehen gewohnt waren. Auch dieser Vorgang wurde ebenso schnell bekannt, und man begann, dem Vater ganz besondere Absichten bezüglich seiner Töchter zuzuschreiben, Absichten, die mit seinem großen Reichtum im Einklang ständen; ja, bald wurden kühne Äußerungen darüber laut, die er selber gemacht haben sollte, z. B.: »Meine Töchter können auf große Heiraten Anspruch machen, ich werde jeder das gleiche mitgeben, was ich von meinem Vater bekommen habe … Ich will nur erstklassige Partien« usw. …

Bestürzung bemächtigte sich aller Freier, die tatsächlich in die wirklich reizenden Mädchen verliebt waren. Man weiß, welche Anziehungskraft ein junges, reiches, schönes Mädchen für ein junges Männerherz hat! Selbst ein Mann, der alles durchgekostet hat, verliert oft bei solchem Anlaß sein Gleichgewicht … Mehrere Tage lang wagte keiner von ihnen, im Hause einen Besuch zu machen.

Inzwischen verfehlte aber die Mutter nicht, ihren Töchtern das Verbot des Vaters in milderem Licht zu zeigen. Als sie am sechsten Tage bei einem Besuche in einer befreundeten Familie fast alle Liebhaber ihrer Kinder antraf, beeiferte sie sich, ihnen tausend Zeichen ihrer Freundschaft zu geben. Sie richtete es auch so ein, daß die Mädchen Gelegenheit fanden, jedem einzelnen von ihnen unter vier Augen ein Wort zu sagen, das jene von der Nachsicht der Mutter überzeugte. Dadurch wurden ihre Liebesgefühle, die nun auch durch das Interesse angestachelt waren, auf den Höhepunkt gebracht. Am Abend desselben Tages schon, wo sie diese Mitteilungen erhalten hatten, stellten die Freier der beiden ältesten Töchter sich wieder vor dem Hause ein. Sie wurden vom Fenster aus von der Mutter gesehen und mit einem freundlichen Gruß ausgezeichnet. Darauf betraten sie das Haus und wurden aufs beste aufgenommen. Herr Linars war nicht zu Hause. Frau Linars warf ihnen freundlich vor, daß sie sich nicht mehr hätten sehen lassen. Sie entschuldigten sich damit, daß sie die erste Freude des Wiedersehens nicht hätten stören wollen. Einer von ihnen ließ ein Wort von dem Verbot des Vaters fallen. Da wurde Frau Linars ernst, warf einen liebevollen Blick auf ihre Töchter, stieß einen leisen Seufzer aus und bemerkte:

»Und zählen Sie meine Freundschaft für nichts?«

Bei diesem Wort küßten die beiden Verliebten ihr wie auf Kommando die Hand, sie aber fuhr fort:

»Ich kann zwar nicht viel tun, aber … Nun sagen Sie mir einmal offen, wie Ihre Eltern darüber denken?«

»Oh, gnädige Frau!« antworteten beide gleichzeitig, »sie lieben mich, und ich bete Fräulein Maîne an … ich Fräulein Rosa … ich sehe mein Glück darin, sie zu erhalten!«

»Veranlassen Sie Ihre Eltern, um sie anzuhalten, denn ich möchte sie nicht Unbekannten ausliefern, die mein Mann von Amerika erwartet … Aber Sie dürfen nicht warten, bis diese da sind … Wenn einmal von Ihrer Seite die Bitte um die Hand meiner Kinder in aller Form vorgebracht ist, dann werde ich alle Hindernisse selbst unter den größten Unannehmlichkeiten zu besiegen wissen … Ich liebe Sie beide wie meine Kinder, für Sie zu arbeiten, heißt für mich selber arbeiten … Verweilen Sie jetzt nicht länger hier, es ist nicht nötig, daß mein Mann uns beisammen sieht. Handeln Sie energisch! Ich werde Sie ebenso unterstützen.«

Die beiden Freier verließen mit Freude im Herzen das Haus und hatten nichts eiligeres zu tun, als ihren Freunden die guten Nachrichten mitzuteilen. Alle lobten die Haltung der Mutter und hoben sie in den Himmel, weil das große Vermögen sie nicht hochmütig und ihre alten Freunde bei ihr in Vergessenheit gebracht hätte. Auch die anderen vier Verliebten faßten wieder Mut und machten gleich am nächsten Tage ihren Besuch bei Frau Linars, von der sie, wie die ersten, sehr freundlich empfangen wurden. Sie nannte sie ihre lieben Kinder und versicherte ihnen, sie würde als Gatten für ihre Töchter Freunde und Nachbarn den reichsten Partien der Neuen Welt vorziehen. Ja, sie fügte sogar hinzu, daß sie selber zu sehr unter der langen Abwesenheit ihres Mannes gelitten hätte, als daß sie ihre Töchter einem gleichen Schicksal ausgesetzt sehen möchte: »Weniger Geld,« schloß sie, »aber mehr Glück!«

Solche Haltung gegenüber den Freiern ihrer Töchter vermehrte ihren Ruhm, man pfiff ihn von allen Dächern! Besonders waren die Eltern der jungen Männer davon ganz entzückt. Die Verliebten kamen bereits wieder jeden Abend.

Herr Linars wiegte sie eine Woche lang in Sicherheit. Eines Abends aber, als die jungen Leutchen am wenigsten daran dachten, kam er plötzlich nach Hause. Beim Anblick der lustigen Versammlung, die bei ihm abgehalten wurde, runzelte er die Stirn und fragte seine Frau ziemlich scharf, wer die Herren seien?

»Aber, lieber Freund, es sind unsere Freunde und Nachbarn, deren Eltern du kennst und achtest: Herr de Champromans mit seiner Schwester (ein Mädchen im Alter des jungen Linars und eine vortreffliche Partie für ihn), Herr de Griselles und hier der junge de Monticour, den du als Kind immer so gern hattest, und der drei Jahr alt war, als du abreistest, dort neben Caroline Herr de Saintamand; der liebenswürdige junge Mann, der Laurence unterhält, heißt d’Angeliers, unseren Vetter Dampierre, der so oft unsere Abendvergnügungen teilt, kennst du ja.«

»Meine Herren,« sprach jetzt Linars, »Ihre Besuche sind mir eine Ehre und äußerst schmeichelhaft für mich. Was aber meine Töchter anlangt, so ist das ein ander Ding. Ich bin weit davon entfernt, Ihnen mein Haus zu verbieten, ich wiederhole, Sie erweisen mir eine große Ehre, und ich werde Sie mit Vergnügen empfangen, wofern Sie mich besuchen und nur kommen, wenn ich zu Hause bin … Doch, nun will ich Sie nicht länger in Ihren Vergnügungen stören, ich bin ja jetzt da, also bleiben Sie, wenn es Ihnen paßt.«

Diese Worte waren schrecklich für die verliebten Leutchen, dabei doch zu vernünftig, als daß jemand sie für ungerecht hätte erklären können. Nur der junge Linars äußerte halblaut zu Fräulein de Champromans:

»Aber Papa könnte sich doch auf Mama verlassen, die ja immer bei uns ist.«

Ein niederschmetternder Blick des Vaters zeigte ihm, daß dieser die Worte gehört hatte, und vor diesem Blick des wettergebräunten Mannes erzitterte die ganze Gesellschaft, die jungen Leute wurden rot und schlugen die Augen nieder. Die Unterhaltung wurde indessen fortgesetzt, oder vielmehr, man hörte Linars zu, der von der herrischen Art und Weise erzählte, wie er die Neger auf seinen Pflanzungen behandelt habe, wie er andere Ansiedler, die sich ihm widersetzten, zur Vernunft gebracht und sogar dem Gouverneur Trotz geboten habe, als dieser ihm Unrecht zufügen wollte. Jedes Wort seiner Erzählung verriet den eisernen Willen eines festen, unerschrockenen, in seinen Entschlüssen unerschütterlichen Mannes.

Als er sah, daß er den gewünschten Eindruck hervorgebracht hatte, sagte er zu seinen Töchtern:

»Zieht euch nun zurück und nehmt Fräulein de Champromans mit.«

Als die Damen fort waren, sagte er zu den jungen Männern:

»Meine lieben jungen Freunde, so scheidet man aber nicht von mir. Ich trinke jeden Abend vor dem Schlafengehen meine Flasche Chambertin, das ist für mich eine Kur. Sie müssen mir dabei Gesellschaft leisten, und jeder muß seine Flasche leeren.« Er läutete, und der Wein wurde gebracht. Jeder machte es ihm nach, entkorkte seine Flasche und trank auf ein von ihm gegebenes Zeichen mit der Miene eines echten Korsarenkapitäns. Als die Flaschen leer waren, verlangte Linars seine Pfeife und ließ für jeden Herrn ebenfalls eine bringen. Dann sagte er zu ihnen:

»Kinder, wenn ihr meine Freunde sein wollt, müßt ihr es mir in allem gleich tun: Schwächlinge, die der Tabakrauch geniert, sind mir zuwider, und wenn ich mir meine Schwiegersöhne auszusuchen hätte, dann würde ich sie mit Flasche und Pfeife auf die Probe stellen!«

Darauf steckte jeder seine Pfeife an oder tat wenigstens so. Linars rauchte würdevoll wie ein Sultan, ohne ein Wort zu sprechen. Als er mit seiner Pfeife fertig war, rief er einen kleinen Neger herbei, der die Pfeifen ausklopfte und wieder an sich nahm. Und als nun Linars bemerkte, daß die jungen Herren vom Qualm beinahe erstickt waren, äußerte er:

»Meine Freunde, glaubt ihr, ich sei ein Mann, der sich von Gelbschnäbeln was vormachen läßt? Hol‘ mich der Teufel, nein! Und nun will ich euch was sagen, was ihr euch hinter die Ohren schreiben könnt: dem ersten, der meinen Töchtern zu tief in die Augen guckt, schneide ich die Ohren ab. Denkt daran und rechnet nicht auf die Nachsicht meiner Frau, die nicht mehr Einfluß auf mich hat, wie das Hündchen da. Gute Nacht, Kameraden. Ich bin kein Türke, aber ihr seid liebenswürdig und könntet Liebe erwecken, meine Töchter sind Weiber, alle Weiber sind schwach oder doch sofort bereit, schwach zu sein, sobald ein hübscher Kerl, wie ihr, sich daran macht, ihren Verstand mit Weihrauch zu umnebeln. Meine Gesinnung kennt ihr nun, ich denke wie ein freimütiger Seebär. Nun geht, Freunde, ich habe Achtung vor euch, aber unterwegs mögt ihr über eins nachdenken: eure Väter sollen mit mir sprechen, oder eure Mütter allein mit meinen Töchtern, oder … ein Donnerwetter soll dreinfahren! … Lebt wohl und gute Nacht! Keine Liebesgeschichten! Das verdreht den Mädchen die Köpfe wie Tabaksqualm. Mein Wein, meine Pfeife und meine Unterhaltung werden stets alle drei zu euren Diensten stehen, aber das ist auch alles, was ihr euch bei mir holen dürft.« Mit diesen Worten begleitete er sie hinaus und schloß und verriegelte selbst das Tor mit großem Geräusch.

Am anderen Tage wartete er auf die Wirkung seines Benehmens, durch das er die naiven, verliebten jungen Leute zu verblüffen gedachte, indem er ihnen einen kameradschaftlichen Verkehr anbot, zugleich aber alles tat, um ihnen diesen zu verekeln. Denn man wird begreifen, daß junge Pariser, denen man nach dem Abendessen eine Flasche Burgunder wie den Chambertin einflößt, und die man dann noch in einem Zimmer mit geschlossenen Fenstern eine Pfeife rauchen läßt, sich nicht gerade sehr behaglich fühlen mußten. Sie waren denn auch alle die Nacht und den folgenden Tag krank. Als gegen Abend ihre Übelkeit und ihre Kopfschmerzen sich ein wenig gelegt hatten, da dachten sie an Linars Worte, daß sie ihre Väter veranlassen sollten, mit ihm, und ihre Mütter, mit den Töchtern zu sprechen. Jeder wandte sich daher an seine Eltern, die sich freudigen Hoffnungen hingeben zu können glaubten und sich sofort untereinander verabredeten, zu welcher Stunde ein jeder Herrn Linars aufsuchen könnte, damit sie dort nicht alle auf einmal zusammenkämen. Es wurde vereinbart, daß Herr und Frau de Champromans den Anfang machen und die anderen ihnen in bestimmter Reihe folgen sollten. Und zwar sollte das gleich am nächsten Tage geschehen. Am Abend begnügten die jungen Männer sich damit, ihren Schönen Fensterparaden zu machen und mit ihnen verstohlene Winke auszutauschen, da der Vater den Mädchen auf das strengste verboten hatte, mit ihren Verehrern zu sprechen. Linars bemerkte sie und grüßte sie lachend. Er ließ sie zu Chambertin und einer Pfeife einladen. Champromans allein wagte, zu ihm hinaufzugehen, lehnte aber Wein und Pfeife ab und sagte, er wolle nur einen Augenblick mit Herrn Linars plaudern und dann seine Schwester abholen, die bei seinen Damen sei. Während nun der Amerikaner seine Pfeife rauchte, begann Champromans:

»Herr Linars, meine Freunde und ich, wir haben uns Ihre Worte von gestern abend durch den Kopf gehen lassen und dann mit unseren Eltern gesprochen. Ich kann Ihnen daher heute mitteilen, daß meine Eltern Ihnen morgen ihren Besuch machen werden.«

»Wir werden sehen«, antwortete Linars trocken und stirnrunzelnd.

»Darf ich Sie fragen, wie Sie sie aufnehmen werden ?«

»Je nachdem.«

»Ich denke, Sie verstehen mich?«

»Nein.«

»Dann fürchte ich aber sehr, daß der Besuch Ihnen unangenehm ist?«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Nun, ich …«

»Trinkt Ihr Vater Wein?«

»Ja.«

»Gut. Raucht er?«

»Bisweilen, seiner Gesundheit halber.«

»Gut. Ist er viel gereist?«

»Nein.«

»Das ist schlimm!«

Zwischen jeder Frage blies der Raucher dem armen Champromans eine Wolke Tabak ins Gesicht.

»Mein Vater wünscht dringend, die Ehre zu haben, mit Ihnen zu Sprechen.«

»Die Ehre!«

»Ja, Herr Linars, die Ehre.«

»Unter schlichten Leuten, mein Junge, sagt man einfach: das Vergnügen. Ich achte Ihren Vater hoch, sagen Sie ihm das.«

»Da werden Sie ihm nur gerecht.«

»Wenn du geantwortet hättest, da täte ich ihm zu viel Ehre an, dann hätte ich dich zermalmt! … Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.«

»Oh, Herr Linars! darf ich mir mit der Hoffnung schmeicheln …«

»Du bist sehr neugierig, Bürschchen! …«

»Ist meine Schwester da?«

»Jawohl, mein Herr. Rieche ich nach Tabak? Die Frauen sind empfindlich, man muß ihre Gefühle schonen. Wir wollen zu meiner Frau hinübergehen, ich möchte Ihre Schwester begrüßen.«

Damit nahm er ihn bei der Hand und führte ihn zu den Damen. Dann machte er Fräulein de Champromans in galantester Weise den Hof und sagte ihr, er wolle ihr einen Mann verschaffen, aber er wolle darüber vertraulich mit ihrer Mutter sprechen. Hocherfreut über die letzten Worte, warf der junge Champromans Fräulein Maîne einen zärtlichen Blick zu, der ebenso zärtlich erwidert wurde. Aber der Vater hatte die Blicke aufgefangen und erwiderte seinerseits mit einem so niederschmetternden aus seiner schwarzen Pupille, daß der Kaiser von Marokko es nicht hätte besser machen können. Die schöne Maîne errötete und schlug die Augen nieder, Tränen standen ihr in den Augen. Fräulein Champromans nahm von ihren schönen Freundinnen Abschied und ging mit ihrem Bruder fort.

Am nächsten Morgen hütete Linars sich auszugehen, tat aber so, als ob er sehr viel zu tun habe, und machte sich geräuschvoll im Hause zu schaffen. Er zankte gerade seinen Neger aus, weil er ihm sein Kabriolett nicht angespannt hätte, als Herr und Frau de Champromans gemeldet wurden. Letztere begab sich zu Frau Linars, die ihr einen überaus zärtlichen Empfang bereitete, während Herr de Champromans ins Arbeitszimmer des Hausherrn geführt wurde.

»Ich weiß, Herr Linars,« sagte er zum Amerikaner, »daß Sie kurz angebunden sind, ich will daher keine langen Reden halten und sage Ihnen einfach: Mein Sohn liebt Ihre Tochter zärtlich und wird von ihr nicht ungern gesehen, paßt Ihnen diese Heirat?«

»Ja.«

»Dann bestimmen Sie den Tag.«

»Dienstag.«

»Nächsten?«

»Nächsten Dienstag … Heda, La Violette, eine Flasche Chambertin! Der Grund meiner Eile, verehrter Herr, ist, daß ich gern meiner Frau einen Gefallen tun will. Sie ist in Ihren Sohn vernarrt, der in ihren Augen ein Wunderknabe, ein Phönix ist. Ich will ihr den Willen tun, und wenn ich jemandem zu Willen sein will, so habe ich es mir zur Regel gemacht, hundertmal schneller zu handeln, als wenn ich meine eignen Geschäfte besorge.«

»Ich bewundere Sie, Herr Linars.«

»Ja, so bin ich einmal. Sind Sie oder Ihr Sohn eigennützig?«

»Ich! Oh, Herr Linars, die Ehre, uns Ihnen zu verbinden …«

»Ich frage Sie, ob Sie eigennützig sind?«

»Nein.«

»Desto besser, denn meine Kinder bekommen nichts mit, sondern alles erst nach meinem Tode.«

»Das Ziel ist ein wenig weit, Herr Linars.«

»Möchten Sie es näher haben?«

»Das sage ich nicht, aber …«

»Ich will übrigens erst mal sehen, wie meine Tochter sich in der Ehe aufführen wird. Über Ihren Sohn, mein Herr, denke ich wie mein Frau.«

»Sie behandeln ihn zu gut.«

»Nicht besser, als er es verdient … Sie haben auch eine reizende Tochter, Herr de Champromans … Wissen Sie, daß ich im Frühjahr wieder abreise, um meine Geschäfte da drüben zu Ende zu bringen? … Das Meer ist bisweilen furchtbar! Wie oft bin ich dem Tode so nahe gewesen, wie Sie jetzt mir… Die Flasche kommt nicht … Na, endlich! … Höre mal, Bengel, ich werde dir die Ohren abschneiden und sie dir an den Hals nähen … Trinken Sie, er ist ausgezeichnet … Ich habe ihn vom Grafen Montoison selbst, dem Eigentümer des Weinbergs … Ich wollte also sagen, man weiß wohl, wann man sich einschifft, aber nicht, wann man in den Hafen einläuft … Ich habe einen Sohn. Ich habe mir immer vorgenommen, meine Maîne nur einem Manne zu geben, der eine liebenswürdige Schwester hat … Ich bitte um Entschuldigung, eigentlich müßte ich mit Ihnen darüber in Ihrem Hause sprechen, da wir aber gerade beisammen sind … Mein Sohn ist zwar noch sehr jung, aber das Meer kann mich verschlingen, wie so viele andere, und in diesem Fall möchte ich ihn in Händen eines guten Vaters wissen, dann kann mich nichts mehr erschrecken! (Zwei dicke Tränen stiegen ihm in die Augen.)

»Ah! Herr Linars, was für ein ausgezeichneter Vater sind Sie! Ihre Rührung gibt mir von Ihnen die beste Meinung. Ich bin mit allem einverstanden. Meine Frau wird sich zu Tode freuen. Kommen Sie, wir wollen ihr alles mitteilen.«

Und sie gingen beide Hand in Hand in den Salon zu den Damen und verkündeten die glückliche Nachricht. Beinahe hatte Herr de Champromans richtig prophezeit, seine Frau erstickte fast vor Freude und kam erst wieder zu sich, als sie Maîne und den jungen Linars an ihr Herz drückte und sie ihre lieben Kinder nannte. Sofort wurden die Geschwister herbeigerufen, und alle waren glücklich. Als alles vereinbart war, empfahlen Herr und Frau de Champromans sich und sagten lachend zu Linars:

»Wir verlassen Sie jetzt, denn Sie haben heute noch mehr Besuche in Aussicht. Für heute abend aber laden wir uns bei Ihnen zum Essen ein. Paßt Ihnen das?«

»Es wird uns ein Vergnügen sein!« –

Kaum waren sie fort, so wurden Herr und Frau de Griselles gemeldet. Herr Linars empfing sie ungefähr so ähnlich wie die ersteren, sprach in gleicher Weise zu ihnen, seifte sie ebenso leicht ein und wurde auf diese Weise seine zweite Tochter Rosa los.

Dann erschienen die Dampierres und warben um Luise. Als Verwandte behielt man sie zum Diner da, so daß sie Zeugen sein konnten, wie die Monticours um Charlotte, die Saintamands um Caroline und die d’Angeliers um Laurence anhielten. Letztere schienen allerdings noch warten zu wollen, bis Laurence, die erst dreizehn Jahre alt war, sich noch etwas mehr entwickelt hätte, aber Herr und Frau Dampierre machten selber die Gründe geltend, die Herr Linars für seine Eile angegeben hatte, und brachten ihren Einwand zum Schweigen, was um so leichter gelang, als alle sich auf die große Mitgift der Bräute freuten. Denn die Saintamands und d’Angeliers hatte Linars sich wohl gehütet, bis zu seinem Tode zu vertrösten. Er hatte sich über die Geldfrage ausgeschwiegen und die Leutchen an die 600000 Franken glauben lassen.

Während der nächsten sechs Tage wurden die nötigen Vorbereitungen getroffen und die Eheverträge aufgesetzt. Es war unter den Parteien vereinbart worden, daß Herr de Champromans die Sache leiten und daß der Ehevertrag seines Sohnes den anderen als Muster dienen sollte. Linars suchte ihn daher auf seine Seite zu ziehen, indem er ihm mit seinen falschen Reichtümern Sand in die Augen streute, dies gelang ihm auch nach Wunsch dank der Schnelligkeit, mit der alles betrieben wurde. Am Tage vor der Zeremonie wurden die Ehekontrakte verlesen. Eine Mitgift von 600000 Franken wurde darin festgesetzt, aber in einer Zusatzklausel, über die man schnell hinwegging, wurde gesagt, daß diese Summe erst nach der Rückkehr des Herrn Linars oder bei Ankunft seiner Schiffe fällig wäre, falls er die Reise für unnötig halten würde. Die Aufregung, in der man sich befand, die Eile und die Unordnung, in die der Amerikaner absichtlich das ganze Haus versetzte unter dem Vorwande, demselben zur würdigeren Feier ein imposanteres Äußere zu geben, bewirkten, daß die Aufmerksamkeit aller Beteiligten abgelenkt wurde. Auch hatte Linars nur einen der Schwiegerväter einzuseifen gebraucht. Er wußte, daß die Menschen wie die Hammel sind: wenn einer vorangeht, laufen die anderen alle nach. Übrigens wird eine Dummheit, wenn sie von mehreren Personen gemeinsam gemacht wird, weniger schwer empfunden, als wenn einer allein sie macht.

Da Linars im letzten Augenblick noch eine Katastrophe befürchtete, ließ er die Stunde der Zeremonie sogar noch vorrücken, und man war anstatt um zehn, schon um sieben Uhr in der Kirche.

Nach der Rückkehr aus der Kirche änderte Linars, wie ein umgekehrter Papst Sixtus der Fünfte, Ton und Haltung: er wurde sanft, einschmeichelnd, höflich, freundlich und liebenswürdig, so daß jedermann ihn bewunderte. Zu Hause angelangt, bat er seine Schwiegersöhne, ihm ihre Frauen in sein Arbeitszimmer zu schicken. Dort schloß er sich mit ihnen und seiner Frau ein und hielt folgende Ansprache an sie:

»Meine lieben Kinder, ihr seid nun verheiratet. Euer Glück habe ich durch List und Schlauheit begründet. Man wird nun freilich eurer Mutter und mir niemals mehr Glauben schenken, denn wir haben die Eitern eurer Männer angeführt. Ich bin ruiniert, und ihr wißt selber, daß eure Mutter, die auf meine Hilfe rechnete, ebenfalls keine Schätze angehäuft hat. Euch bleibt jetzt nur ein Mittel, euch die Liebe eurer Männer zu erhalten und die Freundschaft ihrer Familien zu erwerben, ein einziges: nämlich euch durch eure Aufführung ihre Verehrung zu gewinnen. Tugend möge eure Mitgift sein, Seid sanft, arbeitsam, sparsam, ehrbar, zärtlich, ergeben, euren Männern unterwürfig und deren Eltern gehorsam. Ich kann meinen Ruin noch eine Zeitlang geheimhalten; nutzt diese aus, um zu tun, was ich euch anempfehle. Euer Schicksal, Glück oder Unglück hängt davon ab. Es wird euch leicht werden, alle diese guten Eigenschaften, von denen ich sprach, ins rechte Licht zu setzen, solange man euch für reich hält. Wüßte man, daß ihr arm seid, so würde kein Mensch darauf achten. Meine Haltung bei dieser Gelegenheit war also für euch wahrhaft gewinnbringend, und ihr müßt mir ewig dafür dankbar sein. Seid bescheiden, zurückhaltend in Worten und Werken, freundlich zu jedermann, und man wird dann, wenn man die Wahrheit erfährt, sagen: Sie haben zwar kein Vermögen, aber ihre Männer haben darum keine schlechte Partie gemacht, denn sie besitzen alle guten Eigenschaften. So, nun wißt ihr, was ihr vom ersten Tage eurer Ehe an zu tun habt. Aber seid verschwiegen! Kein Wort von dem, was ich euch gesagt habe, komme über eure Lippen! Alles andere überlaßt meiner Erfahrung. Wenn es mir nicht vergönnt war, durch geschäftliche Erfolge euer Glück zu begründen, so kann ich doch behaupten, es durch meine Klugheit und Geschicklichkeit auf feste Füße gestellt zu haben. Ich habe, um dahin zu gelangen, es vorgezogen, den von mir eingeschlagenen Weg zu beschreiten, anstatt in Verzweiflung zu verfallen, eurer Mutter Vorwürfe zu machen und uns alle zu erniedrigen, indem ich unsere Armut zur Schau stellte. Übrigens seid ihr alle schön, fügt dazu noch Ehrbarkeit und so habt ihr eine Mitgift. Aber ich warne euch vor Fehltritten, ihr kennt mich und wißt, daß ich fähig wäre, diejenige von euch zu erdolchen, die ihre Pflicht verletzen würde!«

Als er mit seiner Rede fertig war, führte er seine Töchter wieder in die Gesellschaft zurück. Wiederum zeigte er sich freundlich und eifrig bemüht, seine Gäste zu unterhalten, die nur eine Stimme des Lobes über ihn laut werden ließen. Er war aber auch wirklich unterhaltend, denn er hatte viel gelernt, besaß Geist und Weltkenntnis. Er amüsierte alle. Man lachte auch viel, als die Schwiegersöhne die Geschichte mit dem Chambertin und der Pfeife zum besten gaben, man sah darin den jovialen Vater, der sich auf Kosten dieser unerfahrenen jungen Männer hatte lustig machen wollen, aber doch erst, nachdem er schon entschlossen war, sie alle glücklich zu machen.

Seinem Sohn machte Linars keinerlei Mitteilungen von seiner Lage, sondern ließ ihn in voller Unkenntnis, er hatte dazu zwei Gründe: erstens wollte er nicht, daß ein Mann seiner Frau untertan sei, und zweitens hatte er sich vorgenommen, alle Reste zusammenzukratzen, um ihm ein kleines Vermögen zu schaffen, das er ihm in einer Brieftasche überreichen wollte. Dieser Vater hatte gesunden Menschenverstand und begriff, daß uns unsere Söhne weit mehr bedeuten, als unsere Töchter: denn ein Sohn allein ist die Fortsetzung der Existenz von Vater und Mutter, während die Tochter, ein rein passives Wesen, mit den Eltern nur stofflich zusammenhängt und, sobald sie verheiratet ist, einer anderen Familie angehört … Oh! Wenn einst die Sitte der Mitgiften aufhört, wenn … Doch ich will davon aufhören.

Als die Hochzeitsfeste vorüber waren und Linars sich nunmehr über die Zukunft seiner Familie in Frankreich keine Sorgen mehr zu machen brauchte, schickte er sich an, nach Westindien zurückzukehren. Er reiste ab und ließ seine Schwiegersöhne und deren Familien voll von Hoffnungen zurück, die sich niemals verwirklichen sollten. Man sagt, die Töchter befolgen die Ratschlage, die er ihnen erteilt hat, und sind glücklich, trotz der Katastrophe, die bei der Enthüllung der Wahrheit hereinbrach. Ein Pflanzer, der von den Antillen eintraf, enthüllte die traurige geschäftliche Lage, worin Linars sich in Amerika befand. Zuerst war das Erstaunen groß. Aber es waren schon sechs Jahre seit der Schließung der Ehen verflossen, und reizende kleine Kinder, schön wie ihre Mütter, verteidigten deren Sache. Für den jungen Linars aber hatte ein Geschenk, das sein Vater ihm gesandt hatte, Herrn und Frau de Champromans und deren Familie ganz und gar gewonnen.

Auf diese Weise wurden alle in ihrer Erwartung getäuscht. Aber die Ehemänner sagen heute, nach zehnjähriger Ehe, sie seien nicht betrogen worden.

Liebe und Ehre.

2-144

In der Nähe des Quai Pelletier in Paris wohnte ein sehr liebenswürdiges junges Mädchen mit Namen Zemire H. Ich weiß nicht, ob Zemire ihr richtiger Name war, oder ob ihre Eltern es für gut befunden hatten, sie so umzutaufen, weil sie ihre Tochter für zu gut hielten, um mit einem gewöhnlichen Kalendernamen gerufen zu werden. Das ist auch schließlich ziemlich gleichgültig, und ich würde nicht ein Wort darüber gesagt haben, wenn ich nicht guten Grund hätte, zu glauben, daß Fräulein Zemire früher Javote hieß.

Zemire hatte eine vorzügliche Erziehung genossen. Ihre Eltern waren Emporkömmlinge, aber reich, und sie war die einzige Tochter. Wäre sie häßlich gewesen, so hätte ihr Vater vielleicht daran denken können, sie einem seiner Neffen in der Provinz zur Frau zu geben, einem sehr schönen Burschen, da aber Fräulein H. mit ihrem Reichtum noch Schönheit verband, boten sich ihr seit ihrem vierzehnten Jahre so viele ausgezeichnete Partien dar, daß sie nur zu wählen brauchte. Die Wahl ihrer Eltern fiel auf einen jungen Grafen. Eine Verbindung mit ihm erschien ihnen geeignet, ihnen selber eine gewisse Stellung in der Welt zu verleihen und ihren Reichtum zu adeln. Nachdem Herr H. und seine Frau, eine gute, ehrliche Haut, sich über diese Wahl einig waren, ließen sie ihren Neffen zu sich kommen, um ihn unter dem Schutz ihres zukünftigen Schwiegersohnes in die Welt einzuführen. Der junge Philipp H. hatte kaum die Luft der Hauptstadt geatmet, als er sich ganz herrlich herausmachte. Seine Kusine Zemire war nicht die letzte, die das bemerkte. Auch Frau H. liebte ihn sehr und bedauerte, als sie ihn so stattlich sah, daß ihr Mann so ehrgeizige Absichten hatte. Sie hätte Zemire gern ihrem Neffen gegeben, doch sagte sie nichts, denn sie hatte zu viel Ehrfurcht vor der höheren Intelligenz ihres Mannes, an die sie glaubte.

Philipp aber konnte Fräulein H. nicht sehen, ohne ein zärtlicheres und stärkeres Gefühl für sie zu empfinden, als nur verwandtschaftliche Zuneigung. Dieses Gefühl machte ihn seiner Kusine gegenüber galant, aufmerksam und gefällig; er wollte liebenswürdig erscheinen, er wollte gefallen, und er gefiel. Übrigens muß man gestehen, daß es schwer gewesen wäre, Zemirens Reizen zu widerstehen. Sie war eine jener Braunen, deren Üppigkeit und zarte Hautfarbe zu den Sinnen sprechen. Sie hatte schöne, schwarze Augen, Augenbrauen, deren Ebenholzfarbe noch die Weiße ihrer Haut hervorheben ließ, ein ovales, rosig strahlendes Gesicht, dessen zarter Glanz erfreute und zugleich eine empfindsame Seele verriet. Hände und Büste entsprachen ihrer Gattung von Schönheit, feingeformte Waden und ein zierliches kleines Füßchen, kleiner, als ihr ziemlich hoher Wuchs es erwarten ließ, vervollständigten das Bild. Das dürfte wohl genügen, um heftige Leidenschaften wachzurufen, besonders wenn noch jener ausgesuchte Geschmack in der Kleidung dazu kommt, der die hübsche Pariserin vor allen Frauen des Weltalls auszeichnet. Zu alledem trat noch etwas hinzu, um Philipp ganz zu unterjochen … die Liebe, die seine Base für ihn empfand.

Der für Zemire bestimmte Graf war einer von jenen Phlegmatikern, in die sich im Frühling das Eis des Winters geflüchtet zu haben scheint, einer der Männer, die nichts erregt, die sich nur mit kleinlichen Dingen beschäftigen, die jeden Schritt, jedes Wort abmessen, und für die der geringste Fehler gegen die lächerlichste Etikette ein Verbrechen ist. Solche Leute gefallen niemandem, nicht einmal den Zieraffen, die ihnen ähneln, am wenigsten aber konnte der Graf Zemiren gefallen, die ihren Vetter liebte, seitdem sie ihn kennen gelernt hatte und von ihm vergöttert wurde.

Bald waren die beiden Verliebten im Einverständnis. Zuerst liebte Philipp seine Base nur schüchtern. Er kannte die Absichten seines Onkels und glaubte, daß Zemire sie teilte. Philipp war ebenso bescheiden, wie der Graf selbstüberhebend war. Sobald aber so bescheidene Menschen einmal merken, daß sie gefallen, dann entbrennen sie heißer als andere, wahrscheinlich aus Dankbarkeit. Als Philipp sah, daß seine Base Anteil an ihm nahm, da suchte er sich ihr bei jeder Gelegenheit – und deren gab es tausende – zu nähern, und wich ihr schließlich überhaupt nicht mehr von der Seite. Zemirens Mutter begünstigte die zärtliche Vertraulichkeit der jungen Leutchen, sie wußte, daß sie sich auf den guten Charakter der beiden verlassen konnte.

Nachdem die beiden Liebenden, ohne je ein Wort darüber gesprochen zu haben, zum Einverständnis gelangt waren, taten sie endlich auch den letzten Schritt, um sich über ihre gegenseitigen Gefühle aufzuklären. An einem schönen Sommerabendwaren sie beide allein auf dem Balkon und lehnten sich über das Geländer. Ihre Arme berührten sich, sie unterhielten sich in jener zärtlich freundlichen Weise, wie sie unter Freunden üblich ist, und wie Liebende sie als das höchste Glück ansehen, ohne desselben für gewöhnlich teilhaftig zu werden. Dieses köstliche Beisammensein machte auf Zemire offenbar tiefen Eindruck. Wahrscheinlich dachte sie an den Grafen, denn eine dicke Träne rollte aus ihrem schönen Auge.

»Du weinst, liebe Zemire?«

»Nein, die Träne kam so von selbst.«

»Ah! desto besser! Denn wenn du wirkliche Leiden empfändest, dann würde ich sie ebenso schmerzlich fühlen wie du.«

»Ach, mein lieber Philipp, ich leide in der Tat. Dieser Graf macht mich untröstlich.«

»Und ich erst!«

»Du leidest auch? … Doch nein, du bist glücklich, du hast keinen Kummer.«

»Doch, doch, liebe Kusine, großen Kummer!«

»Und welcher Art denn?«

»Von der Art … (leise flüsternd) von derselben Art wie du.«

»Wie, ich? Hast du auch einen Vater, der dich zwingen will, einen Vater wie ich, und den ich doch liebe und nicht betrüben möchte? Denn die Mutter …«

»Ach Zemire! der Zwang, den man gegen dich ausübt, ist noch grausamer fühlbar für mich, als für dich selbst.«

»Du sprichst im Ernst?«

»Im vollen Ernst!«

»Aber wie soll ich das verstehen?«

»Ich habe nicht den Mut, zu sprechen.«

»Oh! sprich, lieber Philipp, sage es mir.«

»Ich fürchte, dich zu kränken.«

»Mich zu kränken? Nichts, was von dir kommt, kann mich beleidigen, meine ich.«

»Willst du mir versprechen, über meine Worte nicht böse zu werden und in Zukunft mit mir so zu verkehren wie vorher?«

»Mein Gott ja, ich verspreche es dir. Du siehst, ich lasse mich nicht erst lange bitten, denn ich denke wirklich so.«

»Ich wage … dich zu lieben!«

»Sehr schmeichelhaft für mich, Vetter, und das ist dein großes Geheimnis?«

»Es ist heraus! Und du hast nichts gehört!«

Nach einigem Stillschweigen flüsterte sie ihm zu:

»Ich habe es doch gehört, lieber Philipp. Sieh mich an, bin ich böse darüber?«

»Oh, Zemire!«

»Bist du nun glücklich?«

»Ja, ja, ja! Von dir, Zemire, geliebt zu sein! Ach! … kann es ein größeres Glück geben?«

»Du glaubst also, daß ich dich liebe?«

»O Gott! ich bin zu kühn …«

»Nun, lieber Freund, du hast dich nicht getäuscht. Du bist mir teuer als Verwandter, aber du wärst mir sonst noch teurer, wenn ich nicht fürchtete, meinen Vater zu betrüben, denn meine Mutter, das habe ich dir schon angedeutet, würde dich um deiner selbst willen lieben!«

Während sie so sprach, hatte Philipp seiner Base Hand ergriffen, hatte sie langsam in eine Fensternische gezogen, war ihr zu Füßen gefallen und bedeckte ihre Hand mit Küssen. In dieser Stellung überraschte Herr H. Sie. Die beiden Liebenden rührten sich nicht. Der Vater war wutentbrannt. Vergebens suchte er nach Worten, endlich aber platzte das Gewitter doch los, und die stärksten Ausdrücke kamen schneidend aus dem Munde des zornigen Vaters, der sich von seiner Tochter und seinem Neffen beschimpft glaubte. Der Ausbruch aus dem Krater des Vulkans endete mit dem strengsten Verbot für Zemire, jemals wieder mit Philipp allein zu sein, den Herr H. gern für den Alleinschuldigen ansehen wollte. Zugleich befahl er seiner Tochter, sich darauf vorzubereiten, die Gattin des Grafen zu werden.

Herr H. sagte niemals ein Wort zu viel: Philipp wurde in einen Teil des Hauses verbannt, wo eine Zusammenkunft mit seiner Base ausgeschlossen war, er aß nicht mehr an des Onkels Tisch, und jeder vertraute Verkehr zwischen ihnen hörte auf. Zu dieser harten Behandlung kam noch die Aussicht auf weitere grausamere Prüfungen: gänzliche Ausstoßung aus dem Hause und die Vermählung der Geliebten mit dem Grafen.

»Gut, gut!« sagte Amor zu sich, als er über das Haus flog, »dieser beiden Herzen bin ich sicher, da können meine Pfeile im Köcher bleiben, und der Zwang wird schon das übrige tun!«

In der Tat, getrennt von Philipp, fing Zemire, die ihm schon vorher zärtlich zugetan war, jetzt an, ihn rasend zu lieben, und Philipp, der sie vorher, wo er sie jeden Augenblick sah, still verehrte, war jetzt, da er sie nicht mehr sah, trunken vor Liebe. Tausend unheimliche Pläne gingen ihm durch den Kopf: das Haus anzuzünden, seinen Onkel zu ruinieren, um dann die arme Zemire heiraten zu können. Das war noch nicht der verrückteste und schlimmste, aber er führte keinen von allen diesen Plänen aus, denn für ihn arbeiteten Amor und der Zwang.

Die verzweifelte Zemire empfing den Grafen bei seinem ersten Besuch im Hause in einer Weise, daß ihm alle Lust verging, sie zur Frau zu nehmen. Ihre Mutter machte ihr zwar Vorwürfe darüber, aber Zemire setzte sich mit der nachsichtigen Frau ohne Umschweife auseinander und klagte unter heißen Tränen so schmerzlich, daß die gute Mutter sie schließlich zu trösten und zu beruhigen versuchte. Liebe macht die naivste Schöne schlau und listig: durch die Versicherungen ihrer Mutter beruhigt, tat Zemire, als ob sie zufrieden sei. Aber alle Tage stellte sie neue Forderungen, die sie durch ihre Tränen stets durchsetzte. Philipp hatte ihr geschrieben, also mußte die Mutter ihr erlauben, ihm zu antworten. Dann äußerten die Liebenden den Wunsch, sich zu sehen, dies zu erreichen, war schon schwerer, aber schließlich ließ die Mama sich doch erweichen. Dann kam man so weit, sich zu sprechen, immer allerdings im Beisein der Frau H. Endlich kam man ohne Zeugen zusammen, und Mama machte beide Augen zu.

Solches geschah, während inzwischen Herr H. gegen seine Tochter donnerte, weil sie den Grafen so schlecht behandelt hätte, der infolgedessen bestimmt aber höflich jeden weiteren Besuch ablehnte. Die Verfolgungen des Vaters und die Begünstigungen der Mutter führten eines Tages folgende Unterhaltung zwischen den Liebenden herbei:

»Wie unglücklich bin ich doch, lieber Vetter!«

»Aber er liebt dich doch, und du bist seine einzige Tochter.«

»Nun und?«

»Wenn du einwilligtest … Was ich sagen will, ist vielleicht von einem Liebenden nicht sehr zartfühlend, aber schließlich, wenn alle Stricke reißen und unser Lebensglück davon abhängt? …«

»Aber sag‘ doch endlich, was du meinst!«

»Wenn du wolltest … würden wir gewiß vereint werden!«

»Oh! Sprich, Vetter!«

»Es gibt nur ein Mittel, den Onkel zu bestimmen.«

»Und welches?«

»Ich wage nicht, es zu nennen.«

»Ist es denn eine schlechte Handlung?«

»In gewissem Sinne nicht.«

»Nun, welches also?«

»Das werde ich niemals herausbringen können.«

»Ach, laß es mich doch wissen, damit ich wenigstens beurteilen kann, ob es anwendbar ist«, drang Zemire mit sanfter Gewalt in ihren Vetter.

»Dann befiehl mir’s, sonst kann ich es nicht sagen.«

»Du läßt dich wirklich lange bitten.«

Er wirft sich ihr zu Füßen und stammelt:

»Wir müssen einem dritten Wesen die Verteidigung unserer Interessen anvertrauen, Innigstgeliebte!«

»Was? du läßt dich so lange bitten, mir zu sagen, was zu tun ich vor Lust brenne! Ja, mein Freund, wenden wir uns an Mama, sie wird sich durch unsere zärtliche Liebe und unsere Tränen rühren lassen, ich bin sicher, wir werden ihren Widerstand besiegen!«

»Nein, Zemire, sie würde sich scheuen, deinem Vater entgegenzutreten.«

»Dann verstehe ich dich also nicht!«

»Nicht deine Mama wollen wir als drittes hinzunehmen.«

»Ja, also wen denn?«

»Dein anderes Ich, Zemire.«

»Drücke dich klarer aus, lieber Freund. Die Zeit ist kostbar. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was du willst!«

»Dein anderes Ich, Zemire! … Wie? Das verstehst du nicht?… Bist du nicht ein anderes Sie-selbst meiner Tante? …«

Zemire wurde rot, aber sie verstand noch immer nicht ganz und erwiderte:

»Wie … in der Tat … aber das ist doch nicht dein Ernst, Vetter?«

»Es ist das einzige Mittel, teuerste Zemire. Erlaube deinem Geliebten, es anzuwenden … Ein unschuldiges Wesen, das uns beiden sein Leben verdankt …«

Zemire wurde sehr ernst und entgegnete:

»Lassen wir dieses Kapitel beiseite, Vetter. Niemals werde ich durch diese Pforte in die Ehe treten.«

»Es gibt keine andere, um bei unserer so nahen Verwandtschaft den Dispens der Kirche zu erhalten.«

»Höre mich, Liebster. Ich glaube, das Höchste, was eine Frau besitzt, ist ihre Tugend. Ich befinde mich zwischen zwei Abgründen und werde versuchen, weder in den einen, noch in den anderen zu stürzen. Ich will weder dich noch meine Unschuld opfern. Aber ich fühle wohl, daß ich ein kleines Opfer bringen muß, und dazu bin ich bereit. Kein anderes Wesen auf der Welt, als du, könnte mich zu einer Falschheit veranlassen, aber für dich, teuerster Vetter, werde ich das Unmögliche tun. Wir wollen uns gegenseitig nicht entehren: du, indem du deine Base verführst, um sie heiraten zu können, und ich, indem ich mich unwürdig mache, deinen Namen zu tragen, der auch der meines Vaters ist … Doch überlaß mir das weitere: ich werde so tun, als ob geschehen wäre, was du mir vorgeschlagen hast … Vaters Zorn wird furchtbar sein, ich werde aber mehr Kraft haben, ihn zu ertragen im Gefühl meiner Unschuld, als ich sie haben würde, wenn ich schuldig wäre, so werde ich auch nicht … das Leben eines …«

»Anbetungswürdige Zemire,« unterbrach Philipp sie, als er merkte, daß sie zögerte, weiterzusprechen, »dein will ich sein, das ist alles, was ich wünsche, die Mittel, dahin zu gelangen, sind mir gleichgültig, ich billige von vornherein alles, was du vorschlägst.«

Man kennt nun Zemirens Plan. Sie ging sofort an dessen Durchführung. Sie nahm kühle Getränke zu sich, die, ohne ihre Gesundheit zu schädigen, ihr Gesicht ein wenig magerer und bleicher machten. Dann sorgte sie dafür, daß ihr Leib allmählich zunahm, natürlich nur scheinbar.

Eines Tages nach Tisch sah Herr H. seine Tochter mit bedenklichen Blicken an. Zemire war schon seit einiger Zeit auf solche Erregung der Aufmerksamkeit ihres Vaters gefaßt, doch errötete sie unter seinen prüfenden Blicken bis an die Stirn und wäre fast ohnmächtig hingesunken, als ihr Vater mit zornbebender Stimme – ja Zorn war die Schwäche des braven Mannes – seine Frau zurückrief und sie fragte: »Können Sie mir vielleicht sagen, was Ihrer Tochter fehlt?«

»Aber nichts … lieber Freund … Was hast du, Zemire? Großer Gott, Kind, wie siehst du denn aus? Wie hältst du dich denn?«

»Ich glaube, liebe Frau, daß sie noch schlechter gehandelt hat, als sie sich hält! Aber, verdammt will ich sein, wenn sie, falls meine Vermutung richtig ist, nicht die ganze Strenge fühlen soll, die solche Dirne verdient, die mich entehrt hat!«

»Um Gottes willen, lieber Freund, solche Sprache!«

Bei diesen Worten fiel Zemire, die sich in leicht begreiflicher Erregung befand, ihrer Mutter zu Füßen und überströmte deren Hände mit Tränen, die ebenso echt waren, wie ihr Zustand unecht.

»Das sind die Früchte Ihrer Milde!« sagte ihr Vater bei diesem Anblick zu ihrer Mutter. Zugleich stürzte er auf sie zu, um sie zu züchtigen. Vor Angst, von der Hand, die sie stets nur gestreichelt hatte, eine rohe Behandlung zu erfahren, fiel Zemire in eine wirkliche Ohnmacht, und der Vater sah sich gezwungen, ihr, statt sie zu strafen, zu Hilfe zu kommen. Als sie wieder zu sich kam, trug man sie auf ihr Bett, und ihr Vater wagte, obgleich er furchtbar wütend war, nur noch von weitem zu grollen.

Er jagte seinen Neffen aus dem Hause, ließ ihn aber schon nach einer Stunde wieder zurückrufen und sagte zu ihm:

»Du wirst die Suppe ausessen, die du dir eingebrockt hast. Ah! mein Bürschchen, solche Streiche spielst du mir? mich, der ich dich als meinen Sohn betrachtete, entehrst du? … Aber verdammt, ich werde dich zur Vernunft bringen! … Ich werde mich sofort um den kirchlichen Dispens bemühen, und sobald er da ist, werdet ihr euch heiraten!«

»Das ist mein sehnlichster Wunsch, lieber Onkel!«

»Ich finde es höchst unverschämt, daß du mir diese Antwort gibst. Dein Wunsch! Zum Teufel, aber der meine war es nicht! … Doch du sollst sie haben und sie dich! Ihr sollt nicht sagen, daß ihr mich gefoppt habt!«

Der verehrte Leser wird bei sich denken: der gute Onkel ist doch ein rechtes Schaf, ja, das muß man eben sein, wenn man reich werden will!

Die Vorbereitungen zur Hochzeit wurden schleunigst getroffen, und endlich war der große Tag da.

Zemire legte am Morgen alles ab, was ihren Wuchs bis dahin entstellt hatte. Dagegen zog sie ein schmiegsames Korsett an, das sie recht eng schnüren ließ. Man hätte ihre Taille mit den zehn Fingern umspannen können. Als ihre Mutter sie sah, warnte sie sie mit den Worten:

»Grundgütiger Gott, liebes Kind, Sei doch nicht so leichtsinnig. Wie kannst du dich so schnüren?«

»Sei unbesorgt, liebe Mutter,« war die Antwort, »es ist mir so sehr bequem.«

Wie immer, gab die Mutter nach. Man ging in die Kirche und kehrte wieder nach Hause zurück. Da sagte die Mutter zur Neuvermählten:

»Liebes Kind, ich habe der Leute wegen geduldet, daß du in der Kirche so geschnürt warst, denn Skandal muß man zu vermeiden suchen. Aber jetzt zu Hause ist es deine Pflicht, an das zu denken, was du unter dem Herzen trägst!«

»Liebe Mutter,« erwiderte Zemire, ihr um den Hals fallend, »verzeih mir meinen kleinen Betrug, aber ich wollte meinen Vetter haben und Papa ein Vergnügen machen, wenn er sieht, daß ich seinen Namen trage. Ich bin eurer noch würdig, liebe Mama! so zärtlich ich meinen Vetter auch liebe, seitdem er bei uns im Hause ist, so wäre ich doch lieber unglücklich geworden, als daß ich die Achtung vor meinen Eltern und mir selber hätte verletzen mögen. Ich habe mich nur so gestellt, als ob ich … wäre, was ihr geglaubt habt!«

Während Zemire diese Beichte ablegte, sagte H., der die Tuscheleien zwischen Mutter und Tochter bemerkt hatte, zu seinem Neffen:

»Ich glaube, da wird von dir gesprochen, vielleicht eine kleine Verschwörung gegen dich. Hören wir ein wenig zu.«

Frau H. küßte ihre Tochter und bemerkte dann:

»Oh, mein liebes, liebes Kind! Du hast doppelt gut daran getan, so zu handeln, aber wir wollen deinem Vater noch nichts davon sagen.«

Doch da trat dieser plötzlich, seinen Schwiegersohn an der Hand haltend, zu ihnen und rief aus:

»Bei Gott! Das habe ich mir gleich gedacht! Meine Tochter konnte keine Dummheit machen! Aber warum wollt ihr mir etwas verheimlichen, was mich mit Freude erfüllt? … Komm, liebes Kind, ich will dich unteren Gästen zeigen, sie sollen wissen, daß du Tugend und Klugheit von mir geerbt hast! … Dir aber, mein schöner Heiliger, den ich doch für etwas schlauer hielt, will ich nur eins sagen: in einem Jahre will ich einen Enkel haben! …«

H. tat, wie er gesagt hatte. Er führte seine Tochter zu den Gästen und enthüllte ihnen, ohne sich um ihre Röte zu kümmern, das Geheimnis. Er umspannte die Taille seiner Tochter mit den Händen und wiederholte in einem fort:

»Sehen Sie her, meine Herrschaften, überzeugen Sie sich selber!«

Die Entdeckung fiel ganz zu Zemirens Ehre aus, aber es gab auch Leute, die ihren Gatten darum eine Stufe niedriger stellten!

Liebe heilt!

2-160

Die gefühlvolle Seele ist ein köstlicher Schatz für den, der sie sein nennt, und für die Person, die von ihr geliebt wird! Sie ist eine Quelle von Glück, die die Natur uns geschenkt hat, und wenn sie uns bisweilen peinigt, so ist unsere Unklugheit und unsere Übereilung schuld daran.

Ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren wurde von dem interessanten Äußeren eines hübschen jungen Mädchens gefesselt, das Viktoria L** hieß. Sie war schön, aber sehr bleich und schien eine schwankende Gesundheit zu besitzen. De Montroyal war ihr darum noch zärtlicher zugetan, aber er war verheiratet. Er begnügte sich daher damit, den Gegenstand seiner Gefühle von fern zu bewundern und sich im Geiste mit ihr zu beschäftigen, ohne bestimmte Absichten zu hegen, selbst nicht einmal den Wunsch, mit ihr zu sprechen. So verging eine Spanne Zeit, während welcher seine Leidenschaft stärker und stärker wurde, aber seinen Prinzipien und seinen Pflichten gegen seine Frau treu, tat er keinen Schritt, um ihr seine Gefühle zu offenbaren. Da starb seine Frau.

In der ersten Zeit seines Wittums war es ihm unmöglich, sich Viktoria L** zu nähern, denn sie ließ sich nicht mehr blicken. Er wurde unruhig und zitterte bei dem Gedanken, sie könnte sich in der Zwischenzeit, während er am Krankenbette seiner Frau beschäftigt war, verheiratet haben. Er stellte Nachforschungen an und erfuhr, daß sie krank sei. Da packte ihn neue Unruhe, die ihn erst verließ, als er sie zum ersten Male wiedersah. Aber wie bleich sah sie aus, wie schwach und elend war sie geworden! Man mußte sie wirklich lieb haben, um sie noch schön zu finden. Und doch hatte sie noch niemals einen so tiefen Eindruck auf de Montroyal gemacht, wie gerade jetzt. Da die Trauerzeit ihrem Ende entgegen ging, beschloß er, bei der Mutter des jungen Mädchens die ersten Schritte zu tun, und beauftragte einen seiner Freunde, der mit dieser, einer Witwe, bekannt war, sie ein wenig auszuforschen. Da sie zwei Töchter hatte, glaubte sie zuerst, es handle sich um die jüngere, Julia, als sie aber endlich begriff, daß von Viktoria die Rede war, legte sie die größte Verwunderung an den Tag: »Das ist ja unmöglich!« meinte sie, »meine Älteste hat einen Krankenwärter nötig, keinen Gatten.«

Als der Freund de Montroyal diese Antwort überbrachte, erwiderte dieser darauf:

»Wenn sie einen Wärter braucht, so werde ich ihr als solcher dienen, und die Pflege, die ich ihr zuteil lassen werde, wird mein ganzes Glück ausmachen. Ich bitte dich, lieber Freund, geh wieder zu Frau L** und versichere ihr, daß ich nur danach trachte, der liebenswürdigen Kranken zu dienen und sie zu lieben.«

Der Freund tat, was ihm geheißen war, und sagte lachend zur Mutter:

»Ihre Tochter ist leidend, gut, das ist ja gerade, was mein Freund de Montroyal wünscht. Er verlangt weiter nichts, als ihr seine Liebe durch die sorgfältigste und treuste Pflege beweisen zu können.«

»Die Krankheit meiner Tochter verbietet ihr, jemals an eine Heirat zu denken.«

»Aber mein Freund will sie durchaus zur Frau nehmen, und Sie bringen ihn durch Ihre Weigerung zur Verzweiflung.«

»Ich brauche Ihnen nur ein Wort zu sagen und Sie werden überzeugt sein, daß ich recht habe«, entgegnete die Mutter und flüsterte ihm den Namen der Krankheit ihrer Tochter ins Ohr, eines schrecklichen, furchtbaren Leidens, dessen Name schon genügt, um einen abzuschrecken.

»Wie können Sie wollen,« fuhr sie dann fort, »daß Viktoria ihren Mann, sich selbst, vielleicht Kinder den Gefahren eines so schauderhaften Übels und seinen Folgen aussetzt? Meiner unglücklichen Tochter bleibt nur Einsamkeit und Zurückgezogenheit als einziges Heil übrig, und danach sehnt sie sich auch selbst. Es hat mich viel Überwindung gekostet, Ihnen dieses mitzuteilen, und ich rechne auf Ihre wie auf Herrn de Montroyals Verschwiegenheit.«

Auf solche Vernunftsgründe war nichts zu erwidern. Der Freund de Montroyals glaubte daher auch, daß dieser sich in sein Schicksal fügen würde, doch sollte er sich getäuscht haben. Gerührt von Mitleid und nur seiner Liebe zu der Angebeteten Gehör schenkend, suchte er Frau** auf, entschlossen, alles daran zu setzen, um sie zu einer anderen Meinung zu bekehren.

»Sie haben mir«, sagte er zu ihr, »Ihr Geheimnis und das Ihrer Tochter anvertraut, ein Geheimnis, das nur ihrem Gatten enthüllt werden durfte. Damit habe ich ein Recht auf sie erworben. Wie, Madame, Ihre Tochter, die mir das Teuerste auf Erden ist, hat in noch höherem Maße, als ich es dachte, einen Gatten nötig, einen Mann, der sie pflegt und sie anbetet, und Sie führen gerade dieses Bedürfnis als Grund Ihrer Weigerung an? Oh! verehrte Frau L**, Sie sind eine gute Mutter, alle Welt preist Sie als eine solche, und an diese appelliere ich, auf die Mutter setze ich alle meine Hoffnung. Wenn sie Sie eines Tages verlieren würde, wen hätte sie dann noch, der sich ihrer annehmen würde? … Sie sehen meine Tränen, lassen Sie sich erweichen und geben Sie Ihre Einwilligung … Geben Sie sie mir, so wie sie beschaffen ist, ich will ihr dienen und werde sie vielleicht durch meine innige Liebe und das Glück, das ich ihr bereiten werde, heilen. Was liegt an der Art und Weise, wie man glücklich wird, wenn man nur das Gefühl hat, glücklich zu sein!«

»Aber, mein bester Herr,« unterbrach ihn Frau L**, durch solche Worte gerührt, »glauben Sie denn, daß Sie, wenn ich auch meine Zustimmung geben würde, jemals Viktoria dazu überreden könnten ?«

»Gewähren Sie mir die Freiheit, schon jetzt das mit ihr anzufangen, was ich mir zu tun vorgenommen, sobald sie meine Frau sein wird, und Sie werden sehen, daß ich sie dazu zu bestimmen wissen werde.«

»Nun, ich will Ihr Verlangen erfüllen. Ihre Güte ist so groß, daß Sie mit mir machen können, was Sie wollen … Doch da kommt mir ein Gedanke … Wir wollen uns während einiger Tage erst besser kennen lernen, sprechen Sie daher zu Viktoria noch nicht vom Heiraten, Sie könnten sie dadurch nur noch mehr einschüchtern. Machen Sie uns recht häufig freundschaftliche Besuche und verbringen Sie mit ihr so viel Zeit, als möglich. Einem Mann, wie Ihnen, darf ich sie anvertrauen. Wenn Sie dann selbst alles gesehen und durchgemacht haben werden, dann noch auf Ihrem Vorhaben bestehen und endlich auch die Einwilligung meiner Tochter erhalten, werde ich meinerseits keinen Widerstand mehr leisten.«

De Montroyal war damit einverstanden und verkehrte von da ab viel im Hause der Frau L**, die ihn stets auf das herzlichste aufnahm. Er blieb oft sehr lange, speiste mit der Familie, widmete sich aber vorzugsweise Viktoria, die er durch seine Gespräche und durch Lektüre aufzuheitern suchte. Aber er bemerkte dabei oft, daß sie verlegen war und über sein langes Bleiben unruhig wurde. Wenn er dann ging, schien sie zufrieden zu sein. Es wurde ihm nicht schwer, die Ursache zu ahnen. Er besprach sich mit Frau L**, und sie kamen dahin überein, daß die Mutter ihrer Tochter gestehen sollte, sie habe de Montroyal von ihrem Zustande in Kenntnis gesetzt, und seine Absicht sei nun, ihr durch Zerstreuung einige Erleichterung zu verschaffen; sie sollte sich daher vor ihm keinen Zwang antun, sondern im Gegenteil darüber froh sein, ihn, wenn sie ihre Anfälle bekäme, um sich zu wissen, kurz, sie sollte ihn als ihren besten Freund betrachten, der sein Glück darin finden würde, ihren Zustand gebessert zu sehen.

Viktoria war unangenehm berührt davon, daß man einem Fremden so vertrauliche Mitteilungen gemacht hatte, und vergoß bittere Tränen darüber. Ihre Mutter suchte sie zu trösten, aber Viktoria erwiderte:

»Gerade dieser hätte es nicht wissen sollen, er am allerwenigsten. Warum hast du es ihm mitgeteilt?«

»Weil er dich liebt, teures Kind, und ich ihm schließlich doch den Grund sagen mußte, warum ich beständig seine Anträge ablehnte. Er liebt dich innig und trachtet nur danach, dich so, wie du beschaffen bist, zur Frau zu haben, er würde sein ganzes Glück darin finden, dich zu pflegen und dir Erleichterung zu verschaffen. Schon seit sechs Jahren hegt er die innigsten Gefühle für dich, Gefühle, die er sein ganzes Leben lang bewahren wird.«

»Es ist wirklich traurig,« erwiderte Viktoria schwer aufseufzend, »daß dieser Ehrenmann es so unglücklich trifft.«

»So denkt aber nicht er, liebes Kind!«

»Ja, mein Gott, liebe Mutter, würdest du mir denn raten, ihm die Last meiner Person, in einem Zustande wie der, worin ich mich befinde, aufzuladen?«

»Gewiß, wenn es sein Glück ausmacht, dich so zu haben, wie du bist! Stelle ihn solange, wie du willst, auf die Probe, liebes Kind, und entschließe dich erst, wenn du vollkommen über alles beruhigt bist.«

Viktoria willigte ein, den Versuch zu wagen, und empfing de Montroyal am selben Tage viel herzlicher, als sie es jemals vorher getan hatte. Stundenlang plauderten sie miteinander, und der Freier legte so viel Wärme in seine Reden, daß Viktoria davon innerlich tief bewegt wurde. Aber die Erregung löste einen Anfall aus. Montroyal rief niemand herbei, er stand ihr allein bei. Wie schön war das junge Mädchen noch selbst in diesem traurigen Zustande! »Meine Liebe wird sie heilen!« dachte der Freier bei sich, »mein Herz sagt es mir!« Als Viktoria wieder bei Bewußtsein war, sah sie ihn vor ihr kniend und eine ihrer Hände mit Tränen und Küssen bedeckend und hörte ihn sagen:

»Das war fast nichts. Wenn meine Liebe für Sie Ihr Arzt wäre, würden Sie bald von Ihrer Krankheit geheilt sein!«

»Ach! Herr de Montroyal,« seufzte die Kranke, »ich bin ganz verlegen! …«

»Warum, Angebetete? Weil Sie unter Schwächen der menschlichen Natur zu leiden haben ? Darum sind Sie mir desto teurer! … Ich habe bei Ihrer Mutter um Ihre Hand angehalten, ja, das habe ich getan. Denn ich bin Ihnen so innig zugetan, daß ich keinem anderen die Pflege überlassen möchte, die Ihr Zustand erheischt. Bewilligen Sie dieses Glück dem liebevollsten der Männer und beruhigen Sie mein Gemüt, das von Besorgnis verzehrt wird. Bei mir werden diese schrecklichen Anfälle, die mich zittern machen, allmählich ausbleiben, dafür bürge ich Ihnen. Oh! wenn Sie meine Gefühle für Sie kennen würden! Meine Liebe ist weniger eine Leidenschaft, als ein reines Gefühl des Herzens …«

»Sie würden mich überzeugen, wenn das überhaupt möglich wäre,« unterbrach ihn Viktoria, »aber an eins denken Sie dabei nicht, daß man nämlich beim Heiraten nicht nur an sich selber denken darf!«

»Darin haben Sie wohl recht, liebes Fräulein, aber seien Sie dessen gewiß, daß Sie mich glücklich machen werden, und daß die Heirat und meine treue Pflege in Ihnen eine glückliche Umwälzung bewirken werden. Sich mit irgendeinem anderen, als mir, zu verbinden, davon würde ich Ihnen entschieden abraten, aber mich kenne ich und weiß auch, was Liebe vermag … Schöne Viktoria, flüchten Sie in die Arme eines erprobten Freundes, eines Mannes, der Sie wie ein Vater liebt. Ich werde keine Ruhe mehr haben, bevor Sie nicht bei mir unter meiner ständigen Hut sind. Meine Stellung und meine Geschäfte lassen mir alle Zeit, Sie zu behüten; ich werde alle Ihre traurigen Gedanken verscheuchen, und nie werden Sie unter der Einsamkeit zu leiden haben, die Ihnen so schädlich ist. Sprechen Sie, teure Viktoria.«

»Nun wohl … aber bewilligen Sie mir noch einige Zeit!«

»Aber nur kurze! Denn bedenken Sie, daß die Frist, die Sie zur Überlegung verlangen, für mich eine wahre Strafe ist. Denn wer steht mir dafür ein, daß Sie inzwischen nicht vernachlässigt werden? Daß nicht ein unglücklicher Zufall Ihren Zustand verschlimmert? Wüßten Sie nur, wie ich gelitten habe, wenn ich bemerkte, wie Sie mehr und mehr unruhig wurden und mein Fortgehen zu wünschen schienen! Und was ich dann litt, wenn ich Sie verlassen hatte! Edelmütig, wie Sie sind, teure Viktoria, würden Sie Mitleid mit mir gehabt haben!«

»Ihre Worte sind sehr verführerisch!«

»Oh! Geben Sie mir Hoffnung! Wie entscheiden Sie sich?«

»Ich will es Ihnen sagen, in … acht Tagen.«

»Ich muß mich also fügen, aber unter der Bedingung, daß ich diese Tage bei Ihnen verbringe.«

»Diese Bedingung ist keine schwere.«

Freudig erregt küßte Montroyal ihr die Hand und machte dann ihrer Mutter Mitteilung von den Fortschritten, die er bei Viktoria erzielt hatte. Die gute Frau war ganz auf seiner Seite, denn er hatte ihre Achtung gewonnen. Sie bat ihn, noch zu bleiben und ging dann zu ihrer Tochter, um von ihr selbst ihre Absichten zu erfahren. Nachdem beide eine Zeitlang unter vier Augen gesprochen hatten, riefen sie Montroyal zu sich, und Frau L** sagte zu ihm:

»Überlegen Sie sich noch einmal gut, was Sie tun wollen, Herr de Montroyal. Was meine Tochter zurückhält, ist nur Ihr eignes Interesse, denn betreffs ihrer Gefühle für Sie hat sie mir soeben eingestanden, daß sie wünschte, eine glänzende Gesundheit zu besitzen, um Ihnen ein Ihrer weniger unwürdiges Geschenk anbieten zu können.«

»So soll sie sie mir dadurch beweisen, daß sie sich sogleich entschließt, meine Hand anzunehmen. Sprechen Sie, teures Fräulein, wollen Sie mich zum Manne? Wollen Sie mein Glück begründen?«

»Ja, ich wünsche Ihr Glück, aber werde ich Ihr Glück sein?«

»Ich schwöre es Ihnen, daß ich durch Sie glücklich werde, machen Sie sich darüber keine trüben Gedanken!«

»Ich tue es, obwohl ich dagegen ankämpfe.«

»Wollen Sie mir nicht diesen Beweis Ihrer Achtung geben?«

»Liebe Mama! so muß ich also nachgeben?«

»Ja, mein Kind. Er ist der edelste der Männer, und daß ich dich ihm gebe, ist der höchste Beweis meines Vertrauens zu ihm.«

So waren denn alle Schwierigkeiten beseitigt, und acht Tage später fand die Hochzeit im Hause statt. Der Pfarrer hatte sich dazu bereit erklärt aus Furcht, die Braut könnte in der Kirche von einem Anfalle ergriffen werden.

Nach der Feier führte Montroyal seine junge Gattin in sein Haus, wo sie einen köstlichen Tag verlebten. In den Armen ihres Mannes schien Viktoria neues Leben zu überkommen. »Bleibe an meiner Brust, teures Weib,« flüsterte er ihr zu, »unter den Fittichen Amors hat das Übel keine Macht über dich. Der kleine Gott wird es in die Flucht schlagen und an seine Stelle die Freude setzen.« Viktoria lächelte: es war seit langer Zeit zum ersten Male, daß ein Lächeln ihre Züge verklärte, auf denen sonst nur der Ausdruck des Leidens zu finden war.

Kein Anfall störte den ersten Tag und die darauffolgende Nacht, die noch glücklicher verlief. Heiterkeit hielt die Kranke umfangen, und schon glaubte sie geheilt zu sein. Aber sie sollte am nächsten Tage schmerzlich enttäuscht werden. Sie erlitt eine furchtbare Krise, einen Anfall, der schlimmer war als alle vorhergegangenen, und sie in tiefe Melancholie tauchte. Nur die zarte Sorge ihres Gatten war imstande, die verhängnisvollen Folgen des Anfalls allmählich wieder zum Schwinden zu bringen. Je mehr sie litt, desto mehr hatte sie seine Hilfe nötig, und desto freundlicher war er zu ihr. Er duldete keine andere Unterstützung, er allein pflegte sie. Unter dieser unvergleichlichen Behandlung ihres Mannes litt Frau de Montroyal fast kaum noch unter den kleinen, fast täglichen Äußerungen ihres Übels und lief wenigstens keine Gefahr mehr.

Das Hauptgewicht legte ihr Mann auf Zerstreuungen und Ablenkungen jeglicher Art: Lektüre, Spiele, Promenaden und Konversation. Zu Hause lag sie in seinen Armen und las in seinen Blicken, daß er vollkommen glücklich war, und, da auch sie ihn seit ihrer Hochzeit unsagbar liebte, so fühlte sie sich von gleichem Glück durchdrungen. Aber welche unerträglichen Martern würde sie ohne die Liebe gelitten haben! …

Wenn Montroyal ihr vorlas, hielt er eine ihrer Hände an sein Herz gepreßt. Kam er an besonders interessante Stellen zärtlichen Inhalts, so drückte er diese Hand, die so zum Organ einer stummen Unterhaltung für sie wurde. Viktoria liebte es bald leidenschaftlich, ihren Mann vorlesen zu hören, und wenn sie nicht gefürchtet hätte, ihn zu ermüden, würde sie dieses Vergnügen allen anderen vorgezogen haben.

Ihre Gespräche drehten sich um Liebe oder Philosophie. De Montroyal wollte seine Frau dadurch über sie selbst erheben und ihr ihre abergläubischen Befürchtungen nehmen. Dann wieder suchte er durch Gespräche über die Wunder der Natur ihr Interesse und ihre Bewunderung dafür zu erregen, wobei er aber sorgfältig vermied, irgend etwas zu schildern, was in ihr Grausen, Abscheu oder andere schmerzliche Gefühle hätte erregen können. Ins Theater führte er sie nur, wenn keine Dramen oder Trauerspiele aufgeführt wurden. Diese sind gute Kost für starke Geister, aber Gift für einen krankhaften, schwachen Organismus, der mehr bei Bagatellen, bei denen man nicht zu denken braucht, seine Rechnung finden wird.

Einfache Kartenspiele, Domino und Billard spielte er ferner mit ihr. Dabei ließ er sie meistens gewinnen, ohne sie aber merken zu lassen, daß er und nicht der Zufall es so wollte. Frau de Montroyal war bei allen diesen Vergnügungen reizend und gab sich ihnen bald ganz hin, um ihrem Manne Freude zu machen.

Bald fingen bei dieser Lebensweise die Krisen an seltener und seltener zu werden. Die Tage flossen in stillem Glück dahin und die Nächte der Patientin wurden ihr nicht mehr durch Schlaflosigkeit zur Folter. Ihr gefälliger Gatte unterhielt sie, bis sie einschlief, und störte sie niemals im Schlaf. Freude und Zufriedenheit sind die besten Ärzte!

Die Spaziergänge paßte er dem jeweiligen Zustande der Patientin an, aber sie fanden täglich statt, Selbst bei schlechtem Wetter, nur waren sie dann kürzer. Denn Montroyal wollte nicht, daß sie einen ganzen Tag im Zimmer hockte und sich ihren Gedanken hingäbe. An schönen Tagen ging’s über Land. Sie suchten die lachendsten Gegenden auf, die ein wenig abgelegen waren, und dann ließ er sie nach Herzenslust tanzen, springen, laufen und lachen. Wenn sie müde war, ließen sie sich auf einer Wiese nieder und plauderten. Sie hängte sich dann auch wohl an seinen Arm und blickte stillschweigend und feuchten Auges zu ihm auf in stiller Hingabe und Bewunderung für den besten aller Männer. Auch er hütete sich in solchen Augenblicken, das köstliche Stillschweigen zu brechen und drückte ihr nur von Zeit zu Zeit die Hand. Eine Promenade, die nur kurz, aber an schönen Wintertagen sehr geeignet war, schien besonders wie geschaffen dazu, zarte Empfindungen wachzurufen: die des Königlichen Gartens. Dort hatte Montroyal oft von seiner Liebe geträumt zur Zeit, als er noch nicht hoffen konnte, jemals Viktorias Mann zu werden. Nun gefiel er sich darin, ihr alle Orte zu zeigen, wo er am lebhaftesten ihrer gedacht hatte, und ihr alles auszudrücken, was er damals empfunden hatte. Viktoria hörte ihm gerührt zu und küßte ihn, wenn sie sich allein wußten. Pathetisch rief er dann wohl aus:

»Ah! Wer hätte mir einst voraussagen können, daß ich noch solches Glück genießen, daß ich dieses Mädchen besitzen würde, das ich so glühend liebte! Und daß ich einst von ihr wieder geliebt werden und mit ihr zusammen Hand in Hand diese Stätten meiner Erinnerung wiedersehen würde!«

»Wie empfindsam du bist!« erwiderte sie ihm dann, »bei deiner Art, die Dinge zu betrachten, mußt du ja dein Glück doppelt fühlen.«

»Unser Glück, teures Weib, ist stets so, wie wir wollen, daß es sei. Es muß nach dem Werte gemessen werden, den wir ihm beilegen, und das meinige ist bezaubernd! … So lange und heiß habe ich dich begehrt! Begehrt, dein Freund, dein Verwandter, dein Gatte, dein Beschützer, dein Vater zu sein, dich als meine Göttin zu betrachten, und nun habe ich das alles! … Und wie heiß, teure Freundin, habe ich stets gewünscht, dein Glück zu begründen, denn deine Glückseligkeit macht wieder mein ganzes Glück aus!«

»Du hast dir eine zu hohe Idee von mir gemacht.«

»Das habe ich. Ich habe dich stets für einen Engel gehalten.«

»Das ist weniger mein Verdienst, als ein Ausfluß deiner Phantasie!«

»Beides, denn dein Verdienst hat meine Phantasie in Glut erhalten.«

»Und wie kam es, daß du dir so hohe Ideen von mir machen konntest?«

»Es wäre schwer, dir das begreiflich zu machen, teures Weib. Wenn ich dich erblickte, zitterte ich unwillkürlich und dachte, da kommt meine göttliche, meine himmlische Viktoria! Ich verschlang dich mit meinen Blicken und hielt dich für die einzige Frau, die zu mir passen könnte. Wenn du wüßtest, wie tief unter dir stehend mir alle anderen Frauen erscheinen! … Mein Gefühl für dich ist unaussprechlich: wenn man mir auf der einen Seite eine schöne Prinzessin, mit allen herrlichen Eigenschaften begabt, vorgeschlagen hätte, und auf der anderen dich, des göttlichen Lichtes der Vernunft beraubt, in der traurigen, beklagenswerten Lage der Unseligen, deren Geist gestört ist, so würde ich dich gewählt haben, um dir zu dienen und dir wenigstens körperliches Wohlergehen zu verschaffen; ich würde mein Leben damit verbracht haben, darauf zu warten, bis dir ein Augenblick der Vernunft wiedergekommen wäre, und wenn du mich dann erkannt hättest und dir meiner Pflege bewußt geworden wärest, nur einen Tag, eine Stunde lang, dann wäre ich glücklich gewesen!«

»Mein lieber Mann, wo findet man ein zweites Beispiel von solcher Liebe?«

»Da, wo man eine zweite Frau, wie dich, findet!«

»Ah! Mein ganzes Verdienst ist mein Herz, das nur du in Wallung bringst! … Das also heißt, jemanden um seiner selbst willen lieben, und eine so reine, unselbstsüchtige Liebe flöße ich ein! Wie glücklich bin ich! …«

»Ich tue nichts anderes, als daß ich dir wiedervergelte, was du mir gibst.«

»Oh! nun habe ich keine Furcht mehr vor den Angriffen eines grausamen Übels, deine Liebe hat mich dagegen gefeit und es besiegt. Du bist für mich ein Retter, bist mein Heiland!«

»Gütiger Gott im Himmel! Gib, daß sie wahr gesprochen habe! Gib, daß es mir vergönnt sein möge, sie ihrer Mutter zu zeigen und ihr zu sagen: Da ist unser beider Tochter, du hast ihr das Leben geschenkt, ich habe ihr die Gesundheit wiedergegeben, unsere Rechte sind gleich, aber ich werde mich der meinigen nur bedienen, um sie noch mehr zu lieben!«

In einiger Zeit erhielt Viktoria die schönste, gesundeste Gesichtsfarbe und nach einem weiteren Monat erschien ihre Gesundheit vollkommen wiederhergestellt. Nun führte Montroyal sie in Gesellschaften, wo er sie zu seiner Befriedigung durch Geist und Anmut glänzen sah. Eines Tages machte sie die Bekanntschaft einer jungen Dame, die ihr ausnehmend gefiel, und der ihre Art auch zu gefallen schien. Sie wurden Freundinnen. Montroyal, der seine Frau nicht den Zufälligkeiten neuer Bekanntschaften aussetzen wollte, erkundigte sich nach Frau du Souhaît und erfuhr über sie so viel Gutes, daß er die Freundschaft der beiden begünstigte und sogar seinerseits Anschluß an den Mann der jungen Frau suchte. Die beiden Paare waren wie für einander geschaffen. Auch Frau du Souhaît empfand für ihren Mann eine unsagbare Liebe und war ihm zugetan, wie Viktoria dem ihrigen. Sie zeigte es sogar mehr als diese, denn sie hatte einen offeneren, fröhlicheren Charakter als Frau de Montroyal.

»Sie sind überrascht,« sagte sie eines Tages zu Viktoria, »daß ich meinen Mann so rasend liebe?«

»Keineswegs! ich versichere Ihnen, ich fühle ja das gleiche für meinen Mann.«

»Ah! ich verdanke ihm alles … Stellen Sie sich vor, er hat mich geheiratet, obwohl ich blind war, hoffnungslos blind! Ich muß Ihnen die Geschichte nach Tisch erzählen.«

»Sie glauben nicht, wie mich das interessiert,« erwiderte Viktoria, »meine Mutter und Schwester essen mit uns und ich möchte gern, daß sie es auch hörten. Danach werde auch ich Ihnen eine vertrauliche Mitteilung machen, meine Mutter weiß noch nichts davon, und Sie werden Zeugin ihrer Freude sein können.»

»Gott, wie liebe ich Sie, teure Freundin! so viele andere Frauen lachen mich aus wegen meiner Gefühle für meinen Mann.«

Nach dem Essen wünschten die Damen allein zu sein.

»Ich entbinde dich heute von deinem Pflegedienst«, sagte Viktoria scherzend zu ihrem Manne, »aber du bist darum nicht zu beklagen, denn Herr du Souhaît ist bei dir. Wir haben miteinander zu plaudern, und wollen nicht gestört werden.«

»Kommen Sie, Herr du Souhaît,« sagte darauf ihr Mann lachend zu diesem, »man wirft uns hinaus. Aber ich bringe dir ein großes Opfer, liebe Frau, doch selbst das gereicht mir noch zur Freude.«

Als die Herren allein waren, fragte de Montroyal seinen Freund du Souhaît:

»Haben Sie eine Ahnung, wovon unsere Frauen Sprechen wollen?«

»Durchaus nicht.«

»Ich vermute es. Ich glaube von uns. Sind Sie neugierig?«

»Ja, sehr neugierig, wieder etwas zu erfahren, was mich in der hohen Meinung, die ich von meiner Frau habe, noch mehr befestigen kann.«

»Dann werden wir einen Spaß haben. Ich habe in Anbetracht der schwankenden Gesundheit meiner Frau einige Hörlöcher in meinem Arbeitszimmer anbringen lassen. Dort können wir alles mit anhören, ohne gesehen zu werden. Kommen Sie mit.«

Sie stellten sich an den geeigneten Stellen auf und konnten bald der Unterhaltung der Damen folgen.

»Liebe Mama,« hörten sie Viktoria sagen, »Frau du Souhaît möchte etwas sehr Interessantes erzählen, und ich habe gewünscht, daß du dabei wärest. Es handelt sich um ihren Mann, der sie als Blinde geheiratet hat.«

»Als Blinde?«

»Ja, Mama, hoffnungslos erblindet! Erzählen Sie uns das, liebe Freundin, ich brenne darauf, Sie zu hören!«

»Ich bin«, hub Frau du Souhaît an, »die richtige Kusine meines Mannes. Wir liebten uns seit unserer Kindheit. Als er fünfzehn und ich elf Jahre alt war, mußten wir uns trennen. Er trat ins Kolleg ein, machte dann seine Studien und kehrte erst in seinem zwanzigsten Jahre ins elterliche Haus zurück. Ich hatte mein fünfzehntes vollendet. Man wollte sehen, ob unsere Gefühle füreinander immer noch beständen. Man teilte mir daher die Ankunft meines Vetters nicht mit, und ihn hatte man glauben gemacht, ich wäre im Kloster. Ich muß hier einfügen, daß ich eine Waise war, die Tochter des Bruders meines Onkels und der Schwester meiner Tante, die beiden Brüder hatten zwei Schwestern geheiratet. Mein Vater hatte auf seinem Totenbette noch den Wunsch ausgesprochen, mein Vetter möchte mich heiraten, und mein Onkel und meine Tante hingen ebenfalls an diesem Projekt. Mein Kusin traf also ein, und ich sah ihn erst bei Tisch, als die Kerzen brannten. Wir erkannten uns sofort gegenseitig. Er kam auf mich zu und küßte mich herzlich. Ich erwiderte ihm in gleicher Weise und unsere Eltern hatten die Freude, zu sehen, daß ihre Absichten leicht ausführbar waren. Mein Vetter blieb sechs Monate bei uns, den ganzen Winter über, und während dieser Zeit verwandelte sich unsere kindliche Zuneigung zueinander in wahre Liebe, so daß wir schworen, nur noch füreinander leben zu wollen und uns um niemand sonst zu kümmern. So floh ich in den Gesellschaften alle Männer, duldete die Annäherung keines einzigen und langweilte mich bei ihren Reden. Mein Vetter tat desgleichen, sprach nur mit Männern oder älteren Damen und bezeigte den jungen Mädchen nur kalte Höflichkeit. So gewöhnten wir uns daran, uns für zwei Wesen auf der Welt anzusehen, die der liebe Gott eigens füreinander geschaffen hatte.

»Nach Ablauf der sechs Monate ging mein Vetter mit meinem Oheim auf Reisen. Sie wurden von einem Gelehrten begleitet. Sie besuchten Italien, die Schweiz, Deutschland, sogar Ungarn. Dann gingen sie nach Holland, durchquerten die Niederlande und schifften sich nach England ein. Diese Reise dauerte zwei Jahre, und während dieser Zeit schrieben wir uns monatlich einmal einen Brief. Mein Vetter schilderte mir alles, was er sah, und ließ mich ihn so auf seiner Reise begleiten. Ich meinerseits schrieb ihm über alles, was zu Hause vorging, was ich tat und erlebte, und machte mir zur Vorschrift, ihm dabei niemals etwas zu verschweigen.

»Endlich kehrten die drei Reisenden wieder heim. Der Tag ihrer Ankunft war ein Fest für alle. Ich war damals neunzehn und mein Vetter vierundzwanzig Jahre alt geworden. Man sprach von unserer Heirat. Meine Tante hielt feierlichst um meine Hand für ihren Sohn an und fragte mich, ob dieser der Mann sei, den mein Herz erwählt habe. Statt jeder Antwort warf ich mich in ihre Arme und reichte ihrem Sohne, der vor mir kniete, die Hand. Nun gings an die Vorbereitungen zur Hochzeit. Währenddessen fühlte ich mich plötzlich leidend. Ich wurde nervös und spürte eine Schwere im ganzen Körper, am nächsten Tage brach ein heftiges Fieber aus. Der Arzt diagnostizierte die Pocken. Man pflegte mich mit einer Hingabe ohnegleichen, und mein Vetter wich nicht aus meinem Zimmer. Die Krankheit brachte mich an den Rand des Grabes. Endlich war jede Gefahr vorbei, aber da bemerkte man, daß ich das Augenlicht verloren hatte. Am vierzigsten Tage war es mir möglich, die Augenlider wieder zu öffnen und zu schließen, aber sehen konnte ich nichts, ich war vollständig erblindet. Mein Vetter ging von nun an nicht mehr von meiner Seite. Er führte mich überall hin, sobald ich wieder imstande war, auszugehen, und pflegte mich mit einer Gefälligkeit und Freudigkeit, die ich ihm nie vergessen werde. Unsere Eltern sprachen nicht mehr von der Heirat, aber er selbst drang darauf.

»Bedenke, daß sie blind ist!« hielt man ihm entgegen.

»Ein Grund mehr, daß ich sie heirate, denn welcher andere als ich, würde ihr die nötige Pflege angedeihen lassen?«

»Lieber Sohn, überlege dir alles erst noch einmal, und macht euch nicht gegenseitig unglücklich. Eine Ehe dauert das ganze Leben hindurch.«

»Ein weiterer Grund, sie zu heiraten, denn, solange ich lebe, werde ich ihr Führer und Stütze sein.«

So antwortete er stets, nichts konnte ihm eine andere Meinung beibringen.

»Da er fest blieb, gaben die Eltern endlich nach, und in einer Art und Weise, die ihn hoch befriedigen mußte. Sie sagten ihm, daß er ihren heißesten Wunsch erfüllte, wenn er mich, die Tochter ihrer heißgeliebten Geschwister, heiraten würde, und daß sie seinen Edelmut, seine Gutherzigkeit und seine treue Hingabe an mich nur freudig begrüßen könnten. Sie umarmten ihn unter Freudentränen und segneten ihn tausendmal. Man teilte mir dann mit, daß die Heirat bald stattfinden werde, da sich meine Heilung so lange hinziehe, und ich willigte mit Freuden ein. Ich hatte ja keine Ahnung von der Größe des Opfers, das mir mein Bräutigam zu bringen bereit war, denn man hatte mir die Schwere meiner Augenkrankheit verheimlicht, und ich war sicher davon überzeugt, bald wieder sehen zu können. Bisweilen schien es mir sogar, als ob ich plötzlich etwas sähe, doch sprach ich nicht darüber, um nicht zu früh vielleicht falsche Hoffnungen wachzurufen.

Die Hochzeit fand statt. Während der Feier sah ich meinen Gemahl plötzlich einige Sekunden lang, aber Freudentränen verdunkelten sogleich wieder den Schimmer, den ich genossen hatte. In welcher Weise nun mein Mann während meiner Blindheit um mich besorgt war, das, meine Damen, kann ich Ihnen nicht schildern. Er ließ mich keinen Schritt allein machen und zitterte für mich in seiner treuen Hingabe. Wenn er ausgehen mußte, so gab er seine Befehle, die er mehrmals wiederholte und ging nur wider Willen fort so vergingen sechs Monate, die ich in dieser qualvollen Pein verleben mußte. Eines Tages, als mein Onkel und meine Tante von meinen Eltern erzählten, von ihrer Ehe und wie sie sich so zärtlich geliebt hätten, und von ihrem Tode, der sie in so tiefe Trauer versetzt habe, fühlte ich mich von unendlicher Rührung ergriffen und dankbareren Herzens denn je schloß ich meinen Mann in die Arme, ihn tausendmal küssend. Reichliche Tränen strömten aus meinen Augen, und plötzlich fühlte ich einen ziemlich heftigen Schmerz unter den geschlossenen Lidern. Ich öffnete sie und – sah, sah meinen Mann vor mir kniend, seine Augen auf die meinigen gerichtet, sah meine Tante, ein Bild ihrer Schwester in der Hand haltend, und meinen Onkel, seine Blicke zum Himmel emporhebend, als ob er für mich betete! Ich lächelte meinem Mann zu.

»Sie lächelt mir zu, als ob sie mich sähe!«, bemerkte er erstaunt.

»Ja, Teuerster, ich sehe, der Schleier ist soeben vor meinen Augen verschwunden.«

»Sie sieht!« schrie er da mit einem Freudenausbruch, den ich unmöglich beschreiben kann, nahm mich dann in seine Arme und trug mich zu seiner Mutter.

»Du siehst uns, liebe, liebe Tochter! Oh! großer Gott, welch ein Glück!« sagte meine Tante und bedeckte mich mit Liebkosungen. Selbst mein Onkel, ein kalter, ernster Mann, stürzte auf die Knie, wie sein Sohn, und stammelte: »Oh! Sieh mich an, teure Helene, sieh deinen Oheim, deinen zweiten Vater an, der so lange deine Blicke entbehrt hat! Teures Mädchen, das alles in sich vereint, was ich Liebes auf der Welt hatte, du meine Schwiegertochter, meine Tochter, die Hoffnung meiner Zukunft! Sieh mich an, teure Helene!« Und Tränen überströmten sein gutes, ehrwürdiges Gesicht, während er so zu mir sprach. Mein Mann war verstummt vor freudigem Erstaunen.

»Und nun urteilen Sie selber, meine Damen, was dieser Mann für mich sein muß, und ob ich unrecht habe, in ihm mehr einen Gott, als einen Menschen zu sehen! Nun kennen Sie meine Geschichte, die weniger interessant ist durch die Tatsachen, als durch die darin vorkommenden Gefühlsäußerungen.«

Die Damen dankten Frau du Souhaît, und Viktoria sagte, nun wolle sie ihrerseits erzählen, wie ihr Mann gegen sie gehandelt habe. »Ich hoffe,« meinte sie, «wenn Sie mich gehört haben, werden Sie meinen Mann des Ihrigen würdig finden. Ich möchte beinahe sagen, Herr de Montroyal war noch edelmütiger, da er nicht die gleichen Motive hatte wie Herr du Souhaît, und da meine Krankheit ungleich schrecklicher war als die Ihrige.«

»Sprechen Sie,« erwiderte Frau du Souhaît, »ich muß Sie erst hören, um Ihnen verzeihen zu können, was Sie eben gesagt haben.«

»Gern … Aber erst, liebe Mama, muß ich dir etwas Beglückendes mitteilen: meine Krankheit ist geheilt, Amor war mein Arzt, und mein Mann hat das Wunder zustande gebracht, seit sechs langen Monaten habe ich keinen Rückfall mehr gehabt und fühle mich gesund und munter. Ich habe euch vorher nichts davon sagen wollen, ehe ich meiner Heilung noch nicht sicher war.«

Nachdem Viktoria Glückwünsche ihrer Mutter und Liebkosungen ihrer jüngeren Schwester entgegengenommen hatte, erzählte sie, wie alles gekommen war, wie ihr Mann sich gegen sie benommen und welche Eindrücke sie dabei empfangen hatte.

»Das erstemal,« sagte sie, »als ich Herrn de Montroyal sah, durchzuckte mich ein gewisses freudiges Gefühl, während mir vorher Besuche stets unangenehm waren und ich mich am wohlsten allein oder in Gesellschaft von Mutter und Schwester befand. Dieses neue Gefühl einem Manne gegenüber überraschte mich selber. Dann aber kam mir die Angst, er könnte etwas von meiner Krankheit merken, trotz seiner interessanten Unterhaltung wurde ich nervös und war erst wieder froh, als er fortging. Als ich erfuhr, daß er von allem unterrichtet sei und mich trotzdem zur Frau wolle, weigerte ich mich in einer Anwandlung von Edelmut, ihm anzugehören. Als er aber dabei beharrte, dachte ich zwar an mein eignes Glück, noch mehr aber empfand ich den heißen Wunsch, ihn glücklich zu machen. Das Gefühl aber, das mich ganz gefangen nahm, war unsagbare Dankbarkeit, die mich trieb, mich in seine Arme zu werfen und ihm mein trauriges Geschick anzuvertrauen. Ich habe niemals Ursache gehabt, mich darüber zu beklagen, – im Gegenteil, ich habe den edelsten, den zartfühlendsten aller Männer lieben gelernt, der mich mit hingebender Sorge gepflegt hat und selbst jeden Schatten von Unruhe und Erregung von mir fernzuhalten wußte. Er hat alle Mühseligkeiten des Lebens auf sich genommen und mir nur die Freuden überlassen, und meine größte Freude ist das Bewußtsein, daß ich alles seiner Liebe zu mir verdanke. Der köstliche Friede, den er mir bescherte, und die innere Befriedigung, die mich beherrschte und die durch nichts gestört wurde, haben mein Blut gereinigt und allmählich die Anfälle zum Schwinden gebracht. Als er mir endlich bei einem Spaziergang im Park des Palais Royal sein ganzes Innere klar vor Augen führte, da haben Bewunderung und Dankbarkeit für einen solchen Mann mich so durchdrungen, daß ich mir von diesem Augenblick an wie neu gekräftigt vorkam. Jedenfalls habe ich von da ab keinen Anfall mehr gehabt. Ist dieser Mann, liebe Freundin, des Ihrigen würdig?«

»Aber woran litten Sie denn eigentlich?«

»Ich habe es vergessen, Mama wird Ihnen den Namen der Krankheit auf dieses Papier schreiben … »Großer Gott! Was lese ich? … Teure Freundin, was für einen Mann besitzen Sie! … Und er war es, er allein, der Sie durch seine treue Pflege geheilt hat! … Mein Mann wird ihn in den Himmel heben und nicht eifersüchtig sein, wenn auch ich ihn von ganzem Herzen liebe!«

Damit endigten die vertraulichen Mitteilungen der jungen Frauen, und im gleichen Augenblick erschienen ihre Männer, die alles mit angehört hatten, um sich ihnen zu Füßen zu werfen: de Montroyal vor Frau du Souhaît und Herr du Souhaît vor Frau de Montroyal.

»Ihr reizenden Frauen,« rief letzterer, »ihr verdientet tausendmal mehr, als wir für euch getan haben. Seid Freundinnen und schließet unsere Bande enger, auch wir wollen Brüder sein. Und wenn wir eines Tages Kinder haben sollten, dann möge uns der Himmel das Glück schenken, sie in Liebe miteinander vereinigt zu sehen, wie uns in diesem feierlichen Augenblick die Freundschaft vereint!«

Ihr Wunsch nach Kindern sollte bald in Erfüllung gehen. Frau de Montroyal bemerkte zuerst, daß sie sich in anderen Umständen befand. Wie verdoppelte da der Gatte seine Sorgfalt um sie, und wie glücklich war Viktoria, – so glücklich, daß sie darüber die Unpäßlichkeiten ihres Zustandes fast nicht bemerkte. Viktoria genas eines Sohnes. Die Schmerzen der Entbindung hatten wieder einige leichtere Äußerungen ihres alten Übels hervorgerufen, und sie brauchte ziemlich lange, um sich wieder zu erholen, aber welche Krankheit hätte auf die Dauer der zarten Pflege ihres Mannes widerstehen können? Er wurde darin durch Frau du Souhaît unterstützt, die alle ihre freien Augenblicke bei ihr verbrachte und stets mit ihr von ihrem Lieblingsthema sprach: von ihrem Manne. Viktoria erholte sich endlich wieder vollständig und konnte sich nun ihrem Kinde widmen. In dieser köstlichen Beschäftigung stärkte ihre Gesundheit sich immer mehr.

Einige Jahre später konnte sie der Frau du Souhaît die gleichen Liebesdienste erweisen, nachdem diese einem Mädchen das Leben geschenkt hatte. Beide Kinder wurden von den Eltern füreinander bestimmt. Die kleine Helene ist heute fünf Jahre alt, sie ist reizend. Man hat sie geimpft, und es steht zu hoffen, daß sie von dem Übel verschont bleiben wird, das ihre Mutter beinahe des Augenlichtes beraubt hätte.

Einleitung

Es gibt Bücher, gleichgültig welcher Gattung und welchen Inhalts, die in solchem Maße versteckte Autobiographien sind, daß man sie nicht lesen sollte, ohne ihren Verfasser zu kennen. Nur aus dessen Persönlichkeit, dessen Leben kommen die Lichter und Schatten her, deren Gruppierung das versteckte Bild hinter dem Bild hervortreten läßt. Meist sind solche Bücher nicht die Schöpfungen des Genies, denen ja keine Anekdote, keine biographische Notiz etwas hinzufügen kann. Es sind die Hervorbringungen sehr menschlicher Geister, die in erhöhtem Maße die Zufälligkeiten ihrer Person und ihrer Zeit geben, dafür aber auch ohne die Objektivierung des Kunstverstandes, ohne Distanz, Haß und Liebe, Lust und Unlust, frisch, rauschend, so wie der Strom ihrer Brust entbraust. Sie schaffen keine Kunstwerke, sondern verhandeln, von unbezwinglicher Leidenschaft der Mitteilung getrieben, die eigenen, im Augenblick sie bewegenden Angelegenheiten in ihren Büchern, sie enthüllen ihr Wesen, sagt Retif de la Bretonne, aber damit zugleich das Wesen ihrer Leser.

Die hier gebotene Auswahl aus den im ganzen zweiundvierzig Bänden der »Contemporaines« Retifs, dieser Naturgeschichte der Französin in der Schicksalsstunde des ancien régime, scheint, reiht man sie nicht in Retifs Werk und Leben ein, eine Sammlung amüsanter, geschickt erzählter faits divers, an der die Vielgestaltigkeit der Fabel und die unbedingte Beherrschung des Stoffes überrascht. Im Zusammenhang aber mit dieser ewig produzierenden Persönlichkeit, die das Leben, kaum erhascht, immer wieder aufs Papier warf, der der Umweg über die Feder in späteren, kargen Jahren schon zu lang dünkte und die daher die Erlebnisse des letzten Tags am Setzerpult gleich in den Satz formulierte, dehnt sich um diese raschen, scharf gesehenen Geschichten das Paris vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit Avenuen und Gassen, mit Hof und Pöbel, mit Theatern und Bordellen und mit Frauen, Frauen, unendlich viel Frauen, über die Retif gearbeitet hat, wie nur je ein Naturforscher über sein Spezialfach. Alles ist nachkostende Tagebuch-Eintragung und alles Material zu dem großen, in zahllosen Büchern wieder und wieder behandelten, erweiterten und ergänzten Lebenswerk: Die Frau!

Retif war der Sohn eines kleinen Gutsbesitzers aus Burgund (den Beinamen holte er sich von einer Farm der Familie), kam nach frühen Liebeserfahrungen in seinem Dorf, nach einer großen Leidenschaft in Auxerre, um die sich, wie die Putten um die Madonna, tausend Eintagszärtlichkeiten schlossen, nach Paris, wo sich sein Schicksal erfüllte: jedes Auf und Ab eines langen Lebens nur durch Frauen zu erfahren. Erst Buchdruckergeselle, wird er durch die Liebe zum Schriftsteller, wird berühmt (mit dem Pied de Fanchette und dem Paysan perverti), verarmt durch die Assignatenwirtschaft, wird vergessen, alt, mit den Lastern des Alters, immer noch allen Frauen ergeben, immer noch jedes Erlebnis in die nie endenden Werke »Monsieur Nicolas« und »Contemporaines« einreihend, und stirbt endlich mit zweiundsiebzig Jahren, an den Strapazen und Krankheiten der Liebe, in einem Haus, das von oben bis unten mit den Ballen seiner Bücher, den Geschichten seines Lebens und seiner Frauen, angefüllt ist.

Aber die Frauen, die er genoß und liebte, gehörten nicht zu der Welt, wie sie Crébillon fils, Choderlos de Laclos und Louvet de Couvray beschrieben haben, und er liebte sie nicht, wie es die Herren jener Welt taten, nach einer unsentimentalen, gesellschaftlichen Tradition, die sie ebenso lernten, wie gutes Benehmen und reizvolle Konversation. Er kam aus der Tiefe und liebte die Frauen der Tiefe, von den Mädchen in den Pariser öffentlichen Häusern, wo er seine tiefste, bis zu den Frauen des Mittelstandes, wo er seine reinste Liebe fand. Und er hielt sich keine Geliebte, weil das hergebracht und nötig war, er suchte bei ihr keine Zerstreuung, keine Erholung, keine Tröstung, sondern die Frauen waren sein Leben, von dem er sich mit der Feder in der Hand oder an der Druckpresse ausruhte. Er lebt nur durch die Frau, er denkt oder empfindet fast nichts, das nicht durch eine Frau gegangen wäre oder mit einer Frau zusammenhinge. Die ganze Sentimentalität des Kleinbürgers, die sexuelle Leistungsfähigkeit des bäuerlichen Schlages, der Stoffhunger des Literaten, zusammen mit der geschäftsmäßigen Auffassung der Liebe in seinen Kreisen, denen Kuppelei und Prostitution unter günstigen und anständigen Bedingungen nichts Ehrenrühriges erschien: all das drängte ihn auf Schritt und Tritt zu den Frauen, drängte ihn in die Frauen, für deren Bezahlung er hungert und dürstet und die schließlich unmittelbar oder mittelbar seinen Hunger und seinen Durst stillen. Er hatte das Glück, die einheitlichste Form für sein Leben zu finden: auf dem Feld seiner Arbeit wuchs auch sein Genuß und wohin ihn Geilheit und Forscherdrang hetzten, dort fand er sein kümmerliches Auskommen und seinen Ruhm. Alles aber war und schenkte die Frau.

Er hat nur einen Vorgänger in Literatur und Sittengeschichte: Abbé Prevost, den Verfasser der Geschichte von Manon Lescaut und dem Chevalier Des Grieux. Dies unvergängliche Buch hat die Dirne in die Literatur eingeführt, die bis dahin nur Damen der Gesellschaft oder solche kannte, die der Liebe im Nebenberuf oblagen. Ein Menschenalter später hat Retif diesen Typus sozial und wirtschaftlich, industrialisiert wie er schon war, in tausend Spielarten festgehalten, während Prevost nur Verirrungen des Herzens in mitfühlender Neugier nachzeichnete. Man kann sagen: Prevost machte unwissentlich eine Entdeckung, deren System Retif bewußt zu schaffen sich bemühte. Aber bei Prevost war es noch ein Jüngling aus den herrschenden Ständen, der, wie bis zur Revolution immer mehr seiner Standesgenossen, dem dunklen Gift der Crapule zum Opfer fiel. Es geht nicht an, ihn als Zuhälter zu benennen, bis zum Schluß, über Hospital und Deportation, bleibt er der Bevorzugte, dem nur sein Stand die ersehnten Erniedrigungen an Manons Seite ermöglicht. Retif nun stellt das Mädchen aus dem Pöbel unter den Pöbel, in die Mansarde der Mutter Näherin, neben den kupplerischen Bruder, unter die neidischen Nachbarinnen, zwischen all ihre Konkurrentinnen, das ganze Gewimmel des dunklen Volkes, das den adligen Lichtstrahl, der auf eine seiner Töchter fällt, in Scheidemünze prägt und sich feilschend und unbedenklich darin teilt. Er hat, ein zweiter Kolumbus, dicht neben der ältesten Welt der Herrschenden die dunklen Kontinente der Namenlosen entdeckt und deren Bild auf Tausenden von Seiten der erstaunten Gesellschaft vorgehalten. Was bei den Früheren nur Mätresse, femme foutenue, Zögling der Frau Leblanc oder Zofe war, entpuppt sich mit einem Male als Tochter, Schwester, Gattin, zeigt, wie Wundmale, seine Schicksale auf dem Weg zu petite maison oder Bordell, wird aus einem Typus zu einem besonderen Menschen, ganz wie seine Herren und Herrinnen. Retif hat sich, sein Haus, seine Familie, seine Nachbarschaft, seine besonderen Mitmenschen in die Literatur geworfen, wie der Erdstoß der Revolution; all das in die Gesellschaft, in die Weltgeschichte warf.

Der Wurf – das ist die Gebärde des Schriftstellers Retif. Er kennt keine künstlerischen Mittel, keinen Aufbau, kein Ausmaß, keine Abtönung. Er kommt vom Stoff her, der Stoff nur treibt ihn, um seinetwillen greift er zur Feder oder zu den Lettern. Der Form achtet er kaum, kann er nicht achten, weil er den Stoff ja erst Tag für Tag erleben muß, also keine Übersicht hat, nicht wissen kann, was im Zusammenhang wichtig oder unwichtig sein wird. Nimmt er dann Episoden heraus, um sie zu selbständigen Gebilden auszubauen, wie seine Jugendgeschichte, seine große Liebe zu Frau Parangon und das Unglück seiner Schwester Marie-Geneviéve im »Paysan perverti«, dann gelingt, vielleicht nicht dem Schriftsteller, sondern dem starken Talent und Temperament eines Rundung, ebenso wie in den vielen, kurzen Novellen der »Contemporaines«. In den selbstbiographischen Werken muß eben der Wurf jeden Tag erneut werden, so daß auch Bruchstücke alle Reize der kleineren Erzählungen aufweisen. Aber Retif hatte, bei der größten Tugend des Schriftstellers, der Schamlosigkeit, das heißt dem unbedingten Zwang zu schrankenloser Mitteilung, zwei Kardinalfehler: er wollte mit seinen Publikationen etwas erreichen (was sich in den »Idées singulières« zur Groteske steigerte) und er hielt die dichterische Lüge für seiner unwürdig. Er schreibt im »Monsieur Nicolas«: »Ich sagte mir beim Schreiben: man darf nicht lügen, wer nur Lügen niederschreibt, erniedrigt sich selbst.« Seine Wirkungsabsichten treiben aber, mitten in der gegenständlichsten Schilderung, die trübsten didaktischen Blasen und seine Abneigung gegen das Lügen, das bewegende Element alles dichterischen Hervorbringens, kommt zwar dem Quellenwert seiner Werke zugut, zeitigt aber, diesem wirren Haufen wirklichen Lebens gegenüber, öfter als angenehm die Langeweile. Er war nicht Künstler und nicht Schriftsteller. Er war der Seismograph, der von den Ankündigungen nahender Erdbeben erzitterte und schrieb.

Als das Erdbeben da war und Robespierre herrschte, war Retif ein armer, gealterter Mann, aber immer noch der Arbeit und der Lust seines Lebens getreu, lief er hinter den kleinen Modistinnen her, ließ sich von den Freudenmädchen des Palais Royal die abenteuerlichsten Lebensläufe aufbinden und sparte sich den Liebeslohn für die Lupanare an Kleidung und Nahrung ab. Seine Presse stand nie still, die Bücherballen häuften sich. Aber die Pariser Nächte hatten eine blutige Färbung angenommen. Während er Schicksale der kleinen Mädchen suchte, stolperte er fast über ein Weltschicksal: er war in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni Zeuge der Flucht der königlichen Familie und sah auch die schmähliche Rückkehr von Varennes. Er erlebte, zitternd und in ewigem Wechsel seiner politischen Anschauungen, die Schreckenszeit, die sein Geschäft entwertete, seine Leser zerstreute und ihn zweimal wegen politisch mißfälliger Pamphlete, deren Urheberschaft er bestritt, zur Verantwortung zog. Dann kam Napoleon, und seine Regierung brachte dem gänzlich Verarmten eine kleine Stelle, die er bis zu seinem Tod bekleidete. Als dieser ihn ereilt hatte, schrieb das »Journal de Paris«: »Sein Leben selbst war nur ein trauriger Roman, dessen Moral die sein könnte, daß das Talent ohne maßvolles Betragen eine böse Himmelsgabe ist.«

Retif selbst hatte zu oft solch selbstgerechte, muffige Urteile für Leidenschaften gehabt, die gerade nicht die seinen waren, als daß man ihn gegen diesen Nachruf allzusehr verteidigen dürfte. Aber diese Stimme aus dem antirevolutionären, kaiserlichen Paris meinte im letzten Grunde mit dem »maßlosen Betragen« die Große Revolution und verdammte ihre reinigenden Ungeheuerlichkeiten noch einmal in dem Mann, der, aus all dem Schmutz des Pöbels aufragend, dem Pöbel Sitz und Stimme in der Weltliteratur verschafft und von all seinen Irrgängen immer wieder dasselbe Gut mit heimgebracht hatte: das enthüllte Menschenherz.

Ulrich Rauscher

Das Mädchen als Jüngling

001

Ich beabsichtige nicht, hier die Geschichte einer jener Tribaden zu schreiben, die dadurch von sich reden machten, daß sie sich nach Männerart kleideten und aufführten. Obwohl sie nicht alle verächtlich sind, stehe ich doch hinsichtlich ihrer auf dem Standpunkt Voltaires, der die zartsinnige Agnes Sorel der kriegerischen Jeanne d’Arc vorzieht. So sehr ich auch von Achtung für letztere durchdrungen bin, möchte ich doch nicht ein ihr ähnliches Wesen gegen meine Süße Anna eintauschen, auch möchte ich ebensowenig etwas von jener schönen Lothringerin wissen, von der erzählt wird, daß sie, in einen schmucken Grenadier verschossen, in dasselbe Regiment eintrat und eines schönen Tages – nein, es war in der Nacht – im Verfolg einer heftigen Kolik, der gegenüber die Ärzte am Ende ihres Lateins waren, einen kleinen Latulipe in die Welt setzte. Noch weniger gefällt mir dieses Tonnerreweib, ein wirklich zum Manne zugestutztes Weib, das Europa trotz ihrem Geschlecht nur ruhig hätte den Chevalier d’Eon nennen sollen. 1

Die Dame, die die Heldin meiner Novelle ist, ist eine sanfte und zarte Schöne, die leider zu schüchtern ist, um auf Heroismus Anspruch zu machen.

In einer Provinzialstadt, ich glaube der ehemaligen Hauptstadt des Departements Sens, die heute nur noch ein elendes Nest ist, während Paris, das damals ein Nest war, heute die Türme seiner Kirchen und die Giebel seiner großartigen Paläste bis in die Wolken hineinragen sieht, – in Sens also lebte ein junges, reizendes Mädchen, Tochter eines Landedelmannes von der Sorte derer, die die Finanzwelt mit Unrecht Krautjunker getauft hat. Dieser Edelmann besaß ein Vermögen von einigen 40000 Franken an Grund und Boden, das ihm eine jährliche Rente von nur 800 bis 900 Franken abwarf, da ein Teil seines Besitztumes aus Gestrüpp und wertlosem Gelände bestand. Mit diesen bescheidenen Mitteln hatte er eine Frau aus altadligem Geschlecht, die nichts mitgebracht hatte, und drei Kinder zu ernähren: einen Sohn, der ein Stipendium bezog und ein Kolleg in Paris besuchte, und zwei Töchter, die arm an Geld, aber reich an körperlichen Reizen waren. Die Älteste besonders, Armida Judith Victoria des Troches, war das reizendste Mädchen, das man sich denken konnte, eine wahre Nymphe mit sanftem Augenaufschlag und feinem Lächeln, goldblonden Haaren, einem kleinen Mündchen Korallenlippen usw. Für wen glaubt man nun, wurde um die Hand dieses reizenden Geschöpfes angehalten? Man wird es niemals raten: für einen gewissen sogenannten Baron von T …. ci, noch ein halbes Kind und Sohn des Herrn ***, der nicht nur ein Bürgerlicher war, sondern dazu von so niedriger Stellung und so niedrigem Range, daß der letzte aller Bürger sich mit Recht für über ihm stehend halten durfte. Aber der Vater der schönen Armida des Troches war des Elends müde, sah diese Partie mit günstigen Augen an und meinte, sein unbefleckter Adel würde die unreine Quelle klären, aus der die Reichtümer seines zukünftigen Schwiegersohnes stammten, der noch dazu mit dem Titel Baron maskiert war. Armida konnte an ihren zukünftigen Gatten nicht ohne Schauder denken. Sie dachte daran, wie ihr Vater in ihrer Kindheit stets sein edles Blut gepriesen hatte und wie er sich über die Emporkömmlinge (wenn sie es nicht hörten) ausließ, deren geringster noch hoch über dem falschen Baron stand. Vielleicht würde sie trotz allem gehorsam gewesen sein. Aber da kam die Familie ihres Freiers nach Sens. Sie sah den Vater, eine Art von Bulldogge, die Mutter, dicker als die dickste Katharina, ihre zukünftigen Schwägerinnen, deren Züge an junge Gauklerinnen auf Jahrmarktsbühnen erinnerten, und da schien ihr, daß der Tod dem Schicksal vorzuziehen sei, das ihr bevorstehe. Sie warf sich ihrer Mutter zu Füßen, und beide vergossen bittere Tränen. Aber durch ihren Gatten geschult, der ein wahrer Haustyrann war, riet die Mutter ihr zum Gehorsam und ging noch weiter, als sie den Widerwillen Armidas bemerkte, indem sie ihr sagte, es müsse sein.

Sich an ihren Vater zu wenden, dazu fehlte der Ärmsten der Mut. Inzwischen schritten die Vorbereitungen zur Hochzeit vorwärts. Armida entschloß sich, obwohl sie die Schwester des T…ci nicht ausstehen konnte, diese aufzusuchen in der Absicht, sich bei ihnen nach den Aussichten zu erkundigen, die ein junges Mädchen in Paris haben könnte. Die Damen N*** sprachen von gefügigen Mädchen, deren Glück reiche Männer begründeten, und von solchen, die Talent fürs Theater hätten und mit ihrer Person ihre Erfolge als Bühnenkünstlerinnen bezahlten, besonders diesen Stand priesen sie und rühmten die hohe Achtung, deren er sich erfreue.

»Aber gibt es denn in Paris nichts anderes, als nur ausgehaltene Frauen oder Schauspielerinnen?« fragte Armida enttäuscht.

»Wir kennen nur solche. Es gibt wohl auch anständige Frauen, aber die sind reich, das sind Töchter von Finanzleuten oder aus vornehmer Familie.«

»Aber was könnte denn eine Unglückliche ohne Mittel, die anständig bleiben will, in Paris anfangen?«

»Die müßte eine Stellung als Dienstmädchen oder Arbeiterin suchen, Dienstmädchen wäre noch vorzuziehen, den Arbeiterinnen geht es zu schlecht. Aber beide sind noch mehr verachtet, als die ausgehaltenen Mädchen und leben dabei in Armut: Sie endigen schließlich, indem sie sich doch der Schande preisgeben oder in Elend verfallen.«

Armida konnte von ihren zukünftigen Schwägerinnen keine Auskunft über das erhalten, was ihr am Herzen lag. Sie erkundigte sich daher bei ihrer Mutter, die mit schwerem Herzen alle ihre Befürchtungen bestätigte und ihr vom Hörensagen ein noch schwärzeres Bild von all dem Elend und den Gefahren ausmalte, denen arme Mädchen, wenn sie schön sind, als Arbeiterinnen oder Dienstmädchen in einer Stadt wie Paris ausgesetzt sind. Doch der Entschluß des jungen Mädchens stand fest: sie wollte die Flucht ergreifen. Nur sagte sie sich, das dürfe aus Sicherheit für ihr Ehre nicht in den Kleidern ihres Geschlechts geschehen, und traf demzufolge ihre Maßregeln.

Eines Tages – drei Tage vor der Hochzeitsfeier – gingen Vater und Sohn des Troches mit dem jungen de T…ci, dem bulldoggenhaften Vater, der würdigen Mutter und den schämigen Töchtern, die als Amazonen gekleidet waren, auf die Jagd. Armida hatte sich geweigert, mitzugehen, was ihr viele scherzhafte Vorwürfe und faule Bemerkungen eingebracht hatte. Frau des Troches war entschuldigt, da sie am Vorabend der Hochzeit viel zu tun hatte. Armida war also frei. Sie zog sofort eines der wenigen guten Kostüme ihres Zukünftigen an, steckte ihre kleinen Ersparnisse ein, verließ das Haus, warf sich in den Postwagen von Villeneuve-la-Guiarre und fuhr bis Montereau-faût-Jonne, acht Meilen von ihrem Heimatort entfernt. Dort langte sie an, bevor man ihre Flucht bemerkt hatte. Eine andere Eilpost brachte sie nach Melun, wo sie das Marktschiff nahm, das sie in Paris absetzte. Kaum gelandet, beeilte sie sich, vom Hafen Saintpaul fortzukommen, nahm einen Fiaker und bat den Kutscher, sie nach einem Absteigequartier für Dienstboten zu fahren. Der Kutscher, der in der Rue de l’Artre Sec wohnte, fand es bequemer für sich, den jungen Mann nach dem Hôtel d’Alique in der rue Saint-Honoré zu bringen, wo er seinen Fahrgast absetzte.

Armida, die ich von nun an einfach des Troches nennen werde, stand noch in der Einfahrt des Hotels, als eine glänzende Equipage in schneller Fahrt vorfuhr. Der vermeintliche junge Mann dreht sich um und zeigt den beiden Damen, die aus dem Wagen stiegen, eines der interessantesten Gesichter: seine schönen blonden Haare, die er im Schiff geflochten hatte, wurden auf dem Kopf durch einen Kamm festgehalten und hingen in welligen Zöpfen auf die eine Schulter herab, sein natürlich sanfter Blick war schmachtend, der Gesamtanblick seiner Person war ganz dazu angetan, der tugendhaftesten der Frauen, einer Alkeste, einer Artemisia oder einer de Ch*** den Kopf zu verdrehen. Eine der Damen, die ältere, sagte zu der jüngeren und schönen:

»Da haben sie ja, was sie brauchen, Marquise, wenn der junge Bursche eine Stelle sucht, sein Gesicht gefällt mir.«

Die junge Dame sieht ihn nachlässig an und meint: »Er ist zu jung.«

»Er wird älter werden … Sagen sie, mein Freund, suchen sie eine Stelle? …«

»Ach, Madame.«

»Dann engagiere ich Sie für die Marquise von M*** hier.«

»Haben sie jemanden, der für sie bürgt, mein Bester?« fragte darauf die junge Marquise.

»Ich werde ihm als Bürgin dienen,« sagte darauf die erste Dame.

»Aber, liebe Freundin, das ist doch unklug …«

»Madame,« bemerkte des Troches, »ich treffe gerade im Augenblick aus der Provinz ein.«

»In diesem Augenblick?« rief da die erste Dame, »dann hast du also Paris noch gar nicht gesehen?«

»Nein, Madame.«

»Den müssen sie nehmen, Marquise, Sonst behalte ich selbst ihn … Verständigen wir uns. Sie brauchen sofort einen Lakai, nehmen sie ihn. Wenn er Ihnen in einigen Tagen nicht mehr passen sollte, dann werde ich Sie von ihm befreien und ihn zu mir nehmen. Aber nehmen sie ihn nur sofort mit …«

Die junge Marquise wußte keinen Einwand mehr zu machen. Sie gab Des Troches ein Zeichen, hinten aufzusteigen. Er tat so, wurde von den anderen Dienern begrüßt, und die Equipage kehrte ins Hotel der Marquise zurück.

Am selben Abend noch wurde Des Troches unter dem Namen Champagne dem Dienst der schönen Marquise zugewiesen, die an ihm ebensoviel Gefallen gefunden hatte, wie ihre Freundin. Sie sollte nicht enttäuscht werden: nie hatte es einen eifrigeren Diener gegeben. Des Troches erriet jeden ihrer Wünsche, verstand jede Bewegung, jeden Blick, jeden Ausdruck ihrer Züge. Hatte der falsche Champagne sie gleich anfangs für sich einzunehmen gewußt, so wurde er nach Verlauf von acht Tagen geradezu von ihr geliebt. Sie konnte nur noch ihn als Diener um sich haben, und er mußte sogar die Kammerzofe vertreten.

Doch das war noch nicht alles. Seine Unterhaltung fesselte die junge Marquise, denn der neue Lakai hatte so gar nichts von den rohen Sitten und der groben Ausdrucksweise seiner Kameraden an sich. Seine Worte waren anständig, gewählt, und nie entfuhr ihm etwas, das nicht aus dem Munde eines besterzogenen jungen Mädchens hätte kommen können.

Nach acht Tagen machte die Vicomtesse von ***, eben die Dame, welche die Marquise begleitet hatte, als sie Champagne in ihren Dienst nahm, ihrer Freundin einen Besuch. Ihr erstes Wort war:

»Und mein Schützling?«

»Nun,« antwortete die Marquise ziemlich unbefangen, »ich bin mit ihm zufrieden …« Und ohne ihrer Freundin zu weiteren Fragen Zeit zu lassen, erzählte sie ausführlich über ihn.

»Sie sehen, daß ich recht hatte. Dieser Bursche hat ein Gesicht, das für ihn spricht, Sie behalten ihn also?«

»Gewiß. Er gefällt hier jedermann. Zephirette, mein Kammermädchen, scheint sich in ihn verschossen zu haben.« (Zephirette war eine hübsche Brünette, und ihre Herrin vermutete richtig. Vor die Wahl gestellt, auf Champagne eifersüchtig zu sein oder ihn zu lieben, hatte sie das letztere, als das natürliche und angenehmere gewählt.)

»Ich freue mich ungemein, daß dem so ist,« sagte die Vicomtesse, »kann ich ihn sehen?«

Die Marquise läutete, und Champagne erschien.

Er wurde rot vor freudiger Überraschung, als er seine Beschützerin erblickte, und machte ihr in seiner ersten Erregung eine halb männliche, halb weibliche Verbeugung, worüber die Damen herzlich lachten. Die Feinheit seiner Züge, sein weißer, rosiger Teint, die Zartheit seiner Haut, alles das frappierte die Vicomtesse. Sie vergaß sich einen Augenblick, ergriff die kleine, fleischige Hand des falschen Champagne und sagte zu ihm: »Deine Herrin ist mit dir zufrieden, und ich bin froh darüber, habe ich doch für dich gebürgt. Fahre so fort, und es wird dein Schade nicht sein … Guter Gott, was für ein Teint!«

»Der kommt davon, daß er errötet ist.«

»Ich liebe so viel ehrsame Schüchternheit!«

Champagne küßte in lebhafter Erregung unüberlegterweise der Vicomtesse die Hand. Die Dame zog bewegt ihre Hand zurück und sagte zur Marquise:

»Entlassen sie ihn, denn offenbar ist der arme Bursche nicht für den Stand geboren, in dem er sich Augenblicklich befindet.«

»Oh, Madame!« bemerkte Champagne darauf, indem er sich zurückzog, »ich bin weit entfernt davon, mich über mein Geschick der gnädigen Frau zu beklagen, besonders seitdem ich das Glück hatte, Ihnen zu gefallen und in den Dienst zu treten.«

Als er hinaus war, äußerte die Vicomtesse:

»Wahrhaftig, der Bursche interessiert mich. Wenn wir ihn nicht zufällig im Dienstbotenvermittlungsbureau angetroffen hätten, würde ich glauben, er wäre bei Ihnen aus – Liebe eingetreten.«

»Welcher Gedanke! Sie sind manchmal wirklich ein wenig zu romantisch!«

»Das Romantische ist oft natürlicher, als man denkt. Und so plauderten die Damen noch lange weiter über Champagne.

Wenn dieser auch nichts von der Eifersucht der liebenswürdigsten aller Zofen zu befürchten hatte, so mußte er im Gegenteil mit dem Neide einer häßlichen, dicken Dienerin und der Diener rechnen, deren Livree auch er trug, deren Geschlecht er aber nicht angehörte. Ein Lakai besonders, der bisher das Vorrecht hatte, der Marquise Gebetbuch und Fußkissen zu tragen, wenn sie in die Kirche ging, war wütend darüber, sein schönes Recht an Champagne übertragen zu sehen, während er die Schleppe tragen mußte. Das war ihm zwar an sich nicht unangenehm, denn es war den Leuten der schönen Marquise stets ein Vergnügen, ihr zu dienen und den Saum ihres Kleides zu berühren, und ein Fürst würde ihn darum beneidet haben, wenn ein solcher dieses Recht als ihr Geliebter bewilligt erhalten hätte, aber Briasson wurde von Eifersucht verzehrt. Diese trat zwar nicht offen zutage, aber sie gärte in seinem Herzen. Als er ihrer nicht mehr Herr ward, eröffnete er sich der häßlichen, dicken Kammerfrau. Wie zwei Bergströme, durch ein Gewitter hochangeschwollen, bei ihrem Zusammenfließen an Gewalt und Wut wachsen, so schwollen die Eifersuchtsgefühle des Lakaien und der Kammerfrau, indem sie sich vereinigten, an Heftigkeit. Sie teilten sich gegenseitig ihren Kummer mit, sie stachelten sich zur Rache an und faßten endlich den Entschluß, Champagne bei ihrem Herren unmöglich zu machen, ohne aber ihrer Herrin zu schaden. Indem sie sich diese Beschränkung auferlegten, hielten Sie den Plan für unschuldig. Sie beobachteten nun genau alles, was Champagne tat und führten über alle seine Schritte und über das, was sie seine Unverschämtheiten nannten, genau Buch. Hier einige Proben davon.

Heute, am 2. August, hat der Laffe (das ist Champagne) Madame geschnürt, die weiter nicht darauf achtete, da sie zuerst Zephirette und dann mich, Barbe, gerufen hatte. Er tat es in einer Art und Weise und mit einer Miene, die Ohrfeigen verdient hätten, aber Madame merkte nichts davon.

3. August. Der Schlingel hatte Madame die Schuhe angezogen. Madame klagte, daß die Schnalle sie drückte und rief nach Zephirette, um dem Frechen ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Da warf der Geck sich auf die Knie, ergriff Madames Fuß und legte die Schnalle etwas besser zurecht.

4. August. Der Laffe hat Madame gekämmt, obwohl sie mehrmals nach Zephirette und Barbe rief. Aber der Bengel wußte sie so sanft zu kämmen, daß sie ihn gewähren ließ.

3. August. Ich wage beinahe nicht zu sagen, was ich heute sah: der Lümmel nahm aus der Hand von Madame ihren Fächer und ihre Handschuhe entgegen: er führte diese Gegenstände dann an den Mund, ohne daß Madame es sah.

6. August. Immer frecher werdend, stieß er heute Zephirette beiseite, um Madame, die aus der Oper kam, die Schuhe auszuziehen.

7. August. Der Unverschämte blieb heute länger als eine halbe Stunde im Zimmer von Madame und plauderte mit ihr ungeniert und lachenden Mundes, obwohl Madame von Zeit zu Zeit eine sehr ernste Miene annahm. Endlich war sie genötigt, ihn ziemlich kurz angebunden wegzuschicken. Usw. usw.

Das genügt wohl, um eine Idee von diesem Tagebuche zu geben. Im Grunde war alles richtig, was darin geschildert wurde, aber die beiden Eifersüchtigen verschwiegen dabei, daß Champagne, der stets schüchtern und ehrerbietig blieb, nichts tat, wenn er nicht dazu durch einen Blick seiner schönen Herrin ermutigt wurde, die seine Dienste wegen seiner Geschicklichkeit, seines Eifers und seiner leichten Hand vorzog.

Bevor ich weiter von den Folgen dieser Angeberei für Champagne spreche, möchte ich ein Wort von der Stimmung der Marquise gegen ihn sagen. Er hatte in der Tat Eindruck auf sie gemacht. Aber ihr Gefühl für ihn war durchaus ehrenwert, es war weniger Liebe als Freundschaft, allerdings eine sehr lebhafte. Sie wurde in ihren Gefühlen noch durch die Vicomtesse unterstützt, die Champagne mehr physisch zu lieben schien und sich um so weniger Zwang antat, als er nicht ihr Diener war. Eine Frau aber, die von einer anderen ermutigt wird, geht in der Regel immer weiter, als sie allein gehen würde, und bald glaubte die Marquise, für Champagne wirklich Liebe zu empfinden. Sie war darüber bestürzt, und ihr Stolz ließ sie grausame Augenblicke durchmachen. Schließlich beruhigte sie aber allmählig wieder die ehrenhafte, anständige Haltung Champagnes, der nie weiter ging, als sein Dienst es mit sich brachte, und sie nahm sich vor, ihn heimlich zu lieben, ihm Gutes zu erweisen und dabei stets tugendhaft zu bleiben. Um sich in ihrem Vorsatz zu bestärken und sich für ihre Schwäche zu bestrafen, entschloß sie sich, die Neigung Zephirettes für Champagne zu begünstigen und bisweilen Zeuge des Austausches ihrer Zärtlichkeiten zu sein.

Wer die schöne Marquise von M*** kennt, wird daher nichts Unwahrscheinliches dabei finden.

Zephirette, die keinen Grund hatte, ihre Liebe zu verheimlichen, tat ihrer Leidenschaft für Champagne keinen Zwang an und gab sich ihr schrankenlos hin. Als daher eines Tages der junge Mann ihr Entgegenkommen in zärtlicher Weise erwiderte – er wußte, wer er war, und war gerührt von der Zuneigung Zephirettes – faßte das junge Mädchen einen sonderbaren Entschluß, von dem die Marquise durch einen Zufall Kenntnis erhielt. Während alles dieses vor sich ging, hatten die beiden Eifersüchtigen ihr Komplott angezettelt.

Der Lakai sprach eines Tages seinen Herrn an und bat ihn um eine Audienz. Er gab dem Marquis das Tagebuch zu lesen, fügte einige weitere Beobachtungen hinzu und bat um die Erlaubnis, Barbe herbeizurufen. Der Marquis stimmte zu. Die Kammerfrau war noch beredter, als der Lakai, denn Verleumdung scheint besonders für den Frauenmund geschaffen zu sein. Herr von M*** war beunruhigt, wenn er auch nicht an die Schuld der jungen Marquise glaubte, doch aber annahm, daß sie in ihrer Güte zu weit gegangen sei, und daß es daher unstatthaft sei, eine junge Frau von neunzehn Jahren fernerhin solcher Versuchung auszusetzen. Um sie aber nicht zu peinigen und mit Verdächtigungen zu behelligen, die sie erniedrigt haben würden, beschloß er, Champagne verschwinden zu lassen, ohne daß jemand vermuten könnte, daß er seine Hand dabei im Spiel gehabt hätte. Er behielt daher seine Gefühle für sich und entließ die beiden Diener mit dem strengen Verbot, ihre Beobachtungen fortzusetzen und mit irgend jemandem darüber zu sprechen. Die beiden Intriganten wurden so für ihre Bosheit bestraft, denn selbst wenn sie ihren Zweck erreichten, so würden sie doch nichts davon erfahren haben.

Da jedoch der Marquis nichts dem Zufall überlassen wollte, nachdem er einmal beschlossen hatte, Champagne zu entfernen, wenn er unschuldig wäre, ihn aber schwer zu bestrafen, wenn er verbrecherische Absichten gehabt hätte, so prüfte er eingehend das Betragen des jungen Burschen. Er sah, daß nur allzuviel Gründe vorlagen, um die Wahrheit der Berichte der beiden Diener anerkennen zu müssen. Er glaubte sogar zu bemerken, daß sie seine Gemahlin geschont hatten, denn er sah mit eignen Augen, mit welchem Vergnügen die Marquise die Dienste Champagnes entgegennahm, und mit welcher Freude dieser sie leistete. Das machte ihn zornig und führte den Augenblick der Rache schneller herbei. Er setzte dafür den Abend desselben Tages an, an dem Zephirette einen sehr kühnen ihrer Liebe entsprossenen Plan ausführen wollte, den die Marquise in einem gewissen Eifersuchtsgefühl aus den von ihrer Zofe getroffenen Vorbereitungen durchschaut hatte, und den sie vereiteln wollte.

Es geschah, daß am gleichen Tage die Vicomtesse der Marquise einen Besuch machte. Mehr und mehr in ihren Schützling verliebt, wollte sie sich seiner Gegenwart erfreuen, und so kam es, daß die beiden mehr als zwei Stunden mit ihm beisammenblieben. Man plauderte, sprach auch von den Ehemännern, die auf ihre Diener eifersüchtig seien und führte einige Beispiele an, die junge Marquise konnte einen Seufzer nicht zurückhalten, den ihre Freundin bemerkte. Die Vicomtesse tat aber, als ob sie es nicht bemerkt hätte. Ihr waren einige Äußerungen des Marquis zu Ohren gekommen, und sie hatte das Gespräch mit Absicht auf dieses Thema gelenkt, um ihre Freundin, ohne sie zu fragen, zum Sprechen zu bringen. Champagne in seiner Unschuld konnte die Unterhaltung nicht auf sich beziehen. Ich habe vergessen, anzuführen, daß Champagne sehr fromm war, dies muß man aber wissen, seine Frömmigkeit war lebhaft und innig, man sah, daß sie von Herzen kam. Bei Erwähnung eines der Beispiele äußerte er:

»Ich glaube, meine Damen, daß man, solange man Gottesfurcht in sich trägt, nichts anderes zu fürchten hat. Wenn jene Leute sich der Vorsehung anvertraut hätten, so würde diese ihre Tugend ans Licht gebracht haben.«

Die Vicomtesse – ein wenig Freigeist – lächelte über solchen frommen Glauben, aber Champagne erschien ihr deswegen noch liebenswerter. Seine Leichtgläubigkeit sprach für seine Unschuld und Naivität, und das war ein Reiz mehr.

»Wenn sie es mir gestatten, meine Damen,« fuhr Champagne fort, als er die Vicomtesse lächeln sah, »so will ich Ihnen ein Beispiel zitieren, das meine Behauptung bekräftigen wird.«

»Gern,« bemerkte die Vicomtesse darauf, »ich höre Sie mit Vergnügen sprechen.«

»Zu der Zeit, als mein Vater in der Bretagne im Dienste des … seines Herrn war (bald hätte er gesagt »des Königs«), war er Zeuge folgenden Vorkommnisses. Ein gottesfürchtiger Diener diente mit Eifer der Gräfin von K***, deren Gatte sehr reich war und in der Umgegend von Vannes oder Quimper ein Hüttenwerk besaß. Der treue Diener, der in seiner Herrschaft den lieben Gott selbst sah, wie sich der heilige Paulus ausdrückt, war stets rege in seinem Dienst: er würde den Grafen so gut bedient haben, wie die Gräfin, aber er gehörte letzterer an. Seine Aufmerksamkeit war so groß, daß er jeden ihrer Wünsche zu erraten schien. Wenn sie ihm etwas befahl, war seine Antwort meistens: »Ist bereits geschehen, Madame.« Die Gräfin war aufs höchste verwundert über seinen Eifer, und wenn eine ihrer Freundinnen sie besuchte, so geizte sie nicht mit dem Lobe Champagnes (so hieß auch er). Dabei war er ein schöner Bursche, den man stets sehen wollte, wenn seine Herrin sein Lob gesungen hatte. Er kam, antwortete auf die Fragen und betrug sich mit solcher Bescheidenheit, daß jeder der Gräfin zu einem solchen Diener Glück wünschte.

»Einer von Champagnes Kameraden, namens Pinson, war Zeuge dieser Lobsprüche gewesen und wurde darüber so eifersüchtig, daß er sein Verderben beschloß und ihn bei seinem Herrn anschwärzte. Er beschuldigte ihn, die Gräfin zu lieben, die aber davon nichts wisse und lieferte dem Grafen solche Beweise, daß dieser ihm glaubte. Indessen wollte er sich mit eignen Augen von der Wahrheit überzeugen. Aber wie behext von dem boshaften Lakeien, sah er überall nur das Böse. Da der Graf das Leben eines elenden Lakeien nicht groß achtete, dessen Verbrechen ihm so schwer erschien, so suchte er einen Knecht seines Hüttenwerkes auf und sagte zu ihm: »Höre, wirf den ersten, den ich mit der Anfrage zu dir schicke, ob du getan hast, was ich dir befahl, in den Ofen.« Diese Art Leute in der Hütte sind Halbwilde und sehr grausam. Der Knecht war daher auch ganz erfreut über seinen Auftrag und aus Besorgnis, ihn nicht gut auszufüllen, gesellte er sich noch einen Kameraden bei, der ebenso bösartig war wie er. Am anderen Morgen ließ der Graf Champagne durch dessen Feind Pinson rufen und befahl ihm: »Gehe in die Hütte und frage den Knecht am Ofen, ob er getan hat, was ich ihm befahl.« Champagne erwiderte: »Ja, Herr Graf,« und ging sofort, den Befehl auszuführen. Aber beim Weggehen kam ihm der Gedanke, ob nicht vielleicht die Gräfin auch einen Auftrag für ihn habe. Er ging also zu ihr und sagte: »Ich soll auf Befehl des Herrn in die Hütte gehen. Da ich im Dienste der Frau Gräfin stehe, wollte ich fragen, ob Frau Gräfin mir nichts aufzutragen hat?»Nichts, Champagne. Doch solltest du unterwegs zufällig die Messe läuten hören, so gehe du für mich wie für dich beten, da ich selbst heute etwas unpäßlich bin und nicht ausgehen kann.« Champagne freute sich über diesen Befehl, der auch zugleich seinen Wunsch erfüllte. Ohne ihn würde er nicht gewagt haben, sich bei der Ausführung eines Befehles seines Herren unterwegs aufzuhalten. Als er am Ende des Dorfes angelangt war, hörte er die Messe läuten. Es war Sommer, und da niemand außer einigen siechen Greisen zugegen war, der den Priester beim Lesen der Messe hätte bedienen können, so erbot er sich dazu, stellte die Meßkännchen bereit, reinigte den Hochaltar und sang, als der Priester seines Amtes waltete, die Responserien. Die Messe dauerte wohl drei Viertelstunden. Darauf brachte er alles wieder in Ordnung, wie ein richtiger Meßdiener es getan haben würde, und eilte dann zum Hüttenwerk, indem er unterwegs aus seinem Brevier für seine Herrin, seinem Herrn und sich selbst Gebete hersagte. Beim Ofen angelangt, fragte er den Knecht:

»Hast du getan, was mein Herr, der Graf, dir befahl?«

»Gewiß, es ist schon eine geraume Zeit her!« entgegnete dieser grinsend, »es ist keine Spur mehr von ihm da, so wenig, als ob er nie existiert hätte.« Champagne kehrte eilends zu seinem Herrn zurück. Aber als dieser ihn bemerkte, wurde er von Bestürzung und Zorn erfaßt und fuhr ihn an:

»Woher kommst du, Elender?«

»Vom Hüttenwerk, Herr Graf.«

»Dann hast du dich also unterwegs aufgehalten?«

»Nur um den Befehl der Frau Gräfin auszuführen, unterwegs die Messe zu hören und für sie zu beten. Das habe ich getan und auch für sie gebetet. Ich dachte nicht, daß der Auftrag des Herren Grafen so eilig sei.«

Bei diesen Worten fiel der Graf in tiefes Nachdenken. Dann fragte er Champagne nach der Antwort, die man ihm erteilt habe, und er erkannte aus ihr die Tatsache, daß der Angeber, den er aus Ungeduld ebenfalls nach dem Ofen geschickt hatte, um zu erfahren, ob Champagne sich eingestellt habe, als erster dort eingetroffen und in das geschmolzene Eisen geworfen worden sei. Er konnte sich nicht erwehren, in dem, was geschehen war, die göttliche Vorsehung zu erkennen. Er ging zur Gräfin und sagte ihr, auf Champagne deutend:

»Habe Vertrauen zu diesem treuen Diener. Ich habe heute erkannt, daß Gott ihn liebt.«

Und von diesem Tage an erhielt Champagne die Verwaltung des ganzen Hauses, der er stets mit Redlichkeit vorstand.

»Diese Geschichte, meine Damen, habe ich meinen Vater oft erzählen hören.«

Die Vicomtesse sah darauf die Marquise an und äußerte:

»Champagne hat eine Art zu erzählen, die ein wenig nach dem vorigen Jahrhundert schmeckt, nicht wahr, liebe Freundin?«

»In der Tat!« erwiderte die Marquise, »man glaubt ein Märchen zu hören, aber mir gefällt so etwas.«

»Gibt es in Ihrem Hause nichts Neues, Marquise?« fragte darauf die Vicomtesse.

»Nichts, liebe Freundin.«

»Nun, ich glaube, Sie werden mir Champagne bald abtreten müssen. Ich weiß aus guter Quelle, daß Ihr Gemahl sich über seinen Übereifer in Ihrem Dienste ärgert.«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Gar nichts?«

»Nicht das geringste.«

»Dann wird man sich getäuscht haben.«

Während dieses kleinen Zwiegesprächs hatte Champagne leise gelächelt. Man entließ ihn, und als die Damen allein waren, erzählte die Vicomtesse bis ins einzelne, was sie erfahren hatte. Die Marquise verbarg ihre Unruhe, indem sie von Zephirettes Abenteuer sprach, die sie am Abend überraschen wolle, sie wolle sie aber nicht bestrafen, sondern nur zur Vernunft bringen. Die Freundin stimmte ihr bei, darauf trennten sie sich bis auf Wiedersehen am folgenden Tage.

So kam endlich diese Nacht heran, in der drei Personen so verschiedene Pläne ausführen wollten, die sich alle auf Champagne bezogen, der selbst ganz ruhig und in Unkenntnis des Guten und des Bösen war. Um Mitternacht hielt der Marquis auf dem Hofe seines Hotels einen Postwagen bereit, der den Ärmsten nach dem nächsten Hafen bringen sollte, um ihn dort nach Westindien einzuschiffen. Er rechnete darauf, ihn los zu werden, bevor er zu Bett ginge. Am nächsten Tage wollte er dann seiner Frau erzählen, es sei ihm ein Unfall zugestoßen, der ihm das Leben gekostet habe. Zephirette erwartete ungeduldig den Augenblick, wo ihre Herrin ihren Dienst nicht mehr nötig haben würde, um ihren Angebeteten in seinem Zimmer aufzusuchen und mit ihm glücklich zu sein, und die Marquise beeilte sich, Zephirette zu entlassen, indem sie Schlaf heuchelte, um sie überraschen zu können. Alles dieses wurde im nämlichen Augenblick ausgeführt.

Der falsche Champagne, der nicht wußte, ob seine Herrin ihn noch nötig haben würde, hatte sich angezogen auf sein Bett geworfen. Seine Kammer befand sich im Zwischenstock, ganz in der Nähe der Wohnung der Marquise. Da es heiß war, hatte er den Überrock aufgeknöpft, die Arme dienten ihm als Kopfkissen, seine Kleidung war in großer Unordnung, und durch das offene Hemd hätte man seine Alabasterbrust mit zwei schwellenden Kugeln sehen können. In diesem Augenblick betrat der Marquis, gefolgt von zwei seiner stärksten Lakeien, mit einer Blendlaterne und einem Knebel in der Hand, die Kammer. Er richtet das Licht auf Champagne und sieht

… Bei diesem Anblick, der auch einen Tiger hätte besänftigen können, gibt er den Lakeien ein Zeichen, sich zurückzuziehen und nähert sich dem Phänomen, um es in Muße zu betrachten: es ist ein Mädchen!

Er geht auf die andere Seite des Bettes zwischen Bett und Wand und vielleicht würde er mit indiskreter Hand den Schleier weiter gehoben haben, wenn er nicht den leisen Schritt einer Frau vernommen hätte. Der Marquis blendete das Licht seiner Lampe und versteckte sich. Eine Gestalt nähert sich, ein Licht in der Hand: es ist Zephirette. Sie bläst das Licht aus und nähert sich dem Geliebten. Sie neigt sich über ihn, ihn zu küssen. Champagne wacht auf und fragt:

»Wer ist da? Wer sind Sie?«

»Mein kleiner Champagne, ich bin es, Zephirette, die Sie liebt und nicht ohne Sie leben kann.«

»Ah! Sie sind’s, meine liebe Zephirette! Sie lieben mich! Nun, auch ich liebe Sie von ganzem Herzen.«

»Oh! Champagne! Wie sehr muß ich manchmal unter meiner Eifersucht leiden! Denn ich habe es wohl bemerkt, daß auch Madame Sie liebt, und daß Sie schließlich nicht umhin können werden, als sie anzubeten.«

»Ja, meine kleine Zephirette, ich bete sie an, aber dieses Gefühl hat mit meiner Liebe für sie nichts zu schaffen …«

In diesem Augenblick ließ ein leichtes Geräusch sich vernehmen, und zugleich erhellte sich die Kammer. Es war die Marquise, die im Nachtgewand, einen Leuchter in der Hand, ins Zimmer trat.

»Was machen sie hier, Zephirette?«

»Madame …« (sie wirft sich der Marquise zu Füßen), Verzeihung! … wenn Madame wüßte …«

»Und Sie, Champagne?«

»Er weiß nichts von diesem Rendezvous, Madame.«

»Sprechen sie selbst, Champagne.«

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Madame, mein Schicksal liegt in Ihrer Hand. Ich bin nicht schuldig,… Zephirette ebensowenig …, vergeben sie uns, unsere Herzen schlagen nur für Sie! Wenn Sie mich kennen würden, müßten Sie die Gewißheit erlangen, daß wir nicht schuldig sind.«

»Gehen Sie sich hinaus, Zephirette. Aber ich will Ihnen zum Trost sagen, daß ich nachsichtig sein werde. Was mit Ihnen wird, Champagne, wollen wir morgen sehen.« Zephirette folgte schleunigst dem Befehl, und die Marquise war einen Augenblick mit Champagne allein.

»Ich beschwöre Sie, Madame, hegen Sie keinen Verdacht gegen mich«, bat Champagne sie »und seien Sie davon überzeugt, daß mir nichts leichter sein würde, als mich zu rechtfertigen, doch bitte ich Sie, mir zuzugestehen, es in Gegenwart der Frau Vicomtesse tun zu dürfen.«

Die Marquise antwortete nicht und zog sich zurück.

Sobald sie fort war, erhob sich der falsche Champagne, zündete eine Kerze an und hing seinen Gedanken nach, bisweilen ganz laut:

»Was hat dies alles zu bedeuten? Zephirette … die Marquise … Wenn ich die Gunst der Marquise verlöre, wäre ich ja untröstlich für mein Leben … Wie unglücklich bin ich doch! … Soll ich ihnen mein Geheimnis, mein Geschlecht und meine Geburt offenbaren? … Ja, es muß sein, denn sonst würde die Marquise mich im Verdacht und von Zephirette eine schlechte Meinung haben! … Soll ich mich nur ihr allein anvertrauen? … oder wäre es nicht doch besser, wenn die Frau Vicomtesse, die mich gern hat, von mir auch diesen Beweis von Vertrauen empfinge?«

Nachdem Champagne noch lange mit sich zu Rate gegangen war, entkleidete er sich und bot dem Marquis den Anblick des schönsten Mädchens dar …

Dann legte sie sich zu Bett. Als ihr Herr glaubte, sie sei eingeschlafen, wollte er sich entfernen. Dabei stieß er an etwas an, die junge Des Troches fuhr erschrocken empor und rief:

»Wer ist da?«

Man antwortete ihr nicht, die Tür wurde geöffnet, und es gelang dem Marquis, unerkannt hinauszukommen.

Er gab sogleich Befehl, den Wagen wieder in die Remise zu bringen.

Des anderen Tages war Herr de M*** in ganz ungewöhnlich guter Laune, so daß es jedermann auffiel. Er machte seiner Frau den Hof und war der erste, Champagne zu befehlen, der Marquise die intimsten Dienste zu leisten. War dies Ironie? Die junge Frau war in höchster Verlegenheit. Indessen war ihr Gemahl so heiter und freundlich, sogar so zärtlich zu ihr, daß sie sich beruhigte.

Gegen drei Uhr führte die Neugier die Vicomtesse herbei. Die Marquise erzählte ihr alles, was sie getan hatte. Man wollte speisen, aber die Damen waren so gespannt auf Champagnes Rechtfertigung, daß sie diese noch vor Tisch hören wollten. Man ließ ihn kommen. Seine Herrin befahl ihm, sich zu erklären.

»Ich muß gehorchen, Madame, aber darf ich auf Ihre Verzeihung rechnen?« fragte Champagne.

»Ja«, erwiderte die Vicomtesse, »wenn du aufrichtig bist.«

»Ich bin ein Mädchen … (dieses Wort traf die Damen wie ein Blitz und machte sie unbeweglich wie Bildsäulen) … ein Mädchen aus guter Familie. Man wollte mich zu einer Heirat mit einem gewissen Baron zwingen, der noch ein halbes Kind und gar kein Edelmann ist, sondern der Sohn eines Gauners. Ich hätte den Tod gesucht, habe aber jedenfalls lieber das angenehme Geschick vorgezogen, das sie mir bereitet haben, Madame.«

Bei den letzten Worten warf die Vicomtesse sich in die Arme des falschen Champagne und sagte:

»Sie wissen nicht, liebes Fräulein, welche Last Sie mir vom Herzen wälzen! … Und wie ist Ihr Name?«

»Armida Judith Victoria des Troches.«

»Ah! Ich kenne die Familie Des Troches! Umarme Sie doch, liebe Freundin… . Aber was sollen wir nun anfangen?«

»Ich bitte Sie nur um eine Gnade, meine Damen: lassen sie mich in meiner Verkleidung. Denn mein Vater ist schrecklich, ihm liegt diese Heirat am Herzen, und wenn er erfährt, wo ich stecke, dann bin ich verloren.«

»Ja«, meinte die Vicomtesse, »das ist für einige Zeit noch wohl das beste … wenigstens bis wir darüber beraten und beschlossen haben, welche Schritte bei Ihrem Türken von Vater zu tun sind.«

Die Schöne Marquise war der gleichen Ansicht. Sie behandelte den falschen Champagne von da ab mit Achtung. Nur in bezug auf ihren Gatten machte sie einen Einwand, woraus die Vicomtesse antwortete:

»Gerade über seine Eifersucht werden wir uns amüsieren! Wir müssen ihn rasend machen! …«

Wir wollen hier nicht alle Pläne anführen, die die gute Seele ausheckte. Es genügt, zu erwähnen, daß die Damen das tiefste Stillschweigen über das Geschlecht und die Abenteuer Armidas – so nannte die Marquise sie von nun an, wenn sie allein waren – gelobten. Selbst Zephirette wurde nicht ins Vertrauen gezogen.

Der Marquis, der ja alles wußte, amüsierte sich köstlich über das Versteckensspielen seiner Frau … Bisweilen tat er so, als ob er sich darüber ärgere, daß Champagne fast den ganzen Tag bei ihr sei. Da er sich für den alleinigen Besitzer des Geheimnisses hielt, so dachte er: wenn solche Art von Liebe die Marquise noch etwa fünfzehn Jahre lang gefangen hielte, würde er nichts mehr von dem schlechten Einfluß der Hauptstadt auf sie zu befürchten haben. »Wie glücklich bin ich, sagte er bisweilen zu sich, »daß der Flüchtling in mein Haus kam, und daß die Närrin, die Vicomtesse, die ich eigentlich ein wenig fürchtete, meine Frau überredete, ihn in ihren Dienst zu nehmen …«

Leider besteht der schwache Sterbliche aus lauter Widersprüchen. Dieser Marquis, der gleich bereit war, den vermeintlichen Liebhaber seiner Frau auf die Antillen zu schaffen, der, solange er Armida noch für einen Mann hielt, es für sehr unangebracht gehalten hätte, wenn ihr rosiger Teint, ihre lilienfarbene, seidenweiche Haut, ihre feine Taille und die eleganten Linien ihres Wuchses Eindruck auf seine Frau gemacht hätten – er selber konnte sich nicht versagen, das alles bezaubernd zu finden, nachdem er erkannt hatte, daß diese Reize einem jungen Mädchen gehörten. Er spionierte jede Gelegenheit aus, sie allein zu überraschen. Er bezeigte ihr Vertrauen und freundschaftliche Gefühle und ging oft in seiner Vertraulichkeit so weit, mit seinem kleinen Lakeien zu scherzen und ihm komischerweise Vorwürfe darüber zu machen, daß er den Grausamen spiele. Champagne erstattete der Marquise und der Vicomtesse von dieser Haltung des Marquis Bericht, und die Damen amüsierten sich köstlich darüber, sie bewunderten vor allem, wie doch der Instinkt der Natur den Marquis zu diesem reizenden Wesen hinführte!

Um sich noch mehr über ihn lustig zu machen, kamen sie auf den Gedanken, Champagne im Fasching in die richtigen Kleider seines Geschlechts zu stecken. Einige Tage vorher mußte er sich krank stellen, und die Vicomtesse verlangte, daß er in ihrem Hause gepflegt würde, wohin er auch gebracht wurde. Am Montagabend war große Gesellschaft beim Marquis von ***. Die Vicomtesse war ebenfalls eingeladen. Sie erschien in Begleitung eines reizenden jungen Mädchens, das sie als eine Verwandte ihres Mannes vorstellte, die frisch aus der Provinz käme. Es ist unmöglich, die Anmut Armidas in ihrem eleganten Kostüm neuster Erfindung zu beschreiben. Die Tugendbolde sehen diese polnischen, oder cirkassischen Kostüme nicht gern, und doch kann man dreist behaupten, daß sie das Vernünftigste und Schönste sind, was französische Frauen sich ausdenken konnten. Doch ich will hier nicht darüber diskutieren. Es wäre besser, über diese Frage ein Spezialwerk zu schreiben, das den Titel führen könnte: Über die hohe Weisheit, den ausgezeichneten Geschmack und den überlegenen Verstand der Damen des letzten Viertels des achtzehnten Jahrhunderts in der wunderbaren Erfindung von Kostümen, die die Anmut ihres Wuchses hervortreten lassen und ihnen das Aussehen von wandernden Bienenstöcken nehmen usw.

Armida hatte die schönste Figur unter den schönsten jungen Mädchen: nach unten zu war sie schlank gebaut, nach oben breit, besonders anmutig traten bei ihr unterhalb des Rückens zwei mollige, appetitliche, runde Polsterchen von herrlichster Form hervor.

Die ganze Gesellschaft beglückwünschte die Vicomtesse wegen ihrer Verwandten und hatte nur ein Wort des Lobes für die bescheidene Lieblichkeit des jungen Mädchens, besonders die Marquise, von der man glaubte, daß es ihr ebenfalls unbekannt sei. Der Marquis brauchte nicht lange, um den falschen Champagne zu erkennen, und bei diesem Anblick gingen seine etwas freien Gelüste in wahre Liebe über. Er machte dem schönen Mädchen aus der Provinz in galantester Weise den Hof, er sah und bewunderte nur sie. Die beiden Damen wußten nicht, hatte er sie erkannt oder nicht. Aus seiner ehrerbietigen Haltung ihr gegenüber glaubten sie letzteres schließen zu müssen, Schließlich jedoch mußten sie sich sagen, daß er sie wohl erkannt habe, und nun mußten sie noch zu erfahren suchen, ob er sie tatsächlich für ein Mädchen hielt.

Sie ließen zu diesem Behufe gleich am anderen Morgen Champagne wieder zum Dienst antreten, aber der Marquis war ebenso schlau, wie die Damen, und kümmerte sich nicht im geringsten um ihn. Diese Haltung gab ihnen ihre Sicherheit wieder und beruhigte sie. Es bereitete ihnen vielen Spaß und sie freuten sich innerlich jedes Mal, wenn der Marquis den Wunsch ausdrückte, der schönen Verwandten der Vicomtesse seinen Besuch machen zu dürfen. Als er eines Tages ganz besonders darauf drängte, erwiderte man ihm, daß das Mädchen im Kloster sei.

Die Damen hatten indessen nicht eine andere Unannehmlichkeit voraussehen können, die sie jetzt durchzumachen hatten, und die viel gefährlichere Folgen haben konnte: die Vicomtesse hatte nämlich einen Sohn, der achtzehn Jahre alt war, und an dem Souper teilgenommen hatte, bei dem Armida erschienen war. Der junge Mann, der nicht in das Geheimnis eingeweiht war, hatte Geschmack an ihr gefunden und quälte seine Mutter beständig mit der Bitte, seine Cousine besuchen zu dürfen. Man gab ihm lächelnd ausweichende Antworten. Dieses sonderbare Verhalten stachelte die Neugier des jungen Mannes an. Er bemerkte wohl, daß man seine vermeintliche Verwandte vor ihm verstecken wollte, und beschloß, in Zukunft in seinem Zimmer auf der Lauer zu liegen, um jedem Besucher aufzupassen. Er mußte lange warten, aber zu Mittfasten sollte sein Wunsch erfüllt werden. Für diesen Tag hatten die Damen, um den Marquis außer sich zu bringen, ein Essen bei der Vicomtesse arrangiert, an dem Armida wiederum teilnehmen sollte. Der Sohn der Vicomtesse, Baron von D***, sah den falschen Champagne gegen fünf Uhr ins Haus treten, eine Ahnung sagte ihm, daß sein Kommen etwas bedeute und er gab mehr denn je acht. Er horchte an der Tür zum Zimmer seiner Mutter und sah durchs Schlüsselloch. Er sah Champagne in ziemlich ungezwungener Haltung neben seiner Mutter sitzen und war überrascht, an den Zügen des vermeintlichen Lakeis der Marquise seine hübsche Verwandte wiederzuerkennen. Auch sein letzter Zweifel sollte bald schwinden. Er sah seine Mutter aufstehen und hörte, wie sie zu Champagne sagte:

»Es ist höchste Zeit, daß du dich umkleidest, mein liebes Kind. Schließe die Tür, damit wir nicht überrascht werden.«

Der Jüngling zog sich in den Korridor zurück und ging darin auf und ab, um sicher zu sein, daß niemand sonst mehr käme.

Gegen neun Uhr fuhren mehrere Wagen vor. Der junge Baron beobachtete sorgsam alle Damen, die ausstiegen: keine Verwandte. Als er dann bei Tisch trotzdem seine schöne Cousine bemerkte, in die er verliebt war, da war er seiner Sache sicher.

»Kein Zweifel, es ist Champagne«, sagte er zu sich selber, »aber was soll die Verkleidung?« Er kannte sich nicht mehr aus. Aus der zarten Sorge, womit der Marquis bei Tisch die schöne Unbekannte umgab, schloß er, daß dieser eingeweiht sein müsse, begriff aber noch immer nicht, welche Gründe der Marquis und seine Frau haben konnten, ein so reizendes Mädchen in die Livree eines Lakeien zu stecken. Seine Mutter mußte natürlich alles wissen, er wagte aber nicht, sie zu fragen, aus Furcht, sie könnte seine Gefühle erraten.

Der Anblick Armidas, die noch reizender war, als das erstemal, brachte die Leidenschaft des Marquis für sie auf den Höhepunkt. Am anderen Morgen drang er in die Kammer des Lakeis seiner Frau, während dieser bei der Marquise war, und suchte nach irgendwelchen Papieren, die ihn hätten aufklären können. Er hatte über alles Erwarten Erfolg: er fand eine Art Tagebuch, worin Armida von Zeit zu Zeit alles eintrug, was ihr zustieß, um eines Tages, wenn es nötig sein sollte, ihre Aufführung rechtfertigen zu können.

Im Besitz dieses Geheimnisses, überlegte der Marquis, was nun zu geschehen habe. Armida war aus guter Familie, von Adel und seiner Frau gleichstehend … Da faßte er einen edlen Entschluß: das junge Mädchen mußte durch ihn mit ihren Eltern ausgesöhnt werden, und dann wollte er ihre Freundschaft erwerben, indem er sie in eine ihrer würdige Lage brächte, in der sie keinerlei Gefahr ausgesetzt wäre. Unter dem Vorwande, eines seiner Landgüter zu besuchen, machte er sich nach Sens auf. Er besuchte Herrn Des Troches und ließ ihn das Tagebuch seiner Tochter lesen. Es gelang ihm den Vater umzustimmen, und man beschloß, daß Fräulein Des Troches bei der Marquise als ihrer Freundin bleiben sollte, die sich dann mit ihrer Zukunft beschäftigen würde. Sodann überredete er Herrn Des Troches, mit ihm nach Paris zu gehen.

Der Marquis war stolz auf seine Tat. Es lag in seiner Absicht, im Interesse Armidas nunmehr etwas Aufsehenerregendes zu veranstalten, das die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Da alle Umstände dieses Abenteuers ihr nur zur Ehre gereichten, so konnte es nur zu ihrem Vorteil sein und vielleicht dazu beitragen, dem liebenswürdigen Mädchen einen Heiratsantrag seitens eines reichen alten Edelmanns zu verschaffen. Seine Wünsche gingen noch weiter, doch will ich über den zweiten Teil seines Planes hinweggehen, da er einen Flecken auf den ersten werfen würde. Wir sind ja alle nur Menschen! …

Gleich am Abend seiner Rückkehr ließ der Marquis alle seine Freunde und alle Freunde seiner Frau für den folgenden Tag einladen. Die Vicomtesse und der junge Baron wurden nicht vergessen. Einen Augenblick vor Eintreffen der Gäste sagte Marquis M*** zu seiner Gemahlin:

»Ich möchte gern, daß Champagne allein bedient und auch beim Dessert dableibt. Er ist diskret und ich muß über gewisse Dinge sprechen, die die anderen Diener nicht zu wissen brauchen, er aber erfahren darf.«

Die Marquise wurde von diesem Verlangen sonderbar berührt. Nie hatte Champagne bei Tisch bedient. Indessen wollte sie keine Auseinandersetzung mit dem Marquis haben, und willigte demzufolge ein. Champagne mußte also servieren. Der Marquis sprach lächelnd mit ihm bei Tisch und schien ihm bisweilen die Mühe des servierens erleichtern zu wollen. Jedermann war erstaunt darüber. Da sagte Herr von M*** plötzlich:

»Eine Hebe genügte den Göttern bei Tisch. Sollten wir es ihnen nicht nachtun? Entlassen wir die anderen Leute, und behalten wir nur Champagne.«

Die Vicomtesse wollte dagegen sprechen, aber ihr Sohn bat sie, dem Einfalt des Marquis nachzugeben. Als die anderen Lakaien fort waren, wurde ein neuer Gast, ein Edelmann aus der Provinz, gemeldet.

»Er ist willkommen,« rief der Marquis, »dort ist sein Platz bereit.«

Herr Des Troches trat ein. Niemand kannte ihn außer Champagne, der kreideweiß wurde.

»Gib dem Herrn zu trinken, Champagne,« befahl der Marquis, »er wird Durst haben.«

Champagnes Hand zitterte beim Einschenken so sehr, daß der Marquis ihm die Flasche abnahm und selbst das Glas füllte. Es wäre unmöglich, das Erstaunen zu schildern, das alle Gäste ergriff. Die Marquise und die Vicomtesse machten sich auf eine Katastrophe gefaßt. Da sagte der Marquis zur letzteren:

»Madame, ich möchte Sie unter vier Augen um einen Gefallen bitten.«

Die Vicomtesse stand auf und trat mit ihm beiseite.

»Tun sie mir die Liebe und kleiden sie Armida des Troches so, wie Sie es schon zweimal taten, damit wir sie jenem Edelmann in würdiger Kleidung vorstellen können, denn er ist ihr Vater.«

»Oh, Sie Verräter!« entgegnete ihm die Vicomtesse, »aber sie haben es mit mir zu tun, wenn ihr etwas Unangenehmes passiert!«

»Befürchten sie nichts. Hier ist ihr Tagebuch, das mich in alles eingeweiht hat.« Er überreichte ihr das Buch und nahm darauf wieder seinen Platz an der Tafel ein.

Die Vicomtesse las eine Seite des Tagebuches, war damit zufrieden und kehrte ebenfalls auf ihren Platz zurück. Dann wandte sie sich an den falschen Champagne und sagte:

»Komm, liebes Kind, und setz dich zu mir. Fürchte nichts. Ich bin deine Zuflucht und dein Schutz gegen jedermann, selbst gegen deinen Vater.«

Und sie küßte ihn. Während alle Welt verblüfft war, benutzte sie das allgemeine Stillschweigen, um das Tagebuch vorzulesen, dessen Inhalt allen Gästen Tränen entriß. Armida warf sich ihrem Vater zu Füßen.

Der junge Baron eilte zu ihr, hob sie auf und bat seine Mutter um die Erlaubnis, sie heiraten zu dürfen. Der alte Des Troches war entzückt und weinte Tränen der Freude. Die Damen liebkosten den falschen Champagne, während die Männer verlangten, man solle ihn als Mädchen kleiden. Ihren Wünschen wurde entsprochen. Kurz, verehrter Leser, Armida ist heute Baronin von D***, und da ihr Gatte jung ist, hat der Marquis nicht die geringste Hoffnung.

  1. Der Chevalier d’Eon war, wie nach seinem Tode amtlich festgestellt wurde, wirklich ein Mann. C.