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Die Liebe macht alle Menschen gleich. Aus Liebe seufzen Könige zu Füßen einer Hirtin, aus Liebe finden unbändige Despoten Asiens ihre Glückseligkeit in dem Lächeln einer Sklavin: so hat Mutter Natur es gewollt. Ihr Sterblichen, segnet sie!

An einem schönen Sommerabend, gegen sieben Uhr, ging ein elegant gekleideter junger Mann auf dem Boulevard du Temple spazieren, als er ein junges Mädchen bemerkte, das bürgerlich, aber sehr sauber angezogen war und seine Schritte beschleunigte, um sich den indiskreten Bemerkungen zweier junger Lebemänner zu entziehen. Graf de la S, – das ist der Name meines Helden – war überrascht, daß junge, vornehm aussehende Männer ein liebenswürdiges Mädchen in dieser Weise belästigen konnten. Er sprach sie an und machte ihnen Vorstellungen, wurde aber ziemlich schroff von ihnen zurückgewiesen. Er hielt sich nun nicht weiter damit auf, ihnen im gleichen Tone zu antworten, sondern eilte der Dame nach und bat sie um die Erlaubnis, sie begleiten zu dürfen. Eine kurze Antwort, die mit einem lieblichen Erröten gegeben wurde, bewilligte ihm dies. Der Graf knüpfte eine Unterhaltung mit ihr an und zeigte sich sehr rücksichtsvoll, das junge Mädchen legte Bescheidenheit und Anmut an den Tag. So kamen sie an ein neuerbautes Haus in der Rue de la Lune. Dort dankte das junge Mädchen ihm für seine freundliche Begleitung und trat dann in das Haus. An der Tür sagte der Graf zu ihr:

»Muß ich auf das Glück verzichten, Sie wiederzusehen? Sie werden doch nicht so grausam sein, mir das liebenswerteste, was die Natur geschaffen, nur gezeigt zu haben, nur, damit ich ewig bedauern müßte, es verloren zu haben?«

»Glauben Sie mir, mein Herr,« war ihre Antwort, »jeder weitere Verkehr zwischen uns ist unmöglich. Machen Sie sich also keine Hoffnungen, die doch zu keinem Ergebnis führen würden!«

»Legt Ihnen Abneigung gegen meine Person diese Worte in den Mund? Bitte, sagen Sie es mir! Das wäre der einzige Grund, vor dem ich verstummen könnte, und dem ich mich ohne weiteres unterwerfen würde.«

»Sie würden mir doch nicht glauben, wenn ich Ihnen solche Lüge sagen würde«, erwiderte das junge Mädchen und verschwand auf der Treppe. Der Graf hörte, wie sie im zweiten Stock anklopfte, wie eine Tür sich öffnete und kräftig wieder zugeschlagen wurde. Er war im ersten Augenblick versucht, ihr nachzugehen und einen Besuch zu machen, fürchtete dann aber, die liebenswürdige Unbekannte dadurch zu kränken. Dafür nahm er sich aber vor, herauszubekommen, wer sie sei. Er fing auf der Stelle mit seinen Nachforschungen an und erkundigte sich bei einer benachbarten Obsthändlerin, diese antwortete, das neue Haus sei erst seit wenigen Tagen bewohnt, und sie kenne noch keinen von den Bewohnern.

Der Graf kehrte nach Hause zurück und dachte über sein Abenteuer nach. Er beschloß, das betreffende Viertel häufig wieder aufzusuchen, das tat er denn auch, aber alle seine Mühe war umsonst. Endlich verlor er die Geduld, betrat eines Tages das neue Haus und klopfte an die Tür im zweiten Stock, durch die die schöne Unbekannte verschwunden war. Ein Greis öffnete ihm. Der Graf blickte um sich, ob er nicht den Gegenstand seiner Wünsche entdecken könnte, bemerkte aber nichts von ihr. Da faßte er einen kurzen Entschluß und fragte nach der jungen Dame, die an dem und dem Tage, um die und die Stunde diese Wohnung betreten habe. Eine alte Magd, die das Gespräch mit angehört hatte, sagte zu ihrem Herrn:

»Das war Fräulein Cécile«, worauf der alte Herr bemerkte:

»Mein Herr, wenn Sie der Dame etwas mitzuteilen haben, so betrauen Sie mich damit oder schreiben Sie mir. Die Dame ist nämlich nicht meine Tochter, wohnt auch nicht hier. Sie ist nur fünf- oder sechsmal dagewesen, um mir eine Unterstützung zu überbringen, die ihr Vater mir gewährt.«

»Können Sie mir nicht ihren Namen und ihre Wohnung sagen?«

»Das ist mir völlig unmöglich.«

»Wie? Nicht einmal diesen kleinen Gefallen wollen Sie mir erweisen ?«

»Ich wiederhole, es ist mir unmöglich, sonst würde ich mich nicht so drängen lassen.«

Nun entschloß der Graf sich, an sie zu schreiben und den Brief dem alten Mann zur Besorgung dazulassen, Er schrieb folgendes:

»Mein Fräulein, der Herr, der die Ehre hatte, Sie Dienstag abend auf dem Boulevard zu begleiten, ist täglich in dasselbe Viertel gekommen, in der Hoffnung, Sie wiederzusehen. Sein böses Geschick hat dies aber nicht gewollt. Wollen Sie selber mir nun vergönnen, was der Zufall mir versagt? Ich muß Sie sprechen, wäre es auch zum letztenmal. Es kann in Gegenwart des ehrwürdigen Greises geschehen, bei dem ich diese Zeilen schreibe. Ich habe Ihnen Wichtiges mitzuteilen, und es wäre unrecht von Ihnen, mir meine Bitte zu verweigern.

Ich bin in aller Hochachtung

Ihr Graf de la S.«

Am anderen Morgen stellte er sich wieder ein, um zu erfahren, ob die schöne Unbekannte gekommen wäre. Gerade als er in das Haus eintreten wollte, sah er sie aus demselben herauskommen. Er eilte auf sie zu und bat sie in so eindringlicher und zartfühlender Weise um einen Augenblick Gehör, daß sie ihm seine Bitte nicht gut abschlagen konnte. Sie stiegen also zusammen in die Wohnung des alten Herrn hinauf, und dort hörte die Schöne aufmerksam den Grafen an. Er schilderte ihr seine Gefühle so kräftig und nachdrücklich, wie es gewöhnlich Liebende tun, die auf unerwartete Hindernisse stoßen. Sie ließ ihn sich aussprechen, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, sei es, daß seine Reden ihre Teilnahme erweckten, oder daß sie ihn alles, was er ihr zu sagen hatte, auf einmal sagen lassen wollte. Dann erwiderte sie:

»Ich bin, mein Herr, nicht unempfindlich gegen die schmeichelhaften Beweise Ihrer Teilnahme für mich. So freundliche Gefühle müssen meine Dankbarkeit hervorrufen, aber wären dieselben noch inniger, ja, würde ich Sie selbst lieben, so könnte doch von einer Verbindung zwischen uns nicht die Rede sein!«

»Gerechter Himmel! Wollen Sie mich denn zur Verzweiflung bringen?«

»Glauben Sie mir, mein Herr, wir dürfen uns nicht wiedersehen, und ich bitte Sie, in Zukunft keine weiteren Annäherungsversuche mehr zu machen, sondern mir lieber aus dem Wege zu gehen.«

»Ich begreife Sie nicht, verehrtes Fräulein.«

»Ich darf mich nicht näher erklären.«

»Und ich werde niemals aufhören, Sie zu verehren und mich an Ihre Fersen zu heften. Ich will Ihren Widerstand überwinden oder sterben.«

»Oh! Wenn Sie wüßten, was Sie verlangen!« flüsterte die schöne Unbekannte mit einem leichten Seufzer.

»Wie? Wären Sie vielleicht ein Mann?«

»Denken Sie das nur, das wäre besser.«

»Dann … seien Sie mein Freund und teilen Sie mit mir alles, was ich mein nenne … Aber das ist ja unmöglich!« fügte er hinzu, mit einem Blick auf ihren vor Erregung wogenden Busen.

»Mein Gott,« erwiderte sie, »wird es mir denn nicht gelingen, Sie von mir zu entfernen?«

»Nein, nein, niemals! Ich gehöre Ihnen für das ganze Leben an.«

»So muß ich also das schmerzliche Gefühl mit mir herumtragen, einen Menschen unglücklich gemacht zu haben! …«

»Gut, seien Sie schuld an meinem Unglück, dann habe ich doch wenigstens eine Beziehung zu Ihnen!«

Die Unbekannte sah ihn tränenden Auges, aber mit sanftem Lächeln an und äußerte:

»Wenn Sie wüßten, wie sehr Ihre Gefühle für mich meine Qualen noch vermehren, dann würden Sie Mitleid mit mir haben!«

Da fiel der Graf ihr zu Füßen und sagte:

»Sie kennen mich nicht. Erhören Sie mich, und ich werde alle Hindernisse überwinden, allem trotzen. Stände die ganze Welt zum Kampfe gegen uns auf, es würde mich nicht erschrecken! Nur Ihre abweisende Strenge kann mich zur Verzweiflung bringen und mich zum beklagenswertesten aller Menschen machen.«

»Ich sehe,« erwiderte die Unbekannte, »daß ich Sie nicht mit einem Male überzeugen kann, und dringe nicht weiter in Sie, doch bleibe ich fest bei meinem Entschluß.«

»Aber ich werde Sie wiedersehen?«

»Das verspreche ich Ihnen.«

»Aber Sie werden nicht ausbleiben?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde übermorgen hier sein und werde dann versuchen, Sie umzustimmen.«

»Mich vollends zu bestimmen, bei meinem Vorsatz zu bleiben! … Glauben Sie denn, mich darin erschüttert zu haben?«

»Wenn Sie fest bleiben, so bleibe ich es nicht weniger, nur mit dem Unterschiede, daß ich meine guten Gründe habe, während Sie blind drauflos gehen.«

Bei diesen Worten stand sie auf und verließ das Zimmer, indem sie dem Grafen verbot, ihr zu folgen. Er wagte es nicht, ihr ungehorsam zu sein, und begnügte sich damit, ihr mit den Blicken zu folgen, solange er sie in der Rue Poissonnière sehen konnte.

Am nächsten Tage stellte der Graf sich wieder in der Rue de la Lune ein, obgleich das Zusammentreffen erst am folgenden stattfinden sollte, und hatte das Glück, seine schöne Unbekannte wieder bei dem alten Herrn eintreten zu sehen. Er versteckte sich und wartete geduldig, bis sie ihren Besuch beendigt hatte. Dann folgte er ihr von fern. In der Rue Grange Batelière begegnete ihr ein junger Mann, der ziemlich gut gekleidet war, aber harte, grobe Gesichtszüge hatte und sogar ein wenig den Eindruck eines Raufbolds machte. Er grüßte sie ziemlich vertraulich, sie dankte lächelnd, aber ohne sich aufzuhalten. Diese Begegnung machte dem Grafen klar, daß er eifersüchtig sei, denn er gab die Verfolgung seiner Angebeteten auf, um seinem vermeintlichen Nebenbuhler nachzugehen. Dieser begab sich ebenfalls nach der Rue de la Lune zu dem alten Herrn, da dachte der Graf bei sich selber, es könne doch wohl kein Verehrer von ihr sein, denn wenn er das wäre, würden sie sich doch hier getroffen haben! Aber Eifersucht läßt sich nicht so schnell zum schweigen bringen, der Graf kam auf tausend unsinnige Gedanken, zum Beispiel, der alte Herr könnte vielleicht als Vermittler für eine Verabredung gedient haben. Er verfolgte daher den jungen Mann einen großen Teil des Tages und sah ihn in die Gefängnisse Grand-Chatelêt und Conciergerie eintreten. Daraus konnte er keine bestimmten Schlüsse ziehen, und so gab er endlich, ermüdet, seine Verfolgung auf, als der junge Mann denselben Weg wieder zurückging. Am nächsten Tage war er schon vor der bestimmten Stunde in der Rue de la Lune. Seine Schöne kam pünktlich und stieg schnell die Treppe hinauf. Der Graf folgte ihr. Sie ließ die Tür halb offen.

»Ist er schon da?« hörte er sie fragen.

»Nein, mein Kind.«

»Oh! Möchte er mich doch vergessen haben!«

»Das wäre das beste! Ihr würdet sonst beide unglücklich werden!«

»Ich weiß es, aber seine Verzweiflung war so echt! …«

»Ich glaube, er ist ein Ehrenmann, das wäre noch ein Unglück mehr!«

»Und warum wäre meine Ehrenhaftigkeit ein Unglück mehr?« rief der Graf aus, ins Zimmer hineinstürzend, »erklären Sie mir endlich das Seltsame, das ich in allen Ihren Äußerungen finde … Sie antworten nicht?« wandte er sich an den Greis, »Ihnen müßte doch das Alter Einsehen und Verstand gegeben haben! Ist sie verheiratet? Liegt sie in unseligen Fesseln, die ihre Freiheit einschränken? … Ist sie Jüdin, Mohammedanerin? … Hat jemand aus ihrer Familie, ihr Vater, ihr Bruder, ein ehrenrühriges Verbrechen begangen?… Ich bin erhaben über alles, dieses göttliche Mädchen würde sogar – Gott verzeih mir diese Lästerung! – das Verbrechen edel machen! … Wie? Noch immer dieses mich zur Verzweiflung bringende Stillschweigen? … Mein Fräulein, lieben Sie einen anderen? Außer einem solchen Unglück ist mir alles andere gleichgültig!«

Diese rührende Sprache machte großen Eindruck auf den alten Mann, der, einem inneren Drange folgend, unwillkürlich ausrief:

»Ja, sie liebt … Sie liebt Sie!«

Bei diesem Wort kniete der Graf vor der schönen Unbekannten nieder und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Dann erhob er sich und sagte:

»Nun bin ich nicht mehr beklagenswert und will auch nichts mehr fragen. Dies eine Wort erhebt mich über alles, macht mich namenlos glücklich. Ihr armen Sterblichen, deren Leben und Tod von einem Wort, einem Laut abhängt, beneidet mich! …«

»Wehe,« rief da das schöne Mädchen aus, und dabei rollte eine Träne über ihre Wange, »was haben Sie dem Himmel getan, Sie, eines seiner würdigsten Geschöpfe, daß er so Ihr Verderben will?«

»Mein Verderben? Wenn Sie mich lieben? Sie selber fordere ich heraus und erkläre, durch Sie kann ich nicht unglücklich werden!«

»Unseliger! Halten Sie ein! Das also ist das Ergebnis dieser Unterredung, von der ich alles hoffte!«

»Ja, sie hat mein Glück begründet! Erwarten Sie nun nicht mehr von mir, daß ich Sie Ihrem Schicksal überlasse. Jetzt gehören Sie mir! Ich bin der Graf de la S …«

»Großer Gott! Sie sind adlig …!«

»Ich bin mein eigener Herr, und nichts soll mich abhalten, Ihnen einen Titel zu verleihen, der mich mehr ehren wird als Sie.«

»Ihre hohe Stellung, Herr Graf, vermehrt die Hindernisse, die uns trennen. Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Es ist völlig unmöglich.«

»Befehlen Sie mir doch, zu sterben! Das wäre nicht das schlimmste, was mich treffen könnte! …«

Lange Zeit herrschte zwischen den beiden Liebenden ein Schweigen, das der Graf durch zahllose Küsse auf die Hand ausfüllte, die die Geliebte ihm überlassen hatte.

Endlich sagte sie, wie aus einem Traume erwachend und in Tränen zerfließend, zu ihrem hochherzigen Freier:

»Lassen Sie mich, Herr Graf! … Wollen Sie denn gar nicht nachgeben? Wollen Sie mich zur Verzweiflung bringen?«

»Nein, nein, ich lasse Sie nicht! Wären Sie, was nicht sein kann, die gemeinste Dirne, so würde ich Sie doch lieben, denn Ihre Seele ist unverdorben und der Tugend geweiht, und ich würde Ihnen helfen, den rechten Weg wiederzufinden.«

»Ich werde Ihnen niemals den Makel bekennen, der auf mir ruht, nein, das soll niemals geschehen!«

»Ist es Schuld des Schicksals?« fragte ängstlich der Graf, »oder Ihre eigne?«

»Erwarten Sie keine Antwort auf diese Frage!«

»Und du kannst es über dich gewinnen,« fragte er weiter mit unsagbar schmerzlichem Ton, »vor mir, deinem anderen Ich, ein Geheimnis bewahren zu wollen? …«

»Sie kann nicht anders,« mischte der Greis sich ein, »Cécile darf Ihnen niemals das Geheimnis enthüllen. Achten Sie ihre Gründe, wenn Sie sie wirklich lieben! Sie sehen mich tief bewegt und voll Mitleid mit Ihnen beiden. Ich will Ihnen daher erlauben, mit Cécile hier bei mir zusammenzukommen. Vielleicht wird die Zeit Sie beide von Ihrer Leidenschaft heilen, wenn nicht, so werden die Stunden, die Sie miteinander verleben, jedenfalls beiden einiges Glück verschaffen … Ich bin ein alter Mann und verachte alle Vorurteile. Ich habe oft dem Tode ins Auge gesehen und habe mir meine eigene Philosophie geschaffen. Treffen Sie also Cécile hier. Ich kenne sie, sie hat ein gutes Herz und eine empfindsame Seele. Seit zwei Tagen predige ich ihr, sie solle Sie lieben, den Augenblick genießen und nicht an die Zukunft denken. Cécile, mein Kind, folge dem Rat eines alten Mannes, damit du am Ende deines Lebens nicht darüber zu trauern brauchst, dich durch eigene Schuld eines glücklichen Augenblicks beraubt zu haben.«

Diese eigentümlichen Worte setzten den Grafen ins höchste Erstaunen, sie stießen ihn sogar ab, und doch – so ist einmal ein leidenschaftlich bewegtes Menschenherz – unterstützte er sie mit aller Kraft. Cécile ließ sich besiegen und versprach, so oft wie möglich den gefälligen alten Herrn zu besuchen, und erwiderte sogar schüchtern einen zärtlichen Händedruck des Grafen.

Der Graf war über das Benehmen des Greises ganz erstaunt, er wußte nicht, was er davon denken sollte. Es stieg ihm sogar ein Verdacht auf, aber wie weit war er von der Wahrheit entfernt!

Er erkundigte sich nach dem alten Mann in der Nachbarschaft. Nur der Bäcker und der Weinhändler kannten ihn oberflächlich. Sie sagten aus, daß er seit zwei Jahren in diesem Viertel wohne und keinen Verkehr habe. Nach dem jungen Mädchen scheute der Graf sich zu fragen, da er nicht die Augen der Neugierigen auf sie lenken wollte.

Von nun an sahen die Liebenden sich jeden Tag. Der Graf hoffte, mit der Zeit hinter das unselige Geheimnis zu kommen. Das junge Mädchen aber hatte ganz andere Gedanken. Sie wußte zwar nicht aus eigener Erfahrung, sondern durch die Belehrungen des Greises, daß Leidenschaft nicht ewig dauert, und sie rechnete damit, daß die Liebe des Grafen zu ihr mit der Zeit nachlassen, und daß sie also nicht gezwungen sein würde, sich zu entdecken. Daß sie nicht gleich mit dem Grafen brach, lag in ihrer beginnenden Neigung zu ihm und der mehr als nachsichtigen Moral des alten Mannes. Seitdem sie den Grafen zuerst gesehen, hatte sie auf alle Männer der Welt verzichtet, ja sogar auf den, den sie liebte, den Grafen selbst. Aber der Freude, ihn zu sehen, konnte sie nicht widerstehen, und ohne zu bedenken, wohin das alles führen könnte, ließ sie sich vom Strom forttreiben. Bisweilen kam ihr wohl der Gedanke an eine furchtbare Katastrophe, aber dann schloß sie die Augen, um nicht den Abgrund zu sehen.

Diese ihre Haltung kann niemanden überraschen, der weiß, was Leidenschaft ist. Wie oft sieht man nicht einen Mann für eine Frau schwärmen, die über ihm steht und für ihn unerreichbar ist, sie so heiß begehren, daß ihm selbst der Tod für eine Minute Glücks nicht zu teuer scheint. Und Cécile befand sich in gleicher Lage. Sie liebte diesen Mann, der so hoch über ihr stand, daß sie nie daran denken konnte, ihm jemals vor der Welt anzugehören. Die Folge dieses häufigen Zusammenseins mit dem Grafen war, daß Cécile mehr und mehr in Liebe zu ihm entbrannte. Eine köstliche Vertraulichkeit entstand zwischen ihnen, und durch die Liebe verblendet, vergaß Cécile aller Hindernisse, während der Graf, vor Leidenschaft trunken, nicht einmal mehr an das undurchdringliche Geheimnis dachte. Glückliches Vergessen, das beide selig machte!

Nach sechs Monaten eines so köstlichen Lebens wollte der Graf Cécile eines Abends ins Theater führen. Man gab Glucks Iphigenie, dieses Meisterwerk dramatischer Musik, das der Altmeister eigens geschaffen zu haben scheint, um alle seine Tadler zu zerschmettern, Cécile lehnte nicht sehr ernstlich ab …, sondern nur so, wie man sich selbst Widerstand leistet, wenn man gegen eine angenehme Versuchung ankämpft. Doch plötzlich nahm sie sich zusammen und antwortete mit einem harten Nein –, aber dabei strömten Tränen aus ihren Augen.

»Sie zerstören mein Glück,« rief sie aus, »ich hatte, ach! Schon vergessen, wer ich bin … Warum erinnern Sie mich so grausam durch diese Einladung daran? Der Graf war sprachlos, tausend Gedanken beschäftigten seine Phantasie, und einer von diesen befestigte sich in ihm: Cécile ist vielleicht Sängerin oder Tänzerin an der Oper gewesen, und das ist das große Geheimnis, das sie mir verschweigen will. Nun fürchtet sie, daß sie dort erkannt werde, und daß ich für einen Mann gelten könne, der Theaterprinzessinnen aushalte. Von diesem Gedanken aber schwieg er, tröstete Cécile und versprach ihr, nie wieder den Besuch eines Theaters vorzuschlagen.

Am darauffolgenden Tage kam das Gespräch zufällig auf die Räderung eines Unglücklichen, der einen Mord begangen hatte, und dessen ehrbare junge Schwestern nun allem Elend des Lebens ausgesetzt seien.

»Kennen Sie sie?« fragte Cécile tiefbewegt.

»Nein, aber dennoch beklage ich sie. Wie furchtbar! Ein Bruder! …« Der Graf hielt inne, weil er sah, wie sehr dieses Gespräch Cécile angriff. »Um des Himmels willen,« dachte er, »sollte sie eine der Schwestern sein?« In dieser Vermutung umarmte er die Weinende, ohne ein Wort hinzuzufügen, und seine Liebkosung war so zärtlich und zugleich so achtungsvoll, daß es ihm gelang, sie wieder zu beruhigen.

Ein anderes Mal sprach der Graf, der aus der Lothringer Gegend war, von einem schönen jungen Mädchen, das auf die ungerechte Anklage ihres Herrn, eines reichen Edelmanns, gehängt werden sollte. Der Henker aber, der nach allem, was er von der Ärmsten wußte, von ihrer Unschuld überzeugt war, wollte ihr das Leben retten. Er bereitete sie in geschickter Weise darauf vor, damit die Erregung sie nicht tötete, und bat sie, auf Gott zu vertrauen. Die Richter hatten dem Henker Befehl gegeben, den Leichnam sofort nach der Vollstreckung des Urteils zu entfernen, da sie nicht diesen jugendlichen schönen Körper einer lüsternen Neugier aussetzen wollten. Das erleichterte sein Vorhaben. Das junge Mädchen hielt ihre Hände so, wie der Henker es ihr gesagt hatte, und indem sie ihre Füße an dem eigenartig gebundenen Knoten stützte, bewirkte sie, daß sie fast keinen Schmerz empfand und am Leben blieb. Er nahm den Leichnam dann sofort vom Galgen herunter und tat so, als ob er ihn rücksichtslos in den Karren würfe. Diesen hatte er aber fürsorglich vorher reichlich mit Stroh ausgefüllt. Dann fuhr er schnell nach seinem Hause, wo das junge Mädchen sich rasch von seinem Schrecken erholte. Er schickte es nach Paris, wo es, wie man sagt, sich noch befinden soll. Doch die Sache kam heraus, und ihr Retter mußte die Flucht ergreifen. Auch er soll in Paris weilen und von den Unterstützungen des Mädchens leben, das er vor dem Tode bewahrt hat …

Cécile war während der Erzählung des Grafen bald blaß, bald rot geworden. Als er geschlossen hatte, fühlte sie sich sehr schlecht. Der Graf bemühte sich hingebend um sie. Dieser Zwischenfall hatte aber zur Folge, daß ihr Zusammensein länger dauerte als sonst, es war darüber Abend geworden. Eben erhob der Graf sich, um fortzugehen, als es klopfte. Cécile und der alte Mann zögerten, zu öffnen, doch der Graf redete ihnen zu, so daß sie sich nicht länger weigern konnten.

Ein junges Mädchen erschien in dem Türrahmen, offenbar ganz erschrocken, einen Dritten hier anzutreffen. Cécile küßte sie, während der Alte sie mit freudestrahlendem Antlitz beiseite nahm und eine Zeitlang mit ihr sprach. Dann bat Cécile den Grafen, das junge Mädchen ebenfalls zu begrüßen. Bald waren alle so vertraut miteinander, daß Cécile den Grafen zum Essen einlud, was noch niemals vorgekommen war.

Er war aber hocherfreut darüber und ging sofort, das Nötige zu besorgen. Als er zurückkehrte, fand er die beiden Mädchen engumschlungen beieinander sitzend. Ihre Augen waren gerötet, sie schienen geweint zu haben. Sobald sie ihn aber bemerkten, nahmen sie wieder eine heitere Miene an, und bei Tisch konnte der Graf mit ihrer Fröhlichkeit wohl zufrieden sein. Die Neuangekommene war reizend und schien mehr mit den Gebräuchen der Welt bekannt zu sein, als Cécile. Aber so liebenswürdig und anziehend die Fremde auch war, so genügte doch ein Blick aus Céciles schönen Augen und ihr sanftes Lächeln, um alle Reize der anderen in den Schatten zu stellen.

Als es Zeit war, aufzubrechen, fragte der Graf mit gleichgültiger Miene, welche von den Damen er nach Hause begleiten dürfe. Cécile antwortete:

»Keine von beiden!« – und indem sie seine Hand in ihre beiden nahm, fügte sie hinzu: »Mein lieber Graf, ich vertraue auf Sie, zerstören Sie nicht unser Glück!«

»Niemals, Angebetete, obwohl Sie nicht recht gegen mich handeln. Wenn es jemals zerstört werden sollte, so werde nicht ich daran schuld sein, und gewiß nicht mein Ungehorsam. Erlauben Sie mir aber wenigstens, jede der Damen zu einem Wagen zu begleiten.«

»Nein, nein, wir werden allein einsteigen.«

»Ganz, wie Sie wünschen. Aber ich darf Ihnen wenigstens mit meinen Augen folgen, bis Sie eingestiegen sind, denn es ist schon spät? …«

Dies wurde angenommen, aber unter der Bedingung, daß er dann sofort seines Weges gehen würde.

Alles wurde nach der Verabredung ausgeführt, bis auf eins. Der Graf sah die beiden Damen in ziemlicher Entfernung ihre Wagen nehmen, offenbar, damit er nicht die Nummern erkennen und sich erkundigen könnte. Cécile kannte ihren Geliebten noch immer nicht genug, er liebte sie so aufrichtig, daß er sich die größten Gewissensbisse gemacht haben würde, gegen ihre Absichten zu handeln. Der eine Fiaker nahm die Richtung nach den Petits-Carreaux, in diesem saß Cécile. Der Weg, den der andere mit der jungen Fremden einschlug, war derselbe, den der Graf zu gehen hatte. Plötzlich sah er, wie der Wagen anhielt, da die halbverhungerten Mähren nicht mehr weiterkonnten, es blieb der Dame nichts weiter übrig, als an der Ecke der Rue Beauregard auszusteigen und zu Fuß weiterzugehen. Es war bereits Mitternacht. Der Graf folgte ihr von weitem. An der Ecke der Rue de Bourbon wurde sie von drei Nachtschwärmern ernstlich behelligt. Sie bat sie flehentlich, sie doch in Ruhe zu lassen, statt dessen wurden sie noch unverschämter. Als sie einen lauten Schrei ausstieß, eilte der Graf herbei und stürzte sich mit gezogenem Degen auf die Burschen, die bei diesem Anblick die Flucht ergriffen. Als er sich nun nach der jungen Dame umsah, war sie verschwunden. Er rannte so schnell er konnte die Rue des Petits-Carreaux hinunter, in der sie verschwunden sein mußte, und als er die Rue du Bout du Monde erreicht hatte, erblickte er seine schöne Tischnachbarin von vorher in den Händen einer Polizeipatrouille! Er näherte sich und sagte: »Meine Herren, diese Dame ist anständig, ich bürge für sie. Wir haben eben erst bei einer befreundeten Familie zusammen zu Abend gespeist. Unverschämte Flegel haben sie attackiert, und ich habe sie aus deren Händen befreit, daher ist ihre Kleidung ein wenig in Unordnung. Lassen Sie sie frei!«

»Kennen Sie den Herrn?« fragte der Sergeant, da die Dame kein Wort sagte.

»Nein!«

Der Graf war außer sich vor Überraschung bei dieser unerwarteten Antwort. Noch mehr aber erstaunte er, als er bemerkte, daß das junge Mädchen dem Sergeanten etwas ins Ohr flüsterte und dieser sich darauf an ihn wandte und sagte:

»Hören Sie, das beste für Sie ist, daß Sie verschwinden, sonst verhafte ich Sie.« Zugleich befahl er zweien von seinen Leuten, ihn zu arretieren, wenn er der Dame und ihm folgen würde. Der Graf hätte seinen Namen nennen und die Leute zwingen können, in einem höflicheren Ton mit ihm zu sprechen, aber er glaubte die Absicht der Dame zu erraten, und so ging er ganz zerknirscht seines Weges weiter.

Als er sich des anderen Tages einstellte, fand er Cécile nicht vor, dafür aber einen Brief von ihr:

»Mein lieber Graf, ich hatte es wohl nicht verdient, einen Geliebten zu haben, wie ich Sie mir seit sechs Monaten geträumt hatte. Sie haben nicht gewollt, daß wir uns weiter sehen, ich werde daran sterben, aber es muß so sein! … Wie konnten Sie gestern abend dem jungen Mädchen, das mit uns gespeist hat, folgen? Sie wollten trotz Ihren Versprechungen, die Sie uns mit so treuherziger Miene gaben, in ein Geheimnis eindringen, dessen Aufdeckung uns alle, wenigstens Sie und mich, unglücklich machen würde! … Welches Vertrauen könnte ich von nun an noch in Ihre Versicherungen setzen? Ach, ich bin schwer bestraft worden! … Leben Sie wohl, Graf, und vergessen Sie mich. Ich werde Ihrer mein ganzes Leben lang gedenken … Dazu wird meine Kraft ausreichen, denn mein Leben wird kurz sein.

Cécile.«

Als der Graf den Brief gelesen hatte, war er wie versteinert. Er erklärte darauf dem Alten, wie sich in Wirklichkeit alles zugetragen hatte, und schwor bei seiner Ehre, daß er die Sache nicht entstellt habe.

»Was kann ich dazu tun?« erhielt er zur Antwort, »Cécile wird dieses Haus nicht mehr betreten, das ist beschlossene Sache.«

»Aber Sie werden Sie doch wenigstens sehen. Sagen Sie ihr, es handle sich um mein Leben, denn wenn ich sie morgen nicht sehe, dann werde ich hier unter Ihren Augen in diesem selben Zimmer … Wenn ich noch mein Unglück verdient hätte, dann würde ich mich vielleicht fügen, aber daß ich so vollkommen unschuldig leiden soll …! Ich habe doch stets ihren Willen geachtet …!«

Was auch der Graf vorbringen mochte, der Alte versprach nichts. Schon wollte er verzweifelt fortgehen, schon hatte er die Türklinke in der Hand, als er sich von zarter Hand zurückgehalten fühlte. Es war Cécile, die zu ihm sagte:

»Ich glaube Ihnen, mein lieber Graf, aber bei allem, was Ihnen teuer ist, beschwöre ich Sie, niemals unser Glück aufs Spiel zu setzen. Wenn Sie vor mir jetzt nicht vollkommen gerechtfertigt dastünden, wären wir für immer getrennt gewesen.«

»Ich verlange nur eins,« erwiderte der Graf, »Sie anbeten zu dürfen und Ihr Herz mein zu nennen. Verfügen Sie, teure Cécile, über mein Geschick, ich fühle, daß ich ohne Sie nicht leben kann. Fürchten Sie nicht, daß ich Schritte tun werde, um meine Neugier zu befriedigen, denn diese Neugier hat die Liebe getötet. Nur Liebe, nur meine Leidenschaft für Sie halten mich noch gefangen.«

Um fünf Uhr waren sie noch beisammen, als das junge Mädchen vom Tage vorher dazukam. Sie war sehr überrascht, daß zwischen dem Grafen und Cécile so gutes Einvernehmen herrschte. Er wollte sich rechtfertigen, aber Cécile überhob ihn der Mühe. Sie machte die Gründe ihres Geliebten mit so viel Nachdruck und Beredsamkeit geltend, daß er wohl sah, sie wünschte ebensosehr wie er, daß seine Schuldlosigkeit anerkannt würde. Sie speisten wieder zusammen zu Abend, blieben aber nicht so lange wie tags zuvor. Cécile ging zuerst fort, darauf ihre Freundin, die diesmal aus freien Stücken den Grafen bat, sie bis zur Rue de Cleri zu begleiten. Dort verließ sie ihn, indem sie ihr Bedauern aussprach, sich ihm nicht entdecken zu können. Sie richtete sogar an ihn eine Bitte, an die Cécile niemals gedacht hatte: niemals gegen seine Freunde ein Wort von seinem Abenteuer verlauten zu lassen. Sie sagte, ihr persönliches Geheimnis erfordere an sich nicht so große Vorsicht, wohl aber dessen Zusammenhang mit dem ihrer Freundin.

»Wenn es sich nur um ihr Glück handelte,« schloß sie, »dann hätte sie, wie ich sie kenne, es Ihnen längst geopfert, denn sie liebt Sie mehr als ihr Leben, aber sie denkt nur an Ihr Glück, das ohne Gnade zerstört werden würde. Leben Sie wohl, Herr Graf, ich habe versucht, durch meine Indiskretion wieder gutzumachen, was ich Sie gestern und heute habe leiden lassen …«

Am nächsten Tage wurde der Graf von Cécile mit unsagbarer Freude empfangen.

»Lieber Freund,« sagte sie zu ihm, »du hast mich lieben gelehrt. Niemals würde ohne dich dieser köstliche Lebensbalsam meine Seele gestärkt haben. Kann ein Weib in meiner Lage jemals geliebt werden, kann ein Mann ein Weib in seine Arme drücken, das … doch fort mit diesen unseligen Gedanken! … Ach, ich Unglückliche, ich versage mir sogar die Liebkosungen, die mir die Natur gebietet! … Lieber Freund … Ich habe nur dich, und noch dazu hängt meine Glückseligkeit an einem Faden … an deiner Unkenntnis der Dinge, teurer Freund! … Verzeih mir, daß ich dir dieses grausame Geheimnis verhehle, sage mir, daß du mir verzeihst, Liebling meiner Seele … Ja, du hast mir erst geoffenbart, daß ich ein Herz besitze, bei deinem ersten Anblick, bei den ersten Worten, die du zu mir sprachst, hat es für dich geschlagen … Woher kam dir, lieber verführerischer Mann, dieser Zauber, der mich sofort gefangen nahm?«

»Ebendaher, wo du den Zauber fandest, der mich unterjocht, meine Cécile.«

»Die Liebe gab ihn mir.«

»Dann hat die Liebe ihn auch mir verliehen.«

»Wir wollen uns also ewig lieben!«

»Das ist mein Herzenswunsch. Oh! Teure Cécile, erfülle mir eine Bitte. Ich bin reich und habe noch nie gewagt, dir ein Geschenk zu machen. Die Liebe, die du mir heute bezeugst, ermutigt mich: teile mit mir mein Vermögen, wie ich mit dir das deine teilen werde. Denke nicht, teure Freundin, daß ich dir damit eine Falle stellen will, um Kenntnis von deiner Lage zu bekommen, nein, nein. Wenn mein Vorschlag dich schmerzt, Cécile, so will ich mich auf eine Forderung beschränken, aber auf dieser muß ich bestehen, daß nämlich meine Geschenke von dir angenommen werden … Du antwortest nicht, Cécile? Ich bestehe darauf, sonst müßte ich annehmen, daß du mich weniger liebst, als ich glaubte.«

»Oh! Laß alles beim alten, lieber Freund, wir fühlten uns so wohl dabei!«

»Ja, du, hochherziges Mädchen! Aber ich, ich leide darunter, daß die Hälfte meines Ichs nicht mitgenießt, was ich besitze.«

»Ich nehme an, ich nehme alles an, aber ich will auch meinerseits die Macht haben, deiner Großmut Schranken zu setzen.«

»Einverstanden.«

»Also zu morgen wünsche ich einen Blumenstrauß.«

»Den sollst du haben, angebetete Cécile, es ist mein erstes Geschenk, und mit welcher Freude will ich es auswählen!«

Der Graf hatte seit seiner Bekanntschaft mit Cécile fast nichts ausgegeben und hatte daher viel Geld liegen. Der Strauß, den er ihr am nächsten Tage mitbrachte, hatte 15000 Franken gekostet. Er bot ihn ihr dar und sagte:

»Ich fühle, daß ich gegen deinen Willen gehandelt habe, aber ich wollte mein erstes Geschenk selbst aussuchen, alle folgenden sollen nach deinem Geschmack sein.«

Cécile nahm den Schmuck an und bemerkte:

»Ich bringe dir ein Opfer, wenn ich’s annehme, ich hätte Blumen vorgezogen. Aber mein Herr Geliebter hat mich wie die anderen Frauen beurteilt und weiß noch nicht, daß ich in gewissen Dingen über ihnen stehe. Aber, lieber Freund, da ich nur ein gewöhnliches Weib bin, so wollen wir auch die Folgerungen daraus ziehen: wie willst du mich haben? Soll ich falsch, kokett, schamlos, eigennützig, zänkisch, leichtsinnig, flatterhaft sein? Sprechen Sie, mein Herr Graf, da Sie wollen, daß ich ihnen ähneln soll!«

»Nein, um Gottes willen, nein!« rief der Graf lachend.

»Dann nimm deinen Brillantenstrauß wieder und schenke mir Blumen.«

»Cécile wollte mein Geschenk zurückweisen?«

»Nun beruhige dich, dazu bin ich zu zartfühlend, teurer Freund, aber verfalle nicht wieder in diesen Fehler. Ich bringe dir wirklich damit ein Opfer, denn ich kenne den Preis dieser Kostbarkeit.«

Der Graf erwiderte nichts, sondern ging fort und holte einen Blumenstrauß.

»Vergiß den anderen, liebe Cécile, und nimm diesen, den dir mein Herz anbietet!«

Als Ceciles Freundin dazukam, wurde der Vorschlag gemacht, bis zum Abendessen etwas vorzulesen. Dies geschah zum erstenmal. Man wählte Werke Voltaires aus, und es wurde beschlossen, alle Nachmittage mit solchem Vorlesen auszufüllen, sobald Valbrune – so hieß Céciles Freundin – eingetroffen wäre. Nach Voltaire lasen sie J. J. Rousseau und darauf Buffon. Damit unterhielten sie sich während der nächsten achtzehn Monate, bis die Katastrophe über die Liebenden hereinbrach.

Während der ganzen langen Zeit hatte der Graf nichts von dem Geheimnis erfahren. Jeden Abend begleitete er die Valbrune bis zur Rue de Cleri, wo er sich von ihr verabschiedete. Aber eines Abends sah er, wie sie, gleich nachdem er von ihr Abschied genommen hatte, von einem Mann belästigt wurde, der aus einem Kabriolett sprang. Er wußte nicht, was er tun sollte, da ihm noch der Vorfall von jenem ersten Abend in der Erinnerung war. Während er noch unschlüssig dastand, hörte er die Valbrune rufen: »Zu Hilfe, Herr Graf!« Das genügt. Er stürzt sich auf ihren Angreifer, schlägt ihn zu Boden, nimmt Valbrune in seine Arme und eilt mit ihr davon. Als sie bei der Porte Saint-Denis außer Gefahr waren, setzte er sie nieder und sagte zu ihr:

»Befehlen Sie über mich. Soll ich Sie begleiten? Soll ich Sie verlassen? Mir ist alles gleich, wofern ich nur Ihnen dienlich sein kann.«

»Es gibt keinen zweiten Menschen wie Sie auf der Welt,« erwiderte Valbrune, noch am ganzen Leibe zitternd, »und so will ich jetzt kein Geheimnis mehr vor Ihnen haben. Begleiten Sie mich. Sie haben mich aus den Händen meines Todfeindes errettet!«

Sie bogen in die Rue de *** ein, und Valbrune klopfte an ein Tor. Ein Lakai öffnete.

»Ist der Herr schon zu Hause?«

»Nein, Madame.«

»Der Herr ist mein Gatte,« erklärte sie dem Grafen, »er hat mich aus Liebe geheiratet, ohne mich zu kennen. Unsere Ehe ist in den Augen der Menschen vielleicht keine ganz gültige, aber mein Gewissen ist ruhig. Eine der Bedingungen, unter denen ich eingewilligt habe, mich ihm zu ergeben, besagt, daß ich täglich den alten Mann besuchen darf, den wir soeben verlassen haben, und daß mein Mann sich nie nach ihm erkundigen darf. Oft hat er mich dorthin begleitet, und was er da sah, hat ihm volles Vertrauen zu mir eingeflößt. Er weiß, daß ich dort meine Freundin treffe, und hat mich oft gebeten, sie in unser Haus zu führen. Da er aber bemerkte, daß ich das nicht beabsichtigte, so hat er nie wieder darauf gedrängt. Er ist der beste Mann von der Welt! Da ich nun einmal eingewilligt habe, mich von Ihnen begleiten zu lassen, so werden Sie die Güte haben, auf ihn zu warten. Denn ich will vor ihm kein Geheimnis haben, mit Ausnahme des großen, undurchdringlichen, das auch sein Glück zerstören würde.«

Während sie noch so sprach, wurde das Tor wieder geöffnet.

»Das ist mein Mann,« sagte die Valbrune und lief dem Eintretenden entgegen.

»Mein Freund,« sagte sie zu ihm, »hier stelle ich dir einen Kavalier vor, der mich nach Hause begleitet hat. Es ist derselbe, mit dem ich oft bei dem alten Mann speise, der Geliebte meiner einzigen Freundin … Dieses Wort wird dir alles sagen.«

Valbrunes Gatte begrüßte den Grafen auf das herzlichste. Sie unterhielten sich höflich einige Minuten, bis der Graf sich verabschiedete.

»Leben Sie wohl, lieber Graf,« sagte da Valbrune zu ihm, »wenn Sie Cécile vor mir sehen, so erzählen Sie ihr schonend, was sich ereignet hat. Sagen Sie ihr auch, daß meine Besuche von jetzt an seltener sein werden, und daß ich ihr daher den alten Mann doppelt warm empfehle. Sehen Sie zu, daß Sie sich schnell verheiraten, so wie wir. Sie könnten dann in der Nähe eine Wohnung nehmen, und wir würden täglich zusammenkommen … Doch kein Wort zu Cécile, daß ich es war, die Ihnen diesen Rat gegeben hat! … Leben Sie wohl, gehen Sie schnell fort.«

Der Graf war über diese Worte sehr überrascht, aber er nahm sich vor, den Rat zu befolgen und zu diesem Zweck vor allem herauszubekommen, wie es sich mit der Heirat der Valbrune verhalte.

Der Vorfall war an einem Sonnabend geschehen. Am Sonntagmorgen hatte er im Faubourg Saint-Laurent zu tun. Er befand sich in der Nähe der Kirche, als er sah, daß Cécile diese gerade verließ. Sie hielt ihr Taschentuch vors Gesicht, als ob sie ein Erröten oder Tränen verbergen wollte. Der Graf geriet in Versuchung, sie anzusprechen, doch hielt ihn die Vernunft davon zurück. Er ging in die Kirche, um ihr, falls sie ihn bemerkt hatte, durch irgendein Wahrzeichen beweisen zu können, daß er ihr nicht gefolgt sei. In dem Augenblick, als der Graf eintrat, bestieg der Vikar gerade die Kanzel. Er fing mit einem sonderbaren Aufgebot an, indem er verkündigte: der Scharfrichter habe eine Tochter zu verheiraten, der er eine Mitgift von 30000 Franken gebe, es werde nur ein ehrlicher Mann für sie verlangt von guten Sitten, gutem Charakter usw.

»Bei Gott,« sagte der Graf bei sich selber, »besser konnte ich es nicht treffen! Nun kann ich Cécile beweisen, daß ich ihr nicht gefolgt bin, indem ich ihr erzähle, daß ich diesem sonderbaren Aufgebot beigewohnt habe.« Er hörte noch eine Viertelstunde die Predigt mit an, besorgte dann seine Geschäfte und begab sich endlich in die Wohnung des Greises. Dort traf er bereits Cécile an, die erregter war denn je. Er dachte, sie wisse bereits von dem Vorfall des vorigen Abends, und fing davon an, aber sie wußte noch von nichts, und er mußte ihr die Einzelheiten berichten, wobei er betonte, wie sehr er Valbrunes Gemahl um sein Glück beneide.

»Lieber Freund,« erwiderte Cécile darauf, »ich bin sehr aufgebracht über die Unvorsichtigkeit und Indiskretion meiner Freundin, aber beneide nicht die beiden um ihr Los, ich werde dir ein viel süßeres auch ohne Heirat bereiten.«

»Ohne Heirat! Nein, das lehne ich ab.«

»Verblendeter! Glaubst du denn, ich würde deine Hand ausschlagen, wenn ich sie annehmen könnte? Was hat die Valbrune angerichtet! Welchem Unheil setzt sie mich aus! …«

»Sie ist nicht meine Geliebte und hat doch mehr Vertrauen zu mir, als du!«

»Vertrauen! Ach! Ich würde mehr Vertrauen zu dir haben, als irgendeine Frau auf der Welt, wenn solches Vertrauen wirklich einen Beweis meiner Liebe bedeutete … Geliebter! Bist du deines Glückes schon überdrüssig? Sage, langweile ich dich? Du bist mein Glück … genügt dir das nicht? …«

»Wenn ich heute früh gewollt hätte, so gäbe es kein Geheimnis mehr für mich. Ich habe dich getroffen …«

»Wo denn?«

»Ich habe dich aus der Kirche kommen sehen, habe aber, deinem Gebote getreu, keinen Schritt getan, dir nachzugehen. Ich bin in die Kirche getreten, um dir Zeit zu lassen, zu verschwinden. So habe ich gehandelt, und solltest du daran zweifeln, dann kann ich es dir beweisen.«

»Deine Diskretion, teurer Freund, kommt dir selbst zugute, sie macht dein Glück aus, denn wenn du anders handeltest, so würdest du selber einen glücklichen Traum zerstören. Ich, Geliebter, liebe dich abgöttisch: treu und liebevoll machst du mich glücklich, wärest du ungetreu und wankelmütig, würde ich dich auch dennoch lieben und von meinen Hoffnungen leben, wenn ich aber deine Achtung verlöre, dann bliebe mir nur der Tod … Du willst mir beweisen, daß du mir nicht nachgegangen bist, doch ich glaube dir, ich glaube dir, denn du würdest mich ja nicht mehr lieben, wenn du mich täuschtest …«

»Mein Beweis? Ich habe den Vikar von der Kanzel herab verkünden hören, daß die Tochter des …«

»Halt ein, halt ein«, unterbrach Cécile ihn, bleich wie der Tod. Sie war einer Ohnmacht nahe, doch erholte sie sich allmählich wieder. Der Graf bemühte sich zärtlich um sie, ganz betroffen von der Aufregung, die sie erfaßt hatte. Er sprach von Heirat zu ihr, einer heimlichen, einer öffentlichen, mit oder ohne Formalitäten, – kurz, er zeigte sich zu allem bereit, was Cécile bestimmen würde, aber er verlangte, daß endlich eins oder das andere geschähe. Cécile verteidigte sich, so lange sie konnte, willigte aber schließlich in eine geheime Eheschließung ohne alle Formalitäten, die also vollkommen ungültig sein mußte. Der Graf machte diesen Einwand, sie entgegnete aber, sie wolle es so.

»Nun, du göttliches Weib,« sagte er darauf, indem er sie in seine Arme schloß, »dann sei es so. Ich sehe, es ist das beste, ich überlasse mein Schicksal dir allein. Mach mit mir, was du willst, meine Cécile! Sei mein Schutzgeist und meine Königin! …«

Cécile wollte ihm antworten, da klopfte es. Sie glaubten, es sei die Valbrune, aber in der Tür stand ein Mann. Es war der Mann, der am Abend vorher die Valbrune angegriffen hatte.

»Ist das da der Graf de la S.,« fragte er, »den ich zu Füßen der Tochter des Henkers sehe? Gestern reichte er seinen Arm einer anderen, die dieser alte Schuft da vom Galgen rettete …«

»Halt,« rief der Graf, »du Elender! Mag, was du sagst, wahr oder erlogen sein, sie ist meine Frau, hab‘ Achtung vor ihr! Die Geschichte der anderen kannte ich, ohne zu wissen, daß es sich um sie handelte: sie ist unschuldig, und du bist ein Scheusal. Flieh! oder du bist ein Kind des Todes!«

»Fliehen?« erwiderte der schändliche Ankläger der Valbrune, »ich habe einen Degen an meiner Seite!«

Der Graf riß sich aus den Armen Ceciles, die ihn zurückhalten wollte, und stürzte hinter dem Verleumder her, den er auf der Straße stellte. Der Kampf war kurz. Der Graf brachte seinem Gegner einen tödlichen Stoß bei und streckte ihn neben dem Wagen, der ihn hergebracht hatte, zu Boden. Er konnte noch seinem Diener befehlen, ihn nach Hause zu fahren, dort starb er. Die Sache wurde totgeschwiegen, weil die Familie des Toten, die ohnehin nicht an die Schuld der Valbrune glaubte, fürchtete, der Graf möchte, wenn er angeklagt würde, die alte Geschichte wieder vorbringen und die Unschuld des Mädchens beweisen können.

Doch wenden wir uns wieder zu Cécile.

Sie war während des Zweikampfs in Ohnmacht gefallen. Als sie wieder zu sich gekommen war, sah sie sich in den Armen des Grafen.

»Träume ich,« waren ihre ersten Worte, »doch nein … es ist furchtbare Wahrheit. Sie kennen mich jetzt, Herr Graf, nun ist alles aus!«

»Ja, teure Cécile, jetzt weiß ich endlich, wer du bist. Und nun vergöttere ich dich erst recht, jetzt, wo ich die Schönheit deiner Seele kennen gelernt habe. Du wirst meine Frau werden, Cécile! Ich will es so, und von nun an werde ich als dein Gebieter sprechen und dich an den Platz stellen, der dir gebührt!«

Während er sprach, schien Cécile in tiefes Nachdenken versunken zu sein. Plötzlich raffte sie sich auf und fragte:

»Und was ist aus deinem Gegner geworden?«

»Er ist in seinem Wagen davongefahren.«

»Verwundet?«

»Ja, schwer verwundet.«

»Ach, teurer Freund! Und du bist noch hier? Rette dich, wenn du mein Leben bewahren willst!«

»Diesem Wort bin ich gehorsam«, erwiderte der Graf. »Lebe wohl, teure Gattin – denn das wirst du sein! Sonst lege ich keinen Wert mehr auf mein Leben, das du mir zu erhalten befiehlst.« Damit entfernte er sich.

Am anderen Morgen konnte er nicht dem Drange widerstehen, den Greis zu besuchen, obwohl er erfahren hatte, daß sein Gegner der Verwundung erlegen war. Er traf Cécile nicht an, sie war erkrankt und hütete das Bett. Da hörte er auf keinen Rat mehr und folgte nur den Eingebungen seiner Liebe. Er ging zu ihr. Er kannte jetzt ihre Wohnung aus den Worten, die seinem Gegner entschlüpft waren. Er verlangte ihren Vater zu sprechen und setzte diesem die Gründe auseinander, warum er Cécile sofort sprechen müßte. Man führte ihn zu ihr und ließ die beiden Liebenden allein.

»Ach! lieber Freund, welches Haus besuchen Sie!«

»Ich komme, teures Mädchen, dir ewige Liebe zu schwören und mit dir zu besprechen, wie wir es anstellen können, damit mir gewisse Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Das geht dich so viel an wie mich, denn von nun an sind wir eins. Selbst wenn ich dich nur mit den peinlichen Folgen heiraten kann, die du für mich befürchtest, werde ich es dennoch tun. Aber ich überlasse es dir, darüber nachzudenken, ob es nicht möglich wäre, diese von mir abzuwenden. Jedenfalls aber werde ich dich, meinen kostbaren Schatz, unter keinen Umständen im Stich lassen. Ich achte, ehre, liebe, vergöttere dich, Cécile. Und deshalb gibt es für mich nur eins: dich zu heiraten.«

»Nein, nein,« antwortete Cécile, »Sie dürfen sich nicht Selber ein Solches Unrecht zufügen! Dazu werde ich nie meine Einwilligung geben!«

»Dann werde ich es mir also gegen deinen Willen zufügen.«

»Ach, lieber Graf! Und die Kinder! Unseliger, die Liebe verblendet dich!«

»Ja, aber ich liebe diese Verblendung, ich liebe ihre Quelle und ich liebe ihre Ursache!«

Er sagte ihr noch vieles andere, aber er konnte sie nicht bestimmen, ihm ihre Hand zu schenken. Trotzdem traf er alle Vorbereitungen, und als der Tag gekommen war, forderte er sie auf, mit ihm vor den Altar zu treten. Sie weigerte sich und wollte nicht das Bett verlassen, das sie noch immer hütete. Da rief er den Geistlichen ins Haus, und unter Tränen mußte sie seinen dringenden Bitten nachgeben.

Graf de la S. führte seine junge Frau auf eines seiner Güter in Lothringen – den Namen verschweige ich –, wo er mit ihr ein glückliches Leben führt. Die Valbrune und ihr Gatte folgten ihnen bald ebenfalls dahin nach. Der Graf ist der einzige Mitwisser des Geheimnisses der Valbrune. Die glückliche Cécile kann ihren Mann nicht genug bewundern, der sie unsagbar liebt und sich ihretwegen über das größte und vielleicht berechtigste Vorurteil hinweggesetzt hat.