Erstes Kapitel


Ich finde Giulietta wieder und bei ihr den angeblichen Grafen Celi, der inzwischen Graf Alfani geworden ist. – Ich beschließe nach Neapel zu reisen. – Ein Erlebnis, das mich auf einen anderen Weg bringt.

Als ich nach einem kurzen Spaziergang in meinen Gasthof in Cesena zurückkam, gab der Wirt mir den Theaterzettel, worauf vier Vorstellungen der Metastasioschen Dido im Spadatheater angekündigt wurden. Da ich sah, daß weder unter den Künstlern noch unter den Künstlerinnen Bekannte von mir waren, entschloß ich mich, mir die Abendvorstellung anzusehen und erst am anderen Morgen mit der Post abzureisen. Mich stachelte immer noch ein kleines bißchen Furcht vor der Inquisition, und es war mir, wie wenn sie mir schon dicht auf den Hacken säße.

Bevor ich den Zuschauerraum betrat, ging ich in das Ankleidezimmer der Schauspielerinnen, und die erste kam mir recht appetitlich vor. Sie war Bologneserin und hieß Narici. Ich begrüßte sie und fragte sie nach einigen Komplimenten, ob sie frei sei.

»Ich bin«, antwortete sie, »nur der Direktion gegenüber verpflichtet.«

»Haben Sie einen Liebhaber?«

»Nein.«

»Ich erbiete mich als solchen, wenn Sie Lust haben.«

Sie lächelte spöttisch und sagte: »Ach, nehmen Sie mir doch vier Karten zu den vier Vorstellungen ab.«

Ich zog zwei Zechinen aus meiner Börse, die ich absichtlich so hielt, daß sie sehen mußte, wie gut sie gespickt war; dann nahm ich die vier Karten, gab sie ihrer Zofe, die hübscher war als sie, und ging ohne weiter ein Wort zu sagen. Sie rief mich zurück; ich tat aber, als hörte ich sie nicht, und nahm mir einen Parkettplatz. Da ich alles höchst mittelmäßig fand, stand ich nach dem ersten Ballet auf, um fortzugehen. Als ich dabei zufällig einen Blick auf die große Loge warf, sah ich zu meinem großen Erstaunen den Venetianer Manzoni mit der berühmten Giulietta, deren famosen Ball mit der Ohrfeige der Leser wohl noch in Erinnerung haben wird.

Da ich sah, daß man mich nicht bemerkte, fragte ich meinen Nachbar, wer wohl die schöne Dame mit den vielen Diamanten sei. Er antwortete mir: »Das ist Signora Querini aus Venedig; der Eigentümer des Theaters, General Graf Spada, den Sie an ihrer Seite sehen, hat sie aus seiner Heimat Faenza hierher gebracht.«

Es freute mich sehr, daß Herr Querini sie endlich geheiratet hatte, aber ich dachte nicht daran, mich ihr zu nähern – aus Gründen, die der Leser ebenso wenig vergessen haben wird wie die Vorfälle, als ich sie auf ihr Verlangen als Abbaten verkleiden mußte. Ich wollte also gehen; aber im selben Augenblick gewahrte sie mich und winkte mich heran. Ich kam; da ich aber nicht bekannt sein wollte, sagte ich ihr leise, ich nenne mich Farussi. Manzoni sagte mir, ich spräche mit Ihrer Excellenz Signora Querini. »Ich weiß es«, sagte ich zu ihm, »aus einem Brief, den ich aus Venedig erhielt, und ich wünsche der gnädigen Frau von Herzen Glück dazu.«

Giulietta verstand mich, machte mich auf der Stelle zum Baron und stellte mich dem Grafen Spada vor. Sofort lud der Herr mich sehr liebenswürdig ein, in seine Loge zu kommen. Nachdem er mich gefragt hatte, wober ich käme, wohin ich ginge und so weiter, bat er mich, ihm die Ehre zu erweisen und bei ihm zu Nacht zu speisen.

Vor zehn Jahren war er Giuliettas Freund in Wien gewesen, als Maria Theresia in Anbetracht des bösen Einflusses ihrer Reize sie ausweisen zu müssen glaubte. Sie hatte in Venedig die Bekanntschaft mit ihm erneuert und hatte ihn veranlaßt, sie zu einer Vergnügungspartie mit sich nach Bologna mitzunehmen; und ihr alter Anbeter, Herr Manzoni, der mir dies alles erzählte, begleitete sie, um Herrn Querini über ihre gute Aufführung berichten zu können. Er war allerdings kein sehr gut gewählter Tugendwächter. In Venedig wollte sie überall die Meinung verbreiten, daß Herr Querini sie im Geheimen geheiratet habe; aber in einer Entfernung von fünfzig Meilen hielt sie diese Formalität nicht für angebracht, und der General hatte sie bereits dem ganzen Adel von Cesena als Signora Querini Papozze vorgestellt. Ubrigens hätte Herr Querini unrecht gehabt, wenn er auf den General eifersüchtig gewesen wäre, denn dieser war ein so alter Bekannter, daß es nicht darauf ankommen konnte, wenn er der Schönen den Hof machte. Übrigens gilt es bei gewissen Frauen als ausgemacht, daß ein Mann, der als neuester Liebhaber sich auf einen alten Bekannten eifersüchtig zeigt, nur ein Dummkopf sein kann und als solcher zu behandeln ist. Giulietta hatte mich schnell gerufen, weil sie ohne Zweifel meine Indiskretion fürchtete; als sie aber sah, daß ich ebenfalls die ihrige zu fürchten hatte, da beruhigte sie sich; ich war so vernünftig, sie von Anfang an mit allen ihrem Stande schuldigen Rücksichten zu behandeln.

Beim General fand ich zahlreiche Gesellschaft und ziemlich hübsche Frauen. Da ich Giulietta nicht sah, fragte ich Herrn Manzoni nach ihr, und er sagte mir, sie sitze am Pharaotische und verliere ihr Geld. Ich ging in den Spielsaal und sah sie zur Linken des Bankhalters sitzen, welcher bei meinem Anblick erbleichte. Er war der angebliche Graf Celi. Er bot mir ein Buch1 an, ich wies es höflich zurück, nahm aber Giuliettas Anerbieten an, Halbpart mit ihr zu spielen. Sie hatte etwa fünfzig Zechinen vor sich liegen; ich gab ihr ebenso viel und setzte mich neben sie. Nach Schluß der Taille fragte sie mich, ob ich den Bankhalter kenne, und ich bemerkte, daß er es gehört hatte. Ich sagte Nein. Die Dame, die zu meiner Linken saß, sagte mir, es sei der Graf Alfani. Eine halbe Stunde später hatte Frau Querini ein Sept et le va von achtzig Zechinen auf einer Karte stehen2, und der Abzug war entscheidend; ich stand auf und heftete meine Blicke auf die Hände des Bankhalters. Trotzdem schlug er die Volte und die Signora verlor.

Im selben Augenblick kam der General und holte Sie zu Tisch; sie ließ den Rest ihres Goldes liegen und stand auf; nach dem Dessert kehrte sie an den Spieltisch zurück und verlor alles.

Ich belebte das Mahl durch eine Menge kleiner Geschichten und feiner Scherze und gewann mir dadurch die Freundschaft der ganzen Gesellschaft, ganz besonders die des Generals. Als er von mir gehört hatte, ich ginge nur um einer verliebten Laune willen nach Neapel, beschwor er mich, einen Monat bei ihm zu verbringen und ihm zuliebe meine Laune zu opfern. Sein Bitten war jedoch vergeblich; denn da mein Herz leer war, so drängte es mich, Lucrezia und Teresa wiederzusehen, von deren Reizen ich nach fünf Jahren nur noch eine verworrene Erinnerung hatte. Doch erklärte ich mich bereit, die vier Tage in Cesena zu bleiben, die er noch dort verbringen wollte.

Als ich mich am anderen Morgen anzog, sah ich den Feigling Alfani-Celi erscheinen. Ich empfing ihn mit einem spöttischen Lächeln, indem ich ihm sagte, ich hätte ihn erwartet.

Da mein Friseur anwesend war, antwortete er nichts; sobald wir aber allein waren, fragte er mich: »Welche Gründe können Sie haben, mich zu erwarten?«

»Meine Gründe sind Wahrscheinlichkeiten, die Sie im einzelnen hören werden, sobald Sie mir hundert Zechinen aufgezählt haben, was Sie sofort tun werden.«

»Hier sind fünfzig, die ich Ihnen überbringen wollte; mehr können Sie nicht verlangen.«

»Ich nehme fie als Abzahlung an; aber ich warne Sie im Guten, sich heute abend nicht beim Grafen einzufinden, denn Sie werden dort nicht empfangen werden; und das wird man mir zu verdanken haben.«

»Ich hoffe, Sie werden es sich überlegen, ehe Sie eine solch schlechte Handlung begehen.«

»Ich habe es mir bereits genügend überlegt. Aber schnell, machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Es klopfte an meiner Tür, und der angebliche Alfani verschwand, ohne daß ich nötig hatte, ihm meine Aufforderung zu wiederholen. Der neue Besucher war der neue Kastrat, der mich im Auftrag der Narici zum Essen einladen sollte. Ich fand die Einladung spaßhaft und nahm sie lachend an. Dieser Kastrat und Komiker hieß Niccola Peretti und behauptete, der Enkel eines natürlichen Sohnes von Sixtus dem Fünften zu fein, was sehr leicht möglich sein kann. Fünfzehn Jahre später werde ich von ihm sprechen. Beim Eintreten sah ich den Grafen Alfani, der mich ganz gewiß nicht erwartete; mir kam die Idee, er müsse mich für seinen bösen Geist halten. Er begrüßte mich mit großer Höflichkeit und bat mich, zwei Worte unter vier Augen mit mir sprechen zu dürfen.

»Ich gebe Ihnen noch fünfzig Zechinen«, sagte er zu mir; »aber als Ehrenmann können Sie diese nur annehmen, um sie Frau Querini wiederzugeben: wie aber wollen Sie sie ihr auszahlen, ohne ihr zu sagen, daß Sie mich zu dieser Rückerstattung genötigt haben? Sie werden fühlen, welche Folgen dies haben könnte.«

»Ich werde sie ihr übergeben, wenn Sie nicht mehr hier sind; unterdessen werde ich verschwiegen sein; aber hüten Sie sich, in meiner Gegenwart das Glück zu verbessern, denn ich würde Ihnen einen bösen Streich spielen.«

»Verdoppeln Sie meine Bank, und Sie bekommen Halbpart.«

»Ihr Vorschlag ist eine Beleidigung.«

Ich erhielt die fünfzig Zechinen und versprach ihm, das Geheimnis zu bewahren.

Bei der Schauspielerin war zahlreiche Gesellschaft, besonders junge Leute, die nach dem Essen sämtlich ihr Geld verloren. Ich spielte nicht, und dadurch fühlte die Schöne sich enttäuscht; denn sie hatte mich nur eingeladen, weil sie dachte, ich müßte auch einer von derselben Sorte sein, wie die anderen. Als einfacher Zuschauer hatte ich die Gelegenheit, zu beobachten, wie sehr Mohammed recht hatte, daß er alle Glücksspiele verbot.

Am Abend nach der Oper legte der Graf eine Bank auf; ich spielte und verlor zweihundert Zechinen; doch konnte ich mich deswegen nur an die Launen des Glücks halten; Frau Querini gewann. Am nächsten Abend sprengte ich vor dem Abendessen beinahe seine Bank; gleich nach dem Essen ging ich zu Bett, da ich mich müde fühlte und mit meinem Gewinn zufrieden war.

Am nächsten Morgen in der Frühe ging ich zum General und erfuhr, daß sein Adjutant dem angeblichen Alfani die Karten ins Gesicht geworfen hatte und daß sie sich mittags treffen sollten. Ich suchte den Offizier auf seinem Zimmer auf und bot mich ihm als Sekundanten an, indem ich ihm versicherte, es würde kein Blut vergossen werden. Er dankte mir und sagte mir bei Tisch, ich hätte richtig geraten, denn der Graf Alfani wäre nach Rom abgereist. »Nun,« sagte ich zur Gesellschaft, »so werde ich Ihnen heute abend eine Bank legen.« Nach dem Essen nahm ich Frau Querini auf die Seite, erzählte ihr die Geschichte und reichte ihr die fünfzig Zechinen, die ich für sie aufbewahrt hatte.

»Sie wollen«, antwortete sie mir, »mit Hilfe dieses Märchens mir fünfzig Zechinen zum Geschenk machen, aber ich will sie nicht – ich habe kein Geld nötig.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich den Spitzbuben gezwungen habe, sie mir wiederzugeben und zugleich mit ihnen die anderen Zechinen, die er von mir hatte.«

»Das kann wohl sein, aber ich will Ihnen nicht glauben; merken Sie sich übrigens, daß ich nicht dumm genug zu sein glaube, um mich betrügen, geschweige denn bestehlen zu lassen.«

Die Philosophie verbietet, zu bereuen, daß man eine gute Handlung vollbracht hat; aber es kann erlaubt sein, sich darüber zu ärgern, wenn durch böswillige Auslegung versucht wird, einem einen Vorwurf daraus zu machen.

Am Abend nach der letzten Vorstellung legte ich, meinem Versprechen gemäß, beim General eine Bank auf; ich verlor einige Zechinen, aber man erwies mir viel Liebes. Dies ist ein viel süßeres Gefühl, als wenn man gewinnt, vorausgesetzt, daß der Spieler sich nicht in der Notwendigkeit befindet, auf sein Geld sehen zu müssen.

Graf Spada, der eine Zuneigung zu mir gefaßt hatte, bat mich, mit ihm nach Brisighetta zu gehen, aber ich widerstand, denn ich wollte durchaus nach Neapel reisen.

Am andern Morgen wurde ich durch einen furchtbaren Spektakel aufgeweckt, den man fast unmittelbar vor meiner Zimmertür vollführte. Ich sprang aus dem Bett und öffnete meine Tür, um zu sehen, was los wäre. Ich sah eine Bande von Sbirren und einen anständig aussehenden Mann, der auf lateinisch aus vollem Halse auf dies Gezüchte, eine wahre Pest Italiens, schimpfte, sowie auf den dabeistehenden Wirt, der die Schändlichkeit begangen hätte, ihnen die Tür zu öffnen.

Ich fragte den Wirt, worum es sich handle, und der Kerl antwortete mir: »Dieser Herr, der dem Anschein nach nur Latein spricht, liegt mit einem Mädchen im Bett, und die Häscher des Bischofs sind gekommen, um festzustellen, ob sie seine Frau ist; die Sache ist ganz einfach; ist es seine Frau, so braucht er es den Leuten nur durch irgend ein Zeugnis zu beweisen, und alles ist in Ordnung; ist sie es aber nicht, so muß er freilich sich gefallen lassen, mit dem Mädchen ins Gefängnis zu gehen; dazu wird es jedoch nicht kommen, denn ich verpflichte mich, mittels zwei oder drei Zechinen die Sache gütlich beizulegen. Ich werde mit ihrem Anführer sprechen, und alle die Leute hier werden sofort gehen. Wenn Sie Latein sprechen, so gehen Sie hinein und bringen Sie ihn zur Vernunft.«

»Wer hat die Zimmertür gesprengt?«

»Man hat sie nicht gesprengt, sondern ich habe sie geöffnet; das ist meine Pflicht.«

»Solche Pflicht mag ein Straßenräuber haben, aber nicht ein ehrenwerter Wirt.« Entrüstet über eine derartige Niedertracht glaubte ich mich in die Sache einmischen zu müssen. Die Nachtmütze auf dem Kopf, trat ich ein und erzählte dem Herrn alle einzelnen Umstände dieser Schererei. Er antwortete mir lachend: erstens könnte man überhaupt nicht wissen, ob die Person, die neben ihm im Bett liege, eine Frau wäre, denn man hätte sie nur als Offizier gekleidet gesehen; zweitens wäre er der Meinung, daß kein Mensch ihn zwingen könnte, Rechenschaft darüber abzulegen, ob sie seine Frau oder seine Geliebte wäre, angenommen, daß die im Bette liegende Person überhaupt ein Weib wäre. »Übrigens«, fuhr er fort, »bin ich entschlossen, nicht einen einzigen Taler auszugeben, um diese Geschichte zu erledigen; ich werde das Bett nicht eher verlassen, als bis meine Tür wieder verschlossen ist. Sobald ich angezogen bin, werde ich Ihnen eine hübsche Entwicklung der Komödie zeigen: ich werde die ganze Spitzbubenbande mit Säbelhieben hinausjagen.«

Ich blickte mich um und sah in der einen Ecke des Zimmers einen Säbel und eine ungarische Tracht, die wie eine Uniform aussah. Ich fragte ihn, ob er Offizier sei.

»Ich habe«, antwortete er, »meinen Namen und Stand in das Fremdenbuch des Wirtes eingeschrieben.« Erstaunt über die Frechheit des Wirts, befragte ich diesen, und er gab zu, daß es die Wahrheit wäre; aber nichtsdestoweniger behielte doch das geistliche Gericht das Recht, darüber zu wachen, daß kein Ärgernis stattfände.

»Der Schimpf, den Sie dem Offizier angetan haben, wird Ihnen teuer zu stehen kommen, Herr Wirt!«

Zur Antwort lachte er mir ins Gesicht. Ärgerlich, daß solch ein gemeiner Kerl mich zu verhöhnen wagte, wurde ich Feuer und Flamme für die Sache und fragte den Offizier, ob er das Vertrauen zu mir hätte, mir für ein paar Augenblicke seinen Paß zu geben.

»Ich besitze zwei und kann Ihnen sehr wohl den einen anvertrauen.« Mit diesen Worten zog er den Paß aus seiner Brieftasche und übergab ihn mir; er war vom Kardinal Albani unterschrieben. Der Offizier war Hauptmann in einem ungarischen Regiment der Kaiserin und Königin. Er kam von Rom nach Parma, um Herrn Dutillot, dem ersten Minister des Infanten, Herzog von Parma, Depeschen vom Kardinal Alessandro Albani zu überbringen. In diesem Augenblick kam mit lautem Fluchen ein Kerl ins Zimmer und bat mich, dem Herrn zu sagen, er möchte sich mit den Leuten auseinandersetzen, denn er wollte abreisen und könnte nicht länger warten. »Wer sind Sie?« – Er antwortete mir, er wäre der Fuhrmann, mit dem der Hauptmann abreisen sollte.

Ich sah nun, daß es sich um eine abgekartete Geschichte handelte, und bat den Offizier, die Angelegenheit mir zu überlassen, ich würde sie in Ehren zu Ende führen.

»Machen Sie alles, wie Sie wollen,« antwortete er mir. Ich wandte mich nun zum Fuhrmann und sagte zu ihm:

»Bringen Sie den Koffer des Herrn Hauptmann herauf; Sie werden bezahlt werden.«

Sobald der Koffer im Zimmer war, zog ich acht Zechinen aus meiner Börse und gab sie ihm, nachdem ich eine Quittung auf den Namen des Hauptmanns erhalten hatte, der nur deutsch, ungarisch und lateinisch sprach.

Der Fuhrmann ging, und mit ihm verschwanden, sehr verblüfft, die Sbirren, mit Ausnahme von zweien, die im Saal blieben.

»Herr Hauptmann,« sagte ich zum Ungarn, »wollen Sie, bitte, bis zu meiner Rückkehr in Ihrem Bett bleiben, ich gehe zum Bischof, um diesem die Sache vorzutragen und ihm klar zu machen, daß er Ihnen eine Genugtuung schuldet. Übrigens ist General Spada in Cesena und …«

Er ließ mich nicht ausreden.

»Ich kenne ihn!« rief er, »und hätte ich gewußt, daß er hier ist, so hätte ich dem Schuft von Wirt, der dem Gesindel meine Tür geöffnet hat, eine Kugel durch den Kopf gejagt!«

Ich zog mich in aller Hast an und begab mich unfrisiert und im Überrock zum Bischof, wo ich großen Lärm schlug und die Dienerschaft beinahe mit Gewalt zwang, mich in sein Zimmer zu führen. Der Lakai an der Tür sagte mir, Seine Gnaden lägen noch im Bett.

»Einerlei! Ich habe keine Zeit zum Warten.« Ich schob ihn zur Seite und trat ein. Ich erzählte dem Prälaten die ganze Geschichte, indem ich den Wirrwarr im Zimmer des fremden Herrn in den lebhaftesten Farben schilderte, auf die Unbilligkeit eines derartigen Vorgehens hinwies und gegen die Polizeischikanen wetterte, die sich einfach über Menschen- und Völkerrechte hinwegsetzten.

Der Bischof antwortete mir nicht, aber er befahl, mich in seine Kanzlei zu führen.

Ich fand den Kanzler und wiederholte ihm, was ich bereits dem Bischof gesagt hatte, aber in wenig maßvollen Worten, die mehr aufreizend als besänftigend wirken mußten und durchaus nicht dazu angetan waren, die Freilassung des Offiziers herbeizuführen. Ich verstieg mich bis zu Drohungen und sagte, wenn ich der Offizier wäre, so würde ich eine eklatante Genugtuung fordern. Der Priester lachte mir ins Gesicht. Das war gerade was ich wollte. Er fragte mich, ob ich vielleicht nicht ganz richtig im Kopfe sei, und sagte mir, ich solle mich an den Anführer der Sbirren wenden.

»An ganz andere, Herr Abbate! an ganz andere, als einen Anführer der Sbirren!«

Hocherfreut, die Angelegenheit verschlimmert zu haben, ging ich fort und begab mich geraden Weges zu General Spada. Man sagte mir, er sei vor acht Uhr nicht sichtbar, und ich kehrte nach dem Gasthof zurück.

Aus dem Feuer, das mich beseelte, aus dem Eifer, womit ich mich der Angelegenheit angenommen hatte, hätte man schließen können – und ich könnte meine Leser bei diesem Glauben lassen – daß meine Entrüstung nur von dem Abscheu herrührte, womit ich sah, wie eine zügellose, unsittliche und schikanöse Polizei sich eine schändliche Verfolgung gegen einen Fremden erlaubte. Aber warum sollte ich einen wohlwollenden Leser hintergehen? Ich schulde ihm die Wahrheit, die ich ihm versprochen habe. Ich will also sagen, daß ich allerdings wirklich Entrüstung verspürte; was mich aber zu so heißem Eifer anspornte, war ein mehr persönlicher Grund; ich stellte mir das unter der Bettdecke verborgene Mädchen als entzückend vor; ich brannte vor Ungeduld, ihr Gesicht zu sehen, das ohne Zweifel die Scham ihr verboten hatte, mir zu zeigen. Sie hatte mich gehört, und mein Selbstbewußtsein erlaubte mir nicht, daran zu zweifeln, daß sie von mir eine bessere Meinung gefaßt hätte als von ihrem Hauptmann.

Da die Zimmertür offen geblieben war, trat ich ein und erstattete dem Hauptmann Bericht über alles, was ich getan hatte. Ich versicherte ihm, es werde im Laufe des Tages in seinem Belieben stehen, auf Kosten des Bischofs abzureisen, denn der General würde ihm auf jeden Fall volle Genugtuung verschaffen. Er dankte mir herzlich, gab mir meine acht Dukaten wieder und sagte, er würde erst am nächsten Tage abreisen.

»Was für ein Landsmann«, fragte ich ihn, »ist Ihr Reisekamerad?«

»Er ist Franzose und spricht nur seine Sprache.«

»Sie sprechen also französisch?«

»Kein Wort.«

»Das ist scherzhaft; Sie spielen also Pantomime?«

»Absolut.«

»Da tun Sie mir leid; denn das ist eine schwere Sprache.«

»Soweit es sich um die feineren Abstufungen der Gedanken handelt, allerdings; aber in materieller Hinsicht verstehen wir uns ausgezeichnet.«

»Kann ich Sie bitten, mit Ihnen frühstücken zu dürfen?«

»Fragen Sie ihn, ob ihm das Vergnügen machen wird.«

»Liebenswürdiger Begleiter des Herrn Hauptmanns,« sagte ich zu ihr, »wollen Sie mich als dritten zu Ihrem Frühstück zulassen?«

Sofort sah ich unter der Decke einen entzückenden, frischen, lachenden Kopf mit aufgelösten Haaren hervorkommen, der trotz seiner Männernachtmütze einem Geschlecht angehörte, ohne welches der Mann das unglücklichste Tier auf der Erde sein würde.

Entzückt über diese anmutige Erscheinung, sagte ich ihr, ich hätte das Glück gehabt, mich für sie zu interessieren, bevor ich sie noch gesehen hätte; jetzt aber, da ich das Vergnügen hätte, sie zu sehen, könnte mein Eifer, ihr nützlich zu sein, sich nur verdoppeln.

Sie antwortete mir mit einer Grazie und Lebhaftigkeit des Geistes, wie sie nur ihrer liebenswürdigen Nation eigen sind, und gab mir mein Kompliment mit einer Freiheit des Ausdrucks zurück, von der ich ganz entzückt war. Da meine Bitte genehmigt war, ging ich hinaus, um das Frühstück zu bestellen und sie allein zu lassen, damit sie sich in ihrem Bett aufrecht setzen könnten; denn sie waren entschlossen, das Bett nicht eher zu verlassen, als bis ihre Türe wieder verschlossen wäre. Der Kellner kam. Ich trat wieder ein und sah meine hübsche Französin im blauen Überrock und nachlässig als Mann frisiert, aber selbst in diesem Anzug entzückend. Ich konnte es kaum erwarten, sie aufgestanden zu sehen. Während des Frühstücks unterbrach sie mit keinem Wort den Offizier, der fortwährend auf mich einsprach und dem ich gar nicht oder nur halb zuhorchte, denn ich war förmlich wie behext.

Sofort nach dem Frühstück ging ich zum General und erzählte ihm die Geschichte mit einigen Übertreibungen, die darauf berechnet waren, seine militärische Eitelkeit zu stacheln. Ich sagte ihm: wenn er nicht Ordnung schaffte, wäre der Offizier entschlossen, einen reitenden Boten an seinen Beschützer, den Kardinal, zu schicken. Aber meine Beredsamkeit war überflüssig, denn der General wünschte, daß die Priester um die Himmelsangelegenheiten sich bekümmerten und die Nase nicht in die Angelegenheiten dieser Welt steckten.

»Ich werde«, sagte er, »dies Possenspiel zum guten Ende führen, indem ich daraus eine Sache von höchster Wichtigkeit mache.«

»Gehen Sie in den Gasthof,« sagte er zu seinem Adjutanten, »und laden Sie den Offizier und seinen Kameraden zum Mittagessen ein. Hierauf begeben Sie sich zum Bischof und teilen ihm mit, der Offizier, dem ein blutiger Schimpf widerfahren wäre, würde nicht eher abreisen, als bis er eine glänzende Genugtuung und die Summe Geldes empfangen werde, die er selbst als Entschädigung bestimmen würde. Sagen Sie ihm, daß ich, der General, dies mitteilen ließe, und daß im übrigen alle Ausgaben, die der Offizier hier machen würde, auf Rechnung des Bischofs gingen.«

Welcher Genuß für mich, bei diesem Befehl zugegen zu sein! Denn voller Eitelkeit betrachtete ich mich als Urheber desselben. Ich ging mit dem Adjutanten fort und stellte ihn dem Hauptmann vor. Dieser empfing ihn mit der Freude eines Soldaten, der einen Kameraden sieht. Der Adjutant lud ihn und seinen Freund ein und sagte ihm, er möchte aufschreiben, welche Genugtuung und Entschädigung er verlangte. Die Sbirren waren verschwunden, sowie sie den Adjutanten des Generals gesehen hatten. Ich gab dem Hauptmann Papier, Feder und Tinte, und er schrieb seine Forderung in einem für einen Ungarn recht guten Latein nieder. Der brave Mann wollte durchaus nur dreißig Zechinen verlangen, obwohl ich in ihn drang, er solle hundert fordern. Auch in bezug auf die Genugtuung war er viel zu bescheiden; denn er verlangte nur, daß der Wirt und die Sbirren ihn in Gegenwart des Adjutanten auf den Knien um Verzeihung bitten sollten. Er drohte dem Bischof, er würde einen reitenden Boten nach Rom an den Kardinal Alessandro schicken, wenn ihm sein Verlangen nicht binnen zwei Stunden erfüllt würde, und er würde auf seine Kosten in Cesena bleiben und täglich zehn Zechinen berechnen.

Der Offizier ging. Einen Augenblick darauf trat der Wirt ehrfurchtsvoll ein und sagte dem Hauptmann, er sei frei; als aber dieser ihm durch mich sagen ließ, er sei ihm zwanzig Stockhiebe schuldig, machte er schnell, daß er hinauskam.

Ich ließ die beiden allein, um mich anzukleiden, da ich mit ihnen zum General gehen wollte, der uns zum Essen eingeladen hatte. Eine Stunde später sah ich sie in sehr gut sitzenden Uniformen. Die Französin trug eine Phantasieuniform, aber eine sehr elegante; ich gab sofort meinen Plan der Reise nach Neapel auf und beschloß mit ihnen nach Parma zu gehen. Die Schönheit der hübschen Französin hatte mich bereits ganz gefangen genommen. Der Hauptmann streifte bereits die sechzig, und ich fand natürlich, daß ein solches Paar sehr schlecht zu einander passe. Ich setzte mir in den Kopf, mein Vorhaben müsse sich auf freundschaftliche Weise erreichen lassen.

Der Adjutant kam mit einem Priester von der bischöflichen Kanzlei zurück, und dieser sagte dem Hauptmann, die von ihm geforderte Genugtuung und Entschädigung würde ihm zu teil werden; doch müßte er sich mit fünfzehn Zechinen begnügen. »Dreißig oder nichts!« antwortete der Ungar trocken. Er erhielt sie, und alles war erledigt. Da dieser schöne Sieg meinen Bemühungen zu verdanken war, trug er mir die Freundschaft des Hauptmanns und seiner schönen Begleiterin ein.

Um sofort zu bemerken, daß der Reisekamerad des Hauptmanns kein Mann war, brauchte man nur die Hüften zu sehen. Sie war ein zu schönes Weib, um für einen Mann gelten zu können. Gewiß haben die Frauen sehr unrecht, wenn sie durch Verkleidung eine Ähnlichkeit mit uns Männern erreichen wollen; denn sie gestehen dadurch, daß ihnen einer der schönsten Vorzüge ihres Geschlechtes fehlt.

Kurz vor Essenszeit begaben wir uns zum General, der sich beeilte, die beiden Offiziere allen anwesenden Damen vorzustellen. Keine von ihnen ließ sich täuschen; da jedoch alle bereits die Geschichte kannten, so waren sie entzückt, mit dem Helden der Komödie zusammen zu speisen, und alle behandelten den jungen Offizier, wie wenn er ein Mann gewesen wäre, die Herren dagegen bezeigten ihm Huldigungen, die seinem wirklichen Geschlecht besser entsprachen.

Nur Signora Querini schmollte; denn da die schöne Französin die ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte, so litt die Eitelkeit der Venetianerin unter der Vernachlässigung. Sie richtete das Wort nur an sie, um mit ihrem Französisch großzutun, das sie in der Tat ziemlich gut sprach. Der arme Hauptmann sagte beinahe kein Wort, denn kein Mensch hatte Lust, Latein zu sprechen, und der General hatte ihm nicht viel auf Deutsch zu sagen.

Ein alter Abbate, der mit bei Tische war, suchte den Bischof zu rechtfertigen, indem er versicherte, der Wirt und die Sbirren hätten nur auf Befehl des heiligen Offiziums so gehandelt. »Aus diesem Grunde«, sagte er, »befinden sich in den Gasthöfen keine Türriegel, damit die Fremden sich nicht einschließen können. Die Inquisition will durchaus nicht erlauben, daß jemand mit einer anderen Frau schläft, als mit seiner eigenen.«

Zwanzig Jahre später fand ich in Spanien alle Türen mit einem Riegel von außen versehen, so daß die Reisenden sich im Gasthof wie in einem Gefängnis befanden und allen Plackereien nächtlicher Haussuchungen ausgesetzt waren. Diese Krankheit ist in Spanien so tief eingewurzelt, daß sie eines Tages die ganze Monarchie zu verschlingen droht, und es wäre gar nicht zu verwundern, wenn eines Tages der Großinquisitor den König schöre und sich auf dessen Thron setzte.

  1. Die dreizehn Karten, die der Spieler benützt, um darauf seine Einsätze zu machen.
  2. Sie hatte also auf die Karte dreimal gewonnen und den ursprünglichen Satz von zehn Zechinen nebst den Gewinnen stehen lassen.

Zehntes Kapitel


Mein Handel mit der Pariser Justiz. – Fräulein Vesian.

Die jüngere Tochter meiner Wirtin, ein Mädchen von fünfzehn bis sechzehn Jahren, kam oft zu mir, ohne gerufen zu sein. Ich bemerkte bald, daß sie mich liebte, und ich wäre mir selber lächerlich vorgekommen, wenn ich gegenüber einer pikanten, lebhaften, liebenswürdigen Brünetten mit einer entzückenden Stimme den Grausamen hätte spielen wollen.

Während der ersten vier oder fünf Monate kamen zwischen ihr und mir nur kindliche Scherze vor; eines Nachts aber kam ich sehr spät nach Hause und fand sie in tiefem Schlaf auf meinem Bett; ich glaubte sie nicht wecken zu dürfen, zog mich aus und legte mich neben sie. Sie verließ mich mit Tagesanbruch.

Es war noch keine drei Stunden her, daß Mimi mich verlassen hatte, als eine Modistin mit einer reizenden Tochter mich besuchte und sich bei mir zum Frühstück einlud. Ich fand das junge Mädchen wohl eines Frühstückes würdig, da ich jedoch Bedürfnis nach Ruhe hatte, so bat ich sie, zu gehen, nachdem ich mich eine Stunde mit ihnen unterhalten hatte. Gerade als sie hinausgingen, traten Frau Quinson und ihre Tochter ein, um mein Bett zu machen. Ich zog meinen Schlafrock an und setzte mich an den Schreibtisch.

»Oh, diese widerlichen Frauenzimmer!« rief plötzlich die Mutter.

»Auf wen schimpfen Sie denn, Frau Quinson?«

»Das Rätsel ist nicht sehr dunkel, mein Herr; sehen Sie nur, wie die Bettücher beschmutzt sind.«

»Das tut mir leid, meine liebe Dame; aber wechseln Sie sie, und der Schaden wird beseitigt sein.«

Sie ging hinaus, indem Sie Drohungen murmelte: wenn die Weiber jemals wiederkämen, würden Sie es mit ihr zu tun bekommen.

Als Mimi mit mir allein war, machte ich ihr Vorwürfe über ihre Unvorsichtigkeit. Sie antwortete mir lachend, die Liebe habe diese Frauen gesandt, um die Unschuld zu beschützen.

Von diesem Tage an tat Mimi sich keinen Zwang mehr an; sie teilte mein Bett, so oft sie Lust hatte und falls ich sie nicht etwa fortschickte. Am Morgen schlich sie sich dann unbemerkt wieder in ihr Zimmer. Nach vier Monaten aber teilte die Schöne mir mit, unser Geheimnis würde bald entdeckt werden.

»Das tut mir leid,« antwortete ich ihr, »aber ich kann nichts dabei machen.«

»Man muß an irgend eine Abhilfe denken.«

»So denke dran.«

»Woran soll ich denn denken? Ach, mag kommen, was will, ich denke überhaupt nicht mehr dran.«

Etwa im sechsten Monat wurde die Rundung ihres Leibes so stark, daß ihre Mutter nicht mehr an der Sache zweifeln konnte; sie geriet in Wut und schlug das Mädchen, um auf diese Weise den Vater zu erfahren. Mimi nannte mich, und vielleicht log sie nicht.

Im Besitze dieser Entdeckung stürzte Frau Quinson wie eine Furie zu mir ins Zimmer. Sie warf sich in einen Lehnsessel, um Atem zu schöpfen; dann überhäufte sie mich mit Schimpfworten und bedeutete mir schließlich, ich müßte ihre Tochter heiraten. Da ich wußte, worum es sich handelte, und der Sache schnell ein Ende machen wollte, so antwortete ich ihr auf ihre Aufforderung, ich sei bereits in Italien verheiratet.

»So? Warum haben Sie dann meiner Tochter ein Kind gemacht?«

»Ich versichere Ihnen, ich habe nicht die Absicht gehabt; wer hat Ihnen übrigens gesagt, daß gerade ich es gemacht habe?«

»Sie selbst, mein Herr, und sie ist ihrer Sache gewiß.«

»Ich wünsche ihr Glück dazu; aber ich, Madame, ich erkläre Ihnen, daß ich vollkommen zu schwören bereit bin, daß dies durchaus nicht sicher ist.«

»Also?«

»Also nichts. Wenn sie schwanger ist, wird sie ein Kind kriegen.«

Sie ging unter Flüchen und Drohungen hinaus, und am nächsten Tage wurde ich vor den Kommissar des Viertels zitiert. Ich kam der Aufforderung nach und fand bei ihm Dame Quinson, mit allen möglichen Beweisstücken bewaffnet. Nach den üblichen einleitenden Protokollierungen fragte der Kommissar mich, ob ich zugebe, dem Mädchen Quinson den Schimpf angetan zu haben, worüber die anwesende Mutter sich beklagte?

»Herr Kommissar, wollen Sie, bitte, Wort für Wort die Antwort niederschreiben, die ich Ihnen geben werde.«

»Sehr gern.«

»Ich habe Mimi, der Tochter der Klägerin, überhaupt keinen Schimpf angetan; zum Zeugnis berufe ich mich auf das Mädchen selbst, das für mich stets ebensoviel Freundschaft gehabt hat, wie ich für sie empfinde.«

»Sie erklärt, von Ihnen schwanger zu sein.«

»Das ist möglich, aber es ist nicht sicher.«

»Sie sagt, es sei gewiß; denn sie versichert, außer Ihnen keinen Mann gesehen zu haben.«

»Wenn das wahr ist, so ist sie unglücklich; denn in diesem Punkt kann kein Mann einer anderen Frau glauben, als seiner eigenen.«

»Was hatten Sie ihr gegeben, um sie zu verführen?«

»Nichts; denn weit entfernt, sie verführt zu haben, bin ich von ihr verführt worden; wir waren jedoch sofort einig, denn ich bin durch ein hübsches Weib leicht zu verführen.«

»War sie unberührt?«

»Dies zu wissen, bin ich weder vorher noch nachher neugierig gewesen; davon, mein Herr, weiß ich also nichts.«

»Ihre Mutter verlangt von Ihnen eine Genugtuung, und das Gesetz verurteilt Sie.«

»Ich habe der Mutter durchaus keine Genugtuung zu geben, und dem Gesetz werde ich mich nur unterwerfen, wenn man mir nachgewiesen und mich überführt hat, daß ich es verletzt habe.«

»Sie sind dessen bereits überführt; denn finden Sie nicht, daß ein Mann, der in einem Hause, wo er wohnt, einem anständigen Mädchen ein Kind macht, dadurch die Gesetze der Gesellschaft verletzt?«

»Ich gebe dies zu, wenn die Mutter hintergangen wird. Aber wenn diese selbe Mutter ihre Tochter einem jungen Mann ins Zimmer schickt, muß man da nicht annehmen, daß sie gesonnen ist, in Frieden alles hinzunehmen, was die Folge davon sein kann?«

»Sie hat sie nur zu Ihnen hineingeschickt, um Sie zu bedienen.«

»Sie hat mich ja auch genau so bedient, wie ich sie bedient habe; und wenn Frau Quinson sie heute abend zu mir schickt, und wenn es Mimi paßt, so werde ich sie bedienen, so gut es nur geht; aber niemals mit Gewalt und niemals außerhalb meines Zimmers, für das ich stets pünktlich die Miete bezahlt habe.«

»Sie mögen sagen, was Sie wollen, aber Sie werden die Buße bezahlen.«

»Ich zahle nur, was ich für recht halte, und ich werde nichts bezahlen; denn unmöglich kann eine Buße zu bezahlen sein, wo keine Rechtsverletzung vorliegt. Wenn man mich verurteilt, werde ich mich beschweren und werde bis zur höchsten Instanz gehen, bis mir Recht und Billigkeit zuteil wird; denn, mein Herr, ich weiß, daß ich, so wie ich nun einmal bin, niemals so ungeschickt und so jämmerlich sein werde, einem hübschen, jungen Mädchen meine Liebkosungen abzuschlagen, wenn sie mir gefällt und wenn sie darum in mein eigenes Zimmer kommt, besonders wenn ich fest überzeugt bin, daß sie mit der Einwilligung ihrer Mutter kommt.«

Ich las das Protokoll durch, unterschrieb es und entfernte mich. Am nächsten Tage ließ der Polizeistatthalter mich rufen; nachdem er mich, die Mutter und die Tochter angehört hatte, sprach er mich frei und verurteilte die Mutter zur Bezahlung der Kosten. Dies verhinderte mich jedoch nicht, Mimis Tränen nachzugeben und ihrer Mutter die Kosten der Entbindung und des Wochenbettes zu vergüten. Sie bekam einen Jungen, der zum Besten der Nation ins Hotel Dieu geschickt wurde. Bald darauf entfloh Mimi aus der mütterlichen Wohnung, um im Theater der Messe von St.Laurent die Bretter der Bühne zu betreten. Da sie nicht bekannt war, fand sie ohne Mühe einen Liebhaber, der sie für eine Jungfrau hielt. Ich fand sie sehr hübsch, als ich sie einmal wieder traf.

»Ich wußte ja gar nicht,« sagte ich zu ihr, »daß du musikalisch seiest.«

»Ich bin es, wie alle meine Kameradinnen, von denen keine einzige eine Note kennt. Die Mädchen von der Oper verstehen auch nicht mehr davon, und trotzdem singt man zum Entzücken, wenn man ein bißchen Stimme und Geschmack hat.«

Ich lud sie ein, mir und Patu ein Abendessen zu geben, und er fand sie reizend. Später wurde sie liederlich und verscholl. Um diese Zeit erhielten die Italiener die Erlaubnis, auf ihren Theatern Parodien von Tragödien und Opern zu geben. Ich lernte in diesem Theater die berühmte Chantilly kennen, die frühere Geliebte des Marschalls von Sachsen, die man Favart nannte, weil der Dichter dieses Namens sie geheiratet hatte. Sie sang unter donnerndem Beifall die Rolle des Tonton in der Oper Thetis und Peleus von Fontenelle. Sie bezauberte durch ihre Anmut und ihr Talent einen Mann von höchstem Verdienst, den Abbé de Voisenon, mit dem ich ebenso intim bekannt wurde, wie mit Crébillon. Alle Theaterstücke, die als Werke der Frau Favart gelten und deren Namen tragen, stammen von diesem berühmten Abbé, der nach meiner Abreise von Paris zum Mitglied der Akademie erwählt wurde. Ich pflegte eifrig eine Bekanntschaft, die ich zu schätzen wußte, und er beehrte mich mit seiner Freundschaft. Durch mich wurde der Abbé von Voisenon auf den Gedanken gebracht, Oratorien in Versen zu dichten; sie wurden zum erstenmal in den Tuilerien gesungen an den Tagen, wo die Theater aus religiösem Anlaß geschlossen sind. Dieser liebenswürdige Abbé, geheimer Verfasser mehrerer Komödien, hatte eine sehr zarte Gesundheit und einen sehr kleinen Körper: er war ganz Geist und Feinheit und berühmt wegen seiner treffenden scharfen Witzworte, die trotzdem niemanden beleidigten. Er konnte unmöglich Feinde haben, denn seine Kritik streifte kaum die Haut. Eines Tages kam er von Versailles zurück, und ich fragte ihn, was es neues gäbe:

»Der König gähnt,« antwortete er mir, »weil er morgen ins Parlament kommen muß, um dort ein Lit de Justice zu halten.«

»Warum nennt man das ein Lit de Justice?«

»Das weiß ich nicht; vielleicht, weil die Justiz darauf schläft.«

Ich fand das lebende Abbild des berühmten Schriftstellers in Prag wieder in der Person des Herrn Grafen Franz Hardegg, des gegenwärtigen bevollmächtigten Ministers des Kaisers am sächsischen Hofe.

Abbé de Voisenon stellte mich Fontenelle vor, der damals dreiundneunzig Jahre alt war. Fontenelle war Schöngeist, liebenswürdiger Gelehrter, tiefer Kenner der Naturwissenschaften, berühmt durch seine witzigen Bemerkungen. Er konnte kein Kompliment machen, ohne es durch Geist und Liebenswürdigkeit zu beleben. Ich sagte ihm, ich käme eigens aus Italien, um ihn zu sehen.

»Gestehen Sie, mein Herr,« antwortete er, »daß Sie recht lange haben auf sich warten lassen!« Eine höfliche und zugleich kritische Antwort, die auf geistreiche und zugleich feine Art die Lüge meines Komplimentes bloßstellte.

Er schenkte mir seine Werke und fragte mich, ob die französischen Schauspiele mir gefielen; ich antwortete, ich hätte in der Oper Thétis et Pelée gesehen. Dieses Stück ist von ihm, und als ich mich sehr lobend darüber aussprach, antwortete er mir, es wäre eine tête pelée [R1: Glatzkopf].

»Ich war gestern im Français; man gab Athalie.« »Es ist das Meisterwerk Racines, und Voltaire hat mich mit Unrecht beschuldigt, ich hätte ihn kritisieren wollen, indem er mir ein Epigramm zuschrieb, dessen Verfasser niemals bekannt geworden ist; es endet mit den beiden sehr schlechten Versen:

»Pour avoir fait pis qu’Ester,
Comment diable as-tu pu faire ?«

Ich habe erzählen hören, Herr de Fontenelle sei der zärtliche Freund von Frau de Tencin gewesen. Herr d’Alembert sei die Frucht ihres vertrauten Umganges und Le Rond sei nur sein Pflegevater gewesen. d’Alembert lernte ich bei Frau de Graffigny kennen. Der große Philosoph besaß das Geheimnis, niemals gelehrt zu erscheinen, wenn er sich in Gesellschaft liebenswürdiger Personen befand, die keine Ansprüche auf wissenschastliche Bildung machten, und er verstand die Kunst, Leute, die sich mit ihm unterhielten, geistreich zu machen.

Als ich nach meiner Flucht aus den Bleikammern zum zweitenmal nach Paris kam, bereitete ich mir einen Freudentag, indem ich den liebenswürdigen und verehrungswürdigen Fontenelle wieder aufsuchte; aber er starb vierzehn Tage nach meiner Ankunft zu Beginn des Jahres 1757.

Als ich zum drittenmal nach Paris zurückkam, mit der Absicht, dort meine Tage zu beschließen, zielte ich aus die Freundschaft des Herrn d’Alembert; aber er starb wie Fontenelle vierzehn Tage nach meiner Ankunft, gegen Ende des Jahres 1783. Heute fühle ich, daß ich Paris und Frankreich zum letztenmal gesehen habe. Die revolutionäre Bewegung des Volkes hat mich abgestoßen, und ich bin zu alt, um hoffen zu dürfen, daß ich deren Ende erleben werde.

Der Gesandte des Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen am Versailler Hof, Graf von Looz, lud mich im Jahre 1751 ein eine französische Oper ins Italienische zu übertragen. Es sollte ein Werk sein, worin sich reiche Verwandlungen und große Balletts anbringen ließen, die jedoch mit dem Stoff in Verbindung stehen sollten. Ich wählte den Zoroaster des Herrn Cahusac. Ich mußte die Worte der Musik der Gesänge anpassen, was eine schwierige Sache ist. Daher blieb denn auch die Musik schön, aber die italienische Poesie war nicht gerade glänzend. Trotzdem ließ der freigebige Monarch mir eine schöne goldene Tabaksdose überreichen, und ich machte mit meiner Arbeit meiner Mutter ein großes Vergnügen.

Etwa um diese Zeit kam Fräulein Vesian mit ihrem Bruder nach Paris. Sie war blutjung, gut erzogen, ganz unerfahren und im höchsten Grade schön und liebenswürdig; ihr Bruder war bei ihr; ihr Vater, früherer Offizier in französischen Diensten, war in seiner Vaterstadt Parma gestorben. Da sie als Waise ohne alle Mittel dastand, befolgte sie einen Rat, den man ihr gab, verkaufte alle Möbel und Wertsachen, die ihr Vater hinterlassen hatte, und begab sich nach Versailles, wo sie versuchen wollte, von der Gerechtigkeitsliebe und Güte des Königs ein kleines Jahrgeld für ihren Unterhalt zu erlangen. So wie sie aus dem Postwagen ausgestiegen war, nahm sie einen Fiaker und ließ sich nach einem Hotel garni in möglichster Nähe des italienischen Theaters fahren. Der Zufall fügte es, daß sie im Hotel de Bourgogne abstieg, wo ich wohnte.

Am Morgen sagte man mir, in einem Zimmer neben dem meinigen seien zwei frisch angekommene Italiener, Bruder und Schwester; beide seien sehr hübsch, aber nur spärlich mit Gepäck versehen. Italiener, jung, arm, frisch angekommen – das war mehr als genug, um meine Neugier zu erregen. Ich gehe an ihre Türe, klopfe und ein junger Mann im Hemd öffnet mir, indem er sagt: »Mein Herr, ich bitte um Entschuldigung, daß ich in diesem Zustande ihnen aufmache.«

»Im Gegenteil, ich habe mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich komme in meiner doppelten Eigenschaft als Nachbar und als Landsmann, um Ihnen meine Dienste anzubieten.«

Auf der Erde lag eine Matratze; sie stellte das Bett vor, worin der junge Mann geschlafen hatte; ein Bett, das hinter Vorhängen verborgen den Alkoven ausfüllte, ließ mich erraten, wo die Schwester war. Ich bat sie um Entschuldigung, daß ich sie gestört hätte, ohne mich zu erkundigen, ob sie schon aufgestanden wäre. Ohne sich sehen zu lassen, antwortete sie mir, sie hätte, ermüdet von der Reise, ein bißchen länger geschlafen als gewöhnlich; aber sie würde aufstehen, wenn ich ihr Zeit lassen wollte.

»Ich gehe auf mein Zimmer, Fräulein, und werde die Ehre haben, wiederzukommen, sobald Sie mich rufen lassen; ich wohne im Zimmer Nummer so und so viel.«

Anstatt mich rufen zu lassen, erscheint eine Viertelstunde darauf in meinem Zimmer eine schöne, junge Person, die mir voll Anmut eine bescheidene Verbeugung macht, indem sie zu mir sagt, sie wolle mir meinen Besuch erwidern, und ihr Bruder werde sofort kommen. Ich danke ihr, indem ich sie einlade Platz zu nehmen, und spreche ihr meine volle Teilnahme aus. Ihre Dankbarkeit spricht sich noch mehr im Ton ihrer Stimme, als in ihren Ausdrücken aus; ich habe bereits ihr Vertrauen gewonnen, und sie schildert mir in naiver Weise, aber nicht ohne eine gewisse Würde, ihre kurze Lebensgeschichte oder vielmehr ihre Lage und schließt mit den Worten: »Ich muß mir im Laufe des Tages eine weniger teuere Wohnung verschaffen, denn ich habe nur noch sechs Franken übrig.«

Ich frage sie, ob sie Empfehlungsbriefe habe, und sie zieht aus ihrer Tasche ein Paket von Papieren, das aus etwa sieben bis acht Leumunds- und Armutszeugnissen und einem Paß besteht.

»Das ist also alles, was Sie haben, meine schöne Landsmännin?«

»Ja, ich werde mich mit meinem Bruder dem Kriegsminister vorstellen, und ich hoffe, er wird Mitleid mit mir haben.«

»Sie kennen niemanden?«

»Niemanden, mein Herr! Sie sind in Frankreich der erste, dem ich meine Geschichte erzählt habe.«

»Ich bin Ihr Landsmann, und Sie sind mir durch Ihre Lage ebensosehr wie durch Ihre Tugend empfohlen. Ich will Ihr Berater sein, wenn es Ihnen recht ist.«

»Ach, mein Herr, wie großen Dank werde ich Ihnen schuldig sein!«

»Gar keinen. Geben Sie mir ihre Papiere; ich werde sehen, was ich tun kann. Erzählen Sie Ihre Geschichte keinem Menschen. Man darf von Ihrer Lage keine Ahnung haben; vor allen Dingen verlassen Sie das Haus nicht. Hier haben Sie zwei Louis; ich leihe sie Ihnen, und Sie werden sie mir wiedergeben, wenn Sie dazu imstande sind.«

Sie nahm das Geld in tiefer Dankbarkeit an.

Fräulein Vesian war eine Brünette von sechzehn Jahren; interessant in der vollen Bedeutung des Wortes; sie sprach gut französisch und italienisch, hatte Formen, sehr anmutige Manieren und einen edlen Ton, der ihr viel Würde verlieh. Sie schilderte mir ihre Verhältnisse, ohne sich wegzuwerfen, aber auch ohne jenen Ausdruck von Schüchternheit, der von der Befürchtung hervorgerufen zu werden scheint, der Zuhörer möchte sich die ihm anvertraute Not zunutze machen. Sie trat weder zu demütig noch zu zuversichtlich auf; sie hatte Hoffnung und prahlte nicht mit ihrem Mut. In ihrer Haltung lag nichts, was darauf schließen ließ, daß sie mit ihrer Tugend paradieren wollte, obgleich sie eine Art Schamhaftigkeit an sich hatte, die auf jeden Eindruck machen mußte, der sich ungebührlich gegen sie hätte benehmen wollen. Ich verspürte diese Wirkung an mir selber; denn trotz ihrer schönen Augen, ihrem schönen Wuchs, der Frische ihrer Gesichtsfarbe, ihrer schönen Haut, trotz ihrem nachlässigen Hauskleid, mit einem Wort: trotz allem, was einen Mann in Versuchung führen kann und was in mir die glühendsten Begierden erregte, fühlte ich mich doch nicht einen Augenblick schwach werden: sie hatte mir ein Gefühl von Achtung eingeflößt, das mir Selbstbeherrschung verlieh, und ich nahm mir fest vor, nicht nur nichts gegen ihre Tugend zu unternehmen, sondern auf keinen Fall der erste zu sein, der sie auf einen schlechten Weg führte. Ich hielt es sogar für richtig, ein Gespräch dieser Art zurzeit zu vermeiden, weil ich dadurch vielleicht zu einem anderen Verfahren würde gebracht werden können. Ich sagte zu ihr nur folgendes: »Sie sind in eine Stadt gekommen, wo Ihr Geschick sich erfüllen muß, wo alle Vorzüge, mit denen die Natur Sie so reich ausgestattet hat, und die dazu bestimmt zu sein scheinen, Ihr Glück zu machen, im Gegenteil Anlaß zu Ihrem Untergang sein können; denn hier, meine liebe Landsmännin, verachten die Reichen alle Frauen von leichtfertigem Lebenswandel, mit Ausnahme derjenigen, die ihnen ihre Tugend geopfert haben. Wenn Sie tugendhaft sind und es bleiben wollen, so machen Sie sich darauf gefaßt, viel Elend zu erleiden, es sei denn, daß ein ganz besonders glücklicher Zufall Ihnen zu Hilfe käme. Wenn Sie aber über den sogenannten Vorurteilen zu stehen glauben, ich meine, wenn Sie zu allem bereit sind, um ein bequemes Leben führen zu können, so seien Sie wohl auf der Hut, daß Sie nicht betrogen werden. Mißtrauen Sie den goldenen, feurigen Worten, die ein Mann Ihnen sagen wird, um Ihre Huld zu gewinnen: glauben Sie seinen Worten nicht eher, als bis Sie Taten gesehen haben; denn nach dem Genuß erlischt das Feuer, und Sie werden sich betrogen sehen. Hüten Sie sich auch, an uneigennützige Gefühle bei den Männern zu glauben, die der Anblick Ihrer Reize überrascht: sie werden Ihnen falsche Münze in Überfluß geben, aber lassen Sie sich nicht so leicht verführen! Ich für meine eigene Person bin sicher, daß ich Ihnen nichts Böses tun werde, und ich hege die Hoffnung, Ihnen Gutes tun zu können. Damit Sie meinetwegen beruhigt sein können, werde ich Sie behandeln, wie wenn Sie meine Schwester wären; denn ich bin zu jung, um mich Ihnen gegenüber wie ein Vater zu verhalten, und ich würde nicht so zu Ihnen sprechen, wenn ich Sie nicht reizend fände.«

Während ich noch sprach, trat ihr Bruder ein. Er war ein hübscher und wohlgewachsener Junge von achtzehn Iahren, aber er wußte sich nicht zu benehmen, sprach wenig, und sein Gesicht war ausdrucklos. Wir frühstückten zusammen, und auf meine Frage, zu welchem Beruf er die größte Neigung fühle, antwortete er mir, er sei zu allem bereit, um auf anständige Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

»Haben Sie irgend ein Talent?«

»Ich schreibe ziemlich gut.«

»Das ist schon etwas. Wenn Sie ausgehen, so hüten Sie sich vor jedem Verkehr: gehen Sie in kein Kaffeehaus und sprechen Sie auf den öffentlichen Promenaden mit keinem Menschen. Essen Sie zu Hause mit Ihrer Schwester zusammen und lassen Sie sich eine kleine Kammer für sich geben. Schreiben Sie heute irgend etwas auf französisch; geben Sie es mir morgen früh, und wir werden dann sehen. Für Sie, Fräulein, sind hier Bücher, die ich Ihnen zur Verfügung stelle. Ich habe Ihre Papiere; morgen werde ich Ihnen irgend etwas berichten können, denn heute werden wir uns nicht mehr sehen, da ich für gewöhnlich sehr spät nach Hause komme.«

Sie nahm einige Bücher, machte mir eine bescheidene Verbeugung und sagte in einem bezaubernden Ton, sie habe völlig Vertrauen zu mir.

Ich hatte den besten Willen, ihr nützlich zu sein, und sprach daher überall, wohin ich an diesem Abend kam, nur von ihr und ihrem Anliegen, und überall sagten Herren und Damen mir: wenn sie hübsch wäre, würde sie unfehlbar ihren Zweck erreichen, indessen würde sie gut tun, sich recht eifrig zu bemühen. Den Bruder würde man wohl in irgend einem Bureau unterbringen, versicherte man mir. Ich bemühte mich eine Dame der großen Welt ausfindig zu machen, die bereit wäre, sie Herrn d’Argenson vorzustellen. Dies war der richtige Weg für sie, und ich fühlte mich imstande, während der notwendigen Wartezeit für sie zu sorgen. Ich bat Sylvia, sie möchte darüber mit Frau de Montconseil sprechen, die großen Einfluß auf den Kriegsminister hatte. Sie versprach es mir, wünschte aber zuvor das junge Mädchen kennen zu lernen.

Ich kam gegen elf Uhr nach Hause, und da ich in dem Zimmer des jungen Mädchens noch Licht sah, so klopfte ich bei ihr an. Sie öffnete mir, indem sie mir sagte, sie sei in der Hoffnung, mich noch einmal zu sehen, nicht zu Bett gegangen; ich erzählte ihr alles, was ich getan hatte, und fand sie zu allem bereit und voller Dankbarkeit. Sie sprach über ihre Lage mit dem Ausdruck einer edlen Gleichgültigkeit, aber sie hatte diesen nur angenommen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie hielt die Tränen zurück, aber ihre feuchten Augen verrieten, welche Mühe ihr dies kostete. Wir plauderten zwei volle Stunden, und im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, daß sie noch niemals geliebt hatte und daher eines Liebhabers würdig war, der sie angemessen entschädigte, falls sie in die Lage geraten sollte, ihm ihre Tugend zum Opfer bringen zu müssen. Es wäre lächerlich gewesen, den Anspruch zu erheben, daß diese Entschädigung in einer Heirat bestände: die junge Vesian hatte noch nicht ihren sogenannten Fehltritt begangen, aber sie war weit entfernt von der Tugendheuchelei gewisser Mädchen, welche sagen, sie würden es um alles Gold der Welt nicht tun, dabei aber gewöhnlich dem ersten Angriff bereits erliegen. Die Vesian wollte weiter nichts, als sich auf eine anständige und vorteilhafte Art ergeben.

Ich stieß einen Seufzer aus, als ich sie ihre Bemerkungen machen hörte, die bei der Lage, worin ein strenges Schicksal sie gestürzt hatte, im Grunde doch sehr vernünftig waren. Ihre Aufrichtigkeit entzückte mich: ich glühte. Lucia von Paseano kam mir wieder ins Gedächtnis; ich erinnerte mich meiner Reue darüber, daß ich mir eine zarte Blume hatte entgehen lassen, die ein anderer, der ihrer weniger würdig war als ich, schleunigst gepflückt hatte. Sie stand vor meinen Augen wie ein Lamm, das vielleicht die Beute eines reißenden Wolfes werden würde. Sie war ihrer ganzen Erziehung nach nicht dazu bestimmt, in Schande zu versinken; sie hatte edle Gefühle, eine feine Bildung, aber trotz alledem konnte vielleicht ihre Unschuld durch einen unreinen Hauch unwiederbringlich vernichtet werden. Ich beklagte mich, nicht imstande zu sein, ihr Glück machen zu können, ohne daß sie Ehre und Tugend zu opfern brauchte. Ich fühlte, daß ich nicht imstande war, sie durch Verführung in meinen Besitz zu bringen, daß ich aber auch nicht ihr Tugendwächter sein konnte, und daß ich, wenn ich als ihr Beschützer auftrat, ihr mehr Schaden als Nutzen bringen mußte – mit einem Wort, daß ich vielleicht nur dazu beitragen würde, sie ganz und gar zugrunde zu richten, anstatt ihr helfen zu können, der peinlichen Lage zu entrinnen, in der sie sich befand. So saß sie denn nun neben mir, und ich sprach mit innigem Gefühl auf sie ein, sagte aber kein Wort von Liebe; doch küßte ich ihr zu oft die Hand und den Arm, ohne aber zu einem Entschluß kommen zu können; denn der erste Anfang hätte zu schnell zum Ende geführt und mich gezwungen, sie für mich zu behalten. Dann aber konnte sie nicht mehr hoffen ihr Glück zu machen, und für mich gab es kein Mittel mehr, mich ihrer wieder zu entledigen. Ich habe die Frauen rasend geliebt, aber ich habe ihnen stets die Freiheit vorgezogen; und wenn ich in Gefahr war, diese zu verlieren, bin ich immer wie durch einen Zufall gerettet worden.

Ich hatte mit Fräulein Vesian etwa vier Stunden verbracht; heiße Flammen der Begier verzehrten mich, aber ich besaß die Kraft, mich zu beherrschen. Sie konnte meine Zurückhaltung nicht der Tugend zuschreiben, und sie wußte nicht, was mich verhindern konnte, auf das Endziel loszugehen; sie mußte mich daher entweder für impotent oder für krank halten. Als ich sie endlich verließ, lud ich sie für den nächsten Tag zum Mittagessen ein.

Unsere Mahlzeit war sehr fröhlich, und als nach dem Essen ihr Bruder ausgegangen war, um einen Spaziergang zu machen, setzten wir uns ans Fenster und sahen die zahlreichen Equipagen, die nach dem italienischen Theater fuhren. Ich fragte sie, ob es ihr Spaß machen würde, ebenfalls hinzugehen; sie lächelte vor Glück, und wir machten uns auf den Weg.

Ich besorgte ihr einen Platz im Amphitheater, wo ich sie allein ließ, indem ich ihr sagte, wir würden uns um elf Uhr zu Hause wieder sehen. Ich wollte nicht bei ihr bleiben, weil ich Fragen zu vermeiden wünschte, die man vielleicht an mich hätte stellen können; denn sie war zwar sehr einfach angezogen, aber gerade dadurch doppelt interessant.

Nach der Vorstellung aß ich bei Sylvia zu Abend und ging dann nach Hause. Zu meiner Überraschung sah ich vor der Tür einen sehr eleganten Wagen halten. Ich fragte, was das für ein Wagen sei, und man antwortete mir, er gehöre einem jungen Kavalier, der mit Fräulein Vesian soupiert habe. So war sie also auf gutem Wege.

Als ich am nächsten Morgen gleich nach dem Aufstehen aus dem Fenster sah, erblickte ich einen Fiaker, der im gleichen Augenblick vor dem Hotel anhielt; ein gut gekleideter junger Herr im Morgenanzug stieg aus, und unmittelbar darauf hörte ich ihn bei meiner Nachbarin eintreten.

Nur Fassung! Mein Entschluß stand fest: ich spielte den Gleichgültigen, um mich selber zu täuschen. Ich kleidete mich zum Ausgehen an, und während ich mit meiner Toilette beschäftigt war, trat Vesian bei mir ein und sagte mir, er wage nicht, in das Zimmer seiner Schwester zu gehen, weil der junge Herr, der mit ihr gespeist habe, soeben eingetreten sei.

»Das ist ganz in der Ordnung,« antwortete ich ihm.

»Er ist reich und sehr hübsch, er will uns persönlich nach Versailles bringen und mir eine Anstellung verschaffen.«

»Dazu wünsch‘ ich Ihnen Glück; wer ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich legte alle ihre Papiere in einen Umschlag und gab ihm diesen, um ihn an seine Schwester weiter zu befördern; hierauf ging ich aus. Als ich um drei Uhr nach Hause kam, übergab die Wirtin mir ein Briefchen von Fräulein Vesian, welche ausgezogen war.

Ich ging auf mein Zimmer, öffnete den Brief und las folgende Worte: »Ich gebe Ihnen das Geld zurück, das Sie mir geliehen haben und danke Ihnen. Graf Narbonne interessiert sich für mich und will ganz gewiß mir wie auch meinem Bruder nur Gutes tun. Ich werde Sie von allem unterrichten und Ihnen die Adresse des Hauses angeben, wo ich auf seinen Wunsch wohnen soll und wo es mir, nach seiner Versicherung, an nichts fehlen wird. Ich lege den größten Wert auf Ihre Freundschaft und bitte Sie, mir diese zu bewahren. Mein Bruder bleibt hier, und mein Zimmer gehört mir noch für den ganzen Monat, denn ich habe alles bezahlt.«

Aha! sagte ich bei mir selber, eine zweite Lucia von Paseano! Da bin ich also zum zweitenmal von meinem dummen Zartgefühl angeführt; denn ich sehe voraus, dieser Graf wird nicht ihr Glück machen. Nun, ich wasche meine Hände in Unschuld!

Ich kleidete mich an und ging ins Französische Theater, um mich nach diesem Narbonne zu erkundigen. Gleich der erste, an den ich mich wandte, sagte mir, er sei der Sohn eines reichen Mannes, ein großer Wüstling und stecke bis über die Ohren in Schulden. Das waren ja schöne Auskünfte! Acht Tage lang besuchte ich alle Theater und öffentlichen Vergnügungsorte, in der Hoffnung, diesen Grafen Narbonne kennen zu lernen. Da mir dies jedoch nicht gelang, begann ich bereits, die Geschichte zu vergessen, als eines Morgens gegen acht Uhr Vesian bei mir eintrat und mir sagte, seine Schwester sei in ihrem Zimmer und wünschte mich zu sprechen. Ich ging sofort hinüber und fand sie traurig und mit rotgeweinten Augen. Sie sagte ihrem Bruder, er möchte spazieren gehen, und erzählte mir darauf folgendes:

»Herr von Narbonne, den ich für einen Ehrenmann gehalten habe, weil ich darauf angewiesen war, einen solchen zu finden, setzte sich neben mich; ich saß noch auf dem Platz, wo Sie mich verlassen hatten. Er sagte mir, mein Gesicht interessiere ihn, und fragte mich, wer ich sei. Ich sagte ihm dasselbe, was ich Ihnen gesagt hatte. Sie versprachen mir, an mich zu denken, aber Narbonne sagte mir, er habe nicht nötig, daran zu denken, sondern könne gleich handeln. Ich glaubte ihm, und meine Vertrauensseligkeit hat mich betrogen: er hat mich hintergangen, er ist ein Schurke.«

Tränen erstickten ihre Stimme; ich trat ans Fenster, um sie ungestört sich ausweinen zu lassen. Nach einigen Minuten setzte ich mich wieder neben sie: »Sagen Sie mir alles, meine liebe Vesian! Erleichtern Sie Ihr Herz durch eine freie Aussprache und quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, daß Sie mir gegenüber schuldig seien; denn im Grunde habe ich mehr Unrecht als Sie. Den Kummer, der Ihnen die Seele zerreißt, würden Sie nicht haben, wenn ich nicht die Unvorsichtigkeit begangen hätte, Sie ins Theater zu führen.«

»Oh, sagen Sie doch das nicht; darf ich es Ihnen übel nehmen, daß Sie mich für eine vernünftige Person gehalten haben? Kurz und gut, das Ungeheuer versprach mir, in der liebevollsten Weise für mich sorgen zu wollen, unter der Bedingung, daß ich ihm einen unbestreitbaren Beweis meiner Zärtlichkeit und meines Vertrauens zu ihm geben wollte; dieses Zeichen des Vertrauens sollte darin bestehen, daß ich ohne meinen Bruder bei einer durchaus anständigen Frau in einem von ihm gemieteten Hause Wohnung nähme. Er bestand darauf, daß mein Bruder nicht mit mir käme, weil die böse Welt ihn für meinen Liebhaber hätte halten können. Ich ließ mich beschwatzen. Ich Unglückliche! Wie habe ich mich ihm hingeben können, ohne Sie um Rat zu fragen ! Er sagte mir, die ehrenwerte Frau, bei der er mich unterbrächte, würde mich nach Versailles bringen ; er selber aber würde dafür sorgen, daß auch mein Bruder dorthin käme, und er würde uns zusammen dem Minister vorstellen. Nach dem Abendessen ging er fort, indem er mir sagte, er würde am nächsten Morgen wiederkommen und mich mit einem Fiaker abholen. Er gab mir zwei Louis und eine goldene Uhr, und ich glaubte, von einem jungen Kavalier, der mir so viele Teilnahme bezeigte, ein solches Geschenk wohl annehmen zu dürfen. Die Frau, der er mich vorstellte, kam mir nicht so respektabel vor, wie sie nach seiner Behauptung sein sollte. Ich habe diese acht Tage bei ihr verbracht, ohne daß er etwas Entscheidendes für mich getan hätte. Er ging frei bei mir aus und ein, und sagte fortwährend: Morgen! Morgen aber hatte er immer irgend eine Abhaltung. Heute früh um sieben Uhr kam nun die Frau zu mir und sagte mir, der Herr sei gezwungen, aufs Land zu gehen; ein Fiaker würde mich nach dem Hotel zurückbringen, von wo er mich abgeholt hätte, und nach seiner Rückkehr würde er mich dort aufsuchen. Hierauf sagte sie mir mit verstellter trauriger Miene, ich müßte ihr die Uhr zurückgeben, weil der Herr Graf vergessen hätte, sie dem Uhrmacher zu bezahlen. Ich gab sie ihr augenblicklich wieder, ohne ein einziges Wort zu antworten, packte meine paar Habseligkeiten in mein Taschentuch, und bin vor einer halben Stunde wieder hier im Hause angelangt.«

»Hoffen Sie ihn nach seiner Rückkehr vom Lande zu sehen?«

»Ich ihn wiedersehen ! O mein Gott, warum habe ich ihn überhaupt jemals gesehen!«

Sie weinte heiße Tränen, und ich gestehe, daß mich niemals ein junges Mädchen so wie sie im Ausdruck ihres Schmerzes gerührt hat. Mitleid trat an die Stelle der zärtlichen Gefühle, die sie mir vor acht Tagen eingeflößt hatte. Das niederträchtige Verhalten Narbonnes empörte mich dermaßen, daß ich ihn auf der Stelle zur Rechenschaft gezogen haben würde, wenn ich nur gewußt hätte, wo ich ihn allein antreffen könnte. Ich hütete mich wohl, das arme Mädchen nach der ausführlichen Geschichte ihres Aufenthalts bei der ehrenwerten Helfershelferin des Herrn von Narbonne zu befragen; ich erriet mehr, als ich zu wissen wünschte, und ich würde Fräulein Vesian gedemütigt haben, wenn ich eine solche Schilderung von ihr verlangt hätte. Übrigens erkannte ich die ganze Gemeinheit dieses Herrn Grafen in der Niedrigkeit, ihr die Uhr wieder abzunehmen, die ihr als Geschenk rechtmäßig gehörte, und die das unglückliche Mädchen nur zu wohl verdient hatte. Ich tat mein Möglichstes, um ihre Tränen zu stillen, und sie hat mich schließlich, ich möchte doch für sie ein Vaterherz haben, sie würde ganz gewiß nichts mehr tun, was sie meiner Freundschaft unwert machen könnte, denn sie wolle sich nur noch durch meine Ratschläge lenken lassen.

»Ei was, meine Liebe! Jetzt müssen Sie nicht nur den unwürdigen Grafen und sein schurkisches Benehmen gegen Sie, sondern überhaupt den ganzen von Ihnen begangenen Fehltritt vergessen! Was geschehen ist, ist geschehen, denn gegen das Vergangene gibt es kein Mittel; aber beruhigen Sie sich und lassen Sie jenen schönen Ausdruck zurückkehren, der vor acht Tagen auf Ihren Zügen glänzte. Damals las man darauf Ehrenhaftigkeit, Unschuld, Aufrichtigkeit und jene edle Zuversicht, die in denen, die ihren Reiz kennen, das Gefühl erweckt. Dies alles muß sich wieder auf Ihrem Gesicht zeigen, denn nur dies erweckt die Teilnahme wackerer Menschen, und Sie haben es mehr denn je nötig, solche Teilnahme zu erregen. Auf meine Freundschaft kommt es wenig an; aber Sie können um so mehr auf diese zählen, da Sie, wie ich glaube, jetzt ein Recht darauf besitzen, das Sie vor acht Tagen noch nicht hatten. Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, daß ich Sie nicht verlassen werde, bevor für Sie in angemessener Weise gesorgt ist. Für den Augenblick kann ich Ihnen nichts mehr sagen; aber seien Sie fest überzeugt, daß ich an Sie denken werde.«

»Ach, lieber Freund, wenn Sie mir versprechen, an mich denken zu wollen, so verlange ich nichts mehr. Ich Unglückliche! Kein Mensch auf der Welt denkt sonst an mich!«

Sie war so gerührt, daß sie in Ohnmacht fiel. Ich sprang ihr bei, ohne andere Menschen zur Hilfe zu rufen, und sobald sie wieder zur Besinnung gekommen und ein wenig ruhiger geworden war, erzählte ich ihr tausend wahre oder erdichtete Geschichtchen von den Schelmenstreichen der Leute, die in Paris nur darauf ausgehen, Mädchen zu betrügen. Um sie aufzuheitern, erzählte ich ihr auch scherzhafte Geschichten dieser Art, und zum Schluß sagte ich ihr, sie müsse dem Himmel dafür danken, daß ihr dies mit dem Grafen Narbonne zugestoßen sei, denn dieses Unglück würde dazu dienen, sie in Zukunft vorsichtiger zu machen.

Während dieser langen Unterhaltung unter vier Augen kostete es mir nicht die geringste Mühe, mich aller Liebkosungen zu enthalten; ich berührte nicht einmal ihre Hand, denn ich empfand für sie kein anderes Gefühl als das eines zärtlichen Mitleids, und es war für mich eine wahre Freude, als ich nach zwei Stunden sie ruhig und entschlossen sah, ihr Unglück als Heldin zu ertragen.

Plötzlich stand sie auf, sah mich mit einem Ausdruck bescheidener Zuversicht an und fragte. »Haben Sie heute nichts Dringendes vor?«

»Nein, meine Teuere.«

»Nun, dann haben Sie die Güte, mich irgendwohin außerhalb der Stadt zu führen, wo ich in Freiheit frische Luft atmen kann: dort wird mein Gesicht wieder den Ausdruck bekommen, den es nach Ihrer Meinung haben muß, um ein günstiges Vorurteil für mich zu erwecken, und wenn ich mir dann diese Nacht einen sanften Schlaf verschaffen kann, so werde ich – das fühle ich – doch wieder glücklich werden können.«

»Ich bin Ihnen dankbar für dieses Zutrauen: ich will mich anziehen, und wir werden miteinander ausgehen. In der Zwischenzeit wird Ihr Bruder zurückkommen.«

»Ach, was kommt es denn auf meinen Bruder an!«

»Sehr viel. Bedenken Sie, meine liebe Vesian, Sie müssen Narbonne zwingen, sich seines Betragens zu schämen. Wenn er nun erführe, daß Sie an demselben Tage, wo er Sie fortgeschickt hat, mit mir allein aufs Land gegangen sind, so würde er triumphieren und würde selbstverständlich sagen, er hätte Sie nur so behandelt, wie Sie es verdienten. Wenn Sie aber mit Ihrem Bruder und mit mir, Ihrem Landsmann, zusammen sind, so geben Sie dadurch der üblen Nachrede und der Verleumdung keine Handhabe.«

»Ich schäme mich, nicht selber so vernünftig gedacht zu haben. Wir werden warten, bis mein Bruder zurückkommt.«

Dieser ließ nicht lange auf sich warten, ich ließ einen Fiaker kommen, und wir wollten eben abfahren, als Baletti kam, der mich besuchen wollte. Ich stellte ihn den jungen Leuten vor und lud ihn ein, den Ausflug mitzumachen. Er willigte ein, und wir fuhren ab. Da ich weiter keine Absicht hatte, als das junge Mädchen aufzuheitern, so sagte ich dem Kutscher, er solle nach Gros-Caillou fahren; dort bekamen wir ein ausgezeichnetes improvisiertes Mittagessen, bei dem es um so lustiger herging, je primitiver die Bedienung war.

Da der junge Vesian einen etwas schweren Kopf bekommen hatte, machte er nach dem Essen einen kleinen Spaziergang, und ich blieb mit seiner Schwester und meinem Freunde allein. Ich bemerkte mit Vergnügen, daß Baletti das junge Mädchen liebenswürdig fand, und ich beschloß, ihm vorzuschlagen, er solle sie tanzen lehren. Ich erzählte ihm von ihrer Lage und von dem Anlaß, der sie nach Paris geführt hätte; ich schilderte ihm, wie sie nur geringe Hoffnung hatte, vom König eine Pension zu erhalten, und daß sie sich in der Notwendigkeit befände, irgend einen Beruf zu ergreifen, um leben zu können. Baletti sagte, er sei bereit, alles für sie zu tun, und nachdem er ihren Wuchs und ihre Anlagen geprüft hatte, erklärte er: »Ich werde es möglich machen, Sie bei Lani als Figurantin im Opernballett unterzubringen.«

»Dann müssen wir also«, sagte ich zu ihm, »gleich morgen anfangen, ihr Stunden geben zu lassen. Fräulein Vesian ist meine Nachbarin.«

Die junge Vesian war ganz verblüfft über diesen Plan; sie lachte darüber sehr herzlich und rief aus: »Aber improvisiert man denn eine Operntänzerin wie einen Premierminister? Ich kann Menuett tanzen und habe so viel Gehör, daß ich einen Contre tanzen kann; im übrigen aber kann ich keinen Schritt machen.«

»Die meisten Figurantinnen«, sagte Baletti, »können nicht mehr als Sie.«

»Und wieviel soll ich von Herrn Lani verlangen? Mir scheint, sehr viel kann ich nicht beanspruchen.«

»Nichts. Figurantinnen bei der Oper werden nicht bezahlt.«

»Da bin ich ja dann freilich sehr viel weiter!« sagte sie mit einem Seufzer; »wie soll ich es denn anfangen, um zu leben?«

»Machen Sie sich darum keine Sorgen. So wie Sie sind, werden Sie bald zehn reiche Herren finden, die sich um die Ehre bewerben werden, für das fehlende Gehalt Ersatz schaffen zu dürfen. Ihre Sache wird es sein, eine gute Wahl zu treffen, und ich bin überzeugt, es wird nicht lange dauern, so sehen wir Sie mit Diamanten bedeckt.«

»Jetzt verstehe ich. Sie glauben, irgend ein großer Herr werde mich unterhalten.«

»Ganz recht; und das wird viel besser sein, als ein Jahrgeld von vierhundert Franken, das Sie vielleicht nur um den Preis ebenso großer Opfer erhalten würden.«

Ganz erstaunt sah sie mich an, ob das auch alles ernst gemeint oder etwa nur ein schlechter Witz sei.

Als Baletti einmal auf einen Augenblick hinausging, sagte ich ihr, sie könnte gar keinen besseren Entschluß fassen, falls sie nicht etwa die traurige Ehre vorzöge, Kammerzofe bei irgend einer großen Dame zu werden.

»Ich möchte es nicht einmal bei der Königin sein.«

»Und Figurantin bei der Oper?«

»Viel eher.«

»Sie lachen?«

»Es ist aber auch zum Totlachen. Geliebte eines großen Herrn, der mich mit Diamanten bedecken wird! Ich werde mir den ältesten aussuchen.«

»Vortrefflich, meine Liebe; aber geben Sie ihm keinen Anlaß zur Eifersucht!«

»Ich verspreche Ihnen, ich werde ihm treu sein. Aber wird er auch eine Anstellung für meinen Bruder finden?«

»Zweifeln Sie nicht daran!«

»Aber wer wird mir meinen Unterhalt geben, bis ich bei der Oper eintrete und bis mein alter Liebhaber sich einstellt?«

»Ich, meine Liebe; ich, mein Freund Baletti und alle meine Freunde; und wir verfolgen dabei kein anderes Interesse, als daß wir Ihnen dienen möchten, in der Hoffnung, daß Sie sich vernünftig aufführen werden, und daß wir zu Ihrem Glück beitragen. Sind Sie davon überzeugt?«

»Vollkommen. Ich habe mir vorgenommen, mich nur von Ihren Ratschlägen lenken zu lassen, und ich bitte Sie recht herzlich, stets mein bester Freund zu sein.«

Mit Einbruch der Nacht kamen wir nach Paris zurück. Ich brachte meine Vesian nach Hause und begleitete Baletti zu seiner Mutter. Beim Abendessen nahm mein Freund Sylvia das Versprechen ab, zugunsten unseres Schützlings mit Herrn Lani zu sprechen. Sylvia sagte, dieser Plan wäre besser als die Bewerbung um ein elendes Jahrgeld, das man vielleicht doch nicht erhalten würde. Hierauf wurde von einem Projekt gesprochen, womit man sich damals trug und das darin bestand, sämtliche Plätze der Opernfigurantinnen und Chorsängerinnen zu verkaufen. Man ging sogar mit dem Gedanken um, hohe Preise dafür festzusetzen; denn man sagte, je teurer diese Plätze wären, in desto höherer Schätzung würden die Mädchen stehen, die sie kauften. In Anbetracht der skandalösen Sitten jener Zeit trug dieser Plan einen Anstrich von Weisheit; denn er hätte in gewisser Art eine Kaste emporgehoben, deren Mitglieder mit wenigen Ausnahmen sich mit ihrer Verächtlichkeit zu brüsten scheinen.

Damals waren bei der Oper mehrere kaum noch leidlich zu nennende, sondern eher häßliche Figurantinnen, Sängerinnen sowohl wie Tänzerinnen, die nicht das geringste Talent hatten und trotzdem in behaglichem Wohlstand lebten; denn es ist nun einmal die allgemeine Meinung, daß ein Opernmädchen von Berufswegen auf Tugend und Anstand verzichten muß, wenn sie nicht vor Hunger sterben will. Wenn aber eine Neueintretende so geschickt ist, auch nur einen Monat anständig zu bleiben, so ist unzweifelhaft ihr Glück gemacht; denn alsdann suchen gerade die im Rufe eines ehrbaren Lebenswandels stehenden reichen Herren sich dieses Ausbundes von Tugendhaftigkeit zu bemächtigen. Diese Art Leute sind entzückt, wenn beim Erscheinen ihrer Schönen das Publikum ihre Namen nennt; sie lassen ihnen sogar einige Abweichungen vom Wege der Tugend durchgehen, wenn die Untreue nicht gar zu auffallend ist; übrigens gehört es zum guten Ton, niemals ohne Anmeldung zum Abendessen bei seiner Schönen zu gehen; man wird begreifen, wie vernünftig dieser Brauch ist.

Gegen elf Uhr kam ich nach Hause, und da ich Fräulein Vesians Zimmertür offen sah, so trat ich bei ihr ein. Sie lag im Bett, aber sie sagte mir: »Ich werde aufstehen, denn ich wünsche mit Ihnen zu sprechen.«

»Machen Sie keine Umstände; wir können auch so miteinander sprechen. Außerdem finde ich Sie schöner, so wie Sie sind.«

»Das freut mich.«

»Was haben Sie mir also zu sagen?«

»Nichts; ich wollte nur gerne mit Ihnen über meinen künftigen Beruf sprechen. Ich werde also die Tugend hochhalten, um jemanden zu finden, der sie nur deshalb liebt, um sie zu zerstören.«

»Das ist allerdings wahr; aber auf dieser Welt geht es ja mit allem so ähnlich. Der Mensch bezieht alles auf sich, und jeder ist ein Tyrann in seiner Art. Ich sehe mit Freuden, daß Sie auf dem Wege sind, Philosophin zu werden.«

»Wie macht man es, um das zu werden?«

»Man denkt.«

»Muß man lange denken?«

»Sein ganzes Leben lang.«

»Man wird also niemals fertig?«

»Niemals; aber man gewinnt dabei, soviel man überhaupt gewinnen kann, und man verschafft sich den ganzen Anteil von Glück, der einem überhaupt beschieden ist.«

»Und wie wird dieses Glück empfunden?«

»Es wird empfunden in allen Freuden, die der Philosoph sich verschafft, wenn er das Bewußtsein hat, sie sich durch eigene Mühe verschafft zu haben, besonders dadurch, daß er den Haufen von Vorurteilen abgestreift hat, die aus den meisten Menschen eine Schar großer Kinder machen.«

»Was heißt Freude? Und was versteht man unter Vorurteilen?«

»Freude nenne ich den wirklichen Sinnengenuß: eine vollständige Befriedigung alles dessen, was sie begehren, und wenn die erschöpften Sinne Ruhe verlangen, um entweder frischen Atem zu schöpfen, oder um neue Kräfte zu sammeln, dann verschafft die Phantasie neue Freuden. Ein Philosoph ist darum derjenige, der sich keine Freude versagt, es sei denn, daß sie noch größere Schmerzen hervorruft, und der sich neue Freuden zu schaffen weiß.«

»Und Sie sagen, dies geschehe dadurch, daß man Vorurteile von sich abstreift? Sagen Sie mir doch, was Vorurteile sind, und wie es einem gelingt, sich von ihnen frei zu machen.«

»Sie richten da eine Frage an mich, meine Liebe, auf die man nicht leicht antworten kann, denn die Moralphilosophie kennt keine größere Frage; das will sagen: keine Frage, die schwieriger zu lösen wäre. Daher dauert denn auch diese Lektion das ganze Menschenleben hindurch. Ich will Ihnen in aller Kürze nur so viel sagen, daß man Vorurteil jede sogenannte Pflicht nennt, die man nicht in der Natur begründet findet.«

»Der Philosoph muß also vor allen Dingen die Natur studieren?«

»Weiter hat er überhaupt nichts zu tun, und der Weiseste ist derjenige, der sich am wenigsten täuscht.«

»Welcher Philosoph hat sich nach Ihrer Meinung am wenigsten getäuscht?«

»Sokrates.«

»Aber er hat sich geirrt?«

»Ja, in der Metaphysik.«

»Nun, daraus mache ich mir nichts, denn ich glaube wohl, er hätte dieses Studium entbehren können.«

»Da irren Sie sich; denn die Moral selbst ist nur die Metaphysik der Physik. Alles ist Natur, und Sie können meinetwegen jeden Menschen einen Narren nennen, der Ihnen erzählen will, er habe eine neue Entdeckung auf dem Gebiete der Metaphysik gemacht. Aber wenn ich dieses Thema noch weiter behandeln wollte, meine Liebe, so würde ich vielleicht bald Ihnen dunkel erscheinen. Überstürzen Sie nichts! Denken Sie! Bringen Sie Ihre Grundsätze in Einklang mit einer gesunden Vernunft und behalten Sie stets Ihr Glück im Auge; so werden Sie schließlich glücklich sein.«

»Der Unterricht, den Sie mir in diesem Augenblick gegeben haben, ist mir viel lieber als der, den ich morgen von Herrn Baletti erhalten soll; denn ich sehe voraus, daß ich mich dabei langweilen werde, und jetzt, in Ihrer Gesellschaft, langweile ich mich nicht.«

»Woran bemerken Sie, daß Sie sich nicht langweilen?«

»An meinem Wunsch, daß Sie nicht von mir gehen mögen.«

»Wahrhaftig, meine liebe Vesian, niemals hat ein Philosoph besser die Langeweile definiert, als Sie vorhin. Welches Vergnügen! Wie kommt es, daß ich Lust habe, es Ihnen durch eine Umarmung zu bezeigen?«

»Weil ohne Zweifel unsere Seele nur dann glücklich sein kann, wenn sie sich mit unseren Sinnen im Einklang befindet.«

»Wie, göttliche Vesian! Ihr Geist entzückt mich.«

»Sie, mein lieber Freund, haben ihn zur Entfaltung gebracht, und ich bin Ihnen dafür so dankbar, daß ich Ihren Wunsch teile.«

»Was hindert uns, einen so natürlichen Wunsch zu befriedigen? In meine Arme!«

Was für eine philosophische Lektion! Sie erschien uns so süß, und unser Glück war so vollkommen, daß wir bei Tagesanbruch uns noch immer umarmt hielten und daß wir erst beim Schein der Sonne bemerkten, daß die Tür die ganze Nacht offen geblieben war.

Baletti gab ihr einige Unterrichtsstunden, und sie wurde bei der Oper angenommen; aber sie war nur zwei oder drei Monate lang Figurantin, da sie sich sorgfältig nach den Vorschriften richtete, die ich ihr gegeben hatte und die sie mit ihrem überlegenen Geist für einzig richtig erkannt hatte. Mit einem Narbonne gab sie sich nicht mehr ab; sie erhörte schließlich die Bewerbungen eines Kavaliers, der von allen anderen verschieden war, denn er begann damit, sie von der Bühne wegzunehmen. Dies hätte kein anderer getan, denn es war damals nicht guter Ton. Der Glückliche war der Herr Graf de Tressan oder Tréan — ich erinnere mich seines Namens nicht mehr genau. Sie führte sich sehr gut auf und blieb bei ihm bis zu seinem Tode.

Jetzt spricht kein Mensch mehr von ihr, obwohl sie in sehr behaglichen Verhältnissen lebt; aber sie ist sechsundfünfzig Iahre alt, und in diesem Alter ist eine Frau in Paris so gut wie nicht mehr vorhanden.

Von dem Augenblick an, wo sie das Hotel de Bourgogne verließ, sah ich sie nicht mehr. Als ich sie, mit Diamanten bedeckt, wieder sah, grüßten unsere Seelen sich vor Freude, aber ihr Glück lag mir zu sehr am Herzen, als daß ich es hätte wagen mögen, ihr nachzustellen. Ihr Bruder bekam eine Anstellung, aber ich verlor ihn aus den Augen.

Elftes Kapitel


Die schöne O’Morphi. — Der Schwindelmaler. — Ich mache bei der Herzogin von Chartres kabbalistische Berechnungen. — Ich verlasse Paris. — Mein Aufenthalt in Dresden.

Als ich eines Tages mit meinem Freunde Patu auf der Messe Saint-Laurent war, bekam er den Einfall, mit einer vlamischen Schauspielerin, namens Morphi, zu soupieren, und er lud mich ein, mich daran zu beteiligen. Das Mädchen hatte für mich keinen Reiz; aber was tut man nicht einem Freund zuliebe? Ich stimmte also zu. Nachdem wir mit der Schönen gespeist hatten, bekam Patu Lust, die Nacht einer süßeren Beschäftigung zu widmen, und da ich ihn nicht verlassen wollte, so verlangte ich ein Kanapee, um darauf in Züchten die Nacht zu verbringen.

Die Morphi hatte eine Schwester, einen kleinen Schmutzfinken von etwa dreizehn Jahren; diese sagte mir: wenn ich ihr einen kleinen Taler geben wollte, würde sie mir ihr Bett abtreten. Ich erklärte mich einverstanden, und sie führte mich in ein Kämmerchen, wo ich einen Strohsack auf vier Brettern fand.

»Und das nennst du ein Bett, mein Kind?«

»Ich habe kein anderes, mein Herr.«

»So eins will ich nicht, und du bekommst deinen kleinen Taler nicht.«

»Sie wollten sich also auskleiden?«

»Selbstverständlich.«

»Welch‘ ein Einfall! Wir haben gar keine Bettlaken.«

»Du schläfst also ganz angezogen?«

»O nein!«

»Nun, so lege dich hin, wie du es sonst tust, und ich gebe dir den kleinen Taler.«

»Warum denn?«

»Ich will dich in diesem Zustand sehen.«

»Aber Sie werden mir nichts tun?«

»Ganz und gar nichts!«

Sie legt sich auf den armseligen Strohsack und deckt sich mit einem alten Vorhang zu. Wie sie so daliegt, denke ich nicht mehr an ihre Lumpen; ich sehe nur noch eine vollendete Schönheit. Aber ich möchte sie ganz sehen. Ich treffe Anstalten, meinen Wunsch zu befriedigen; aber sie widersetzt sich. Ein Sechsfrankentaler macht sie gefügig, und da ich an ihr keinen anderen Mangel sehe als völlige Abwesenheit von Sauberkeit, so beginne ich sie eigenhändig abzuwaschen.

Du wirst mir erlauben, lieber Leser, eine ebenso einfache wie natürliche Kenntnis vorauszusetzen: nämlich, daß in derartigen Fällen mit der Bewunderung eine andere Art von Beifallsbetätigung untrennbar verbunden ist. Zum Glück, und wie es auch nicht anders zu erwarten war, fand ich die kleine Morphi bereit, mich alles machen zu lassen mit Ausnahme des einzigen, woran mir nichts lag. Sie erklärte mir, das würde sie mir nicht erlauben, denn nach der Meinung ihrer Schwester wäre das fünfundzwanzig Louis wert. Ich antwortete ihr, über den Preis für diesen Hauptpunkt würden wir ein anderes Mal sprechen; vorläufig wollten wir ihn ganz außer acht lassen. Nachdem sie hierüber beruhigt war, stand alles übrige mir zur Verfügung, und ich fand an ihr eine trotz der Frühreife sehr ausgebildete Begabung.

Die kleine Helene brachte ihrer Schwester getreulich die sechs Franken, die ich ihr gab, und erzählte ihr, wie sie sie sich verdient hatte. Als ich gehen wollte, kam sie zu mir und sagte mir, wenn ich Lust hätte, würde sie etwas vom Preise ablassen, denn sie brauche Geld. Ich antwortete ihr lachend, ich würde sie am nächsten Tage besuchen. Patu, dem ich mein Erlebnis erzählte, glaubte, ich übertriebe, und um ihm zu beweisen, daß ich ein Kenner weiblicher Schönheit sei, bestand ich darauf, daß er sich Helenen in derselben Stellung ansähe, worin ich sie gesehen hätte. Er gab zu, daß der Meißel des Praxiteles niemals etwas Vollkommeneres habe schaffen können. Weiß wie eine Lilie bot Helene das schönste Bild, das Natur und Malerkunst zusammen hervorzaubern könnten. Ihre schönen Züge hatten etwas so Liebliches, daß dem Beschauer ein unbeschreibliches Glücksgefühl, eine köstliche Ruhe sich in die Seele senkten. Sie war blond, und trotzdem hatten ihre herrlichen blauen Augen den ganzen Glanz der schönsten schwarzen Augen.

Am nächsten Abend besuchte ich sie wieder; da ich mich jedoch zu dem geforderten Preise nicht verstehen wollte, machte ich mit der älteren Schwester ab, ich sollte für jeden Besuch zwölf Franken bezahlen, wofür mir die Benützung ihres Zimmers freistände; diese Abmachung sollte so lange gelten, bis ich Lust bekäme, ihr sechshundert Franken zu zahlen. Es war ein starker Wucher, aber die Morphi war von griechischer Abstammung und über leere Gewissensbedenken völlig erhaben. Ich hatte gar keine Lust, ihr diese hohe Summe zu geben, weil ich kein Verlangen nach dem Gegenwert empfand; was ich erhielt, war alles, was ich wünschte.

Die ältere Schwester glaubte mich an der Nase zu führen, denn in zwei Monaten hatte ich dreihundert Franken ausgegeben, ohne etwas mit dem Mädchen gemacht zu haben ; sie schrieb diese Zurückhaltung meinem Geiz zu; ein sonderbarer Geiz!

Ich bekam Lust, den herrlichen Mädchenleib im Bilde zu besitzen, und ein deutscher Künstler malte sie mir göttlich schön für sechs Louis. Die Stellung, die er sie einnehmen ließ, war entzückend. Sie lag auf dem Bauch, Arme und Busen auf ein Kissen aufgestützt, aber den Kopf so herumgedreht, wie wenn sie zu drei Vierteln auf dem Rücken gelegen hätte. Der geschickte und geschmackvolle Künstler hatte den unteren Teil ihres Leibes mit so viel Kunst und Wahrheit gemalt, daß man sich nichts Schöneres wünschen konnte. Ich war entzückt von diesem schönen Porträt, das sprechend ähnlich war, und ich schrieb darunter: O-Morphi – ein Wort, das zwar nicht homerisch, aber nichts destoweniger griechisch ist und Schöne bedeutet.

Aber wer kann die geheimen Wege des Schicksals vorauswissen! Mein Freund Patu bekam Lust, eine Kopie des Bildes zu besitzen; einen so unbedeutenden Dienst schlägt man einem Freunde nicht ab, und derselbe Maler erhielt den Auftrag, sie anzufertigen. Nun wurde dieser Maler nach Versailles berufen; er zeigte dort unter mehreren Porträts auch dieses reizende Bild, und Herr de St.-Quentin fand es so schön, daß er nichts Eiligeres zu tun hatte, als es dem König zu zeigen. Als großer Kenner auf diesem Gebiet beschloß Seine Allerchristlichste Majestät, sich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob der Maler naturgetreu kopiert hätte, und wenn das Original ebenso schön war wie das Abbild, so wußte der Enkel des Heiligen Ludwig sehr wohl, was er damit anfangen könnte.

Der gefällige Freund des Fürsten, Herr de St.-Quentin, wurde mit der Sache beauftragt: dies war sein Amt. Er fragte den Maler, ob das Original wohl nach Versailles gebracht werden könnte; der Künstler hielt dies für sehr leicht möglich und versprach ihm, sich danach zu erkundigen.

Er kam infolgedessen zu mir, um mir den Vorschlag mitzuteilen, den ich entzückend fand; ich sprach darüber sofort mit der älteren Schwester, die vor Freude ganz außer sich war. Sie begann also sofort, ihre jüngere Schwester zu säubern, ließ ihr ein nettes Kleid machen, und zwei oder drei Tage darauf fuhren sie mit dem Maler nach Versailles, um das Abenteuer zu bestehen. Der Vermittler für die kleinen Vergnügungen des Königs hatte bereits seinem Kammerdiener Bescheid gesagt. Dieser nahm die beiden Frauenzimmer in Empfang und brachte sie nach einem Gartenhäuschen. Der Maler wartete in einem Gasthof den Ausgang seiner Vermittlung ab. Eine halbe Stunde darauf kam der König allein nach dem Gartenhaus, fragte die junge O-Morphi, ob sie Griechin sei, zog das Porträt aus seiner Tasche, sah die Kleine genau an und rief: »Ich habe niemals etwas Ahnliches gesehen!« Bald darauf setzte er sich, nahm die Kleine auf den Schoß und erwies ihr einige Liebkosungen; nachdem er sich mit seiner eigenen königlichen Hand überzeugt hatte, daß die Frucht noch nicht gepflückt worden war, gab er ihr einen Kuß.

O-Morphi sah aufmerksam ihren Gebieter an und lächelte.

»Worüber lachst du?«

»Ich lache darüber, daß Sie einem Sechsfrankentaler so ähnlich sehen, wie ein Tropfen Wasser dem andern.«

Über diese Naivität lachte der Monarch laut auf; hierauf fragte er sie, ob sie in Versailles bleiben wollte.

»Das kommt auf meine Schwester an,« antwortete die Kleine; aber diese Schwester beeiferte sich, dem König zu sagen: ein größeres Glück könnte sie sich gar nicht wünschen.

Der König schloß sie wieder ein und ging; aber eine Viertelstunde darauf kam St.-Quentin und holte sie ab. Er brachte die Kleine in eine Wohnung, wo eine Frau schon auf sie wartete; dann begab er sich mit der älteren Schwester zu dem deutschen Maler, dem er fünfzig Louis für das Porträt gab. Die Morphi bekam nichts. Er ließ sich nur ihre Adresse geben, indem er ihr versicherte, sie würde von ihm hören. Wirklich bekam sie schon am nächsten Tage tausend Louis. Der gute Deutsche gab mir fünfundzwanzig Louis für mein Porträt und versprach nur, das in Patus Besitz befindliche mit der größten Sorgfalt für mich zu kopieren. Ferner erbot er sich, mir umsonst alle Mädchen zu malen, deren Bild ich zu besitzen wünschte.

Es war für mich ein wirkliches Vergnügen, die Freude zu sehen, womit die gute Vlamin die fünfhundert Doppellouis betrachtete, die wir ihr verschafft hatten. Angesichts dieses Reichtums wußte sie nicht, wie sie mir, den sie für den Urheber ihres Glückes hielt, ihre Dankbarkeit ausdrücken sollte. Die junge Schöne O-Morphi – so nannte der König sie stets – gefiel dem Herrscher noch mehr durch ihre Naivität und ihr niedliches Wesen als durch ihre seltene Schönheit, die regelmäßigste, die ich nach meiner Erinnerung gesehen habe. Er wies ihr eine Wohnung in seinem Hirschpark an, der ein wirklicher Harem für den wollüstigen Monarchen war, und zu welchem nur Damen, die bei Hofe vorgestellt waren, Zutritt hatten. Nach einem Jahr bekam die Kleine einen Knaben, der wie so viele andere spurlos verschwand; denn solange die Königin Marie lebte, erfuhr man niemals, wohin Ludwigs außereheliche Kinder kamen.

Drei Jahre später fiel die O-Morphi in Ungnade; doch ließ der König, als er sie fortschickte, ihr 400 000 Franken auszahlen, die sie einem bretonischen Offizier als Mitgift zubrachte. Als ich mich im Jahre 1783 in Fontainebleau befand, machte ich die Bekanntschaft eines reizenden jungen Mannes von fünfundzwanzig Jahren, der aus dieser Ehe entsprossen und das leibhaftige Ebenbild seiner Mutter war. Er hatte von ihrer Geschichte keine Ahnung, und ich glaubte ihn darüber nicht aufklären zu sollen. Ich schrieb meinen Namen in sein Notizbuch ein und bat ihn, seiner Frau Mutter meine Empfehlungen auszurichten.

Eine Bosheit der Gräfin von Valentinois, der Schwägerin des Fürsten von Monaco, war schuld, daß die schöne O-Morphi in Ungnade fiel. Die in Paris sehr bekannte Dame sagte eines Tages zu der jungen Person, wenn sie dem König einen rechten Spaß machen wollte, müsse sie ihn nur einmal fragen, wie er seine alte Frau behandelte. Das junge Ding war zu einfältig, um die Falle zu bemerken, und stellte wirklich dem König diese unverschämte Frage. Entrüstet warf Ludwig ihr einen wütenden Blick zu und sagte zu ihr:

»Unglückliche, wer hat dich angewiesen, diese Frage an mich zu richten?«

Mehr tot als lebendig warf die arme O-Morphi sich ihm zu Füßen und sagte ihm die Wahrheit.

Der König entfernte sich und sah sie niemals wieder. Die Gräfin von Valentinois erschien erst zwei Jahre später wieder bei Hofe. Der Herrscher wußte recht gut, wieviel er sich seiner Frau gegenüber als Gatte vorzuwerfen hatte; so wollte er sich wenigstens als König nichts vorzuwerfen haben, und wehe dem, der sich gegen die Königin vergaß.

Die Franzosen sind ganz gewiß das geistreichste Volk Europas, und vielleicht der ganzen Welt; das hindert aber nicht, daß es keine andere Stadt gibt, wo Betrügerei und Scharlatanerie so leicht ihr Glück machen können, wie in Paris. Wenn die Sache herauskommt, spottet und lacht man darüber; aber schon ist ein neuer Marktschreier da, der alle anderen überruft und gute Geschäfte macht, bis auch an ihn die Reihe kommt, ausgepfiffen zu werden. Unbestreitbar ist diese Erscheinung eine Wirkung der Mode auf das liebenswürdige, geschickte und leichtfertige Pariser Volk. Etwas mag noch so unsinnig sein – wenn es nur überraschend ist, findet es bei der Menge Anklang; man fürchtet nämlich, für einen Dummkopf zu gelten, wenn man sagen würde: das ist unmöglich. In Frankreich wissen eigentlich nur die naturwissenschaftlichen Gelehrten, daß zwischen Können und Werden noch eine Unendlichkeit liegt; in Italien dagegen ist dieses Axiom jedermann bekannt, was freilich nicht besagen will, daß die Italiener über den Franzosen stehen.

Ein Maler verdiente eine Zeitlang viel Geld dadurch, daß er etwas Unmögliches ankündigte: er wußte nämlich den Glauben zu erwecken, er könne das Bildnis einer Person malen, ohne sie zu sehen und nur auf die bloße Beschreibung hin. Er verlangte nichts weiter, als daß die Beschreibung peinlich genau sei. Solch ein Bildnis machte also dem Besteller, der die Person beschrieben hatte, mehr Ehre als dem, der sie gemalt hatte. Aus dieser Abmachung folgte aber auch, daß der erstere das Bild für ähnlich erklären mußte; denn wenn er dies nicht tat, so brachte der Maler die allergerechteste Entschuldigung vor; er sagte: wenn das Bildnis nicht ähnlich wäre, so träfe die Schuld den, der die Beschreibung gemacht hätte, denn dieser hätte eben nicht verstanden, die Seele des Malers mit dem Wesen jener Gesichtszüge zu erfüllen, die er auf die Leinwand bringen sollte.

Ich war eines Abends bei Sylvia zum Essen, als jemand diese wunderbare Neuigkeit vorbrachte, und zwar nicht etwa als einen lächerlichen Scherz, sondern im Ton der festesten Überzeugung. Er erzählte, der Maler hätte schon mehr als hundert Porträts gemacht, die sämtlich sehr ähnlich wären; alle fanden dies wunderschön. Nur ich konnte mir das Lachen nicht verhalten und erlaubte mir zu sagen, die Sache sei lächerlich und unmöglich. Der Erzähler wurde ärgerlich und schlug mir eine Wette um hundert Louis vor. Hierüber mußte ich noch mehr lachen, denn der Vorschlag war nicht annehmbar, weil natürlich die Gefahr zu groß war, angeführt zu werden.

»Aber die Porträts sind sehr ähnlich!«

»Ich glaube es nicht; und wenn sie wirklich ähnlich sind, so liegt eine Gaunerei vor.«

Sylvia war die einzige, die meine Meinung teilte. Der Erzähler wollte uns durchaus überzeugen und schlug uns vor, mit uns zum Maler zum Essen zu gehen. Wir nahmen an.

Am nächsten Tage begaben wir uns zu dem Künstler und sahen bei ihm eine Menge von Bildnissen, die angeblich vollkommen ähnlich waren; da wir die Originale nicht kannten, so konnten wir dies nicht bestreiten. »Würden Sie, mein Herr,« fragte Sylvia ihn, »mir das Bild meiner Tochter malen, ohne sie zu sehen?«

»Gewiß, gnädige Frau, wenn Sie sicher sind, mir ihre Gesichtszüge genau beschreiben zu können.«

Wir wechselten einen Blick miteinander, und die Sache war erledigt. Der Maler sagte uns, seine Lieblingsmahlzeit sei das Abendessen, und wir würden ihm viel Vergnügen machen, wenn wir ihn oft mit unserer Gegenwart beehrten.

Nach Art der Quacksalber führte er eine Menge von Anerkennungsschreiben und Zeugnissen aus Bordeaux, Toulouse, Lyon, Rouen usw. mit sich. Diese enthielten entweder Komplimente über die Vortrefflichkeit seiner Bildnisse oder Beschreibungen für neue Porträts, die man bei ihm bestellte. Übrigens bezahlte man ihm seine Bilder voraus.

Zwei oder drei Tage darauf begegnete ich seiner hübschen Nichte, die mir verbindliche Vorwürfe machte, daß ich nicht zu ihrem Oheim zum Abendessen ginge. Diese Nichte war ein leckerer Bissen; ich fühlte mich durch den Vorwurf geschmeichelt und versprach ihr, schon am nächsten Tage zu kommen. In weniger als acht Tagen aber wurde die Sache ernsthaft; ich verliebte mich in sie. Die interessante Nichte jedoch, die ein geistreiches Mädchen war und sich nur amüsieren wollte, war nicht verliebt und bewilligte mir nichts. Indessen, da ich mich nun einmal gefangen sah, so hoffte ich; denn ich fühlte, daß dies das beste war, was ich tun konnte.

Eines Tages war ich in meinem Zimmer und dachte an sie, während ich meinen Kaffee trank. Plötzlich ging die Tür auf, ohne daß jemand sich hatte anmelden lassen, und es erschien ein junger Mann. Ich erkannte ihn nicht; aber bevor ich Zeit gehabt hatte, irgend eine Frage zu stellen, sagte er zu mir: »Mein Herr, ich habe die Ehre gehabt, bei Maler Sanson mit Ihnen zu speisen.«

»Ach ja! Entschuldigen Sie bitte, mein Herr, ich erkannte Sie nicht.«

»Es ist kein Wunder; denn Sie hatten bei Tisch nur Augen für Fräulein Sanson.«

»Das ist sehr leicht möglich; aber da Sie es bemerkt haben, so gestehen Sie, mein Herr, daß sie reizend ist.«

»Das kann ich ohne weiteres gestehen; denn ich weiß es zu meinem Unglück selber nur zu gut.«

»Sie sind also in sie verliebt?«

»Ach ja! Leider!«

»Leider? So erringen Sie doch ihre Gegenliebe!« »Hiernach strebe ich, mein Herr, seit einem Jahr. Ich begann gerade einige Hoffnung zu schöpfen, da kamen Sie, um mich in Verzweiflung zu stürzen.«

»Ich, mein Herr, um Sie in Verzweiflung zu stürzen?«

»Jawohl. Gerade Sie.«

»Das tut mir sehr leid, aber ich kann nichts dabei tun.«

»Es wäre indessen nicht schwer für Sie, sehr viel dabei zu tun, und wenn Sie es mir erlauben wollten, so würde ich Ihnen anraten, was Sie tun könnten, um mir einen großen Dienst zu erweisen.«

»Sprechen Sie ganz ohne Rückhalt!«

»Sie könnten in Zukunft ihrem Hause völlig fern bleiben.«

»Der Vorschlag ist eigentümlich; indessen gebe ich zu, daß dies das einzige ist, was ich tun könnte, wenn ich wirklich Lust hätte, Ihnen einen Gefallen zu erweisen. Glauben Sie aber, daß es Ihnen dann gelingen wird, die Liebe der jungen Dame zu gewinnen?«

»Das wird dann meine Sache sein. Gehen Sie nur nicht mehr hin. Für das übrige werde ich selber sorgen.«

»Ich könnte möglicherweise Ihnen dies außerordentliche Entgegenkommen erweisen; aber wollen Sie mir gütigst zugeben, daß es doch recht eigentümlich ist, wie Sie mich für einen Mann halten konnten, dem man derartige Zumutungen stellen kann?«

»Ich gestehe, mein Herr, daß dies allerdings eigentümlich erscheinen kann; aber ich habe Sie für einen vernünftigen und sehr klugen Mann gehalten und habe nach reiflicher Überlegung gedacht, Sie würden sich an meine Stelle versetzen und mich nicht unglücklich machen wollen. Andernfalls würden Sie auch nicht Ihr Leben aufs Spiel setzen wollen wegen einer jungen Dame, die Ihnen nur eine verliebte Laune einflößen kann, während ich mich mit allen Gedanken danach sehne, mein Schicksal mit dem ihrigen zu vereinen, mag es mich zum Glück oder Unglück führen.«

»Aber wenn ich nun zufällig gerade wie Sie die Absicht hätte, das Mädchen heiraten zu wollen?«

»Dann wären wir beide zu beklagen, und einer von uns müßte sterben, bevor der andere sein Ziel erreichte; denn solange ich lebe, wird Fräulein Sanson gewiß nicht die Frau eines anderen.«

Da steht nun dieser stattliche junge Mann vor mir: bleich, ernst, marmorkalt, bis zur Raserei verliebt, macht mir mit überraschender Gemütsruhe halb vernünftige, halb verzweifelte Vorschläge, und noch dazu in meiner eigenen Wohnung. Dies gab mir zu denken. Ganz gewiß hatte ich keine Furcht vor dem jungen Mann; andererseits war ich zwar in Fräulein Sanson verliebt, fühlte mich aber doch nicht dermaßen entflammt, daß ich um ihrer schönen Augen willen einem Mitmenschen den Hals abschneiden oder mich von ihm hätte totschießen lassen mögen wegen einer solchen, noch in den ersten Anfängen befindlichen Liebschaft.

Ohne dem jungen Mann zu antworten, ging ich wohl eine gute Viertelstunde lang in meinem Zimmer auf und ab und erwog bei mir selber die Frage: Was wird für mich in den Augen eines Nebenbuhlers rühmlicher und in meinen eigenen Augen achtungswerter sein? Soll ich mich kalten Bluts auf einen Kampf um Leben und Tod mit ihn einlassen oder soll ich mich voller Würde zurückziehen und ihm den Platz räumen?

Die Eitelkeit sagte mir: Schlage dich! Die Vernunft sagte: Zwinge deinen Nebenbuhler, anzuerkennen, daß du vernünftiger bist als er.

Endlich sagte ich in festem Ton zu ihm: »Was würden Sie von mir denken, mein Herr, wenn ich mich bereit erklärte, Fräulein Sansons Haus nicht mehr zu betreten?«

»Ich werde sagen, mein Herr, daß Sie Mitleid mit einem Unglücklichen haben und daß Sie mich stets bereit finden werden, für Sie den letzten Tropfen meines Blutes zu vergießen, um Ihnen meine Dankbarkeit zu bekunden.«

»Wer sind Sie?«

»Ich heiße Garnier und bin der einzige Sohn des Weinhändlers Garnier in der Rue de Seine.«

»Nun denn, Herr Garnier, ich werde nicht mehr zu Fräulein Sanson gehen. Seien Sie mein Freund.«

»Bis in den Tod! Leben Sie wohl, mein Herr!«

»Leben Sie wohl, seien Sie glücklich.«

Fünf Minuten nach Garniers Fortgang trat Patu ein. Ich erzählte ihm den Vorfall; er fand, ich hätte wie ein Held gehandelt. »Ich hätte freilich«, fagte er, »nicht anders gehandelt wie du; aber ganz gewiß hätte ich mich nicht so wie Garnier benommen.«

Ungefähr um dieselbe Zeit ließ Graf de Melfort, Oberst des Regiments Orléans, mich durch Camille, die Schwester der von mir nicht mehr besuchten Coraline, bitten, mittels meiner Kabbala zwei Fragen zu beantworten. Ich verfertigte zwei sehr dunkle aber vielsagende Antworten, versiegelte sie und gab sie an Camille, die mich bat, ich möchte am nächsten Tage mit ihr an einen Ort gehen, den sie mir nicht nennen könnte. Ich willigte ein und begab mich mit ihr nach dem Palais-Royal, wo sie mich über eine kleine Treppe zu den Gemächern der Frau Herzogin von Chartres führte. Nachdem wir ungefähr eine Viertelstunde gewartet hatten, kam die Herzogin und dankte Camillen in der liebenswürdigsten Weise dafür, daß sie mich mitgebracht hätte. Hierauf richtete sie das Wort an mich und sagte mir in sehr vornehmer Haltung, aber recht huldvoll, sie finde eine Menge Schwierigkeiten in den von mir gegebenen Antworten; sie hatte diese gleich mitgebracht und hielt Sie in der Hand. Ich empfand zunächst eine gewisse Verlegenheit darüber, daß die Fragen von Ihrer Hoheit herrührten; dann aber sagte ich ihr, ich wüßte zwar die Kabbala zu stellen, besäße jedoch nicht die Gabe, sie auszulegen; Sie müßte die Güte haben, neue Fragen zu stellen, wodurch die Antworten klarer werden könnten. Infolgedessen schrieb sie alles nieder, was sie nicht verstand und zu wissen wünschte.

»Madame, Sie müssen sich die Mühe machen, die Fragen getrennt zu stellen; denn das kabbalistische Orakel antwortet nicht auf zwei Fragen zugleich.«

»Nun, so stellen Sie doch selber die Fragen!«

»Eure Hoheit werden mir verzeihen, aber alles muß von Ihnen eigenhändig geschrieben werden. Stellen Sie sich vor, Madame, Sie sprechen zu einer Intelligenz, die alle Ihre Geheimnisse kennt.«

Von neuem begann sie zu schreiben und stellte etwa sieben oder acht Fragen. Sie las diese aufmerksam noch einmal durch und sagte dann in vornehmem und zugleich zutraulichem Ton:

»Mein Herr, ich möchte gerne sicher sein, daß außer Ihnen niemand je erfährt, was ich hier niedergeschrieben habe.«

»Madame können auf meine Ehre rechnen.«

Ich las die Fragen aufmerksam durch und sah, daß ihr Wunsch berechtigt war; ich war sogar der Meinung, daß ich das Blatt Papier nicht in die Tasche stecken durfte; denn ich hätte es verlieren und sie und mich bloßstellen können.

»Ich brauche, Madame, nur drei Stunden, um die Arbeit zu machen, und ich wünsche, daß Eure Hoheit vollkommen beruhigt sind. Wenn Sie anderes zu tun haben, können Sie mich hier allein lassen; nur darf ich von keinem Menschen gestört werden. Sobald ich fertig bin, werde ich alles versiegeln; Eure Hoheit wollen geruhen, mir zu sagen, wem ich den Brief übergeben soll.«

»Mir selber oder der Frau von Polignac, wenn Sie diese kennen.«

»Jawohl, Madame, ich habe die Ehre, sie zu kennen.«

Die Herzogin gab mir ein kleines Feuerzeug, um eine Kerze anzuzünden, und entfernte sich mit Camille. Ich blieb allein hinter verschlossenen Türen, und drei Stunden darauf kam Frau de Polignac, als ich eben fertig geworden war; sie nahm die Papiere in Empfang, und ich ging.

Die Herzogin von Chartres, eine Tochter des Prinzen Conti, war damals sechsundzwanzig Jahre alt. Sie besaß in hohem Maße jene Art von Geist, der eine Frau anbetungswürdig macht. Sie war lebhaft, vorurteilsfrei, lustig, witzig und liebte Scherz und Vergnügen, die sie einem langen Leben vorzog. »Kurz und gut« waren die Worte, die sie stets im Munde führte. Sie war ferner gut, freigebig, geduldig, nachsichtig und beständig in allen ihren Neigungen. Sie war hübsch, aber sie hielt sich schlecht, und sie lachte über den Tanzmeister Marcel, der ihr ihre Haltung abgewöhnen wollte. Beim Tanzen streckte sie den Kopf vor und richtete die Füße einwärts, und trotzdem war sie entzückend. Unglücklicherweise hatte sie in ihrem Gesicht Pickeln, die ihrer Schönheit großen Abbruch taten. Man glaubte, dies rühre von einem Leberleiden her; in Wirklichkeit aber war es verdorbenes Blut, das schließlich ihren Tod verursachte, dem sie bis zum letzten Augenblick ihres Lebens Trotz bot.

Die Fragen, die sie an mein Orakel richtete, betrafen Herzensangelegenheiten; unter anderem wollte sie aber auch wissen, wie sie die entstellenden kleinen Pickeln vertreiben könnte.

Meine Orakelsprüche waren dunkel in allen Punkten, von denen ich nicht die näheren Umstände kannte; sie sprachen jedoch klar und deutlich in bezug auf ihre Krankheit, und dadurch wurden sie ihr lieb und notwendig.

Am nächsten Nachmittag schrieb Camille, wie ich erwartet hatte, ein Briefchen an mich, worin sie mich bat, ich möchte alles liegen lassen und um fünf Uhr im Palais-Royal in demselben Zimmer sein, in dem sie mich am vorhergehenden Tage verlassen hätte. Ich war pünktlich dort. Ein alter Kammerdiener, der auf mich gewartet hatte, entfernte sich sofort, und fünf Minuten darauf sah ich die reizende Prinzessin eintreten. Nachdem sie mir ein anmutiges Kompliment gemacht hatte, zog sie alle meine Antworten aus ihrer Tasche und fragte mich, ob ich Geschäfte hätte.

»Eure Hoheit können überzeugt sein, daß ich niemals dringlichere Geschäfte haben werde, als Ihnen zu dienen.«

»Sehr schön; ich werde auch nicht ausgehen, und wir wollen zusammen arbeiten.«

Hierauf zeigte sie mir eine Menge Fragen, die sie bereits niedergeschrieben hatte; diese betrafen verschiedene Gegenstände, besonders aber das Heilmittel gegen die kleinen Geschwüre. Was ihr mein Orakel kostbar gemacht hatte, war etwas, was kein Mensch wissen konnte. Ich hatte meine Mutmaßungen angestellt und richtig geraten; hätte ich nicht erraten, so wäre es auch gleichgültig gewesen. Ich hatte an der gleichen Unannehmlichkeit gelitten, und ich verstand genug von der Arzneikunst, um zu wissen, daß der Versuch, eine Hautkrankheit durch örtliche Mittel gewaltsam zu heilen, ihr hätte den Tod bringen können.

Ich hatte bereits geantwortet: Es bedürfe mindestens einer Woche, um sie von ihrer Krankheit wenigstens dem äußeren Anscheine nach zu heilen, zu einer gründlichen Genesung jedoch sei es erforderlich, daß sie ein Jahr lang sich genau nach gewissen Vorschriften richte.

Wir verbrachten drei Stunden damit, das Orakel zu befragen, was sie tun sollte. Sie war neugierig, ob das Orakel das rechte wisse, und ging auf alles ein: acht Tage darauf waren alle häßlichen Pickel verschwunden.

Ich ließ sie täglich ein gelindes Abführmittel nehmen, schrieb ihr vor, was sie essen sollte, und verbot ihr alle Schönheitsmittel; dagegen verordnete ich ihr, sich morgens und abends mit Wegerichwasser zu waschen. Das bescheidene Orakel befahl der Prinzessin, die gleichen Abspülungen an allen Stellen vorzunehmen, an denen sie die gleichen Wirkungen zu erzielen wünschte, und die Prinzessin gehorchte.

Ich besuchte die Oper eigens an dem Tage, an dem die Herzogin mit einer glatten und rosigen Haut sich dort zeigte. Nach der Oper ging sie, begleitet von ihren vornehmsten Damen, in der großen Allee des Palais-Royal auf und ab, wo sie von allen Anwesenden freudig begrüßt wurde. Sie bemerkte mich und beehrte mich mit einem Lächeln. Ich war überglücklich. Nur Camille, Herr von Melfort und Frau von Polignac wußten, daß ich das Orakel der Prinzessin war. Der Erfolg machte mich sehr stolz; aber schon am nächsten Tage erschienen wieder einige Knötchen auf der schönen Haut der reizenden Frau, und schnell erging Befehl, ich hätte mich im Palais-Royal einzufinden.

Der alte Kammerdiener, der mich nicht kannte, ließ mich in ein köstliches Boudoir eintreten, neben welchem sich ein Kabinett mit einer Badewanne befand. Bald erschien die Herzogin; ihre Miene war jedoch ein wenig traurig, denn sie hatte Knötchen auf der Stirne und am Kinn. In der Hand hielt sie einen Zettel mit einer Frage für mein Orakel; da diese nur kurz war, so beschloß ich, ihr ein Vergnügen zu machen und sie die Antwort selber finden zu lassen. Die von der Prinzessin übertragenen Zahlen machten ihr den Vorwurf, die vorgeschriebene Lebensweise außer acht gelassen zu haben, und sie gab zu, daß sie Liköre getrunken und Schinken gegessen habe.

Ganz erstaunt aber war sie, die Antwort gefunden zu haben; denn sie konnte nicht begreifen, wie diese aus einer Zahlenreihe hatte hervorgehen können. Eine ihrer Frauen trat ein und flüsterte ihr etwas ins Ohr; sie befahl ihr einen Augenblick draußen zu warten, wandte sich hierauf zu mir und sagte: »Es wird Ihnen nicht unangenehm sein, mein Herr, hier einen Freund von Ihnen zu sehen, der ebenso zartfühlend wie verschwiegen ist.« Mit diesen Worten steckte sie schnell alle Papiere, die sich nicht auf ihre Krankheit bezogen, in die Tasche; dann rief sie.

Ich sah einen Mann eintreten, den ich buchstäblich für einen Stallknecht hielt: es war Graf Melfort.

Die Prinzessin sagte zu ihm: »Sehen Sie doch, Herr Casanova hat mich die Kabbala gelehrt!« Zu gleicher Zeit zeigte sie ihm die Antwort, die sie selber gefunden hatte, der Graf wollte es nicht glauben. Da rief sie: »Ei nun, wir müssen ihn überzeugen; was soll ich fragen?«

»Was Eure Hoheit wollen.«

Sie dachte einen Augenblick nach, zog dann aus ihrer Tasche ein Elfenbeindöschen hervor und schrieb: »Sage mir, warum diese Pomade bei mir keine Wirkung mehr übt?«

Sie bildete die Pyramide, die Zahlenreihen und die Schlüssel, wie ich es ihr gezeigt hatte. Um die Antwort zu erhalten, lehrte ich sie Additionen und Subtraktionen machen, die aus den Zahlen hervorzugehen schienen, in Wirklichkeit jedoch rein willkürlich waren. Hierauf sagte ich ihr, sie möchte die Zahlen in Buchstaben übertragen; ich selber ging unter irgend einem Vorwand hinaus. Als ich glaubte, sie könnte mit ihrer Übertragung fertig sein, trat ich wieder ein und fand die Prinzessin in höchstem Erstaunen:

»Oh, welche Antwort, mein Herr!«

»Falsch vielleicht – aber, Madame, das kann vorkommen.«

»Falsch? Göttlich! Sie lautet: Die Pomade wirkt nur auf die Haut einer Frau, die noch nicht geboren hat.«

»Ich finde diese Antwort keineswegs erstaunlich, Madame.«

»Ich glaube es. Sie wissen eben nicht, daß dies die Pomade ist, die der Abbé de Brosses mir vor fünf Jahren gab und die mich damals heilte: dies geschah zehn Monate, bevor ich mit dem Herzog von Montpensier niederkam. Ich würde alles hergeben, was ich auf der Welt habe, wenn ich lernen könnte, ganz allein diese erhabene Kabbala zu machen.«

»Wie?« rief der Graf, »es ist jene Pomade, von der ich die Geschichte kenne?«

»Eben diese.«

»Das ist überraschend.«

»Ich möchte noch eine Frage stellen mit Bezug auf eine Frau, deren Namen ich nicht zu nennen wünsche.«

»Sagen Sie: die Frau, an die ich denke.«

Sie stellte nun die Frage: was für eine Krankheit hat diese Frau?

Ich ließ sie die Zahlen aufstellen und richtete es so ein, daß sie die Antwort erhielt: »Sie will ihrem Mann etwas weis machen.«

Die Herzogin stieß einen lauten Ruf des Erstaunens aus.

Da es schon sehr spät war, so wollte ich gehen, aber Herr von Melfort hatte inzwischen mit Ihrer Hoheit gesprochen und sagte mir, wir würden miteinander fortgehen. Dies taten wir denn auch, und unterwegs sagte er mir, die kabbalistische Antwort bezüglich der Pomade sei wirklich erstaunlich; er erzählte mir folgendes: »Die Frau Herzogin hatte, so hübsch wie sie war, im Gesicht so viele Pickeln, daß dem Herzog davor ekelte und er sich nicht überwinden konnte, sie als Gatte zu umarmen; so schmachtete denn die arme Prinzessin in vergeblichem Sehnen nach Mutterschaft dahin. Abbé de Brosses heilte sie mittels dieser Pomade, und mit einem atlasglatten Gesicht begab sie sich in die Loge der Königin im Französischen Theater. Gegenüber in der Loge des Königs befand sich der Herzog von Chartres, der keine Ahnung davon hatte, daß seine Frau im Theater war, denn sie besuchte dieses nur selten. Ohne die Herzogin zu erkennen, fand er sie schön und erkundigte sich, wer die Dame sei. Man sagte es ihm. Er wollte es nicht glauben, verließ die Loge des Königs, begab sich zu seiner Frau, sprach ihr seinen Glückwunsch aus und ließ ihr noch in derselbigen Nacht seinen Besuch anmelden. Das Ergebnis war, daß die Frau Herzogin neun Monate später den Herzog von Montpensier zur Welt brachte; dieser ist jetzt fünf Jahre alt und vollkommen gesund. Während der ganzen Dauer der Schwangerschaft behielt die Herzogin ein schönes Gesicht, aber sofort nach der Niederkunft kehrten die Knötchen zurück, und die Pomade ist ohne Wirkung geblieben.«

Nachdem er mir diese Geschichte erzählt hatte, zog der Graf eine Schildpattdose mit dem sehr ähnlichen Porträt der Herzogin aus der Tasche und sagte zu mir: »Ihre Hoheit bittet Sie, ihr Porträt anzunehmen; und wenn Sie es fassen lassen wollen, so möchten Sie bitte, dies dazu nehmen.« Das dies war eine Rolle von hundert Louis. Ich nahm die Dose und die hundert Louis und bat den Grafen, Ihrer Hoheit meine volle Dankbarkeit auszusprechen. Das Porträt habe ich niemals fassen lassen, denn ich brauchte damals Geld zu anderen Zwecken.

In der Folgezeit erwies die Herzogin mir mehrere Male die Ehre, mich rufen zu lassen, aber von einer Heilung ihres Leidens war nicht mehr die Rede: sie war außerstande, die erforderliche Enthaltsamkeit zu üben. Manchmal ließ sie mich fünf oder sechs Stunden hintereinander arbeiten, bald in dem einen Winkel, bald in dem anderen; dabei ging sie selber fortwährend ab und zu. Mittag- oder Abendessen ließ sie mir durch den guten alten Kammerdiener besorgen, der niemals den Mund auftat.

Die Kabbala betraf nur geheime Angelegenheiten, über die sie aus Neugier näheres zu wissen wünschte; dabei entdeckte sie oftmals Wahrheiten, von denen ich selber nichts wußte. Sie wünschte, ich sollte ihr das Geheimnis beibringen; doch drängte sie mich niemals. Aber sie ließ mir durch Herrn von Melfort sagen: Wenn ich sie mein Geheimnis lehren wollte, so würde sie mir eine Stelle mit einem jährlichen Einkommen von fünfundzwanzigtausend Livres verschaffen. Leider war die Sache unmöglich. Ich war rasend in sie verliebt; doch erlaubte ich mir niemals, sie dies merken zu lassen: meine Eitelkeit hielt meine Liebe im Zügel. Ich befürchtete von ihrem Stolz gedemütigt zu werden – und vielleicht hatte ich unrecht. Soviel weiß ich: Es tut mir noch jetzt leid, auf eine dumme Furcht gehört zu haben. Allerdings erfreute ich mich mehrerer Vorrechte, die sie mir vielleicht entzogen haben würde, wenn sie meine Liebe gekannt hätte.

Eines Tages wollte sie durch meine Kabbala erfahren, ob der Brustkrebs der Frau de la Popelinière heilbar sei; aus Laune ließ ich ihr antworten, die Dame hätte überhaupt keinen Krebs, sondern befände sich vollkommen wohl.

»Wie?« rief sie, »ganz Paris glaubt ja daran, und sie läßt einen Arzt nach dem anderen kommen. Aber einerlei: ich glaube der Kabbala!«

Am selben Tage traf sie bei Hofe den Herzog von Richelieu und sagte zu diesem, sie wisse bestimmt, daß Frau de la Popelinière gar nicht krank sei. Der Marschall, der in das Geheimnis eingeweiht war, sagte ihr, sie täusche sich. Sie aber schlug ihm eine Wette um hunderttausend Franken vor. Ich zitterte, als die Herzogin mir dies erzählte, und fragte sie ängstlich: »Hat er angenommen?« »Nein; aber er war erstaunt, und er muß, wie Sie wissen, eingeweiht sein.«

Drei oder vier Tage darauf sagte sie mir mit triumphierender Miene, Herr von Richelieu habe ihr gestanden, daß der angebliche Krebs nur eine List sei, um das Mitleid ihres Gatten zu erregen, zu dem sie gerne zurückkehren wollte. Sie erzählte mir ferner, daß der Marschall ihr gesagt habe, er wolle gerne tausend Louis bezahlen, um zu erfahren, wie sie die Wahrheit entdeckt habe.

»Wenn Sie die tausend Louis verdienen wollen,« sagte sie zu mir, »so werde ich ihm alles sagen.«

»Nein, nein, Madame! Ich flehe Sie an, es nicht zu tun.«

Ich fürchtete eine Falle. Ich kannte den Marschall als Hitzkopf, und die Geschichte von dem Loch in der Wand, durch das der Kavalier bei seiner Dame Einlaß gefunden hatte, war in ganz Paris bekannt; Herr de la Popelinière hatte selber dazu beigetragen, die Sache öffentlich zu machen, indem er sich weigerte, seine Frau wiederzusehen, und ihr nur eine Rente von zwölftausend Franken jährlich aussetzte.

Die Herzogin von Chartres hatte reizende Gedichte auf dieses Ereignis gemacht, die jedoch außerhalb ihres vertrauten Kreises niemandem bekannt wurden, als dem König. Dieser hatte sie sehr gerne, obgleich sie ihm oft derbe Bemerkungen ins Gesicht warf. Eines Tages zum Beispiel fragte sie ihn, ob es wahr sei, daß der König von Preußen nach Paris kommen werde. Ludwig antwortete ihr, das Gerücht entbehre jeder Begründung. »Das tut mir sehr leid!« rief sie aus; »denn ich sterbe vor Verlangen, einen König zu sehen.«

Mein Bruder hatte inzwischen mehrere Gemälde vollendet; er beschloß, eins davon Herrn de Marigny zu zeigen, und eines schönen Morgens begaben wir uns zu dem hohen Herrn, der im Louvre wohnte. Dort machten alle Künstler ihm ihre Aufwartung. Wir waren an diesem Morgen die ersten und warteten in einem Saal unmittelbar vor seinen Gemächern auf sein Erscheinen. Das Gemälde war zur Besichtigung ausgestellt; es war ein Schlachtstück im Geschmack von Bourguignon. Der erste Besucher, der erschien, blieb vor dem Bilde stehen, besah es aufmerksam und ging dann weiter, indem er bei sich selber sagte: »Schlecht!«

Einen Augenblick darauf kamen zwei neue Besucher, sahen das Bild und sagten lachend: »Schülerarbeit!«

Ich schielte nach meinem Bruder, der neben mir saß ; er schwitzte Blut und Wasser. Es dauerte keine Stunde, so war der Saal voll von Leuten, und ein jeder machte seine Witze über das unglückselige Bild. Mein armer Bruder fühlte sich dem Tode nahe und dankte Gott, daß ihn wenigstens kein Mensch kannte.

Da er mir leid tat, so stand ich auf, um mit ihm in einen anderen Saal zu gehen, und sagte, nur um ihn zu trösten: Herr von Marigny würde kommen und sein Bild gut finden; dies würde dann eine Rache für alle beleidigenden Bemerkungen sein. Zum Glück war er nicht derselben Meinung, und so gingen wir schnell hinaus, stiegen in einen Fiaker und fuhren nach Hause, wo wir unserem Bedienten befahlen, das Bild wieder abzuholen.

Sobald das arme Gemälde bei uns im Hause war, machte mein Bruder ein wirkliches Schlachtstück daraus, denn er durchbohrte es mit zwanzig Degenstößen. Sodann faßte er den Entschluß, sofort seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, Paris zu verlassen und an einem anderen Ort eine Kunst zu studieren, die er abgöttisch liebte. Wir beschlossen, uns nach Dresden zu begeben.

Zwei oder drei Tage vor meinem Abschied von meinem reizenden Paris speiste ich allein bei denm Schweizer der Porte de Feuillants in den Tuilerien; er hieß Condé. Nach dem Essen brachte seine ziemlich hübsche Frau mir die Rechnung, worauf jeder Gegenstand mit dem Doppelten seines Wertes angesetzt war. Ich machte sie darauf aufmerksam, aber sie antwortete ziemlich kurz angebunden, es könnte kein Heller abgelassen werden. Ich bezahlte; da aber die Rechnung mit den Worten Femme Condé quittiert war, so nahm ich die Feder und schrieb hinter den Namen Condé: labré [R1: Condé-labré, also: con délabré.]. Ich ließ die Rechnung auf dem Tisch liegen und ging.

Ohne weiter an meine Halsabschneiderin zu denken, ging ich in einer Allee spazieren, als plötzlich ein kleiner Mann, den Hut auf dem linken Ohr, einen riesigen Strauß im Knopfloch und ein langes Schlachtschwert an der Seite mit unverschämter Miene auf mich zutrat und ohne weitere Umschweife zu mir sagte, er habe Lust, mir die Gurgel abzuschneiden.

»Na, mein Kerlchen, da müßten Sie aber auf einen Schemel steigen. Aber ich, ich werde Ihnen die Ohren abschneiden.«

»Potz Blitz nochmal, mein Herr!«

»Keine Rüpeleien! Sie brauchen nur mit mir zu kommen; ich werde es Ihnen sofort besorgen.«

Mit großen Schritten ging ich nach dem Stern. Da ich dort keinen Menschen sah, drehte ich mich plötzlich um und fragte ihn, was er wollte und warum er mich angriffe. »Ich bin der Chevalier de Talvis; Sie haben eine ehrbare Frau beschimpft, die ich beschütze. Ziehen Sie!«

Mit diesen Worten zog er seinen langen Degen. Ich tat das gleiche, legte aus, machte einen Ausfall und verwundete ihn an der Brust. Er sprang zurück und rief, ich hätte ihn in hinterlistiger Weise verwundet.

»Du lügst, Lümmel! Und gib zu, daß du lügst, oder ich renne dir meinen Degen durch den Leib!«

»Nicht doch! Nicht doch! Ich bin ja verwundet; aber ich werde von Ihnen Revanche verlangen, und wir werden den Stoß beurteilen lassen.«

»Erbärmlicher Klopffechter! Wenn du nicht zufrieden bist, schneide ich dir die Ohren ab.«

Ich ließ ihn stehen. Nach meiner Überzeugung war mein Stoß vollkommen regelrecht, denn er hatte den Degen vor mir in die Hand genommen, und wenn er sich nicht sofort deckte, so war es nicht meine Sache, ihn daran zu erinnern.

Etwa Mitte August reiste ich mit meinem Bruder von Paris ab. Ich hatte zwei Jahre lang in der einzigen Stadt gelebt, hatte dort viel Vergnügen gefunden und keine andere Unannehmlichkeit, als daß ich zuweilen ein bißchen knapp bei Gelde war. Wir reisten über Metz, Mainz und Frankfurt, und kamen gegen Ende desselben Monats in Dresden an. Meine Mutter nahm uns mit der zärtlichsten Liebe auf und war entzückt über das Wiedersehen. Mein Bruder verbrachte vier Jahre in dieser hübschen Stadt mit beständigem Studium seiner Kunst; er kopierte in der kurfürstlichen Galerie alle schönen Schlachtenbilder der größten Meister.

Nach Paris kehrte er erst zurück, als er die Gewißheit erlangt hatte, der Kritik die Spitze bieten zu können; ich werde später erzählen, wie wir fast zur gleichen Zeit dort ankamen. Was bis dahin gutes und schlechtes Glück abwechselnd für und gegen mich machten, das, mein lieber Leser, wirst du sehen.

Das Leben, das ich bis zum Ende des Karnevals 1753 in Dresden führte, bietet nichts Besonderes. Um den Schauspielern und besonders meiner Mutter ein Vergnügen zu machen, verfaßte ich eine Tragikomödie, worin ich zwei Harlekins auftreten ließ. Es war eine Parodie der feindlichen Brüder von Racine. Der König lachte herzlich über die komischen Bosheiten, mit denen mein Stück gespickt war, und ich erhielt von ihm ein herrliches Geschenk. Er war prachtliebend und verschwenderisch, und er fand für diese Neigungen einen wunderbaren Helfer in dem berühmten Grafen von Brühl.

Bald darauf reiste ich von Dresden ab. Ich ließ dort meine Mutter, meinen Bruder und meine Schwester zurück, die sich dem Hofklavierlehrer Peter August verheiratet hatte. Er ist vor Jahren gestorben und hat seine Witwe in behaglichem Wohlstand und seine Familie in glücklichen Verhältnissen zurückgelassen.

Mein Dresdener Aufenthalt wurde mir denkwürdig durch ein Liebesangebinde, das ich mir, wie bereits frühere, durch sechswöchentliche Enthaltsamkeit vom Halse schaffte. Ich habe oft darüber nachgedacht, daß ich den größten Teil meines Lebens mit dem Streben verbrachte, mich krank zu machen; wenn ich dann meinen Zweck erreicht hatte, suchte ich ebenso eifrig wieder meine Gesundheit zu erlangen. Beides ist mir gleich gut gelungen; aber heute, da ich mich in dieser Hinsicht vollkommener Gesundheit erfreue, ist es mir schmerzlich, daß ich mich nicht mehr krank machen kann: das Alter, diese ebenso grausame wie unvermeidliche Krankheit, zwingt mich wider meinen eigenen Willen gesund zu sein. Die Krankheit, von der ich spreche und die wir Italiener sehr dummer Weise Franzosenkrankheit nennen – denn wir können mit vollem Recht den Anspruch erheben, sie zuerst eingeführt zu haben – diese Krankheit verkürzt nicht das Leben, obgleich sie unzerstörbare Spuren hinterläßt. Diese Narben, die vielleicht weniger ehrenvoll sind als die in den Kämpfen des Mars erworbenen, dürfen ihrem Träger kein Bedauern erwecken, wenn er sie mit Lust gewonnen hat.

Ich hatte in Dresden häufig Gelegenheit, den König zu sehen; er liebte seinen Minister, den Grafen Brühl, weil sein Günstling das doppelte Geheimnis besaß, noch verschwenderischer zu sein als sein Gebieter, und ihm alles zu ermöglichen.

Niemals war ein Monarch ein so abgesagter Feind der Sparsamkeit; er lachte über die Schelme, die ihn bestahlen, und gab viel aus, um viel lachen zu können. Da er nicht Geist genug hatte, um über die Dummheiten anderer Fürsten und über die Lächerlichkeiten des menschlichen Geschlechtes lachen zu können, so hatte er vier Spaßmacher in seinem Lohn; man nennt sie in Deutschland Narren, obgleich diese herabgekommenen Menschen für gewöhnlich klüger sind als ihre Herren.

Diese Spaßmacher sind amtlich dazu angestellt, ihren Herrn durch alle möglichen Späße zum Lachen zu bringen; für gewöhnlich sind dies ekelhafte Fratzenschneidereien oder seichte Grobheiten.

Zuweilen gewinnen jedoch diese berufsmäßigen Narren solchen Einfluß auf ihren Herrn, daß sie von ihm bedeutende Gnadenbeweise für Personen, für die sie sich interessieren, zu erwirken imstande sind. Infolgedessen werden sie von den ersten Familien ausgezeichnet behandelt. Welchen Menschen brächte nicht das Bedürfnis dazu, Niedrigkeiten zu begehen? Sagt nicht bei Homer Agamemnon, sie wären in einer Lage, daß sie solche begehen müßten? Und diese Herren lebten doch lange, lange vor uns. Dies scheint zu beweisen, daß zu allen Zeiten die Menschen sich von denselben Antrieben be- wegen lassen, nämlich dem Eigennutz.

Man tut unrecht, wenn man sagt, Graf Brühl sei Sachsens Verderber gewesen, denn er war nur der getreue Diener der Wünsche und Neigungen seines Herrn. Er hat seine Kinder in Armut zurückgelassen, und damit ist sein Andenken hinreichend gerechtfertigt.

Dresden hatte den glänzendsten Hof, den es damals in Europa gab. Die Künste standen in hoher Blüte. Galanterie sah man jedoch nicht. Denn König August war nicht galant, und die Sachsen sind nicht zur Galanterie veranlagt, wenn Ihnen nicht ihr Herrscher das Beispiel gibt.

In Prag, wo ich nicht zu verweilen gedachte, bestellte ich nur einen Brief an den Opernunternehmer Locatelli; dann machte ich einen Besuch bei einer alten Bekannten, Frau Morelli, die ich liebte und bei der ich für zwei oder drei Tage alles fand, was mein Herz begehrte. Im Augenblick, da ich abreisen wollte, traf ich auf der Straße meinen Freund Fabris, der damals Oberst war. Er nötigte mich, mit ihm zu speisen. Ich umarmte ihn und machte ihm klar, daß ich sofort abreisen müßte. Vergeblich! »Du kannst heute abend mit einem meiner Freunde abfahren; ihr werdet den Postwagen einholen.« Ich mußte nachgeben und war nachher entzückt, daß ich’s getan, denn wir verbrachten den ganzen Tag auf eine köstliche Weise. Fabris sehnte sich nach Krieg, und seine Wünsche wurden zwei Jahre später erhört. Er gewann in diesem Kriege großen Ruhm.

Ich muß noch ein Wort über Locatelli sagen. Er war ein origineller Charakter, dessen Bekanntschaft zu machen sich verlohnte. Er hielt jeden Tag Tafel von dreißig Gedecken, und die Gäste bestanden aus feinen Schauspielern und Schauspielerinnen, Tänzern und Tänzerinnen, sowie einigen Freunden. Mit vornehmer Würde führte er den Vorsitz beim leckeren Mahl; denn gutes Essen war seine Leidenschaft. Ich werde noch Gelegenheit haben, von ihm zu sprechen, wenn wir zu meiner russischen Reise kommen. In Petersburg traf ich ihn wieder; dort ist er vor kurzem im Alter von neunzig Iahren gestorben.