Sechstes Kapitel


Ich erhalte gute Nachrichten aus Venedig, kehre dorthin zurück und nehme de la Haye und Bavois mit mir. – Wir werden von meinen drei Freunden ausgezeichnet aufgenommen; ihre Überraschung, als sie mich als ein Muster von Frömmigkeit sehen. – Bavois bringt mich zu meinem früheren Lebenswandel zurück. – De la Haye als echter Heuchler. – Abenteuer mit dem Mädchen Marchetti. – Ich gewinne in der Lotterie. – Ich finde Baletti wieder. – De la Haye verläßt den Palazzo Bragadino. – Ich reise nach Paris ab.

Jeden Tag gewann de la Haye mehr Herrschaft über meinen geschwächten Geist; jeden Tag nahm ich fromm an Messe, Offizium und Predigt teil. Da erhielt ich aus Venedig einen Brief, der mir meldete, meine Angelegenheit habe den üblichen Lauf aller dieser Dinge genommen, das heißt, sie sei in Vergessenheit geraten. Durch einen zweiten Brief des Herrn von Bragadino erfuhr ich, der Minister vom Wochendienst habe dem Botschafter geschrieben, er könne dem Heiligen Vater versichern, man werde dem Baron Bavois, sobald er sich melden sollte, eine Anstellung bei den Truppen der Republik geben, mittels deren er anständig leben und bei guter Ausführung es zu den höchsten Würden bringen könne.

Durch diesen Brief erfüllte ich das Herz des Herrn de la Haye mit Freude, und ich steigerte diese auf ihren Höhepunkt, als ich ihm sagte, jetzt könnte mich nichts mehr hindern, in meine Heimat zurückzukehren.

Infolgedessen beschloß er, nach Modena zu reisen und sich mit seinem Neubekehrten über das Verhalten zu besprechen, das dieser in Venedig beobachten müßte, um sich den Weg zum Glück zu bahnen. Auf mich konnte er sich in jeder Beziehung verlassen; er sah, daß ich Fanatiker war, und er wußte, daß der Fanatismus eine unheilbare Krankheit ist, solange die Ursachen fortbestehen. Da er mit nach Venedig ging, so hoffte er bestimmt, das Feuer erhalten zu können, das er selber angezündet.

Er schrieb also an Bavois, er werde zu ihm kommen. Zwei Tage später nahm er Abschied von mir; er zerfloß in Tränen, hielt die schönsten Lobreden auf die Tugenden meiner Seele, nannte mich seinen teuren Sohn und versicherte mir, er habe sich erst dann an mich angeschlossen, nachdem er in meinen Gesichtszügen den göttlichen Charakter des Auserwählten gelesen habe. Wie man sieht, waren seine Behauptungen nicht übertrieben.

Einige Tage nach de la Hayes Abreise verließ ich Parma in meinem Wagen, den ich in Fusina ließ; von dort begab ich mich nach Venedig. Ich war ein volles Jahr fort gewesen, und meine Freunde empfingen mich wie ihren Schutzengel. Sie bekundeten die größte Ungeduld, die beiden Auserwählten ankommen zu sehen, deren Bekanntschaft ich ihnen in meinen Briefen verheißen hatte. Eine Wohnung für de la Haye war im Palazzo selbst zurecht gemacht worden, und da aus politischen Gründen mein Vater einen Fremden, der noch nicht im Dienst der Republik stand, nicht bei sich aufnehmen konnte, so hatte er für Bavois zwei hübsche Zimmer in der Nachbarschaft besorgt.

Sie waren außerordentlich überrascht, als sie die wunderbare Veränderung bemerkten, die mit mir in bezug auf meinen sittlichen Wandel vorgegangen war. Alle Tage war ich in der Messe, oft bei der Predigt; ich machte das vierzigstündige Gebet mit, Kasinos besuchte ich gar nicht, sondern nur das Kaffeehaus, wo sich fromme Leute von bekanntem gutem Lebenswandel versammelten. Stets saß ich über meinen Büchern, wenn ich nicht in Gesellschaft meiner drei Freunde war. Indem sie meinen gegenwärtigen Lebenswandel mit meinen früheren Sitten verglichen, erstaunten sie und wußten nicht, wie sie der Vorsehung danken sollten, deren unbegreifliche Wege sie bewunderten. Sie segneten die Verbrechen, die mich gezwungen hatten, ein Jahr fern von meiner Vaterstadt zu verbringen. Ihre höchste Freude erregte es, als ich alle meine Schulden bezahlte, ohne einen Heller von Herrn de Bragadino zu verlangen, der mir seit einem Jahr nichts gegeben und mit frommer Gewissenhaftigkeit Monat für Monat das mir bewilligte Taschengeld für mich auf die Seite gelegt hatte. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr die braven Leute sich freuten, als sie sahen, daß ich niemals zum Spiel ging.

Zu Anfang des Monats Mai erhielt ich einen Brief von de la Haye. Er teilte mir mit, er würde sich mit dem teuren Sohn seiner Seele einschiffen, um sich den Befehlen der achtungswerten Persönlichkeiten, denen ich ihn angekündigt hätte, zur Verfügung zu stellen.

Da uns die Ankunftszeit des Marktschiffs von Modena bekannt war, begaben wir uns alle zu ihrem Empfang, mit Ausnahme des Herrn de Bragadino, der an jenem Tage im Senat war. Wir traten vor ihm in seinen Palazzo ein, und als er uns alle beisammen fand, bereitete er den Neuangekommenen den schönsten Empfang. De la Haye hatte mir hunderterlei mitzuteilen, aber ich hörte ihm kaum zu, so sehr beschäftigte mich der Baron Bavois.

Er war eine so ganz andere Persönlichkeit wie die, die ich mir nach der mir gemachten Schilderung vorgestellt hatte, daß meine Begriffe von ihm völlig in Verwirrung gerieten. Ich mußte ihn drei Tage lang studieren, bevor ich mich zu einer wirklichen freundschaftlichen Annäherung entschließen konnte. Ich muß meinen Lesern sein Bild zeichnen:

Baron Bavois war ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, von mittlerer Größe, hübschem Gesicht, sehr gut gewachsen, blond. Er war von stets gleichmäßigem Wesen, sprach gut und geistvoll und wußte sich mir einer gewandten Bescheidenheit auszudrücken, die ihm sehr gut stand. Seine Gesichtszüge waren angenehm und regelmäßig, seine Zähne sehr schön, seine sehr dichten Haare waren sehr gut gepflegt und dufteten nach den Wohlgerüchen, mit denen er sie behandelte. Über diesen jungen Mann, der weder in seinem Wesen noch in seiner äußeren Erscheinung dem Bilde glich, das man sich nach de la Hayes Schilderung gemacht, waren meine drei Freunde sehr erstaunt; indessen hatte darunter die gute Aufnahme, die sie ihm bereiteten, in keiner Weise zu leiden, denn ihren reinen Seelen war es unmöglich, ein ungünstiges Urteil zu fällen, da sie doch von seinen Sitten einen so schönen Begriff haben mußten.

Sobald de la Haye in seiner prachtvollen Wohnung untergebracht war, führte ich den Baron in die für ihn bestimmte, wohin ich bereits seine Sachen hatte schaffen lassen. Als er sich so gut bei sehr ehrenwerten Bürgersleuten untergebracht sah, die im voraus zu seinen Gunsten eingenommen waren und ihn mit Auszeichnung behandelten, umarmte er mich zärtlich, indem er mich seiner vollen Dankbarkeit versicherte. Er sagte mir, er fühle sich von tiefem Dank durchdrungen für alles, was ich für ihn getan hätte, ohne ihn zu kennen, und wovon de la Haye ihn genau in Kenntnis gesetzt hätte. Ich tat, als wüßte ich von nichts. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fragte ich ihn, womit er in Venedig seine Zeit zu verbringen gedächte, bis seine Anstellung ihm eine geregelte, amtliche Tätigkeit gäbe.

»Ich hoffe,« antwortete er mir, »wir werden uns angenehm amüsieren, denn ich bezweifle nicht, daß unsere Neigungen überein stimmen.«

In der Verdummung, zu der Merkur und de la Haye mich gebracht hatten, wäre ich in Verlegenheit gewesen, diesen Worten auf der Stelle ihre richtige Bedeutung beizulegen, obgleich sie doch im übrigen leicht verständlich waren, aber wenn ich auch in diesem Fall an der Oberfläche blieb, so bemerkte ich doch sofort, daß er den beiden Töchtern seiner Wirtin gefallen hatte. Sie waren weder hübsch noch häßlich; aber er war liebenswürdig gegen sie wie ein Mann, der sich darauf versteht. Ich nahm es jedoch nur für übliche Höflichkeit; soweit war ich bereits durch meinen Mystizimus heruntergekommen.

Für den ersten Tag führte ich meinen Baron nur auf den Markusplatz und ins Kaffeehaus, wo wir bis zum Abendessen blieben. Er hatte sein tägliches Gedeck bei Herrn de Bragadino. Während der Mahlzeit glänzte er durch hübsche Bemerkungen, und Herr Dandolo verabredete mit ihm die Stunde, um ihn am nächsten Tage abzuholen und ihn dem Kriegsminister vorzustellen. Nach dem Abendessen brachte ich ihn wieder nach Hause; ich fand die beiden jungen Mädchen hocherfreut, daß ihr stolzer Herr keinen Bedienten hatte, denn sie hofften, ihn überzeugen zu können, daß er eines solchen entbehren könne. Am anderen Tage, kurz vor der verabredeten Zeit, begleitete ich zu ihm die Herren Dandolo und Barbaro, die ihn dem Minister vorstellen sollten. Wir fanden ihn bei der Toilette unter zarter Hand der ältesten Schwester, die ihn frisierte. Sein Zimmer duftete vom Geruch der Pomade und der Essenzen, mit denen er sich parfümieren ließ. Dies sprach nicht gerade für einen kleinen Heiligen; indessen nahmen meine beiden Freunde doch keinen Anstoß daran, obgleich ich ihre Überraschung wohl bemerkte, denn sie waren auf eine derartige Galanterie bei einem Neubekehrten nicht gefaßt gewesen. Ich hätte beinahe laut herausgelacht, als Herr Dandolo mit salbungsvoller Miene sagte, wenn wir uns nicht ein bißchen beeilten, hätten wir keine Zeit mehr, in die Messe zu gehen, und als Bavois ihn überrascht fragte, ob denn Feiertag wäre. Herr Dandolo machte keine Bemerkung dazu, sondern sagte einfach nein; und an den folgenden Tagen war von der Messe nicht mehr die Rede. Als er fertig war, ließ ich sie allein gehen und schlug selber einen anderen Weg ein. Ich sah die Herren erst beim Mittagsessen wieder, wo man sich über den Empfang unterhielt, den der Weise dem jungen Baron bereitet hatte; am Nachmittag führten meine beiden Freunde ihn zu Damen ihrer Verwandtschaft, die alle von ihm entzückt zu sein schienen. In weniger als acht Tagen hatte er so viele Bekanntschaften, daß er keine Langeweile mehr zu fürchten brauchte; während dieser acht Tage erkannte ich aber auch vollkommen seinen Charakter und seine Denkweise. Ich hätte ein so langes Studium nicht nötig gehabt, wenn ich nicht vorher die Überzeugung vom Gegenteil gehabt hätte, oder vielmehr, wenn nicht meine Verstandeskräfte durch meine Frömmelei belastet gewesen wären. Bavois liebte Weiber, Spiel und Verschwendung, und da er arm war, waren die Frauen seine hauptsächlichste Hilfsquelle; Religion hatte er überhaupt nicht, und da er kein Heuchler war, so machte er kein Hehl daraus.

»Wie haben Sie,« fragte ich ihn eines Tages, »so wie Sie sind, einen de la Haye hintergehen können?«

»Gott soll mich davor bewahren, irgend einen Menschen zu hintergehen! De la Haye kennt vollkommen meine Weltanschauung und Denkweise; aber als frommer Mann, der er ist, hat er eine schöne Liebe zu meiner Seele gefaßt, und ich habe ihn gewähren lassen. Er hat mir Wohltaten erzeigt, ich bin ihm dankbar dafür. Ich liebe ihn um so mehr, da er mich niemals mit Unterhaltungen über Glaubenssätze und über mein Seelenheil langweilt, für das Gott, unser guter Vater, auch ohnehin schon gesorgt haben wird. Dies ist ein Übereinkommen zwischen uns, und so leben wir als gute Freunde miteinander.«

Das Spaßhafte an der Sache war, daß Bavois, während ich seinen Charakter zu erkennen suchte, mir, ohne sich etwas dabei zu denken, den Kopf wieder zurecht setzte. Ich errötete darüber, daß ich mich von einem Jesuiten hatte betölpeln lassen, der trotz seiner ausgezeichnet gespielten Rolle des vollkommenen Christen nur ein abgefeimter Heuchler war. Ich nahm sofort meine früheren Gewohnheiten wieder auf. Doch kommen wir noch einmal auf de la Haye zurück!

Der Ex-Jesuit, dem im Grunde nur an seinem eigenen Wohlleben etwas lag, der aber schon alt war und infolgedessen für das weibliche Geschlecht keine Neigung mehr hatte, war gerade der Mann dazu, meine drei einfachen und gutmütigen Freunde zu bezaubern.

Da er mit ihnen nur von Gott, Engeln und ewigem Ruhm sprach und mit großer Ausdauer sie in die Kirche begleitete, so erschien er ihnen bewunderungswürdig. Sie konnten kaum den Augenblick erwarten, wo er sich entdecken würde; denn sie bildeten sich ein, er wäre zum mindesten ein Rosenkreuzer oder der Eremit von Carpegna, der mich die Kabbala gelehrt und mir den unsterblichen Paralis bescherte. Sie waren bedrückt, da ich ihnen durch deutliche Worte des Orakels verboten hatte, jemals in Gegenwart des alten Herrn von meiner Wissenschaft zu sprechen.

Dies verschaffte mir, wie ich vorausgesehen hatte, viele freie Zeit, die ich sonst ihrer frommen Leichtgläubigkeit hätte widmen müssen; übrigens hätte ich fürchten müssen, daß de la Haye, so wie ich ihn beurteilte, sich niemals herbeigelassen hätte, an derartigen Albereien teilzunehmen, und daß er, um sich in ihren Augen ein Verdienst zu erwerben, hätte versuchen können, ihnen die Täuschung zu benehmen, um mich zu verdrängen.

Ich bemerkte bald, daß ich vorsichtig gehandelt hatte; denn in weniger als drei Wochen hatte der schlaue Fuchs sich dermaßen zum geistigen Leiter meiner drei Freunde gemacht, daß er nicht nur glaubte, er hätte mich nicht mehr nötig, um seinen Einfluß auf sie zu behaupten, sondern er wäre sogar imstande, mich über den Haufen zu stoßen, sobald er Lust hätte. Dies war eine Schwäche von ihm; ich erkannte es klar und deutlich, sowohl an dem Stil, worin er mit mir sprach, wie auch an seinem veränderten Benehmen gegen mich.

Er fing schon an, mit meinen drei Freunden häufig Unterredungen zu haben, bei denen ich nicht zugegen war, und er hatte sich bei mehreren Familien vorstellen lassen, die ich nicht besuchte. Er spielte sich bereits als Jesuiten auf und erlaubte sich, wenn auch mit honigsüßen Worten, Bemerkungen zu machen, daß ich zuweilen die Nacht an Orten verbrächte, von denen die Freunde nichts wußten.

Dies begann mich zu ärgern; besonders daß er mir seine salbungsvollen Predigten bei Tisch in Gegenwart meiner Freunde und seines Neubekehrten machte. Er tat, als wollte er mich beschuldigen, daß ich diesen verführte. Er suchte einen scheinbar scherzhaften Ton anzuschlagen; aber ich ließ mich nicht mehr von ihm an der Nase führen. Ich glaubte, diesem Spiel ein Ende machen zu müssen, und machte ihm in dieser Absicht einen Besuch auf seinem Zimmer. Ich trat mit den Worten ein:

»Ich komme, um als aufrichtiger Anbeter des Evangeliums, unter vier Augen und ohne jemanden etwas hören zu lassen, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen später vor den anderen sagen werde: Hüten Sie sich wohl, in Gegenwart meiner drei Freunde die geringste Bemerkung über den Lebenswandel zu machen, den ich mit Bavois führe. Unter vier Augen werde ich Ihnen stets mit Vergnügen zuhören.«

»Sie haben unrecht, daß Sie einfache Scherze ernst nehmen.«

»Ob ich unrecht oder recht habe, darum handelt es sich nicht. Warum richten Ihre Anspielungen sich niemals gegen Ihren neuen Glaubensgenossen? Seien Sie in Zukunft vorsichtig oder gewärtigen Sie von meiner Seite, im Scherz, eine Antwort, die ich Ihnen gestern erspart habe, die Sie aber bei der nächsten Gelegenheit mit Zinseszinsen mitten ins Gesicht bekommen sollen.«

Hiermit grüßte ich ihn und ging. Wenige Tage darauf verbrachte ich mehrere Stunden mit meinen Freunden und Paralis, und mein Orakel schrieb ihnen vor, alle Vorschläge, die Valentin ihnen etwa machen würde, stets nur nach Anhörung meiner Meinung auszuführen. Valentin war der kabbalistische Name des Escobarschülers. An ihrem Gehorsam meinen Befehlen gegenüber brauchte ich nicht zu zweifeln. De la Haye bemerkte bald eine gewisse Veränderung und wurde zurückhaltender. Bavois, dem ich meinen Schritt erzählte, war erfreut und lobte mein Vorgehen. Er war ebenso wie ich überzeugt, daß ihm de la Haye nur aus Schwachheit oder aus Selbstsucht nützlich gewesen wäre, das heißt, daß er für seine Seele nichts getan haben würde, wenn der Jüngling nicht ein hübsches Gesicht gehabt hätte oder wenn der Alte sich nicht aus seiner angeblichen Bekehrung ein Verdienst hätte machen wollen.

Da Bavois sah, daß man seine Anstellung von Tag zu Tag hinauf schob, trat er in den Dienst des französischen Botschafters. Infolgedessen konnte er nicht mehr zu Herrn Bragadino gehen, durfte nicht einmal mehr mit de la Haye verkehren, weil dieser im Hause des Senators wohnte.

Es ist eins der strengsten Gesetze der höchsten Polizei der Republik, daß die Patrizier und ihre Familien durchaus keine Verbindung mit den Häusern der fremden Gesandten unterhalten dürfen.

Der Entschluß, den Bavois hatte fassen müssen, verhinderte jedoch meine Freunde nicht, sich für ihn zu verwenden; und es gelang ihnen auch, ihm eine Anstellung zu verschaffen, wie man später sehen wird.

Der Gatte Cristinas, die ich niemals aufsuchte, lud mich ein, mit ihm in ein Kasino zu gehen, wo seine Tante und seine Frau verkehrten; diese hatte ihm schon ein Pfand ihrer gegenseitigen Zuneigung geschenkt. Ich folgte seiner Einladung und fand Cristina reizend. Sie sprach schon so gut venetianisch wie ihr Mann. Ich machte in diesem Kasino die Bekanntschaft eines Chemikers, der in mir den Wunsch erregte, Unterricht in der Chemie zu nehmen. Ich ging in sein Haus und traf dort ein junges Mädchen, das mir gefiel. Sie war seine Nachbarin und kam ganz einfach, um seiner alten Frau Gesellschaft zu leisten, bis sie zu einer bestimmten Stunde von einer Magd nach Hause geholt wurde. Ich hatte ihr nur ein einziges Mal Komplimente gemacht, noch dazu im Beisein der alten Frau des Chemikers. Zu meiner Überraschung sah ich sie mehrere Tage lang nicht und sprach darüber auch mein Erstaunen aus; da erzählte mir die gute Frau, augenscheinlich habe ihr Vetter, ein Abbate, bei dem sie wohnte, erfahren, daß ich sie jeden Abend bei ihnen treffe, sei darauf eifersüchtig geworden und erlaube ihr nicht mehr, zu kommen.

»Ein Vetter, der Abbate und eifersüchtig ist?«

»Er läßt sie nur an Feiertagen ausgehen, um die erste Messe zu hören, und zwar in der Kirche Sancta Maria Mater Domini, die keine zwanzig Schritte von seinem Hause liegt. Er ließ sie zu uns gehen, weil kein Mensch uns besuchte; ohne Zweifel wird die Magd ihm gesagt haben, daß Sie in unser Haus kommen.«

Als Feind der Eifersüchtigen und als sehr eifriger Freund meiner eigenen verliebten Launen, schrieb ich an diese Base: wenn sie um meinetwillen ihren Vetter verlassen wollte, würde ich ihr ein Haus geben, worin sie ihre eigene Herrin wäre. Ich würde ihr Gesellschaft und alle Annehmlichkeiten besorgen, die Venedig bieten könnte. Ich übergab ihr diesen Brief während der Messe und bedeutete ihr, sie würde mich am nächsten Feiertage wiedersehen, um mir Antwort geben zu können.

Ich war pünktlich am vereinbarten Ort, und ihre Antwort lautete dahin: da der Abbate ihr Tyrann wäre, so würde sie sich glücklich schätzen, seinen Händen entrinnen zu können; sie könnte sich jedoch nur entschließen, mir zu folgen, wenn ich sie heiraten wollte. Zum Schluß sagte sie mir: wenn ich diese ehrenhafte Absicht hätte, so brauchte ich nur mit ihrer Mutter Giovanna Marchetti zu sprechen, die in der Stadt Lusia, dreißig Miglien von Venedig, wohnte.

Dieser Brief reizte meine Eitelkeit, und ich ging sogar so weit, mir einzubilden, daß sie mir dies im Einverständnis mit dem Abbate geschrieben hätte. Ich glaubte also, man wollte mir eine Falle stellen. Im übrigen fand ich diesen Heiratsantrag lächerlich und faßte den Entschluß, mich zu rächen. Da ich jedoch zuvor alles wissen mußte, beschloß ich, mich zur Mutter des Mädchens zu begeben. Sie war sehr geschmeichelt durch meinen Besuch, besonders, als ich ihr den Brief ihrer Tochter mitgeteilt hatte und ihr sagte, ich wollte sie heiraten, könnte mich aber dazu nicht entschließen, solange sie beim Abbate wohnte.

»Der Abbate«, erzählte mir die Mutter, »ist ein weitläufiger Verwandter von mir. Er lebte ganz allein in seinem Hause in Venedig und sagte mir vor zwei Iahren, er brauche unbedingt eine Haushälterin. Er bat mich um meine Tochter, indem er mir versicherte, in Venedig könnte sie leicht eine Gelegenheit finden, sich zu verheiraten. Er bot mir eine schriftliche Verpflichtung an, worin genau festgesetzt ist, daß er ihr bei ihrer Heirat alle seine Möbel geben werde, die auf tausend Dukaten geschätzt worden sind. Zugleich setzte er sie zur Erbin eines kleinen Gutes ein, das er hier hat und das ihm jährlich hundert Dukaten einbringt. Da der Handel mir vorteilhaft schien und meine Tochter damit zufrieden war, so übergab er mir die notariell abgeschlossene Urkunde, und meine Tochter reiste mit ihm nach Venedig. Ich weiß, daß er sie wie eine Sklavin hält; aber sie hat es selber so gewollt. Übrigens können Sie sich vorstellen, daß ich den sehnlichsten Wunsch habe, sie verheiratet zu sehen; denn solange ein Mädchen keinen Mann hat, ist sie so vielen Nachstellungen ausgesetzt, daß eine arme Mutter niemals ruhig sein kann.«

»Kommen Sie also mit mir nach Venedig; befreien Sie sie aus den Händen des Abbate, und ich werde sie heiraten. Sonst kann ich es nicht machen; denn wenn ich sie aus seinen Händen empfinge, würde ich mich entehren.«

»Oh, durchaus nicht, denn er ist mein Vetter, wenngleich nur im vierten Grade. Außerdem ist er Priester, der täglich die Messe liest.«

»Sie machen mich lachen, gute Mutter! Man weiß wohl, daß ein Abbate die Messe liest, ohne sich darum gewisse Kleinigkeiten zu versagen. Nehmen Sie sie mit sich, sonst verzichten Sie darauf, sie jemals verheiratet zu sehen.«

»Wenn ich sie mit mir nehme, wird er ihr niemals seine Möbel geben und wird vielleicht sein Gut verkaufen.«

»Das ist meine Sache. Ich werde sie so aus seinen Händen befreien, daß Sie mit allen Seinen Möbeln zu mir übergeht. Und zu allem werde ich Sein Landgut bekommen; wenn Sie mich kennten, würden Sie nicht daran zweifeln. Kommen Sie mit! Ich versichere Ihnen, Sie werden in vier bis fünf Tagen wieder hier sein.«

Sie las noch einmal den Brief, den ihre Tochter ihr geschrieben hatte, dann sagte sie mir, sie sei eine arme Witwe und habe kein Geld für die Reise nach Venedig, viel weniger für die Rückreise.

»In Venedig wird es Ihnen an nichts fehlen; für alle Fälle nehmen Sie hier die zehn Zechinen.«

»Zehn Zechinen; da kann ich also mit meiner Schwägerin reisen!«

»Reisen Sie mit wem Sie wollen! Aber lassen Sie uns abfahren, damit wir in Chiozza zu Abend essen können. Morgen essen wir in Venedig, und ich werde alles bezahlen.«

Am nächsten Morgen um zehn Uhr kamen wir in Venedig an, und ich brachte die beiden Frauen im Castello in einem Hause unter, dessen erster Stock gänzlich unmöbliert war. Hier ließ ich sie allein, nachdem ich mich mit der notariellen Urkunde des Herrn Vetters und Abbaten bewaffnet hatte.

Ich ging zum Mittagessen bei meinen Freunden, denen ich sagte, ich hätte wegen einer wichtigen Angelegenheit die Nacht in Chiozza verbracht. Nach dem Essen ging ich zu einem Sachwalter, Marco de Lesse; dieser sagte mir: Wenn die Mutter eine Eingabe an den Vorsitzenden des Rates der Zehn machte, würde sie sofort polizeilichen Beistand erhalten, um ihre Tochter mit allen Möbeln, die im Hause wären, der Gewalt des Priesters zu entreißen; sie könnte diese hinschaffen lassen, wohin sie wollte. Ich trug ihm auf, das Schriftstück zurecht zu machen; am andern Morgen in der Frühe würde ich mit der Mutter wiederkommen, die es in meiner Gegenwart unterzeichnen und mit sich nehmen würde.

Am Morgen in aller Frühe ging ich mit der Mutter hin; von dort begaben wir uns in den Ratssaal, wo sie dem Oberhaupt des Rates ihre Eingabe überreichte. Eine Viertelstunde darauf erhielt ein Gerichtsbote Befehl, sich mit der Mutter in das Haus des Priesters zu begeben und sie in Besitz ihrer Tochter zu setzen ; zugleich könnte sie alle Möbel aus dem Hause entfernen.

Der Befehl wurde buchstäblich ausgeführt. Ich befand mich mit der Mutter in einer Gondel am Ufer des dicht am Hause liegenden Platzes. Wir hatten einen großen Kahn bei uns, den die Sbirren mit allen Möbeln des Hauses beluden. Als dies alles gemacht war, sah ich die Tochter kommen, die sehr überrascht war, mich in der Gondel zu finden. Ihre Mutter umarmte sie und sagte ihr, ich würde schon am nächsten Tage ihr Gatte werden. Sie antwortete ihr: dies freue sie sehr und sie habe ihrem Tyrannen nur sein Bett und seine Kleider gelassen. Wir kamen in Castello an, wo ich alle Möbel abladen ließ; hierauf aßen wir zu mittag, und ich sagte den Damen, sie müßten nach Lufia gehen und mich dort erwarten; ich würde kommen, sobald ich meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hätte. Ich verbrachte den Nachmittag in fröhlicher Unterhaltung mit meiner Zukünftigen. Sie sagte uns, der Abbate wäre gerade beim Ankleiden gewesen, als man ihm den Befehl des Rates vorgelegt und ihn aufgefordert hätte, bei Todesstrafe die Ausführung desselben zuzulassen; nachdem der Abbate mit dem Anziehen fertig gewesen wäre, wäre er ausgegangen, um seine Messe zu lesen, und alles hätte sich ohne den geringsten Widerstand vollzogen. »Meine Tante«, fügte sie hinzu, »hat mir gesagt, daß meine Mutter mich in der Gondel erwartete. Aber sie hat nichts davon erwähnt, daß auch Sie dort wären; ich hatte keine Ahnung, daß der Streich von Ihnen ausginge.«

»Hiermit, meine Schöne, gab ich Ihnen den ersten Beweis meiner Zärtlichkeit.«

Bei diesen Worten lächelte sie vor Vergnügen.

Ich sorgte dafür, daß wir ein gutes Abendessen und ausgezeichnete Weine erhielten; und nachdem wir zwei Stunden bei Tisch im Schoße der Freude verbrachten, die Bacchus erregt, verbrachte ich vier andere Stunden damit, unter vier Augen mit meiner Zukünftigen zu scherzen. Am Morgen frühstückten wir, und nachdem ich das ganze Gepäck auf eine Peote hatte laden lassen, die ich zu diesem Zweck gemietet und vorausbezahlt hatte, übergab ich der Mutter noch zehn Zechinen, und sie reisten alle drei sehr fröhlich ab. Nachdem ich so diese Angelegenheit zu meinem Ruhm und zu meiner völligen Befriedigung erledigt sah, ging ich nach Hause.

Die Sache war mit zu viel Lärm in Szene gesetzt worden, als daß sie meinen Freunden hätte unbekannt bleiben können; sie bezeigten mir daher, als sie mich sahen, ihre Traurigkeit und Überraschung. De la Haye umarmte mich mit einer Miene voll tiefer Betrübnis, aber solches Gefühl kostet ihm nichts; es war für ihn wie ein Harlekinskleid, das er mit der größten Leichtigkeit anlegte. Nur Herr de Bragadino lachte von ganzem Herzen und sagte den anderen, sie verständen nichts davon; dieses ganze Abenteuer lasse auf irgend etwas Großes schließen, das nur den höheren Intelligenzen bekannt sei. Da ich selber nicht wußte, welchen Begriff sie eigentlich von dieser Geschichte sich machten, und überzeugt war, daß sie die näheren Umstände nicht kannten, so lachte ich mit Herrn Bragadino, sagte aber nichts. Ich befürchtete nichts und hatte Spaß an dem ganzen Gerede; in dieser Stimmung setzten wir uns zu Tisch, und Herr Barbaro war der erste, der in freundschaftlichem Tone sagte, er wolle doch hoffen, daß ich mich nicht den Tag vorher verheiratet hätte.

»Man sagt also, daß ich mich verheiratet habe?«

»Jedermann sagt es und überall. Sogar die Mitglieder des Rats glauben es, und sie haben recht, es zu glauben.«

»Um ein Recht zu solchem Glauben zu haben, müßte man dessen gewiß sein; und das sind die Herren nicht; sie sind nicht unfehlbar, so wenig wie irgend ein Wesen auf der Welt, mit Ausnahme Gottes; und ich sage Ihnen, sie befinden sich im Irrtum. Ich liebe es, ein gutes Werk zu tun und mich für mein Geld zu amüsieren, aber nicht um den Preis meiner Freiheit; wenn Sie etwas über meine Angelegenheiten wissen wollen, so können Sie es allein von mir erfahren; auf die Stimmen der öffentlichen Meinung gebe ich nichts.«

»Aber,« sagte Herr Dandolo, »du hast die Nacht mit deiner sogenannten Frau zugebracht?«

»Ohne Zweifel; aber über das, was ich während dieser Nacht gemacht habe, bin ich keinem Menschen Rechenschaft schuldig. Sind Sie nicht auch meiner Meinung, Herr de la Haye?«

»Ich bitte Sie, mich nicht nach meiner Meinung zu fragen, denn ich weiß nichts davon. Ich will Ihnen jedoch sagen, daß man die Stimme der öffentlichen Meinung nicht so sehr verachten darf. Die zärtliche Liebe, die ich für Sie empfinde, ist schuld, daß das Gerede mir Kummer macht.«

»Woher kommt es denn, daß das Gerede Herrn von Bragadino, der ganz gewiß mich zärtlicher liebt als Sie, keinen Kummer macht?«

»Ich achte Sie; aber ich habe auf meine Kosten gelernt, die Verleumdung zu fürchten. Man sagt, um sich eines Mädchens zu bemächtigen, das bei seinem Oheim, einem würdigen Priester, lebt, hätten Sie eine Frau zu dem Zweck bezahlt, daß sie sich als ihre Mutter ausgäbe und die gewaltsame Hilfe des Rates in Anspruch nähme, damit Sie das Mädchen bekämen. Der Gerichtsbote des Rates schwört darauf, Sie wären mit der angeblichen Mutter in der Gondel gewesen, als das Mädchen sie betreten hätte. Man sagt, die Urkunde, auf Grund deren Sie dem guten Pater, dem würdigen Geistlichen, seine Möbel haben fortnehmen lassen, sei gefälscht, und man tadelt Sie, daß Sie die erste Behörde des Staates als Werkzeug zu diesem Verbrechen benutzt haben. Endlich fagt man: selbst wenn Sie das Mädchen geheiratet haben werden – was unfehlbar der Fall sein muß – so werden die Mitglieder des Rats sich doch nicht beruhigen, weil Sie verwerfliche Mittel gebraucht haben, um zu Ihrem Ziele zu gelangen.«

»Das war eine sehr lange Ansprache, mein Herr,« sagte ich kalt zu ihm; »aber lassen Sie sich sagen, daß ein vernünftiger Mensch, der eine Kriminalgeschichte mit so viel abgeschmackten Umständen gehört hat, nicht mehr vernünftig ist, wenn er das wiederholt, was er gehört hat; denn, wenn die Geschichte verleumderisch ist, wird er dadurch zum Mitschuldigen des Verleumders.«

Nach dieser Art Abfertigung, über die der Jesuit errötete und deren Mäßigung meine Freunde bewunderten, bat ich ihn mit bezeichnender Miene, er möchte doch meinetwegen ganz ruhig sein; er könnte überzeugt sein, daß ich die Gesetze der Ehre kennte, und daß ich soviel Vernunft hätte, um mich richtig benehmen zu können. Er sollte nur die Leute über mich reden lassen, genau so, wie ich es machte, wenn ich böse Zungen schlecht von ihm sprechen hörte.

Das Geschichtchen amüsierte die Stadt fünf oder sechs Tage lang; dann wurde der Vorfall vergessen.

Da ich jedoch niemals nach Lusia ging und auf keinen der Briefe antwortete, die das Fräulein Marchetti mir schrieb, auch ihrem Boten das Geld nicht übergab, um das sie mich bat, so entschloß sie sich zu einem Schritt, der vielleicht nicht ohne Folgen hätte bleiben können, indessen glücklicherweise doch keine Folgen hatte.

Eines Tages erschien Ignazio, der Gerichtsbote des gestrengen Tribunals der Staatsinquisitoren, bei mir, als ich noch mit meinen drei Freunden, de la Haye und drei anderen Gästen bei Tisch saß; er sagte mir höflich, der Ritter Contarini dal Zoffo wünschte mich zu sprechen und würde am nächsten Tage um die und die Stunde in seinem Hause in Madonna dell‘ Orto anwesend sein. Ich stand auf und sagte ihm mit einer Verbeugung, ich würde nicht verfehlen, mich nach den Befehlen Seiner Exzellenz zu erkundigen; er ging.

Ich hatte keine Ahnung, was der hohe Herr von meiner kleinen Perfon wollen mochte; jedenfalls war die Botschaft danach angetan, um uns in eine gewisse Bestürzung zu versetzen; denn der Herr, der mich zu sehen wünschte, war Staatsinquisitor, und das sind Vögel, die selten etwas Gutes bedeuten. Herr von Bragadino, der als Mitglied des Rates der Zehn ebenfalls Staatsinquisitor gewesen war und die Gewohnheiten dieser Herren kannte, sagte mir, ich hätte nichts zu befürchten.

»Da Ignazio in Straßenkleidern war, so ist er nicht als Bote des gestrengen Tribunals gekommen, und Herr Contarini will nur als Privatmann mit dir sprechen, da er dir sagen läßt, daß du dich in seinem Palazzo einzufinden hast, und dich nicht nach seinem Amtszimmer bestellt. Er ist ein strenger Greis, aber gerecht. Du mußt offen mit ihm sprechen und vor allen Dingen die Wahrheit einräumen; denn wenn du sie leugnetest, so würdest du Gefahr laufen, deine Sache zu verschlechtern.« Diese Belehrung gefiel mir und war mir notwendig. Pünktlich zur bestimmten Zeit begab ich mich zum Staatsinquisitor; sobald ich erschien, meldete man mich, und er ließ mich nicht warten. Ich trat ein. Seine Exzellenz saß auf einem Stuhl und musterte mich eine Minute lang von oben bis unten, ohne ein Wort zu sagen. Hierauf klingelte er und befahl seinem Kammerdiener, die beiden Frauen eintreten zu lassen, die im Nebenzimmer wären. Ich wußte sofort, worum es sich handelte, und sah ohne die geringste Überraschung Mutter Marchetti und ihre Tochter eintreten. Seine Exzellenz fragte mich nun, ob ich die beiden Personen kennte.

»Ich muß sie wohl kennen, gnädiger Herr; denn die eine wird meine Frau sein, sobald sie mich durch ihre Aufführung überzeugt hat, daß sie dieser Ehre würdig ist.«

»Ihre Aufführung ist gut, sie wohnt bei ihrer Mutter in Lusia. Sie haben sie getäuscht. Warum schieben Sie die Heirat mit ihr hinaus? Warum besuchen Sie sie nicht? Sie antworten nicht auf ihre Briefe und lassen sie in bedrängten Umständen.«

»Ich kann sie, gnädiger Herr, erst heiraten, wenn ich meinen Unterhalt verdiene; und dies wird in drei oder vier Iahren der Fall sein, wo ich durch die Protektion des Herrn von Bragadino, meiner einzigen Stütze, eine Anstellung erhalten werde. In der Zwischenzeit muß sie als anständiges Mädchen von ihrer Arbeit leben. Ich werde sie nicht eher heiraten, als bis ich hiervon überzeugt bin; vor allen Dingen muß ich die Gewißheit haben, daß sie nicht mehr mit dem Abbate, ihrem Vetter im vierten Grade, zusammenkommt. Ich gehe nicht zu ihr, weil mein Berichterstatter und mein Gewissen mir dies verbieten.«

»Sie verlangt, daß Sie ihr ein Heiratsversprechen in aller Form geben und daß Sie für ihren Unterhalt sorgen.«

»Gnädiger Herr! Nichts verpflichtet mich, ihr ein solches Versprechen zu geben; und da ich selber nichts habe, so kann ich ihr auch nichts zum Leben geben; sie muß sich ihren Unterhalt verschaffen, in dem sie mit ihrer Mutter arbeitet.«

»Als sie bei ihrem Vetter war,« sagte die Mutter, »fehlte es ihr an nichts; sie wird zu ihm zurückkehren.«

»Wenn sie wieder zu ihm geht, werde ich mir keine Mühe mehr um sie geben; Eure Exzellenz werden dann einsehen, daß ich recht gehabt habe, sie nicht heiraten zu wollen, bevor ich sicher wäre, daß sie einen keuschen Lebenswandel führte.«

Der Richter sagte mir, ich könnte gehen, und damit war die Sache erledigt. Ich habe von der Sache nicht mehr sprechen hören; mein Bericht über das Gespräch mit dem Inquisitor erheiterte Herrn von Bragadino und seine Tischgenossen.

Zu Beginn des Karnevals 1750 gewann ich in der Lotterie einen Terno von dreitausend Dukaten kurant; das Glück machte mir dies Geschenk in einem Augenblick, wo ich es nicht nötig hatte; denn ich hatte den Herbst über Bank gehalten und gewonnen. Wir spielten in einem Kasino, das kein venetianischer Nobile zu besuchen wagte, weil einer der Bankhalter zum Hause des spanischen Gesandten, des Herzogs von Montalegro, gehörte. Die Adligen belästigten die Bürgerlichen; und dies wird stets der Fall sein unter einer aristokratischen Regierung, wo die Gleichheit tatsächlich nur unter den Regierenden selber vorhanden ist.

Da ich die Absicht hatte, eine Reise nach Frankreich zu machen, übergab ich Herrn von Bragadino tausend Zechinen. Ich besaß die Standhaftigkeit, den ganzen Karneval zu verbringen, ohne mein Geld im Pharao zu riskieren. Ein sehr ehrenwerter Patrizier hatte mich mit einem Viertel an seiner Bank beteiligt und übergab mir in den ersten Tagen der Fastenzeit eine ziemlich bedeutende Summe.

Etwa um Mittfasten kam mein Freund Baletti von Mantua nach Venedig zurück. Er war am Theater St. Moses engagiert, um dort während des Himmelfahrt-Iahrmarktes das Ballett zu leiten. Er hatte noch sein Verhältnis zu Marina, aber sie wohnten nicht zusammen. Sie machte die Eroberung eines englischen Iuden, namens Mender, der viel Geld für sie ausgab. Dieser Iude erzählte mir Neuigkeiten von Teresa, die er in Neapel gekannt hatte und bei der er in gutem Andenken stand. Seine Nachrichten interessierten mich, und ich wünschte mir Glück, daß Henriette mich verhindert hatte, sie aufzusuchen, als ich dies beabsichtigte; denn ich hätte mich leicht wieder in sie verlieben können, und Gott weiß, wie es dann geworden wäre.

Um jene Zeit wurde Bavois als Hauptmann im Dienst der Republik angestellt; er machte sein Glück, wie ich gehörigen Orts berichten werde.

De la Haye übernahm die Erziehung eines jungen Nobile, namens Felice Calvi, mit dem er einige Zeit darauf nach Polen ging. Drei Jahre später sah ich ihn in Wien wieder.

Ich gedachte auf meiner Reise zunächst den Jahrmarkt zu Reggio zu besuchen, dann nach Turin zu gehen, wo aus Anlaß der Heirat des Herzogs von Savoyen mit einer spanischen Infantin, einer Tochter Philipps des Fünften, ganz Italien versammelt war; von dort wollte ich nach Paris reisen, wo in der Erwartung eines Prinzen, den die Frau Dauphine gebären sollte, prachtvolle Feste in Vorbereitung waren. Baletti hatte die Absicht, dieselbe Reise zu machen, da er von seinen Eltern nach Hause berufen wurde; seine Mutter war die berühmte Sylvia.

Er sollte im Italienischen Theater tanzen und dort die ersten Rollen als jugendlicher Liebhaber spielen. Ich konnte mir keine angenehmere Gesellschaft denken, da er imstande war, in Paris mir tausend Vorteile und zahlreiche Bekanntschaften zu verschaffen.

Ich verabschiedete mich von meinen drei tugendhaften Freunden, indem ich ihnen versprach, in zwei Jahren zurückzukommen. Ich ließ meinen Bruder Francesco als Schüler des Schlachtenmalers Simonetti aus Parma zurück, ich versprach ihm, an ihn zu denken, wenn ich in Paris wäre, wo das Genie stets sicher ist, sein Glück zu machen, und es besonders damals war. Der Leser wird sehen, wie ich ihm Wort hielt.

Ich ließ in Venedig auch meinen Bruder Giovanni zurück, der dorthin zurückgekehrt war, nachdem er mit Guarienti ganz Italien bereist hatte. Er stand im Begriff, nach Rom abzureisen, wo er vierzehn Jahre lang als Schüler von Raphael Mengs blieb. Er ging 1764 nach Dresden zurück und starb dort 1795.

Baletti reiste vor mir ab, und ich verließ Venedig am 1. Juli 1750, um in Reggio mit ihm zusammenzutreffen. Ich war sehr gut ausgerüstet, reichlich mit Geld versehen und sicher, daß es mir daran niemals fehlen würde, wenn ich mich gut aufführte. Wir werden bald sehen, mein lieber Leser, wie du hierüber urteilen wirst; oder vielmehr ich werde es nicht sehen, denn ich weiß, daß du darüber erst wirst urteilen können, wenn dein Urteil für mich keine Bedeutung mehr hat.

Siebentes Kapitel


Komisches Erlebnis auf der Durchreise in Ferrara. – Meine Ankunft in Paris.

Punkt zwölf Uhr mittags setzte die Peote mich bei Pontelagoscuro ab; ich nahm sofort einen Wagen, um zur Essenszeit in Ferrara zu sein; dort stieg ich im Gasthof San Marco ab. Von einem Kellner geführt, stieg ich in den ersten Stock hinauf, als plötzlich ein fröhlicher Lärm, der aus einem offenen Saal herauskam, meine Neugier erregte. Ich wollte sehen, was da los wäre, steckte meinen Kopf ins Zimmer hinein und sah ein Dutzend Herren und Damen an einer reichbesetzten Tafel sitzen. Die Heiterkeit erklärte sich also ganz einfach, und ich wollte meinen Weg fortsetzen, als ich plötzlich angehalten wurde. Eine schöne Frauenstimme rief: »Ah! da ist er ja!« Und im selben Augenblick stand die Dame auf, kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu und umarmte mich. Dabei rief sie: »Schnell! Legt ein Gedeck neben mir auf und laßt seinen Koffer in dieses Zimmer bringen!« Zu einem jungen Mann, der inzwischen hereingetreten war, sagte sie: »Nun, ich hatte dir ja gesagt, er würde heute oder morgen eintreffen.«

Sie führte mich an den Tisch und hieß mich an ihrer Seite niedersetzen, nachdem ich von allen Gästen begrüßt worden war, die sich mir zur Ehre von ihren Plätzen erhoben hatten.

»Mein lieber Vetter,« sagte sie zu nur, »Sie müssen guten Appetit haben.« Bei diesen Worten trat sie mir auf den Fuß. »Hier stelle ich Ihnen meinen Bräutigam vor, und hier sehen Sie meinen Schwiegervater und meine Schwiegermutter, die übrigen Anwesenden sind sämtlich Freunde des Hauses. Aber, mein lieber Vetter, wie kommt es denn, daß meine Mutter nicht mit Ihnen zusammen angekommen ist?«

Der Augenblick war also da, daß ich sprechen mußte! »Ihre Mutter, meine liebe Base, wird spätestens in drei oder vier Tagen hier sein.«

Ich glaubte anfangs, das eigentümliche Geschöpf nicht zu kennen; als ich sie aber näher ansah, schien es mir, als wären ihre Gesichtszüge mir bekannt. Es war die Catinella, eine sehr bekannte Tänzerin, mit der ich aber niemals ein Wort gesprochen hatte. Ich sah sofort, daß sie mich eine Stegreifrolle in einem Stück eigener Erfindung spielen ließ und daß sie wahrscheinlich meiner bedurfte, um die Lösung herbeizuführen. Das Ungewöhnliche hat mir stets gefallen, und da meine Base hübsch war, ging ich gerne auf das Spiel ein, da ich nicht daran zweifelte, daß ich meine Belohnung dafür erhalten würde. Es galt, meine Rolle gut zu spielen und vor allen Dingen mich nicht bloßzustellen; ich schützte daher großen Hunger vor, und dadurch gewann sie die Zeit, in halben Andeutungen zu mir zu sprechen, so daß ich wußte, woran ich war, und keinen Schnitzer mehr begehen konnte. Sie begriff sofort die Gründe meiner Zurückhaltung und gab mir ein Pröbchen ihres Geistes, indem sie, bald zu diesem, bald zu jenem sich wendend, alles sagte, was ich zu wissen brauchte. Ich erfuhr, daß die Heirat erst nach Ankunft ihrer Mutter stattfinden könne, die ihr ihre Kleider und Diamanten bringen sollte. Ich erfuhr ferner, daß ich der Kapellmeister war, der nach Turin reiste, um die Musik zu der Oper zu komponieren, die bei der Hochzeitsfeier des Herzogs von Savoyen gespielt werden sollte. Diese letztere Entdeckung machte mir viel Vergnügen, denn ich sah, daß ich durchaus keine Schwierigkeit haben würde, am nächsten Tage abzureisen; infolgedesen fand ich Geschmack an meiner Rolle. Allerdings, wenn ich nicht auf einen süßen Lohn gezählt haben würde, wäre es recht wohl möglich gewesen, daß ich der Gesellschaft gesagt hätte, meine angebliche Base sei verrückt; aber die Catinella, obgleich an die dreißig, war sehr hübsch und außerdem berühmt wegen ihrer Liebesabenteuer – Gründe genug, um mich geschmeidig wie einen Handschuh zu machen. Die als Schwiegermutter bezeichnete Dame, die mir gegenüber saß, schenkte, um mir eine Ehre zu erweisen, ein Glas Wein ein und bot es mir an. Ich hatte mich bereits in meine Rolle hineingelebt und streckte die Hand aus, um ihr das Glas abzunehmen; dabei bemerkte sie, daß ich die Hand ein wenig gekrümmt hielt, und fragte mich: »Was haben Sie denn, mein Herr?«

»Ach weiter nichts, gnädige Frau; eine leichte Verstauchung, die durch ein bißchen Ruhe von selber wieder besser werden wird.«

Bei diesen Worten lachte Catinella laut auf und rief, das täte ihr leid, denn dadurch würde die Gesellschaft des Vergnügens beraubt, mich Klavier spielen zu hören.

»Ich finde es eigentümlich, liebe Base, daß Sie darüber lachen.«

»Ich lachte, weil es mich an eine vorgeschützte Verstauchung erinnerte, die ich mir vor zwei Jahren zulegte, um nicht tanzen zu müssen.«

Nach dem Kaffee sagte die Schwiegermutter, als eine Frau, die ganz genau wußte, was sich gehört: Fräulein Catinella hätte ohne Zweifel mit mir über ihre Familienangelegenheiten zu sprechen; man müßte uns also miteinander allein lassen. Alle empfahlen sich.

Als ich mit Catinella in dem Zimmer allein war, das sie mir neben dem ihren hatte zurecht machen lassen, warf sie sich auf ein Kanapee und überließ sich einer unmäßigen Heiterkeit. Dann sagte sie: »Obgleich ich Sie nur dem Namen nach kenne, bin ich doch sicher, daß ich mich auf Sie verlassen kann; aber Sie werden sehr gut daran tun, morgen wieder abzureisen. Ich bin hier seit zwei Monaten ohne einen Pfennig Geld. Ich habe nur ein paar Kleider und etwas Wäsche bei mir, und diese Sachen hätte ich verkaufen müssen, um zu leben, wenn ich nicht zum Glück den Sohn des Hauses in mich verliebt gemacht hätte. Ich habe ihm mit der Hoffnung geschmeichelt, seine Frau zu werden und ihm eine Mitgift im Werte von zwanzigtausend Talern in Diamanten ins Haus zu bringen, die ich angeblich in Venedig habe und die meine Mutter mir bringen soll. Meine Mutter hat nichts und weiß nichts von der ganzen Geschichte; sie wird sich also nicht von der Stelle rühren.«

»Aber sage mir, schöne Unbesonnene, ich bitte dich, wie wird der Ausgang dieser Posse sein? Ich sehe einen tragischen voraus.«

»Du irrst dich, der Ausgang wird komisch und sehr lächerlich sein. Ich erwarte jeden Augenblick den Grafen von Ostein, den Bruder des Kurfürsten von Mainz. Er hat mir von Frankfurt aus geschrieben; von dort ist er abgereist, und er muß jetzt in Venedig sein. Er wird mich abholen, um mich mit sich nach der Messe von Reggio zu nehmen, und wenn mein Bräutigam sich einfallen lassen sollte, unangenehm zu werden, so würde er ihn verprügeln und ihm meine Zeche zahlen; aber ich will, daß er weder Prügel noch Geld bekommt. Im Augenblick meiner Abreise werde ich ihm leise ins Ohr sagen, ich würde wiederkommen, und damit wird alles in Ordnung sein; denn um ihn glücklich zu machen, brauche ich ihm nur zu versprechen, ihn nach meiner Rückkehr heiraten zu wollen.«

»Ausgezeichnet! Du bist geistvoll, wie ein Engel; ich aber werde nicht deine Rückkehr abwarten, um dich zu heiraten; unsere Hochzeit muß sofort stattfinden.«

»Welche Torheit! Warte doch wenigstens bis zur Nacht!«

»Auf keinen Fall! Ich glaube schon den Wagen des Grafen zu hören. Wenn er nicht kommt, so verlieren wir dadurch nichts für die Nacht.«

»Du liebst mich also?«

»Rasend! Und wenn auch nicht; aber deine Komödie ist wahrhaftig wert, daß man dich anbetet. Laß uns keine Zeit verlieren!«

»Du hast recht; es ist eine Episode, und eine um so hübschere, da sie improvisiert ist.«

Ich erinnere mich noch, daß ich sie reizend fand. Gegen Abend bekamen wir Besuch von der ganzen Gesellschaft, und man sprach davon, einen Spaziergang in der frischen Luft zu machen. Während wir mit den Vorbereitungen hiezu beschäftigt waren, rasselte plötzlich ein sechsspänniger Wagen heran. Catinella sah aus dem Fenster und sagte allen Anwesenden, sie möchten sich zurückziehen; der Ankömmling wäre ein Fremder, der ihretwegen käme; das wisse sie bestimmt. Alle gingen; mich aber schob sie in mein Zimmer und schloß mich ein. Die Berline hielt tatsächlich vor dem Gasthof, und ich sah einen Herrn aussteigen, der viermal so dick war wie ich und von vier Bedienten unterstützt wurde. Er kam herauf und trat bei der zukünftigen Gattin ein; mir blieb zu meiner Belustigung nichts weiter als die Genugtuung, das Glück beim Schopf gepackt zu haben, das Vergnügen, ihre ganze Unterhaltung mit anzuhören, und die Annehmlichkeit, durch eine Spalte alles anzusehen, was Catinella mit der schwerfälligen Fleischmasse anzustellen wußte. Schließlich begann diese dumme Unterhaltung mich doch zu langweilen, denn sie dauerte fünf Stunden hintereinander. Diese wurden zunächst mit Liebesszenen ausgefüllt. Hierauf wurden Catinellas Kleider zusammengepackt und auf die Berline geladen; endlich speisten die beiden zu Abend und leerten in großen Zügen zahlreiche Flaschen Rheinwein. Um Mitternacht reiste der Graf von Ostein ab, wie er gekommen war, und entführte dem Sohn des Wirtes den Gegenstand seiner Liebe. Während dieser ganzen langen Zeit kam niemand in mein Zimmer, und ich hütete mich wohl zu rufen. Ich fürchtete, entdeckt zu werden, und ich wußte nicht, wie der deutsche Prinz die Sache würde aufgenommen haben, wenn er erfahren hätte, daß er während der schwerfälligen Bezeigungen seiner Zärtlichkeit einen verborgenen Zeugen gehabt hatte; denn diese machten keinem der beiden Beteiligten Ehre und lieferten mir reichen Stoff zu Betrachtungen über die Armseligkeiten des Menschengeschlechts.

Nach der Abreise der Heldin bemerkte ich durch meine Türritze den armen geprellten Liebhaber und rief ihn herbei, um mir zu öffnen. Der arme Tölpel antwortete mir mit kläglicher Stimme, das Schloß müsse erbrochen werden, denn das Fräulein habe den Schlüssel mitgenommen.

Ich bat ihn, dies unverzüglich tun zu lassen, denn ich hätte Hunger. Sobald ich frei war, brachte man mir etwas zu essen, und der arme Junge leistete mir Gesellschaft. Er sagte mir, das Fräulein habe einen freien Augenblick gefunden, um ihm zu versichern, sie werde in sechs Wochen zurück sein; sie habe dabei geweint und ihn zärtlich geküßt.

»Der Prinz wird ihre Rechnung bezahlt haben?«

»Durchaus nicht; wir hätten auch das Geld gar nicht angenommen, wenn er es uns angeboten hätte; meine Braut hätte sich beleidigt gefühlt; denn Sie können sich gar nicht vorstellen, wie nobel sie denkt.«

»Was sagt ihr Vater zu ihrer Abreise?«

»Mein Vater denkt immer schlecht; er sagt, sie wird nicht wiederkommen, und meine Mutter hält es mehr mit seiner Ansicht als mit der meinigen. Aber Sie, Herr Kapellmeister, was sagen Sie dazu?«

»Wenn sie es Ihnen gesagt hat, so wird sie ohne Zweifel wiederkommen.«

»Ja, wenn sie nicht die Absicht hätte, wiederzukommen, hätte sie es mir nicht versichert.«

»Ganz recht! Das nenne ich vernünftig sprechen!«

Mein Abendessen bestand aus dem Reste der Mahlzeit, die der Koch des Grafen für seinen Herrn zubereitet hatte, und ich trank eine Flasche ausgezeichneten Rheinweins, den Catinella auf die Seite geschmuggelt hatte, um ihren künftigen Gatten damit zu bewirten; dieser aber glaubte sie nicht besser verwenden zu können, als indem er seinen zukünftigen Vetter damit bewirtete. Nach dem Abendessen nahm ich die Post und reiste ab, nachdem ich dem unglücklichen Verlassenen die Versicherung gegeben, ich würde alles tun, was mir nur irgend möglich wäre, um meine Base zu überreden, daß sie so bald wie möglich zurückkäme. Ich wollte bezahlen, aber er weigerte sich durchaus, irgend etwas anzunehmen. In Bologna kam ich eine Viertelstunde nach Catinella an; ich stieg im selben Gasthof ab wie sie und fand eine Gelegenheit, ihr zu berichten, was ihr Bräutigam mir gesagt hatte. In Reggio kam ich vor ihr an; aber es war mir unmöglich, mit ihr zu sprechen, denn sie verließ keinen Augenblick ihren mächtigen und ohnmächtigen Gebieter.

Nach Schluß der Messe, bei der mir nichts Bemerkenswertes begegnete, verließ ich Reggio mit meinem Freunde Baletti, und wir gingen nach Turin, das ich gerne kennen lernen wollte; denn als ich das erstemal mit Henrietten dort durchgereist war, hatte ich mich nur so lange aufgehalten, um die Pferde zu wechseln.

In Turin fand ich alles gleichermaßen schön: Stadt, Hof, Theater und Frauen, in erster Linie die Herzogin von Savoyen. Aber ich mußte unwillkürlich lachen, als man mir sagte, die Polizei sei ausgezeichnet; denn ich sah die Straßen voll von Bettlern. Dieser Polizei galt jedoch die Hauptsorge des Königs, der sehr klug war, wie uns die Weltgeschichte lehrt. Hier muß ich gestehen, daß ich so einfältig war, über die lächerliche Figur des Monarchen in Erstaunen zu geraten.

Da ich niemals in meinem Leben einen König gesehen hatte, hatte ich mir die verschrobene Idee in den Kopf gesetzt, ein König müsse in seinen Gesichtszügen einen sehr seltenen Ausdruck an Schönheit oder an Majestät tragen, mit einem Wort etwas, was ihn den übrigen Menschen überlegen erscheinen ließe. Für einen denkenden, jungen Republikaner war meine Auffassung nicht ganz und gar dumm; aber ich kam sehr schnell von ihr zurück, als ich diesen König von Sardinien sah: denn er war häßlich, bucklig, mürrisch und unvornehm in seinen geringsten Bewegungen. Ich erkannte wohl, daß man König sein könne, ohne ein ganzer Mensch zu sein.

Ich hörte auf der Bühne die Astrua und Gaffarello, diese beiden herrlichen Stimmen, und ich sah die Geoffroy tanzen, die ein sehr ehrenwerter Tänzer, namens Bodin gerade um dieselbe Zeit heiratete.

Während meines Turiner Aufenthaltes störte keine verliebte Neigung den Frieden meiner Seele; doch hatte ich mit der Tochter meiner Wäscherin ein Erlebnis, das ich nur deshalb hier erwähne, weil es auf eine sonderbare Art meine physikalischen Kenntnisse vermehrte.

Das Mädchen war sehr hübsch, und wenn ich auch nicht gerade in sie verliebt war, so wünschte ich doch, mit ihrer Huld beglückt zu werden. Meine Bemühungen, ein Stelldichein von ihr zu bekommen, waren vergeblich; dies ärgerte mich ein wenig, und ich erkühnte mich eines Tages zu einem Versuch, mich mit ein bißchen Gewalt in ihren Besitz zu setzen. Zu diesem Zweck verbarg ich mich am Fuße einer Hintertreppe, die sie hinaufsteigen mußte, um zu mir zu gelangen, in einem Augenblick, wo ich wußte, daß sie bald erscheinen mußte. Es gelang mir, sie zu überraschen, und halb meinem Zureden, halb meinem Angriff nachgebend, befand sie sich im Nu in der günstigsten Lage, und ich war am Werk. Aber im ersten Augenblick der Vereinigung ertönte eine starke Explosion, die meinen Eifer bedeutend herabsetzte, besonders da das junge Mädchen mit der Hand das Gesicht verdeckte, wie wenn sie ihre Schamröte verbergen wollte. Ich glaubte sie durch einen zärtlichen Kuß beruhigen zu müssen und fing von neuem an. Aber großer Gort, ein noch stärkerer Knall, mit Geruch verbunden, traf im selben Augenblick mein Ohr und meine Nase. Ich fuhr fort – ein drittesmal, ein viertesmal genau dasselbe! Und so ging es bei jeder Bewegung mit der Regelmäßigkeit eines Chronometers, der bei einem Musikstück den Takt bezeichnet. Dieses seltsame Phänomen, die Verwirrung des armen Mädchens, unsere Stellung, alles dies erschien mir so komisch, und ich mußte dermaßen lachen, daß ich gezwungen war, jeglichen Versuch aufzugeben. Beschämt und verwirrt lief das junge Mädchen davon, und ich suchte sie nicht zurückzuhalten. Seit diesem Tage wagte sie sich nicht mehr vor mir sehen zu lassen. Ich blieb, nachdem sie fort war, länger als eine Viertelstunde auf der Treppe sitzen und dachte über das Komische eines Auftritts nach, der noch jetzt in der Erinnerung meine Heiterkeit erregt. Ich glaube, das Mädchen hatte seine Keuschheit diesem eigentümlichen Gebrechen zu verdanken, und wenn dieses dem ganzen weiblichen Geschlecht gemeinsam wäre, so würde es viel weniger galante Frauen geben – wir müßten dann eben andere Organe haben; denn einen Augenblick des Genusses auf Kosten des Hör- und Riechsinnes kaufen zu müssen, das wäre zu teuer bezahlt.

Baletti hatte es eilig, nach Paris zu kommen, wo in Erwartung der Geburt eines Herzogs von Burgund prachtvolle Feste in Vorbereitung waren; denn die Frau Dauphine sah ihrer Niederkunft entgegen. Er überredete mich mit leichter Mühe, meinen Aufenthalt in Turin abzukürzen. Wir reisten ab und gelangten in fünf Tagen nach Lyon, wo ich eine Woche blieb. Lyon ist eine sehr schöne Stadt, wo zu meiner Zeit keine drei oder vier adligen Häuser den Fremden offen standen, dafür fand man aber bei den Kaufleuten, Fabrikanten und Großhändlern, die viel reicher waren als die Adligen die beste Aufnahme, und die Gesellschaft lebt dort auf einem ausgezeichneten Fuß. Man findet dort Zuvorkommenheit, Höflichkeit, offenes Wesen und guten Ton, ohne die Steifheit und den dummen Hochmut, der, abgesehen von einigen ehrenvollen Ausnahmen, in den adligen Häusern der Provinz herrscht. Allerdings steht der Ton nicht auf der Höhe des Pariser; aber man gewöhnt sich an ihn. Der Reichtum Lyons beruht auf dem guten Geschmack und der Wohlfeilheit, und die Gottheit, der die Stadt ihr Gedeihen verdankt, ist die Mode. Sie wechselt jedes Jahr, und ein Stoff, dem der Tagesgeschmack einen Wert von dreißig verleiht, gilt im nächsten Iahr nur noch zwanzig oder fünfzehn. Dann schickt man ihn ins Ausland, wo er als neueste Mode gerne gekauft wird. Die Lyoner bezahlen ihren Zeichnern, die Geschmack haben, große Gehälter; das ist das Geheimnis. Die Billigkeit beruht auf der Konkurrenz, die eine befruchtende Quelle von Reichtümern und eine Tochter der Freiheit ist. Daher muß ein Staat, der einen blühenden Handel haben will, diesem volle Handlungsfreiheit lassen; er muß nur darauf achten, Hinterziehungen zu verhindern, die vielleicht von dem privaten Interesse, das oft in falscher Auffassung befangen ist, erfunden werden können, um das allgemeine Interesse zu schädigen. Die Regierungen müssen das Maß aichen, dessen sich die Bürger dann nach Belieben bedienen mögen.

Ich fand in Lyon die berühmteste Kurtisane von Venedig. Man war allgemein der Ansicht, niemals ihresgleichen gesehen zu haben; ihr Name war Ancilla. Wer sie sah, begehrte ihrer, und sie hatte ein so gutes Herz, daß sie sich keinem versagen konnte; denn wenn alle Männer sie einzeln liebten, so vergalt sie ihnen dies, indem sie sie alle zusammen liebte, und dabei war der Eigennutz bei ihr ein Beweggrund, der durchaus in zweiter Linie kam.

Venedig hat stets Kurtisanen gehabt, die mehr durch ihre Schönheit berühmt waren, als durch ihren Geist; die hervorragendsten waren zu meiner Zeit diese Ancilla, und eine andere, namens Spina; beide waren Töchter von Barkarolen, beide starben in jungen Jahren an ihrer übermäßigen Hingabe an einen Beruf, der in ihren Augen ihnen einen Adelstitel verlieh. Ancilla wurde mit zweiundzwanzig Jahren Tänzerin, und Spina wollte Sängerin sein. Ein berühmter Tänzer aus Venedig, namens Campioni, bildete die schöne Ancilla zu der ganzen Anmut aus, wozu ihre vollkommenen körperlichen Schönheiten sie veranlagten, und heiratete sie. Spina hatte als Lehrer einen Kastraten, der aus ihr nur eine mittelmäßige Sängerin machen konnte; in Ermangelung von Talent sah sie sich gezwungen, sich die Hilfsmittel ihres Körpers zunutze zu machen, um leben zu können.

Ich werde noch Gelegenheit haben, über Ancilla vor ihrem Tode zu sprechen. In Lyon war sie damals mit ihrem Mann; sie kamen aus England zurück, wo sie auf dem Hay-Market-Theater großen Beifall gefunden hatten. Sie hatte in Lyon nur zu ihrem Vergnügen Halt gemacht, und sobald sie sich gezeigt hatte, sah sie zu ihren Füßen die ganze glänzende Jugend, die ihr jeden Wunsch erfüllte, um ihr zu gefallen. Am Tage gab es Vergnügungsausflüge, abends glänzende Gastmähler, nachts große Pharaobank. Der Bankhalter war ein gewisser Don Giuseppe Maratti, derselbe, den ich bei der spanischen Armee unter dem Namen Don Bepe il Cadetto gekannt hatte, der einige Iahre darauf sich den Namen Afflissio beilegte und später ein sehr schlechtes Ende nahm. Diese Bank gewann in wenigen Tagen 300 000 Franken. In einer Stadt mit einem Hof würde eine derartige Summe durchaus kein Aufsehen erregt haben, aber in einer Stadt, die durchaus nur Handels- und Industriestadt war, beunruhigte sie alle Familienväter und Geschäftsinhaber. Die schwarze Bande von jenseits der Alpen mußte daher bald an ihre Abreise denken.

In Lyon verschaffte ein ehrenwerter Herr, dessen Bekanntschaft ich bei Herrn de Rochebaron machte, mir die Huld, zur Teilnahme an dem erhabenen Krimskrams der Freimaurerei zugelassen zu werden. Ich kam als Lehrling nach Paris und wurde dort einige Monate später Geselle und Meister. Die Meisterschaft ist sicherlich der höchste Grad der Freimaurerei, denn alle anderen, die man mich in der Folge hat erlangen lassen, sind nur angenehme Erfindungen, die wohl einen symbolischen Wert haben, aber zur Würde des Meisters nichts hinzufügen.

Keinem Menschen auf der Welt kann es gelingen, alles zu wissen, aber jeder, der sich begabt fühlt und der sich einigermaßen über seine geistige Kraft Rechenschaft abzulegen weiß, muß so viel wie möglich kennen zu lernen suchen. Ein junger Mensch von guter Herkunft, der auf Reisen die Welt und die sogenannte große Gesellschaft kennen lernen will und der sich nicht in gewissen Fällen hinter seinesgleichen zurückgesetzt und von der Teilnahme an allen ihren Vergnügungen ausgeschlossen sein will, muß sich in die sogenannte Freimaurerei einweihen lassen, wäre es auch nur, um, wenn auch bloß oberflächlich, zu erfahren, was sie ist. Die Freimaurerei ist eine Wohlfahrtseinrichtung, die zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten wohl auch als Deckmantel für verbrecherische und umstürzlerische Umtriebe hat dienen können. Aber, du lieber Gott! was ist denn nicht mißbraucht worden! Hat man nicht gesehen, wie die Jesuiten unter der geheiligten Agide der Religion den vatermörderischen Arm blinder Fanatiker bewaffneten, um Könige zu treffen? Jeder Mensch von einiger Bedeutung, ich will sagen: jeder, dessen gesellschaftliche Stellung sich durch Verdienst, Wissen oder Vermögen auszeichnet, kann Maurer werden, und viele sind es! Wie kann man nun annehmen, daß derartige Vereinigungen, deren Mitglieder sich selber das Gesetz auferlegen, intra muros niemals über Politik, Religion und Regierung zu sprechen, die in ihren Reden sich nur moralischer oder kindlicher Symbole bedienen – wie kann man, sage ich, annehmen, daß solche Vereinigungen, worin ja die Regierungen ihre Geschöpfe haben können, in einem Maße gefährlich erscheinen können, daß Herrscher und Päpste sie in Acht und Bann tun? übrigens verfehlt dies vollständig seinen Zweck, und der Papst wird mit all seiner Unfehlbarkeit nicht verhindern, daß durch die Verfolgungen die Freimaurerei eine Bedeutung erlangt, die sie ohne dieselben vielleicht niemals errungen haben würde. Die Geheimtuerei liegt in der Natur des Menschen; alles was sich der Menge in einer geheimnisvollen Form darstellt, wird stets die Neugier stacheln und wird umworben werden, mag man auch im übrigen völlig überzeugt sein, daß hinter dem Schleier oft nur ein Nichts sich birgt. Also: ich rate jedem jungen Mann von guter Herkunft, der die Welt sehen will, sich als Freimaurer aufnehmen zu lassen; aber ich fordere ihn zugleich auf, in der Wahl der Loge sorgfältig zu sein; denn obgleich in der Loge schlechte Gesellschaft keinen wirksamen Einfluß üben kann, so kann sie doch dort anzutreffen sein, und der Kandidat muß sich vor gefährlichen Verbindungen hüten. Wer sich nur unter die Freimaurer aufnehmen läßt, um das Geheimnis des Ordens kennen zu lernen, der hat sehr zu befürchten, daß er unter der Kelle alt werden wird, ohne jemals seinen Zweck zu erreichen. Es gibt allerdings ein Geheimnis; aber dieses ist dermaßen unverletzlich, daß es niemals ausgesprochen oder einem Menschen anvertraut wurde. Wer an der Oberfläche der Dinge haftet, der glaubt, das Geheimnis bestehe in Worten, Zeichen und Berührungen; oder endlich, das große Wort werde erst beim höchsten Grad offenbar: Irrtum. Wer das Geheimnis der Freimaurerei errät – denn man erfährt es stets nur, indem man es errät – der gelangt zu dieser Kenntnis nur durch häufigen Besuch der Logen, durch Nachdenken, Urteilen, Vergleichen und Schlüsseziehen. Er vertraut das Geheimnis selbst seinem besten Freund in der Freimaurerei nicht an; denn er weiß, daß es keinen Zweck haben würde, es ihm ins Ohr zu flüstern, weil jener doch nicht das Talent haben würde, Vorteil daraus zu ziehen, wenn er es nicht erraten hätte, wie er selber. Er schweigt, und das Geheimnis bleibt stets Geheimnis.

Alles, was in der Loge geschieht, muß geheim sein; diejenigen aber, die mit einer unehrenhaften Indiskretion sich kein Gewissen daraus gemacht haben, die Vorgänge in den Logen zu enthüllen – die haben das Wesentliche nicht enthüllt: sie kannten es nicht; denn wenn sie es gekannt hätten, so würden sie sicherlich das Zeremoniell nicht verraten haben.

Die Neugier, die heutzutage die Laien bewegt, ich meine diejenigen, die nicht Maurer sind, ist von derselben Art, wie einst die Neugier der Griechen, die nicht zu den in Eleusis zu Ehren der Ceres gefeierten Mysterien zugelassen wurden. Aber die eleusinischen Mysterien interessierten ganz Griechenland, und alle hervorragenden Männer der damaligen Gesellschaft bestrebten sich, zugelassen zu werden; die Freimaurerei dagegen umfaßt außer einer großen Zahl hochverdienter Männer eine Menge Lumpen, die keine Gesellschaft anerkennen dürfte, weil sie in sittlicher Beziehung der Abschaum des Menschengeschlechtes sind.

Über den Geheimdienst der Ceres wurde lange Zeit ein undurchdringliches Schweigen bewahrt, weil er in solcher Verehrung stand. Was konnte man übrigens enthüllen? Die drei Worte, die der Oberpriester zu den Eingeweihten sagte. Aber welchen Zweck hätte das gehabt? Dadurch wäre nur der Indiskrete entehrt worden; denn er enthüllte nur barbarische Worte, die von der großen Masse nicht verstanden werden konnten. Ich habe irgendwo gelesen, die heiligen und geheimen drei Worte der eleusinischen Mysterien hätten bedeutet: Wachet und tut nichts Böses. Die geheiligten und geheimen Worte der verschiedenen Freimaurergrade sind ungefähr gerade ebenso verbrecherisch.

Die Einweihung dauerte neun Tage; die Zeremonien waren sehr eindrucksvoll, und die Gesellschaft war sehr ehrenwert. Wie Plutarch uns berichtet, wurde Alkibiades zum Tode verurteilt und sein ganzes Vermögen eingezogen, weil er mit Politian und Theodor gegen die Eumolpiden in seiner Wohnung die großen Mysterien lächerlich zu machen gewagt hätte. Man verlangte sogar, er sollte von den Priestern und Priesterinnen verflucht werden. Aber der Fluch wurde nicht ausgesprochen, weil eine Priesterin sich weigerte, indem sie erklärte: Ich bin Priesterin um zu segnen, nicht um zu fluchen. Erhabene Worte! Sie enthalten eine Lehre der Moral und der Weisheit, die der Papst mißachtet, die aber das Evangelium lehrt und der Heiland der Welt vorschreibt.

Einer gewissen Klasse von Kosmopoliten gilt heutzutage nichts für wichtig, wie ihr nichts heilig ist.

Bottarelli veröffentlicht in einer Druckschrift alle Bräuche der Freimaurer, und man begnügt sich, zu sagen, der Kerl ist ein Lump. Man wußte es zum voraus. In Neapel machen ein Fürst und Herr Hamilton im Hause des letzteren das Wunder des heiligen Januarius; ohne Zweifel lachen sie darüber, und viele andere lachen mit ihnen. Aber der König tut so, als wisse er nicht, daß er auf seiner königlichen Brust einen Ordensstern trägt, der um die Figur des heiligen Januarius herum die Inschrift hat: In sanuine toedus. Heutzutage ist alles unlogisch, und nichts hat mehr Bedeutung; trotzdem wird man gut tun, immer weiter vorwärts zu gehen; denn wenn man auf halbem Wege einhalten wollte, so wäre das noch schlimmer.

Wir reisten von Lyon aus mit der Schnellpost und brauchten fünf Tage, um nach Paris zu gelangen. Baletti hatte seiner Familie mitgeteilt, wann er abreisen würde; sie kannte also den Augenblick unserer Ankunft.

Wir waren unserer acht im Postwagen und saßen sehr unbequem; denn es war ein großer Rumpelkasten von ovaler Gestalt, so daß niemand einen Eckplatz hatte, denn den gab es nicht. Wäre dieser Wagen in einem Lande erfunden worden, wo von Gesetzes wegen Gleichheit herrschte, so wäre dieses Mittel sehr spaßhaft gewesen. Ich fand ganz einfach die Gründe für die Einführung eines solchen Wagens sehr schlecht angebracht; aber ich war in fremdem Lande, und so schwieg ich. Würde es übrigens mir als Italiener gut angestanden haben, nicht alles Französische zu bewundern, besonders in Frankreich selbst? Ovaler Wagen: ich beugte mich ehrfürchtig vor der Mode, während ich sie zugleich verfluchte, denn die eigentümliche Bewegung des Wagens übte auf mich dieselbe Wirkung aus, wie das Rollen eines Schiffes auf bewegter See. Übrigens hing der Wagen in sehr guten Federn; aber selbst ein starkes Rütteln würde mir viel weniger lästig gewesen sein. Da der Wagen bei schneller Fahrt sich auf und ab wiegte, hatte man ihn Gondel genannt; aber ich war Kenner, und ich fand nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenen von zwei kräftigen Ruderern vorwärts bewegten venetianischen Gondeln, die so schnell und so sanft dahingleiten.

Die Bewegung wirkte aus mich so stark, daß ich alles, was ich im Magen hatte, wieder von mir geben mußte. Infolgedessen erblickte man in mir schlechte Gesellschaft, aber man sagte es mir nicht: ich war in Frankreich und unter Franzosen, die die Gebote der Höflichkeit kannten. Man begnügte sich damit, mir zu sagen, ich hätte zuviel zu Abend gegessen; und ein Pariser Abbé sagte zu meiner Verteidigung, ich hätte einen schwachen Magen. Hierüber wurde nun disputiert. Schließlich riß mir die Geduld, und ich sagte: »Meine Herren, Sie haben sämtlich unrecht: ich habe einen ausgezeichneten Magen, und ich habe überhaupt nicht zu Abend gegessen.« Auf diese Bemerkung hin sagte mir ein älterer Herr in honigsüßem Ton: ich dürfte den Herren nicht sagen, sie hätten unrecht; wohl aber hätte ich ihnen sagen können, sie hätten nicht recht, ähnlich wie Cicero, der den Römern nicht sagte, daß Catilina und seine Mitverschworenen tot wären, sondern daß sie gelebt hätten.

»Ist das nicht dasselbe?«

»Ich bitte um Verzeihung, mein Herr, das eine ist höflich, das andere nicht.«

Hierauf begann er nur einen langen Vortrag über die Höflichkeit zu halten, den er damit schloß, daß er mit lachender Miene mich fragte: »Ich denke mir, der Herr ist Italiener?«

»Ja, das bin ich; aber würden Sie mir das Vergnügen machen, mir zu sagen, woran Sie das erkannt haben?«

»Oh! an der Aufmerksamkeit, womit Sie mein langes Geschwätz angehört haben.«

Alle lachten. Entzückt von seiner Originalität begann ich, ihm Schmeicheleien zu sagen. Er war Erzieher eines Knaben von zwölf oder dreizehn Jahren, der neben ihm saß. Ich machte ihn mir während der ganzen Reise zunutze, um mir von ihm Unterricht in französischer Höflichkeit geben zu lassen, und als wir uns trennen mußten, nahm er mich freundschaftlich beiseite und sagte mir, er wolle mir ein kleines Geschenk machen.

»Was denn?«

»Sie müssen das Wörtchen non, von dem Sie bei allen möglichen Gelegenheiten häufigen Gebrauch machen, aufgeben und sozusagen vergessen. Non ist kein französisches Wort; statt dieser unhöflichen Sitte sagen Sie lieber: pardon. Non ist ein ein Dementi; unterlassen Sie, es zu gebrauchen, mein Herr, oder halten Sie sich bereit, alle Augenblicke Degenstöße auszuteilen und zu bekommen.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr; Ihr Geschenk ist kostbar, und ich verspreche Ihnen, in meinem ganzen Leben nicht mehr non zu sagen.«

Während der ersten zwei Wochen meines Pariser Aufenthalts kam es mir vor, als machte ich die größten Fehler, denn ich hörte gar nicht mehr auf, um Verzeihung zu bitten. Eines Abends im Theater glaubte ich sogar, es wolle jemand Händel mit mir anfangen, weil ich ihn in unangebrachter Weise um Verzeihung gebeten hätte. Im Parkett trat mir ein junger Stutzer auf den Fuß, und ich beeilte mich, ihm zu sagen: »Verzeihung, mein Herr!«

»Mein Herr, verzeihen Sie selber!«

»Nein, Sie!«

»Nein, Sie!«

»Ei, mein Herr, verzeihen wir uns alle beide und umarmen wir uns!«

Mit dieser Umarmung war der Streit beigelegt.

Während der Reise war ich eines Abends in der Gondel vor Ermüdung eingeschlafen; plötzlich wurde ich stark am Arme geschüttelt, und mein Nachbar sagte mir:

»Ach, mein Herr, sehen Sie doch dieses Schloß!«

»Ich sehe es. Nun?«

»Ach, ich bitte Sie, finden Sie es nicht …?«

»Ich finde nichts daran; und was finden denn Sie selber daran?«

»Es wäre weiter nicht erstaunlich, wenn es nicht vierzig Wegstunden von Paris läge. Aber hier! Ah, werden meine Maulaffen von Landsleuten mir glauben, daß es vierzig Meilen von der Hauptstadt ein so schönes Schloß gibt? Wie unwissend ist man doch, wenn man nicht gereist ist!«

»Da haben Sie recht.«

Der Mann war selber Pariser und Maulaffe im Grunde seiner Seele, wie nur ein Gallier zu Caesars Zeit.

Indessen, wenn die Pariser vom Morgen bis zum Abend Maulaffen feil halten und sich über alles amüsieren, so mußte ein Fremder wie ich es ihnen darin weit zuvortun. Der Unterschied zwischen ihnen und mir bestand darin, daß ich gewöhnt war, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und daß ich daher überrascht war, sie oft unter einer Maske zu sehen, die sie ihrem Wesen nach veränderte; ihre Überraschung dagegen rührt oft davon her, daß man sie ahnen läßt, was unter der Maske verborgen ist.

Was mir bei dieser Reise nach Paris sehr gefiel, waren die prachtvollen Straßen, das unsterbliche Werk Ludwigs des Fünfzehnten; die Sauberkeit der Gasthöfe, das gute Essen, das man in ihnen bekommt, die Schnelligkeit, womit man bedient wird, die ausgezeichneten Betten, die bescheidene Miene der Person, die bei Tisch aufwartet. Meistens ist dies die tüchtigste von den Töchtern des Hauses, und ihre anstellige Miene, bescheidene Haltung, Sauberkeit und guten Manieren flößen dem schamlosesten Wüstling Achtung ein. Welcher Italiener sieht wohl mit Vergnügen unsere Kellner in Italien mit ihren frechen Gesichtern und ihrer Unverschämtheit? Zu meiner Zeit wußte man in Frankreich gar nicht, was Überfordern ist: es war wirklich das Vaterland der Fremden. Allerdigs mußte man leider oft Handlungen eines abscheulichen Despotismus sehen: lettres de cachet usw.; es war der Despotismus eines Königs. Seither haben die Franzosen den Despotismus des Volkes. Ist dieser weniger abscheulich?

Wir aßen in Fontainebleau zu Mittag, und zwei Meilen vor Paris bemerkten wir eine Berline, die uns entgegenfuhr. Als sie dicht bei uns war, rief Baletti dem Kutscher zu, er solle halten. In dem Wagen saß seine Mutter; sie empfing mich wie einen Freund, den sie erwartete. Es war die berühmte Schauspielerin Sylvia.

Als ich ihr vorgestellt wurde, sagte sie zu mir: »Ich hoffe, mein Herr, der Freund meines Sohnes wird die Güte haben, heute abend bei uns zu speisen.«

Ich nahm die Einladung an, machte ihr eine Verbeugung und stieg wieder in die Gondel, während Baletti bei seiner Mutter in der Berline blieb. So setzten wir die Reise fort.

Bei meiner Ankunft in Paris fand ich einen Bedienten Sylvias mit einem Mietswagen, der mich nach meiner Wohnung brachte, um dort meine Sachen abzulegen; hierauf gingen wir zu Baletti, der ganz in der Nähe wohnte.

Baletti stellte mich seinem Vater vor, der sich Mario nannte; Mario und Sylvia waren die Namen, die Herr und Frau Baletti in den von ihnen gespielten Stegreifkomödien führten; die Franzosen hatten damals die Gewohnheit, die italienischen Schauspieler nur mit den Namen zu bezeichnen, die sie auf der Bühne trugen. »Guten Tag, Herr Harlekin; guten Tag, Herr Pantalon!« so grüßte man die Herren, die diese Rollen spielten.

Achtes Kapitel


Meine Lehrzeit in Paris. – Portraits. – Eigentümlichkeiten. – Allerlei.

Zur Feier der Ankunft ihres Sohnes gab Sylvia ein glänzendes Souper, bei welchem sie alle ihre Verwandten vereinigte, und dies war für mich eine glückliche Gelegenheit, ihre Bekanntschaft zu machen. Balettis Vater, der krank gewesen war und sich auf dem Wege der Genesung befand, nahm nicht an dem Feste teil, aber seine ältere Schwester war anwesend. Sie war unter ihrem Theaternamen Flaminia in der Republik der Wissenschaften durch einige Übersetzungen bekannt geworden; aber weniger deshalb hatte ich Lust, sie gründlich kennen zu lernen, als wegen der in ganz Italien bekannten Geschichte von dem Pariser Aufenthalt dreier bekannter Männer der Literatur. Diese drei Gelehrten waren der Marchese Maffei, Abbate Conti und Pietro Giacomo Martelli, die sich wegen ihrer Ansprüche auf die Huld der Schauspielerin verfeindet haben sollen. Als Gelehrte schlugen sie sich mit ihren Federn: Martelli schrieb gegen Maffei eine Satire, worin er ihn unter dem Anagramm Femia bezeichnete.

Da ich dieser Flaminia als Kandidat der literarischen Republik vorgestellt worden war, glaubte sie mich ehren zu müssen, indem sie sich mit ihrer Unterhaltung ganz besonders an mich wandte; aber sie hatte unrecht, denn ich fand an ihr Gesicht, Ton, Stil unangenehm, kurz und gut alles, sogar den Ton ihrer Stimme. Sie sagte es mir zwar nicht, gab es mir aber zu verstehen, daß sie als eine Berühmtheit der literarischen Welt wohl wisse, daß sie zu einem Insekt spräche. Sie gab allen ihren Aussprüchen etwas Apodiktisches, und sie glaubte in einem Alter von sechzig Jahren und mehr das Recht dazu zu haben, besonders einem jungen Neuling von fünfundzwanzig Jahren gegenüber, der noch keine Bibliothek bereichert hatte. Um ihr den Hof zu machen, sprach ich mit ihr über den Abbate Conti und zitierte bei irgend einem Anlaß zwei Verse dieses tiefen Denkers. Die Gnädige verbesserte mir mit gütiger Miene die Aussprache des Wortes scevra, das getrennt bedeutet, indem sie mir sagte, es müsse sceura ausgesprochen werden; sie fügte hinzu, es würde mir jedenfalls nicht unangenehm sein, in Paris schon am ersten Tage meiner Ankunft etwas gelernt zu haben; mit diesem Tag begänne ein neuer Zeitabschnitt meines Lebens.

»Gnädige Frau, ich bin hierher gekommen, um zu lernen und nicht um zu verlernen, und Sie werden mir erlauben, Ihnen zu sagen, daß man scevra mit v sagen muß und nicht sceura mit u; denn dieses Wort ist eine Zusammenziehung von sceverra.«

»Es kommt darauf an, wer von uns beiden sich irrt.«

»Sie, gnädige Frau; denn Ariosto reimt scevra mit perscevra, einem Wort, das Schlecht mit sceura zusammenklingen würde, denn dieses ist gar nicht italienisch.«

Sie wollte ihre Behauptung verteidigen, aber ihr Mann, ein alter Herr von achtzig Iahren, sagte ihr, sie hätte unrecht. So schwieg sie dann, aber von diesem Augenblick an sagte sie jedem, der es hören wollte, ich sei ein Betrüger.

Ihr Gatte, Luigi Riccoboni, wurde Lelio genannt. Er hatte im Jahre 1716 die Truppe nach Paris in den Dienst des Herzogs-Regenten gebracht. Er war ein verdienstvoller Mann. Er war früher sehr schön gewesen und genoß mit Recht der allgemeinen Achtung, sowohl wegen seines Talentes wie wegen der Reinheit seiner Sitten. Während der Mahlzeit war meine Hauptbeschäftigung, Sylvia zu studieren, die auf der Höhe ihres Ruhmes stand; nach meiner Meinung übertraf sie alles, was man über sie gedruckt hatte. Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, hatte einen eleganten Wuchs, edlen Gesichtsausdruck, gewandte Manieren, sie war liebenswürdig, lachlustig, fein in ihren Bemerkungen, entgegenkommend gegen jedermann, geistvoll und durchaus anspruchslos. Ihr Gesicht war ein Rätsel; denn es flößte ein sehr lebhaftes Interesse ein, gefiel allgemein und hatte trotzdem bei näherer Prüfung nicht einen einzigen ausgesprochenen schönen Zug. Man konnte nicht sagen, daß sie schön sei; aber ganz gewiß wäre es niemand eingefallen, sie häßlich zu finden; trotzdem gehörte sie nicht zu jenen Frauen, die weder schön noch häßlich sind; denn sie hatte ein gewisses unbeschreiblich Interessantes an sich, das in die Augen sprang und fesselte. Aber wie war sie denn nun eigentlich?

Schön – aber schön nach Gesetzen, die einem jeden unbekannt waren, der sich nicht durch unwiderstehliche Gewalt zu ihr hingezogen fühlte und sie lieben mußte, der infolgedessen nicht den Mut hatte, sie zu studieren, und nicht die Ausdauer, sie schließlich doch kennen zu lernen.

Sylvia war der Abgott Frankreichs, und ihr Talent war die Stütze aller Komödien, die die größten Schriftsteller für sie verfaßten, besonders Marivaux. Ohne sie wären diese Komödien nicht auf die Nachwelt gekommen. Man hat niemals eine Schauspielerin gefunden, die sie hätte ersetzen können, denn diese hätte alle Vorzüge vereinigen müssen, die Sylvia in ihrer schwierigen Kunst besaß: Beweglichkeit, Stimme, Geist, Gesichtsausdruck, Haltung und eine große Kenntnis des menschlichen Herzens. Alles an ihr war Natur, und die Kunst, die diese Natur vervollkommnete, blieb stets verborgen.

Zu den eben erwähnten Eigenschaften fügte Sylvia noch eine andere hinzu, die ihr einen neuen Glanz verlieh, obwohl sie auch ohne diesen Vorzug auf der Bühne stets an erster Stelle geglänzt haben würde: ihre Aufführung war stets makellos. Sie wollte nur Freunde haben, niemals Liebhaber. Somit lachte sie eines Vorrechtes, dessen sie hätte genießen können, das sie aber in ihren eigenen Augen verächtlich gemacht haben würde. Dieser Aufführung verdankte sie den Ruf einer achtbaren Frau in einem Alter, wo ein solcher allen ihren Berufsgenossinnen lächerlich oder gar beleidigend hätte erscheinen können. Zahlreiche Damen von höchstem Range beehrten sie mehr noch mit ihrer Freundschaft, als mit ihrer Protektion. Niemals wagte das launenhafte Parkett Sylvia auszuzischen, nicht einmal in den Rollen, die ihm nicht gefielen; man sagte einmütig, die berühmte Schauspielerin sei eine Frau, die hoch über ihrem Beruf stehe.

Sylvia war der Meinung, daß ihre gute Aufführung ihr nicht als Verdienst angerechnet werden könnte, denn sie wußte, daß sie auch deshalb so ehrbar war, weil ihr Selbstgefühl bei dieser Ehrbarkeit seine Rechnung fand; deshalb zeigte sie niemals Stolz oder Überlegenheit in ihren Beziehungen zu ihren Kolleginnen, obgleich diese sich wenig draus machten, durch Tugend berühmt zu werden, sondern zufrieden waren, wenn sie durch ihre Begabung oder ihre Schönheit glänzten. Sylvia hatte sie alle gern und wurde von allen wiedergeliebt; sie ließ ihrem Verdienst öffentlich Gerechtigkeit widerfahren und lobte sie aufrichtig; aber man fühlte, daß sie dabei nichts verlor, denn da sie sie an Talent übertraf und ihr Ruf unantastbar war, konnten die anderen sie nicht in den Schatten stellen.

Die Natur hat dieser einzigen Frau zehn Jahre ihres Lebens geraubt; denn im Alter von sechzig Jahren, zehn Jahre nach unserer Bekanntschaft, wurde sie schwindsüchtig; das Pariser Klima spielt den italienischen Schauspielerinnen ziemlich oft solche Streiche. Zwei Jahre vor ihrem Tode sah ich sie die Rolle der Marianna im Marivaurschen Stücke spielen, und trotz ihrem Alter und ihrem Zustand war die Illusion vollständig. Sie starb in meiner Gegenwart, ihre Tochter umschlungen haltend; fünf Minuten vor ihrem Verscheiden gab Sie ihre letzten Ratschläge. Sie erhielt ein ehrenvolles Begräbnis in Saint-Sauveur, ohne daß der ehrwürdige Geistliche den geringsten Widerspruch erhob; im Gegenteil, dieser würdige Seelenhirte, der von der unchristlichen Unduldsamkeit seiner meisten Amtsbrüder weit entfernt war, sagte: Trotz ihrem Beruf als Schauspielerin sei sie doch eine gute Christin gewesen, und die Erde sei die gemeinsame Mutter von uns allen, wie Jesus Christus der Heiland der ganzen Welt sei.

Du wirst mir verzeihen, lieber Leser, daß ich, ohne jede Absicht, ein Wunder zu vollbringen, dich zehn Jahre vor Sylvias Tode an ihrem Begräbnis habe teilnehmen lassen; hiefür werde ich dir diese Mühe ersparen, wenn wir so weit sind.

Ihre einzige Tochter, die sie zärtlich liebte, saß bei Tisch neben ihrer Mutter; sie war damals erst neun Jahre alt. Ganz in Anspruch genommen von der Aufmerksamkeit, die ich ihrer Mutter widmete, beachtete ich sie damals gar nicht; sie sollte mich aber später beschäftigen. Nach dem Abendessen, das sehr lange dauerte, begab ich mich zu meiner Wirtin, Frau Quinson, bei der ich mich sehr gut aufgehoben fand. Als ich am anderen Morgen erwachte, kam Frau Quinson in mein Zimmer und sagte mir, es wäre ein Bedienter draußen, der mir seine Dienste anbieten wollte. Ich ließ ihn eintreten und sah einen Menschen von sehr kleinem Wuchs, was mir nicht gefiel. Ich sagte es ihm.

»Meine Kleinheit, mein Prinz, wird Ihnen dafür bürgen, daß ich nicht Ihre Kleider anziehen werde, um auf Liebesabenteuer auszugehen.«

»Wie heißen Sie?«

»Wie Sie wollen!«

»Wie? Ich frage nach dem Namen, den Sie führen!«

»Ich habe gar keinen. Jeder Herr, dem ich diene, gibt mir einen nach seinem Gefallen, und ich habe in meinem Leben mehr als fünfzig gehabt. Ich werde bei Ihnen den Namen führen, den Sie mir geben.«

»Aber Sie müssen doch einen Familiennamen haben?«

»Ich habe niemals Familie gehabt. In meiner Jugend hatte ich einen Namen; aber in den zwanzig Jahren, seitdem ich diene und mit meinem Herrn auch meinen Namen wechsele, habe ich ihn vergessen.«

»Nun, ich werde Sie Esprit nennen.«

»Sie erweisen mir eine große Ehre.«

»Holen Sie mir für diesen Louis Kleingeld!«

»Hier, mein Herr.«

»Ich sehe, Sie sind reich.«

»Ganz zu Ihren Diensten.«

»Bei wem kann ich mich nach Ihnen erkundigen?«

»Im Stellenvermittlungsbureau. Übrigens wird Frau Quinson Ihnen Auskunft über mich geben können: ganz Paris kennt mich.«

»Das genügt. Ich gebe Ihnen täglich dreißig Sous; ich kleide Sie nicht, Sie schlafen, wo Sie wollen, und stehen jeden Morgen um sieben Uhr zu meinem Befehl.«

Baletti besuchte mich und bat mich, täglich bei ihm zu essen. Ich ließ mich nach dem Palais Royal führen und ließ Esprit am Eingang.

Neugierig auf diesen so viel gepriesenen Ort, begann ich zunächst alles ein bißchen zu beobachten. Ich sah einen ziemlich schönen Garten, Alleen von großen Bäumen, Wasserbecken, hohe Häuser rundherum, viele spazierengehende Herren und Damen und überall Verkaufsstände, wo man neuerschienene Druckschriften, wohlriechende Wässer, Zahnstocher und allerlei kleinen Kram haben konnte. Ich sah eine Menge Strohstühle, die für einen Sou vermietet wurden; Zeitungsleser, die im Schatten saßen, Freudenmädchen und Herren, die allein oder in Gesellschaft frühstückten, und Kaffeekellner, die schnell eine durch Gesträuch verdeckte kleine Treppe herauf und hinunter liefen.

Ich setzte mich an einen kleinen Tisch; sofort kam ein Kellner und fragte mich, was ich wünschte. Ich verlangte Wasserschokolade; er brachte mir eine abscheulich schlechte in einer prachtvollen Vermeiltasse. Ich bestellte Kaffee, wenn er guten hätte.

»Ausgezeichneten! Ich habe ihn selber gestern gemacht.«

»Gestern? Den will ich nicht.«

»Unsere Milch ist ausgezeichnet!«

»Milch? Die trinke ich niemals. Machen Sie mir eine Tasse Kaffee mit Wasser!«

»Mit Wasser? Solchen machen wir nur nachmittags. Wollen Sie eine gute Fruchtcreme, eine Karaffe Mandelmilch?«

»Jawohl! Mandelmilch.«

Ich fand das Getränk ausgezeichnet und beschloß, es täglich zum Frühstück zu nehmen; ich fragte den Kellner, ob es etwas Neues gäbe; er antwortete, die Dauphine sei mit einem Prinzen niedergekommen. Ein Abbé, der dicht nebenan an einem Tische saß, sagte zu ihm: »Unsinn! sie hat eine Prinzessin zur Welt gebracht.«

Ein Dritter trat heran und sagte: »Ich komme eben von Versailles; die Dauphine hat weder einen Prinzen noch eine Prinzessin geboren.«

Er sagte mir, ich schiene ihm ein Fremder zu sein, und als ich ihm geantwortet hatte, ich sei ein Italiener, begann er mit mir über den Hof, die Stadt, die Schauspiele zu sprechen und erbot sich schließlich, mich überall hin zu begleiten. Ich dankte ihm, stand auf und ging. Der Abbé begleitete mich und sagte mir die Namen aller Mädchen, die im Garten spazieren gingen.

Ein junger Mann begegnet ihm, sie umarmen sich, und der Abbé stellt ihn mir als einen gelehrten Kenner der italienischen Literatur vor. Ich sprach mit ihm italienisch; er antwortete mir geistvoll, aber ich mußte über seinen Stil lachen und sagte ihm den Grund. Er sprach nämlich genau in der Art des Boccaccio. Meine Bemerkung gefiel ihm; aber ich überzeugte ihn bald, daß man nicht so sprechen dürfte, obschon die Sprache dieses alten Schriftstellers vollkommen wäre. In weniger als einer Viertelstunde waren wir gute Freunde, weil wir bemerkten, daß wir dieselben Neigungen hatten. Er war Dichter, ich war es auch; er war neugierig auf die italienische Literatur, ich auf die französische. Wir tauschten unsere Adressen aus und versprachen uns gegenseitig, uns zu besuchen.

In einer Ecke des Gartens sah ich viele Leute, die unbeweglich dastanden und die Nase in die Luft streckten. Ich fragte meinem neuen Freund, was es denn da Wunderbares gäbe?

»Man paßt auf den Meridian auf; jeder hat seine Uhr in der Hand, um sie auf punkt 12 zu stellen.«

»Gibt es denn nicht überall einen Meridian?«

»Freilich; aber der vom Palais Royal ist der genaueste.«

Ich lachte laut auf.

»Warum lachen Sie?«

»Weil es unmöglich ist, daß nicht alle Meridiane gleich sind. Da haben Sie eine Pariser Gedankenlosigkeit nach allen Regeln.«

Er dachte einen Augenblick nach, lachte dann ebenfalls und lieferte mir reichlichen Stoff, an den guten Parisern Kritik zu üben.

Wir verließen das Palais Royal durch das Haupttor, und ich sah eine Menge Leute vor einem Laden sich drängen, der das Zeichen einer Zibetkatze trug.

»Was ist das?«

»Da werden Sie wieder einmal lachen. Alle diese guten Leute warten darauf, daß sie an die Reihe kommen, um sich ihre Tabaksdose füllen zu lassen.«

»Gibt es denn keinen anderen Tabakshändler?«

»Tabak wird überall verkauft; aber seit drei Wochen will man nur noch den Tabak von der Zibetkatze.«

»Ist er dort besser als anderswo?«

»Vielleicht nicht so gut! Aber seitdem die Herzogin von Chartres ihn in die Mode gebracht hat, will man keinen andern mehr.«

»Aber wie hat sie es gemacht, ihn in die Mode zu bringen?«

»Sie hat zwei- oder dreimal ihre Kutsche vor dem Laden halten lassen, um ihre Dose füllen zu lassen, und hat der jungen Person, die sie ihr wieder hinausbrachte, öffentlich gesagt, ihr Tabak sei der beste in ganz Paris. Die Müßiggänger, die sich stets am Wagenschlag eines Prinzen ansammeln, und wenn sie ihn auch hundertmal gesehen hätten, oder wenn er so häßlich wäre wie ein Affe, wiederholten in der Stadt die Worte der Herzogin, und mehr war nicht nötig, um alle Schnupfer der Hauptstadt auf die Beine zu bringen. Die Frau wird sich ein Vermögen erwerben, denn sie verkauft täglich für mehr als hundert Taler Tabak.«

»Die Herzogin hat natürlich keine Ahnung, welche Wohltat sie der Frau erzeigt hat.«

»Im Gegenteil, es ist eine Kriegslist von ihr. Die Herzogin interessiert sich für die junge Frau, die sich erst kürzlich verheiratet hat; sie wollte ihr auf eine zarte Art Gutes tun und ist auf dieses Mittel verfallen, das ja auch vollkommen eingeschlagen hat. Sie können nicht glauben, was für wackere und gute Leute die Pariser sind; Sie sind im einzigen Lande der Welt, wo es ganz einerlei ist, ob der Geist Wahres oder Falsches zu Markte bringt: er kann auf beide Arten sein Glück machen; denn im ersten Fall wird er von den geistreichen und verdienstvollen Leuten anerkannt, im zweiten ist stets die Dummheit da, bereit, ihn zu belohnen. Die Dummheit ist nämlich charakteristisch für Paris, und das Erstaunliche bei der Sache ist, daß diese Pariser Dummheit eine Tochter des Geistes ist. Es ist daher auch kein Paradox, wenn man sagt, daß der Franzose klüger sein würde, wenn er weniger Geist hätte.

Die Götter, die man hier anbetet, obgleich man ihnen keine Altäre errichtet, sind die Neuigkeit und die Mode. Ein Mensch braucht nur auf der Straße schnell zu laufen, und alles läuft hinter ihm her Die Menge bleibt erst stehen, wenn man entdeckt, daß der Mann verrückt ist; aber solche Entdeckungen können niemals ein Ende nehmen, denn wir haben hier eine Menge von Leuten, die von Geburt an verrückt sind, aber noch für vernünftig gelten.

Der Tabak der Zibetkatze ist nur ein schwaches Beispiel, wie der geringfügigste Umstand eine große Menschenmenge an einem Ort zusammenbringen kann. Eines Tages kam der König auf der Jagd nach Neuilly und bekam Lust auf ein Glas Ratafia. Er hält vor der Tür der Schenke an, und der allerglücklichste Zufall will es, daß der arme Schenkwirt wirklich eine Flasche hatte. Der König trank ein Gläschen und verlangte darauf ein zweites, indem er sagte, er habe in seinem ganzen Leben keinen so köstlichen Ratafia getrunken. Dies war mehr als genug, um den Ratafia des braven Wirtes von Neuilly in den Ruf zu bringen, er sei der beste in ganz Europa: Der König hatte es gesagt. Es kehrten denn auch ununterbrochen die glänzendsten Gesellschaften bei dem armen Schenkwirt ein; dieser ist heutzutage ein sehr reicher Mann und hat an derselben Stelle ein prachtvolles Haus bauen lassen. Es trägt eine ziemlich komische Inschrift, die wir einem der vierzig Unsterblichen verdanken: Ex liquidis solidum. Welches ist die Gottheit, die dieser Schenkwirt anbeten muß? Die Dummheit, die Leichtfertigkeit und die Lachlust.«

»Mir scheint,« versetzte ich ihm, »diese Art von Beifall, den man den Meinungen des Königs, der Prinzen von Geblüt usw. zollt, ist eher ein Beweis für die Liebe der Nation, die sie anbetet; denn die Franzosen halten ja geradezu diese Leute für unfehlbar.«

»Ganz gewiß erweckt alles, was hier bei uns vorgeht, in den Fremden den Glauben, das Volk bete seinen König an; aber die Denkenden unter uns erkennen schließlich bald, daß es keine bare Münze ist; denn der Hof zählt dabei nicht mit.

Wenn der König nach Paris kommt, schreit alles: Es lebe der König!, weil eben ein Tagedieb damit den Anfang macht, oder weil irgend ein Polizist in der Menge das Zeichen dazu gegeben hat; aber diese Rufe haben keine Bedeutung, sie gehen aus lustiger Stimmung hervor, manchmal auch aus Furcht, und es fällt dem König gar nicht ein, sie für bare Münze zu nehmen. In Paris fühlt er sich gar nicht behaglich, und er befindet sich viel besser in Versailles inmitten von 25000 Mann, die ihn vor der Wut desselben Volkes beschützen, das am Ende auch einmal vernünftig werden und ebensogut schreien könnte: Es sterbe der König! Ludwig der Vierzehnte wußte dies sehr wohl, und es hat einigen Räten der großen Kammer das Leben gekostet, daß sie davon zu sprechen wagten, die Generalstände einzuberufen, um für die Ubel, unter denen der Staat litt, Abhilfe zu schaffen. Frankreich hat niemals seine Könige geliebt, mit Ausnahme Ludwigs des Heiligen, Ludwigs des Zwölften und des guten und großen Heinrichs des Vierten; und bei diesem war die Liebe des Volkes ohnmächtig und nicht imstande, ihn vor dem Dolch der Jesuiten zu bewahren, dieser verfluchten Rasse, die ebensosehr die Feinde der Völker wie die der Könige sind. Der jetzige König, ein schwacher Mann, den seine Minister am Gängelbande führen, sagte einmal nach einer überstandenen Krankheit ganz aufrichtig: »Ich bin erstaunt über die lauten Freudenbezeigungen aus Anlaß meiner Genesung, denn ich kann mir nicht vorstellen, warum man mich so liebt«. – Viele Könige könnten dasselbe sagen, zum wenigsten, wenn das Maß der Liebe sich nach dem Maße des von ihnen geleisteten Guten richten würde. Man hat den naiven Ausspruch des Herrschers in den Himmel erhoben, aber ein philosophischer Hofmann hätte ihm sagen müssen, man liebe ihn so sehr, weil er den Beinamen des Vielgeliebten trage.«

»Den Beinamen oder Spitznamen? Findet man übrigens bei Ihnen philosophische Hofleute?«

»Philosophen nein; denn das sind zwei Dinge, die einander ausschließen, wie Licht und Schatten; aber es gibt bei uns geistreiche Leute, die aus Ehrgeiz und Eigennutz in die Zügel beißen.«

Unter solchen Gesprächen führte Herr Patu – so hieß mein neuer Bekannter – mich bis an die Tür von Sylvias Haus, zu deren Bekanntschaft er mir Glück wünschte; hier trennten wir uns. Ich fand die liebenswürdige Schauspielerin in schöner Gesellschaft. Sie stellte mich allen Anwesenden vor und nannte mir die Namen jedes einzelnen. Der Name Crébillon erfüllte mich mit Freude.

»Wie, mein Herr,« rief ich, »so schnell glücklich? Seit acht Jahren bezaubern Sie mich; seit acht Jahren wünschte ich Sie kennen zu lernen. Bitte hören Sie!«

Und nun deklamierte ich ihm die schönste Stelle aus Cenobia und Rhadamiste, die ich in Blankverse übersetzt hatte.

Sylvia freute sich über das Vergnügen, das Crébillon empfand, als er mit achtzig Jahren sich in einer Sprache hörte, die er kannte und wie seine eigene liebte. Er deklamierte die gleiche Szene auf französisch und hob höflich die Stellen hervor, bei denen ich nach Seiner Meinung ihn verschönert hatte. Ich dankte ihm, ohne mich jedoch von dem Kompliment fangen zu lassen.

Wir setzten uns zu Tisch, und da man mich fragte, was ich denn in Paris Schönes gesehen hätte, erzählte ich alles, ausgenommen meine Unterhaltung mit Patu. Nachdem ich sehr lange gesprochen hatte, sagte Crébillon, der besser als alle anderen den von mir eingeschlagenen Weg, um die guten und schlechten Seiten seiner Nation kennen zu lernen, erkannt hatte, folgendes zu mir:

»Für einen ersten Tag, mein Herr, finde ich Ihre Beobachtungen vielversprechend, und ohne Zweifel werden Sie sehr schnelle Fortschritte machen. Sie erzählen gut, und Sie sprechen französisch auf eine Art, daß Sie sich vollkommen verständlich machen; aber alles, was Sie sagen, ist nur verkleidetes Italienisch. Man hört Ihnen mit Interesse zu, und durch die Neuheit Ihrer Sprechweise fesseln Sie doppelt die Aufmerksamkeit Ihrer Zuhörer. Ich muß Ihnen sogar sagen, daß diese Sprechweise danach angetan ist, den Beifall der Hörer zu gewinnen; denn sie ist eigenartig und neu, und Sie befinden sich in dem Lande, wo man dem Eigenartigen und Neuen nachläuft. Aber Sie müssen sich schon von morgen ab die größte Mühe geben, unsere Sprache gut sprechen zu lernen; denn in zwei oder drei Monaten werden dieselben Leute, die Ihnen heute Beifall klatschen, anfangen, sich über Sie lustig zu machen.«

»Ich glaube es, mein Herr, und fürchte es; der Hauptzweck meiner Reise nach Paris ist ja auch, mich mit aller Kraft auf das Studium der französischen Sprache zu verlegen; aber mein Herr, wie soll ich es anfangen, einen Lehrer zu finden? Ich bin ein unerträglicher Schüler: fragelustig, neugierig, hartnäckig, unersättlich. Und angenommen, ich könnte wirklich den richtigen Lehrer finden, so bin ich nicht reich genug, um ihn bezahlen zu können.«

»Seit sechzig Jahren, mein Herr, suche ich einen solchen Schüler, wie Sie sich soeben selbst geschildert haben; und ich werde Sie sogar bezahlen, wenn Sie zu mir kommen und Unterricht bei mir nehmen wollen. Ich wohne im Marais in der Rue des douze portes; ich besitze die besten italienischen Dichter. Ich werde Sie diese ins Französische übersetzen lassen und werde Sie niemals unersättlich finden.«

Voller Freuden nahm ich an. Ich war in großer Verlegenheit, wie ich ihm meine Dankbarkeit ausdrücken sollte; aber das Anerbieten trug den Stempel der Aufrichtigkeit, ebenso wie die wenigen Worte, mit denen ich darauf antwortete.

Crébillon war ein Riese; er war sechs Fuß hoch; um drei Zoll größer als ich. Er aß gut und erzählte in scherzhafter Weise und ohne dabei zu lachen. Er war berühmt wegen seiner witzigen Aussprüche und war ein ausgezeichneter Gesellschafter; aber er verbrachte sein Leben in seinem Hause, ging selten aus und empfing fast niemals Besuch, weil er immer die Pfeife im Munde hatte und von etwa zwanzig Katzen umgeben war, mit denen er den größten Teil des Tages spielte. Er hatte eine alte Haushälterin, eine Köchin und einen Bedienten. Seine Haushälterin dachte an alles, ließ es ihm an nichts fehlen und legte ihm niemals Rechnung über sein Geld ab; dieses hatte sie ganz allein in Händen, weil er niemals etwas von ihr verlangte. In seinen Gesichtszügen ähnelte Crébillon einem Löwen oder einem Kater, was dasselbe ist. Er war königlicher Zensor, und diese Stelle machte ihm Spaß, wie er mir sagte. Seine Haushälterin las ihm die Werke vor, die bei ihm eingereicht wurden,und sie unterbrach die Vorlesung,wenn sie glaubte, daß etwas seine Zensur verdiente. Zuweilen waren sie aber auch verschiedener Meinung, dann wurde ihr Streit wirklich komisch. Eines Tages hörte ich, wie die Haushälterin jemand mit den Worten wegschickte: »Kommen Sie nächste Woche wieder; wir haben noch keine Zeit gehabt, Ihr Manuskript zu prüfen.«

Ein ganzes Jahr lang ging ich dreimal wöchentlich zu Herrn Crébillon, und ich lernte von ihm alles Französisch, das ich weiß; aber es ist mir stets unmöglich gewesen, mich von meinen italienischen Wendungen frei zu machen. Ich bemerke sie sehr gut, wenn ich ihnen bei anderen begegne; aber sie fließen mir beim Schreiben aus der Feder, und es will mir nicht gelingen, sie zu fühlen. Ich bin überzeugt, daß ich es niemals dahin bringen werde, sie zu erkennen, ebensowenig, wie ich jemals habe herausfinden können, worin die fehlerhafte Latinität bestehe, die man dem Titus Livius zum Vorwurf macht.

Ich machte aus irgend einem Anlaß einen Achtzeiler in freien Versen und zeigte ihn Herrn Crébillon, um ihn mir von diesem verbessern zu lassen. Er las die Verse aufmerksam und sagte mir: »Die acht Verse sind gut und sehr richtig, der Gedanke ist schön und sehr poetisch, die Sprache ist vollkommen; und trotzdem ist der Achtzeiler schlecht.«

»Wieso denn?«

»Das weiß ich nicht. Es fehlt ein gewisses Etwas. Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Mann, Sie finden ihn schön, wohlgewachsen, liebenswürdig, geistreich, mit einem Wort vollkommen, obgleich Sie den strengsten Maßstab anlegen. Eine Frau kommt dazu, sieht ihn, betrachtet ihn und geht, indem sie Ihnen sagt, der Mann gefalle ihr nicht. >Aber welchen Fehler finden Sie denn?< – >Keinen. Aber er mißfällt mir.< Sie wenden sich wieder zu jenem Mann, prüfen ihn noch einmal und finden, daß man, um ihm eine Engelsstimme zu geben, ihm das genommen hat, was den Mann ausmacht; und so müßten Sie einräumen, daß ihr unbewußtes Gefühl der Frau das Richtige eingegeben hatte.«

Durch dieses Gleichnis erklärte Crébillon mir eine fast unerklärliche Sache; denn wirklich, nur der Geschmack und das Gefühl können eine Erscheinung erklären, die aller Regeln spottet.

Wir sprachen bei Tisch viel von Ludwig dem Vierzehnten, um dessen Huld Crébillon fünfzehn Jahre sich beworben hatte, und er erzählte uns ganz eigentümliche Anekdoten, die kein Mensch kannte. Unter anderem versicherte er uns, die siamesischen Gesandten seien Betrüger gewesen, die von der Madame de Maintenon bezahlt gewesen wären. Er sagte uns, er hätte seine Tragödie Cromwell nicht vollendet, weil der König ihm eines Tages gesagt habe, er solle seine Feder nicht dazu mißbrauchen, einen Schelm zu verherrlichen.

Crébillon sprach mit uns auch über seinen Catilina, er sagte, er halte das Drama für das schwächste unter allen seinen Stücken; aber das Stück hätte nur gut werden können, wenn er Caesar als jungen Mann auf die Bühne gebracht hätte, und das hätte er nicht gewollt; denn dadurch würde Caesar lächerlich gewirkt haben, gerade wie Medea lächerlich wirken müßte, wenn man sie als junges Mädchen vor ihrer Bekanntschaft mit Jason auftreten ließe. Dem Talent Voltaires zollte er großes Lob, aber er beschuldigte ihn des Diebstahls; denn er hätte ihm die Senatsszene gestohlen. Doch sei er ein geborener Historiker und ganz der Mann dazu, Weltgeschichte sowohl wie Tragödien zu schreiben; leider verfälschte er die Geschichte, indem er sie mit kleinen Geschichtchen, Märchen und Anekdötchen anfülle, bloß um die Lektüre interessant zu machen. Nach Crébillon war der Mann mit der eisernen Maske ein Märchen, er sagte, Ludwig der Vierzehnte habe ihm dies mit eigenem Munde versichert.

Am Abend dieses Tages gab man im italienischen Theater das Drama Cenie von Frau von Grafigny. Ich ging zeitig hin, um einen guten Platz im Amphitheater zu bekommen.

Mich interessierten die Damen, die ganz mit Diamanten bedeckt in den vordersten Logen Platz nahmen, und ich beobachtete sie aufmerksam. Ich trug einen schönen Anzug, aber an meinen offenen Manschetten und meinen ganz bis unten herabgehenden Knöpfen erkannte ein jeder mich als Fremden, denn diese Mode gab es in Paris nicht. Während ich so dastand und auf meine Art Maulaffen feil hielt, trat ein reich gekleideter Herr, der dreimal so dick war wie ich, an mich heran und fragte mich höflich, ob ich fremd sei. Ich bejahte, und er fragte weiter, wie ich Paris fände. Während ich das Loblied von Paris fang, betrat eine mit Edelsteinen bedeckte, riesige Dame die Loge nebenan. Ihr ungeheuerer Umfang verblüffte mich, und ich sagte dummerweise zu dem Herrn:

»Was ist denn das für ein dickes Schwein?«

»Die Frau dieses dicken Schweins.«

»Oh, mein Herr, ich bitte Sie eine Million mal um Entschuldigung!«

Aber mein dicker Herr brauchte meine Entschuldigung nicht; weit entfernt, böse zu sein, wollte er vor Lachen platzen. Edle und glückliche Wirkung der praktischen und natürlichen Philosophie, von der die Franzosen unter dem Anschein der Leichtfertigkeit zum Glück des Lebens einen so edlen Gebrauch machen!

Ich war in Verzweiflung, und der dicke Herr hielt sich den Bauch vor Lachen. Endlich steht er auf und verläßt das Amphitheater; einen Augenblick darauf sehe ich ihn in die Loge treten und mit seiner Frau sprechen. Ich wagte nicht, ihnen ins Gesicht zu sehen und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Plötzlich sah ich die Dame in die Heiterkeit ihres Gemahls einstimmen und herzlich lachen. Ihre Heiterkeit vermehrte noch meine Verlegenheit, und ich beschloß, fortzugehen. Plötzlich aber hörte ich mich rufen: »Mein Herr! Mein Herr!«

Ich konnte nicht hinausgehen, ohne unhöflich zu sein, und trat an ihre Loge heran. Nun bat er mich mit ernster Miene und im edelsten Ton um Verzeihung, daß er so übermäßig gelacht habe. In der liebenswürdigsten Weise lud er mich ein, ich möchte ihm die Ehre erweisen, an demselben Abend noch bei ihm zu esen.

Ich dankte ihm höflich und entschuldigte mich, indem ich ihnen sagte, ich sei schon eingeladen. Er wiederholte seine dringenden Aufforderungen, und auch seine Frau lud mich in der zuvorkommendsten Weise ein. Um sie zu überzeugen, daß ich mich nicht unter einem leeren Vorwand ihrer Einladung zu entziehen suchte, sagte ich ihnen endlich, ich würde bei Sylvia erwartet.

»Ich bin überzeugt, Sie frei machen zu können, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist. Ich werde persönlich zu ihr gehen.«

Es wäre unhöflich von mir gewesen, nicht nachzugeben. Er stand auf, ging hinaus und kam wenige Augenblicke darauf mit meinem Freunde Baletti wieder, der mir sagte, meine Mutter wäre entzückt, daß ich so schöne Bekanntschaften machte, und sie erwartete mich am nächsten Tage zum Mittagessen. Dann nahm mein Freund mich auf die Seite und sagte mir, der Herr sei der Generalsteuereinnehmer, Herr de Beauchamp.

Als der Vorhang gefallen war, reichte ich der gnädigen Frau meinen Arm, wir stiegen alle drei in eine prachtvolle Equipage und fuhren nach ihrem Palais. Es herrschte dort der Überfluß, oder vielmehr die Verschwendung, die man in Paris bei allen Leuten dieser Klasse findet: große Gesellschaft, hohes Kartenspiel, prachtvolles Essen und ungezwungene Heiterkeit bei Tisch. Das Souper dauerte bis ein Uhr nachts; die Kutsche der gnädigen Frau brachte mich nach Hause. Dieses Haus stand mir während der ganzen Zeit meines Pariser Aufenthaltes offen, und ich darf nicht versäumen zu sagen, daß es mir von großem Nutzen war. Wenn man sagt, ein Fremder langweile sich in Paris während der ersten vierzehn Tage, so hat man recht; denn man braucht Zeit, um eingeführt zu werden; ich jedoch hatte das Glück, schon in den ersten vierundzwanzig Stunden nach Wunsch untergebracht zu sein, und konnte daher gewiß sein, daß ich mich behaglich fühlen würde.

Am nächsten Morgen besuchte Patu mich und schenkte mir seine Prosalobrede auf den verstorbenen Marschall von Sachsen. Wir gingen miteinander aus und machten einen Spaziergang im Garten der Tuilerien, wo er mich der Madame Boccage vorstellte, die eine gute Bemerkung über den Marschall von Sachsen machte:

»Es ist eigentümlich, daß wir nicht ein De profundis für diesen Mann sagen können, der der Anlaß war, daß wir so oft Te Deum gesungen haben.«

Von den Tuilerien führte Patu mich zu einer berühmten Opernsängerin, Fräulein Le Fel, dem Liebling von ganz Paris und Mitglied der königlichen Akademie der Musik. Sie hatte drei reizende Kinder im zartesten Alter, die im Hause herumhüpften.

»Ich bete sie an!« sagte sie zu mir.

»Sie verdienen es wegen ihrer Schönheit,« antwortete ich ihr, »obgleich jedes Kind einen verschiedenen Ausdruck hat.«

»Das will ich wohl glauben! Der älteste ist der Sohn des Herzogs von Annecy, der zweite ist der Sohn des Grafen Egmont, und der jüngste stammt von Maison-Rouge, der kürzlich die Romainville geheiratet hat.«

»Ach, entschuldigen Sie bitte; ich glaubte, Sie seien die Mutter von allen dreien.«

»Sie haben sich durchaus nicht getäuscht; ich bin es.«

Bei diesen Worten sah sie Patu an und brach mit ihm in ein Gelächter aus, das mich zwar nicht zum Erröten brachte, aber mich über meinen Schnitzer aufklärte. Ich war Neuling und noch nicht gewöhnt Frauen sich gewisse Vorrechte der Männer anmaßen zu sehen. Fräulein Le Fel war jedoch nicht schamlos; sie gehörte sogar zur guten Gesellschaft; aber sie war, wie man so sagt, über Vorurteile erhaben. Hätte ich die Sitten der Zeit besser gekannt, so würde ich gewußt haben, daß derartige Dinge ganz in der Ordnung waren, und daß die großen Herren, die auf solche Weise ihre edle Nachkommenschaft ausstreuten, ihre Kinder in den Händen der Mutter ließen, denen sie dafür beträchtliche Erziehungsgelder auszahlten. Diese Damen lebten daher um so behaglicher, je mehr eigene Kinder sie ansammelten.

Infolge meiner Unbekanntheit mit den Pariser Sitten machte ich zuweilen böse Mißgriffe, und Fräulein Le Fel würde ohne Zweifel nach der täppischen Antwort, die ich mir hatte zuschulden kommen lassen, jedem ins Gesicht gelacht haben, der ihr gesagt hätte, ich besäße Geist.

An einem anderen Tage war ich beim Ballettmeister der Oper, Lani. Ich sah dort fünf oder sechs junge Personen von dreizehn oder vierzehn Jahren, die alle von ihren Müttern begleitet wurden und alle das bescheidene Aussehen hatten, das von einer guten Erziehung spricht. Ich sagte ihnen Schmeicheleien, und sie antworteten mir mit niedergeschlagenen Augen. Als eine von ihnen über Kopfweh klagte, bot ich ihr mein Riechfläschchen an, und eine von ihren Kameradinnen sagte zu ihr: »Du hast gewiß nicht gut geschlafen.« – »Oh! Das ist es nicht,« antwortete meine Agnes; »aber ich glaube, ich bin schwanger.« Auf diese unerwartete Antwort von Seiten einer jungen Person, die ich nach ihrem Alter und nach ihrem Aussehen für eine Jungfrau gehalten hatte, bemerkte ich: »Ich glaubte nicht, daß Madame verheiratet wären.«

Sie sah mich einen Augenblick überrascht an, wandte sich dann zu ihrer Freundin, und beide lachten aus vollem Halse. Beschämt, aber mehr ihret- als meinerwegen, ging ich fort, fest entschlossen, nicht mehr freiwillig an Tugend bei einer Klasse von Weibern zu glauben, wo sie so selten ist. Bei Kulissennymphen Schamhaftigkeit zu suchen oder auch nur zu vermuten, dazu muß man doch gar zu einfältig sein; sie suchen eine Ehre darin, gar keine Scham zu haben, und machen sich über jeden lustig, der ihnen noch welche zutraut.

Patu machte mich mit allen Mädchen bekannt, die in Paris in einigem Rufe standen. Er liebte das schöne Geschlecht, aber zum Unglück für ihn hatte er kein Temperament wie ich, und die Liebe zum Vergnügen kostete ihm in jungen Jahren das Leben. Wäre er am Leben geblieben, so hätte er Voltaire nicht viel nachgegeben; aber mit dreißig Jahren bezahlte er der Natur den verhängnisvollen Tribut, dem niemand entrinnt. Ich erfuhr von dem Gelehrten ein Geheimnis, das mehrere französische junge Literaten anwenden, um einer ganz vollkommenen Prosa sicher zu sein, wenn sie etwas schreiben wollen, was eine möglichst schöne Prosa erfordert, wie zum Beispiel Nachrufe, Leichenpredigten, Widmungsvorreden und dergleichen. Ich entriß ihm dieses Geheimnis gewissermaßen durch Überraschung.

Als ich eines Morgens bei ihm war, sah ich auf seinem Tisch mehrere lose Blätter, die mit zweisilbigen Blankversen beschrieben waren, ich las etwa ein Dutzend davon und sagte ihm dann, die Verse seien zwar schön, aber sie zu lesen bereite mir mehr Mühe als Genuß.

»Es sind die gleichen Gedanken, wie in dem Nachruf auf den Marschall von Sachsen, aber ich gestehe dir, daß die Prosa mir viel mehr Vergnügen macht.«

»Meine Prosa hätte dir nicht so gut gefallen, wenn sie nicht vorher in Blankversen geschrieben gewesen wäre.«

»Du hast dir da eine große Mühe rein vergebens gemacht.«

»Von Mühe ist nicht die Rede, denn Blankverse machen mir keine. Man schreibt sie wie Prosa.«

»Du glaubst also, die Prosa wäre schöner, wenn du sie deinen eigenen Versen entnimmst?«

»Daran ist nicht zu zweifeln; sie wird schöner und ich sichere mir den Vorteil, daß alsdann meine Prosa nicht von jenen Halbversen wimmelt, die dem Schriftsteller aus der Feder fließen, ohne daß er’s merkt.«

»Ist dies ein Fehler?«

»Ein sehr großer, ein unverzeihlicher; eine Prosa, die mit unbeabsichtigten Versen gespickt ist, ist schlechter als eine prosaische Poesie.«

»Allerdings müssen Verse, die sich als Parasiten in eine Trauerrede eingeschlichen haben, sich übel ausnehmen.«

»Ganz gewiß. Nimm zum Beispiel Tacitus; dessen Geschichtswerk beginnt mit dem Satz: Urbem Romam a principio reges habuere. Dies ist ein sehr schlechter lateinischer Hexameter, den der große Historiker ganz gewiß nicht absichtlich gemacht hat und den er bei der Durchsicht seines Werkes nicht entdeckt hat; denn ohne allen Zweifel hätte er dann dem Satz eine andere Wendung gegeben. Ist nicht auch die italienische Prosa schlecht, wenn man unbeabsichtigte Verse darin findet?«

»Sehr schlecht. Aber ich muß dir sagen, daß viele armselige Geister absichtlich Verse anbringen, weil sie sie dadurch wohlklingender zu machen gedenken. Es ist im allgemeinen gerade dieser Klingklang, den ihr uns zum Vorwurf macht. übrigens bist du, glaube ich, der einzige, der sich diese Mühe macht.«

»Der einzige? Nein gewiß nicht. Alle Schriftsteller, denen wie mir Blankverse keine Mühe machen, wenden dieses Mittel an. Frage Crébillon, den Abbé de Voisenon, La Harpe, frage wen du willst, und man wird dir dasselbe sagen wie ich. Voltaire ist der erste, der in den kleinen Stücken, worin seine Prosa zauberhaft ist, dieses Mittel angewandt hat. Dazu gehört zum Beispiel die Epistel an Madame du Châtelet: sie ist prachtvoll. Lies sie, und wenn du einen einzigen Halbvers darin findest, so magst du sagen, ich habe unrecht.«

Dieses Gespräch machte mich neugierig, und ich fragte Crébillon danach; er sagte mir dasselbe, aber er versicherte mir, daß er selber es nie getan habe.

Patu konnte es kaum erwarten, mich in die Oper zu führen, um zu sehen, welchen Eindruck dieses Schauspiel auf meinen Geist machen würde. Ein Italiener muß es allerdings außerordentlich finden. Man gab eine Oper, Venetianische Feste, deren Titel mich interessierte. Wir gingen für unsere vierzig Sous ins Parterre, wo man, obgleich man stehen mußte, gute Gesellschaft traf, denn dieses Schauspiel war das Lieblingsvergnügen der Franzosen.

Nachdem ein ausgezeichnetes Orchester eine in ihrer Art sehr schöne Ouvertüre gespielt hatte, ging der Vorhang auf, und ich sah eine schöne Dekoration, die den Markusplatz von der kleinen Insel San Giorgio darstellte; aber ich sah zu meinem Verdruß den Dogenpalast zu meiner Linken und den großen Glockenturm zu meiner Rechten: also genau umgekehrt wie in Wirklichkeit. Über diesen komischen Fehler, der in unserem Jahrhundert nicht vorkommen sollte, mußte ich lachen, und Patu, dem ich den Grund sagte, lachte ebenfalls darüber. Die Musik war zwar schön nach dem alten Geschmack, aber sie unterhielt mich nur im Anfang ein bißchen, weil sie mir neu war, später langweilte sie mich. Die Gesangssprache ermüdete mich bald durch ihre Eintönigkeit und durch die am unrechten Ort hervorgestoßenen lauten Schreie. Diese Gesangssprache der Franzosen ersetzt nach ihrer Behauptung die griechische Gesangssprache und unser Rezitativ, das sie abscheulich finden, das sie aber lieben würden, wenn sie unsere Sprache verständen.

Die Handlung stellte einen Karnevalstag dar, an welchem die Venetianer maskiert auf dem Markusplatz spazieren gehen. Auf der Bühne traten Liebhaber, Kupplerinnen und Mädchen auf, welche Intriguen anknüpften und wieder lösten. Die Kostüme waren sonderbar und falsch; aber das ganze war unterhaltend. Besonders über eins mußte ich herzlich lachen, und es war auch für einen Venetianer sehr lächerlich: ich sah nämlich aus den Kulissen den Dogen und die zwölf Mitglieder des Rates, alle in sonderbaren Talaren herauskommen und einen großen Rundtanz aufführen. Plötzlich hörte ich das Parterre heftig Beifall klatschen; es erschien ein großer und schöner Tänzer in Maske und mit einer ungeheueren schwarzen Perücke, die ihm über den halben Oberleib herabfiel; bekleidet war er mit einem vorne offenen Talar, der bis an die Absätze reichte. Patu sagte mir mit einer Art von Verehrung: »Das ist der unnachahmliche Duprès.« Ich hatte von ihm sprechen hören und paßte genau auf. Ich sah die schöne Gestalt mit abgemessenen Schritten sich vorwärts bewegen; vorne auf der Bühne angekommen, erhob der Tänzer langsam seine gerundeten Arme, bewegte sie voller Anmut, streckte sie aus, verschränke sie, machte leichte und genaue Fußbewegungen, kleine Schritte, einen Kreuzsprung, eine Pirouette und verschwand hierauf wie ein Zephyr. Das Ganze hatte keine halbe Minute gedauert. Beifallsklatschen, Bravorufen von allen Ecken und Enden des Saales! Ich war darüber erstaunt und fragte meinen Freund nach dem Grunde.

»Der Beifall gilt der Anmut unseres Dupès und der göttlichen Harmonie seiner Bewegungen. Er ist sechzig Jahre alt, und wer ihn vor vierzig Jahren gesehen hat, der findet, er sei immer noch der gleiche.«

»Wie? Er hat niemals anders getanzt?«

»Er kann nicht besser getanzt haben; denn die Entwicklung, die du gesehen hast, ist vollkommen, und was kennst du, das über das Vollkommene hinausginge?«

»Nichts, das heißt, vorausgesetzt, daß die Vollkommenheit nicht nur eine relative ist.«

»Hier ist sie absolut. Duprès macht immer dasselbe, und jeden Tag glauben wir es zum erstenmal zu sehen. Das ist die Macht des Schönen und des Guten, des Erhabenen und des Wahren. Dieser Tanz ist eine Harmonie; er ist der echte Tanz, von dem ihr in Italien keinen Begriff habt.«

Beim Ende des zweiten Aktes erschien von neuem Duprès, das Gesicht von einer Maske verdeckt. Er tanzte nach einer anderen Melodie, machte aber in meinen Augen genau das gleiche. Er trat bis dicht an die Rampe vor und stand einen Augenblick in einer vollendet schön gezeichneten Stellung da. Patu verlangte von mir, ich solle ihn bewundern; ich gab es ihm zu; plötzich hörte ich im Parterre hundert Stimmen rufen: »Ah, mein Gott, mein Gott, er entwickelt sich, er entwickelt sich!« Er schien allerdings ein elastischer Körper zu sein, der sich entwickelte und dadurch größer erschien. Ich machte Patu glücklich, indem ich ihm sagte, Duprès besitze wirklich in allem eine vollendete Anmut. Unmittelbar darauf sah ich eme Tänzerin, die wie eine Furie über die Bühne raste und Kreuzsprünge nach rechts und nach links und nach allen Richtungen machte, jedoch nur von geringer Höhe. Trotzdem wurde sie mit einer Art von Wut beklatscht.

»Dies ist«, sagte Patu zu mir, »die berühmte Camargo. Ich wünsche dir Glück, mein Freund, daß du noch rechtzeitig nach Paris gekommen bist, um sie zu sehen, denn sie hat ihr zwölftes Lustrum hinter sich!«

Ich gab zu, daß ihr Tanz wunderbar sei.

»Sie ist«, fuhr mein Freund fort, »die erste Tänzerin, die auf unserem Theater gewagt hat, Sprünge zu machen; denn vor ihr taten die Tänzerinnen das nicht. Bewunderungswürdig aber ist, daß sie keine Unterhosen trägt.«

»Verzeihung, ich sah …«

»Was hast du gesehen? Das war ihre Haut, die allerdings nicht von Lilien und Rosen ist.«

»Die Camargo«, sagte ich zu ihm mit zerknirschter Miene, »gefällt mir nicht. Duprès ist mir lieber.« Ein alter Bewunderer, der links neben mir stand, sagte mir, in ihrer Jugend habe sie den Baskensprung und sogar Gargouillade gemacht, und man habe niemals ihre Schenkel gesehen, obgleich sie mit bloßen Beinen tanzte. »Aber wenn Sie niemals ihre Schenkel gesehen haben, wie können Sie dann wissen, daß sie keine Trikots trug?«

»Oh! Das sind Dinge, die man wohl wissen kann; ich sehe, der Herr ist hier fremd.«

»Oh! In dieser Beziehung sehr fremd.«

Was mir sehr an der französischen Oper gefiel, das war die Schnelligkeit, womit auf einmal alle Dekorationen auf einen Pfiff hin gewechselt wurden. Hiervon hat man in Italien gar keinen Begriff. Entzückend fand ich auch den Beginn des Orchesters mit einem Bogenstrich; aber der Dirigent mit seinem Taktstock, der mit rasenden Bewegungen nach rechts und links schlug, wie wenn bloß durch die Kraft seines Armes alle Instrumente ganz von selber gehen müßten – der war mir geradezu ekelhaft. Ich bewunderte auch die Stille der Zuschauer, was für einen Italiener ganz selten war; denn mit vollem Recht ärgert man sich in Italien über den Lärm, der dort gemacht wird, während die Künstler singen; und man kann gar nicht genug hervorheben, wie lächerlich dann das Schweigen ist, das auf diesen Lärm folgt, sobald die Tänzer auftreten; man möchte sagen, daß die Italiener ihre ganze Intelligenz in den Augen haben. Übrigens gibt es in der ganzen Welt kein Land, wo der Beobachter nichts Sonderbares und Unvernünftiges finden könnte, und zwar einfach deshalb, weil er vergleichen kann; die Einheimischen können diese Fehler nicht bemerken. Alles in allem genommen, machte die Oper mir Spaß; mein ganzes Herz aber gewann die französische Komödie. Hier sind die Franzosen wirklich in ihrem Element; sie spielen meisterhaft, und die anderen Völker dürfen ihnen nicht die Palme streitig machen, welche Geist und guter Geschmack ihnen zusprechen müssen.

Ich ging alle Tage in die Komödie, und obgleich manchmal nicht zweihundert Zuschauer anwesend waren, gab man doch die klassischen Stücke, und in ausgezeichneter Darstellung. So sah ich den Menschenfeind, den Geizhals, den Tartüff, den Spieler, den Prahler und viele andere; und obgleich ich sie oft sah, glaubte ich sie stets zum erstenmal zu sehen. Ich kam gerade noch rechtzeitig nach Paris, um Sarasin, die Dangeville, die Dumesnil, die Gaussin, die Clairon, Preville, zu sehen; auch lernte ich mehrere Schauspieler kennen, die sich vom Theater zurückgezogen hatten und von ihren Ruhegeldern lebten, aber immer noch die Gesellschaft bezauberten, die die bei sich empfingen. Unter anderen lernte ich die berühmte Le Vasseur kennen; ich besuchte diese Damen mit Vergnügen, und sie erzählten mir außerordentlich merkwürdige Anekdoten. Sie waren im allgemeinen sehr dienstbereit und zwar in jeder Beziehung. Eines Tages saß ich in einer Loge mit der Vasseur, man gab eine Tragödie, worin ein hübsches Mädchen die stumme Rolle einer Priesterin spielte.

»Wie hübsch sie ist!« sagte ich zu ihr.

»Ja, reizend. Sie ist die Tochter des Künstlers, der den Vertrauten spielt. Sie ist sehr liebenswürdig in Gesellschaft und verspricht sehr viel.«

»Ich würde gern ihre Bekanntschaft machen.«

»O mein Gott, das ist nicht schwierig. Ihr Vater und ihre Mutter sind sehr ehrenwerte Leute, und ich bin überzeugt, sie werden entzückt sein, wenn Sie sich bei ihnen zum Abendessen einladen. Sie werden Ihnen nicht lästig fallen, sie werden zu Bett gehen und Sie frei mit ihrer Tochter bei Tisch plaudern lassen, solange Sie Lust haben. Sie sind in Frankreich, mein Herr, und hier kennt man den Wert des Lebens und sucht es zu genießen. Wir lieben den Genuß und schätzen uns glücklich, wenn wir den Genuß verschaffen können.«

»Diese Denkweise ist reizend, gnädige Frau; aber wie könnte ich wohl die Stirn haben, mich zum Essen einzuladen bei Leuten, die ich gar nicht kenne und die mich ebensowenig kennen?«

»O du lieber Gott, was sagen Sie da? Wir kennen alle Welt! Sie sehen doch, wie ich Sie behandle. Nach der Aufführung werde ich Sie vorstellen, und die Bekanntschaft wird gemacht sein.«

»Ich werde Sie bitten, mir diese Ehre ein anderes Mal zu erweisen.«

»Wann Sie wollen.«

Neuntes Kapitel


Meine Tapereien in der französischen Sprache; meine Erfolge: meine zahlreichen Bekanntschaften. – Ludwig der Fünfzehnte. – Ankunft meines Bruders in Paris.

Alle italienischen Schauspieler in Paris wollten mich bei sich zu Gaste haben, um mir ihre Herrlichkeit zu zeigen. Ich wurde bei allen prachtvoll bewirtet. Carlin Bertinazzi, der Lieblingsschauspieler von ganz Paris, der die Harlekinrollen spielte, erinnerte mich daran, daß er mich vor dreizehn Jahren in Padua gesehen hätte, als er mit meiner Mutter von Petersburg zurückgekehrt wäre. Er gab mir ein glänzendes Mahl im Hause der Frau de la Caillerie, bei der er wohnte. Diese Dame war in ihn verliebt. Ich machte ihr ein Kompliment über vier reizende Kinder, die um uns herum sprangen. Ihr anwesender Gatte antwortete mir: »Es sind Herrn Carlins Kinder.«

»Das ist wohl möglich, mein Herr; aber einstweilen tragen Sie Sorge für sie; und da sie Ihren Namen führen, so müssen sie Sie als ihren Vater ansehen.«

»Ja, so wird es nach dem Gesetz wohl sein; aber Carlin ist zu anständig, um sich nicht sofort ihrer anzunehmen, wenn es mir passen sollte, mich ihrer zu entledigen. Er weiß wohl, daß sie von ihm sind, und meine Frau wäre die erste, sich darüber zu beklagen, wenn er es nicht zugeben wollte.«

Der Mann war durchaus nicht ein sogenannter guter Trottel; weit gefehlt; aber da er die Sache sehr philosophisch ansah, so sprach er mit Ruhe und sogar mit einer Art Würde darüber. Er liebte Carlin als Freund, und Verhältnisse dieser Art waren zu jener Zeit in Paris unter Leuten einer gewissen Klasse gar nicht selten. Zwei große Herren, Boufflers und Luxembourg, hatten in aller Freundschaft ihre Frauen getauscht, und beide hatten Kinder von ihnen. Die kleinen Boufflers hießen Luxembourg, und die kleinen Luxembourgs trugen den Namen Boufflers. Die Abkömmlinge dieser Bankerte sind noch heute unter demselben Namen bekannt. Nun, wer des Rätsels Lösung kannte, der lachte mit Recht darüber, und die Erde hörte darum nicht auf, sich nach den Gesetzen der Schwerkraft zu bewegen.

Der reichste von den italienischen Komödianten war Pantalon, Vater von Coraline und Camille und bekannter Wucherer. Auch er war so freundlich, mich zu einem Essen in seine Familie einzuladen, und seine beiden Töchter entzückten mich. Coraline wurde vom Prinzen von Monaco unterhalten, dem Sohn des Herzogs von Valentinois, der noch am Leben war, und Camille war in den Grafen Melfort verliebt, den begünstigten Liebhaber der Herzogin von Chartres, die um diese Zeit durch den Tod ihres Schwiegervaters Herzogin von Orléans wurde.

Coraline war nicht so lebhaft wie Camille, aber hübscher. Ich begann ihr zu unpassenden Stunden, als ein Mensch ohne Bedeutung, den Hof zu machen; aber diese Stunden gehörten auch dem offiziellen Liebhaber. Ich war also zuweilen gerade in dem Augenblick bei ihr, wo der Prinz zu Besuch kam. Bei dem ersten derartigen Zusammentreffen machte ich meine Verbeugung und ging; in der Folge aber bat man mich zu bleiben; denn für gewöhnlich wissen Fürsten sich nur zu langweilen, wenn sie mit ihren Geliebten unter vier Augen sind. Wir speisten zusammen zu Abend, und sie hatten die Aufgabe, mir zuzuhören, während die meinige war, zu essen und zu erzählen.

Ich glaubte dem Prinzen meine Aufwartung machen zu müssen und wurde von ihm ausgezeichnet aufgenommen; eines Morgens aber sagte er mir, sobald er mich eintreten sah: »Ach, es freut mich sehr, Sie zu sehen, denn ich habe der Herzogin de Rufé versprochen, Sie bei ihr einzuführen; wir wollen gleich hingehen.« Aha; noch eine Herzogin! Ich sagte: Mit gutem Wind! Vorwärts! Wir steigen in einen Diable, wie man einen Wagen nannte, der damals modern war, und sind um elf Uhr vormittags bei der Herzogin.

Leser, wenn ich ganz wahrheitsgetreu wäre, würde das Portrait, das ich von dieser geilen Megäre entwerfen müßte, dich entsetzen. Stelle dir ein mit roter Schminke bemaltes Gesicht vor, auf dem sich sechzig Winter angesammelt haben, eine mit Finnen bedeckte Haut, ein hohlwangiges, fleischloses Gesicht, eine ekelhafte Physiognomie, die von der Ausschweifung mit dem Brandmal der Häßlichkeit gestempelt war. Die Herzogin lag wollüstig auf einem Sofa ausgestreckt und rief bei meinem Erscheinen mit rasender Freude: »Ah, aha! Das ist ein hübscher Junge! Du bist reizend, Prinz, daß du ihn zu mir gebracht hast. Setz dich hierher, mein Junge!« Ich gehorchte respektvoll, aber ein Pestgeruch von Moschus, der mich an einen Leichnam erinnerte, hätte mich beinahe ohnmächtig gemacht. Die infame Herzogin hatte sich aufgerichtet und zeigte einen entblößten häßlichen Busen, vor dem der Tapferste hätte Angst bekommen können. Der Prinz schützte ein Geschäft vor und ging, indem er mir sagte, er würde mir in einigen Augenblicken seinen Diable schicken.

Sobald wir allein sind, streckt das geschminkte Gerippe seine Arme aus, ehe ich Zeit hatte mich zu besinnen, und preßt seine feuchten Lippen auf meine Wange, daß mich ein Schauder durchläuft; eine ihrer Hände verirrt sich in der unanständigsten Weise, und sie sagt: »Laß doch mal sehen, mein Hühnchen – hast du denn auch einen schönen ….?«

Ich zitterte; ich sträubte mich.

»Ach was, sei doch nicht kindisch!« rief die neue Messalina; »bist du denn noch so neu?«

»Das nicht, meine Gnädige, aber ….«

»Nun? was denn?«

»Ich habe….«

»Oh, der häßliche Mensch!« rief sie, indem sie mich losließ; »was hätte mir da passieren können!«

Ich benutzte den günstigen Augenblick, nahm meinen Hut und verschwand, so schnell ich nur konnte; ich hatte nur Angst, der Türhüter würde mich nicht hinauslassen.

Ich nahm einen Fiaker und fuhr zu Coraline, um ihr die Geschichte zu erzählen.

Sie lachte sehr darüber und gab mir recht, daß der Prinz mir einen sehr bösen Streich gespielt hätte. Sie lobte die Geistesgegenwart, womit ich einen Hinderungsgrund vorgeschützt hatte; aber sie setzte mich nicht in Stand, sie zu überzeugen, daß ich der Prinzessin was vorgelogen hatte. Immerhin unterhielt ich noch einige Hoffnung, denn ich vermutete, daß sie mich nur nicht für verliebt genug hielt.

Drei oder vier Tage darauf aß ich mit ihr allein zu Abend; bei dieser Gelegenheit vertrat ich meine Sache so beredt und verlangte schließlich in so deutlichen Ausdrücken meinen Abschied, daß sie mich auf den nächsten Tag vertröstete.

»Der Prinz«, sagte sie zu mir, »wird erst morgen von Versailles zurückkommen, also gehen wir morgen ins Kaninchengehege, speisen miteinander allein, jagen mit dem Frettchen und fahren voll Vergnügen nach Paris zurück.«

»Vortrefflich!«

Am nächsten Tage um zehn Uhr steigen wir in ein Kabriolet und kommen bei der Barriere an. Im Augenblick, wo wir sie passieren wollen, erscheint ein Vis-à-vis mit einer fremden Livree, und der Herr, der darinnen sitzt, ruft plötzlich: »Halt! Halt!«

Es war der Chevalier de Wirtemberg, der, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, Coralinen Komplimente zu machen begann; hierauf steckte er den ganzen Kopf zum Wagen hinaus und sagte ihr etwas ins Ohr. Sie antwortete ihm auf dieselbe Art, wandte sich dann zu mir, schüttelte mir die Hand und sagte lachend: »Ich habe eine große Sache mit dem Prinzen vor. Gehen Sie allein ins Kaninchengehege, mein lieber Freund; essen Sie dort zu Mittag, jagen Sie und besuchen Sie mich morgen.« Zugleich steigt sie aus, steigt in das Vis-à-vis ein, und ich bleibe zurück, wie Lots Weib – aber nicht unbeweglich.

Leser, wenn du dich einmal in einer ähnlichen Lage befunden hast, so wirst du dir leicht vorstellen können, von welcher Wut ich gepackt wurde; wenn du etwas Derartiges niemals erlebt hast, um so besser für dich; aber dann ist es überflüssig, daß ich versuche, dir einen Begriff davon zu geben: du würdest mich nicht verstehen.

Das Kabriolet war mir zum Abscheu geworden, ich sprang heraus und sagte dem Kutscher, er solle zum Teufel fahren. Dann nahm ich den ersten Fiaker, den ich fand, und fuhr geraden Weges zu Patu, dem ich wutschäumend mein Abenteuer erzählte. Anstatt mich zu beklagen oder in meine Entrüstung einzustimmen, lachte Patu, vernünftiger als ich, über mein Abenteuer, und sagte zu mir: »Mir wäre es sehr lieb, wenn mir so etwas passiert wäre; denn nun bist du gewiß, daß bei dem nächsten Zusammensein die Schöne dein sein wird.«

»Ich will sie nicht mehr; ich verachte sie zu sehr.«

»Du hättest sie früher verachten sollen; aber da diese Sache nun einmal erledigt ist – was meinst du dazu, wenn wir zum Essen ins Hotel du Roule gingen, damit du dich schadlos halten kannst?«

»Wahrhaftig, dein Vorschlag ist ausgezeichnet: vorwärts!«

Das Hotel du Roule war in ganz Paris berühmt, aber ich kannte es noch nicht. Die Besitzerin hatte es elegant eingerichtet und hielt darin zwölf bis vierzehn auserlesene Nymphen; außerdem fand man alle Bequemlichkeiten, die man nur wünschen kann: guten Tisch, gute Betten, Sauberkeit, Einsamkeit in herrlichen Gartenanlagen. Ihr Koch war ausgezeichnet und ihre Weine vorzüglich. Sie nannte sich Madame Paris, was ohne Zweifel ein angenommener Name war, der aber vollständig genügte. Sie wurde von der Polizei beschützt; ihr Haus lag ziemlich weit von Paris entfernt; sie konnte daher sicher sein, daß die Besucher ihrer Wohltätigkeitsanstalt Leute waren, die über der Mittelklasse standen. Die innere Einrichtung war genau geregelt, und für jedes Vergnügen war ein vernünftiger Tarif angesetzt; man bezahlte sechs Franken für ein Frühstück mit einer Nymphe, zwölf für ein Mittagessen und das doppelte für eine Nacht. Ich fand das Haus weit über seinem Rufe stehend und freute mich, daß ich nicht nach dem Kaninchengehege gegangen war.

Wir steigen in einen Fiaker, und Patu sagt zum Kutscher: »Nach Charente!«

»Ich verstehe, Herr.«

Nach einer halbstündigen Fahrt hielt der Wagen vor einer Torfahrt, über welcher man las, »Hotel du Roule«. Das Tor war geschlossen. Ein Schweizer mit großem Schnurrbart kommt aus einer Seitentür hervor und mustert uns mit ernster Miene. Er hält uns für anständige Leute, denn er öffnet, und wir treten ein. Eine einäugige Frau von ungefähr fünfzig Jahren, die aber noch Spuren einstiger Schönheit zeigte, trat uns entgegen, begrüßte uns höflich und fragte uns, ob wir bei ihr zu speisen wünschten. Auf unsere bejahende Antwort führte sie uns in einen schönen Saal, wo wir vierzehn junge Mädchen sahen, sämtlich schön und gleichmäßig mit Mousselinkleidern angetan. Bei unserem Erscheinen standen sie auf und machten eine sehr anmutige Verbeugung. Alle waren ungefähr von demselben Alter, einige blond, andere schwarz oder braun: für jeden Geschmack war etwas vorhanden. Wir musterten sie, indem wir zu jeder einige Worte sagten, und trafen unsere Wahl. Die beiden Auserwählten stießen einen Freudenruf aus, umarmten uns mit einer Wollust, die ein Neuling hätte für Zärtlichkeit halten können, und zogen uns in den Garten, um dort die Zeit zu verbringen, bis man uns zum Essen rufen würde.

Der Garten war groß und in künstlerischer Weise so angelegt, daß er der Liebe dienen konnte oder, wenn nicht der Liebe, so doch den Freuden, die die Liebe ersetzen müssen. Frau Paris sagte zu uns: »Nun, meine Herren, genießen Sie der schönen Luft und der Sicherheit in jeder Beziehung; mein Haus ist der Tempel der Ruhe und der Gesundheit.«

Die von mir gewählte Schöne hatte etwas von Coraline an sich, und dieser Umstand ließ sie mich entzückend finden. Aber mitten in der süßesten Beschäftigung rief man uns zum Essen. Wir wurden recht gut bedient und fühlten uns durch die Mahlzeit zu neuen Taten aufgelegt, als mit der Uhr in der Hand die Einäugige erschien und uns meldete, daß unsere Partie zu Ende sei. Das Vergnügen wurde auf Zeit berechnet.

Ich sagte ein Wörtchen zu Patu, der erst einige philosophische Betrachtungen anstellte, dann aber sich an die Frau Direktorin wandte und zu ihr sagte: »Wir werden die Portion noch einmal bestellen und den Lohn dafür verdoppeln.«

»Ganz wie Sie wollen, meine Herren!« Wir gehen wieder in den Saal, treffen unsere Wahl und beginnen unseren neuen Spaziergang. Gerade wie das erstemal wird uns durch die strenge Pünktlichkeit der Dame die Freude gestört. »Ah, das ist aber doch zu stark, Madame!«

»Lieber Freund, laß uns zum drittenmal hinaufgehen, zum drittenmal wählen und hier die Nacht verbringen.«

»Ein köstlicher Plan, den ich von ganzem Herzen unterschreibe.«

»Und billigt Madame Paris den Plan?«

»Ich selber hätte ihn nicht besser machen können, meine Herren; er ist von Meisterhand entworfen.«

Nachdem wir im Saal unsere neue Wahl getroffen hatten, machten alle anderen sich über die ersten lustig, die uns nicht hätten fesseln können; diese aber sagten, um sich zu rächen, wir seien Schmachtlappen.

Ich war über meine neue Wahl ganz erstaunt. Ich hatte eine wahre Aspasia genommen, und ich dankte dem Zufall, daß ich sie die beiden ersten Male übersehen hatte, weil ich hierdurch die Aussicht hatte, sie vierzehn Stunden hintereinander zu besitzen. Diese Schönheit hieß St.-Hilaire; sie ist dieselbe, die unter diesem Namen in England berühmt wurde, wohin ein reicher Lord das Jahr darauf sie führte. Erst war sie beleidigt, daß ich sie weder beim ersten- noch beim zweitenmal ausgezeichnet hatte, und sah mich stolz und verächtlich an; aber es gelang mir bald, ihr begreiflich zu machen, daß dies ein Glücksfall sei, weil sie infolgedessen um so länger mit mir zusammenbleiben würde. Da fing sie an zu lachen und wurde reizend.

Das Mädchen hatte Geist, Bildung und Talent – mit einem Wort alles, was nötig war, um in der von ihr eingeschlagenen Laufbahn Erfolg zu haben. Während wir zu Abend aßen, sagte Patu zu mir auf italienisch, er hätte sie gerade für sich wählen wollen, als ich sie genommen hätte, und am anderen Morgen sagte er mir, er habe die ganze Nacht geschlafen. Die St.-Hilaire war sehr zufrieden mit mir und brüstete sich damit ihren Freundinnen gegenüber. Sie war Veranlassung, daß ich mehrere Besuche im Hotel du Roule abstattete, die ausschließlich ihr galten. Sie war ganz stolz darauf, mich gefesselt zu haben.

Diese Besuche wurden Ursache, daß meine Liebe zu Coraline sich abkühlte. Ein venezianischer Musiker namens Guadagni, schön, tüchtig in seiner Kunst und geistvoll, wußte sie drei Wochen nach meinem Bruch mit ihr für sich zu gewinnen. Der schöne Jüngling, der nur den äußeren Anschein der Manneskraft besaß, machte sie neugierig und wurde schuld an ihrem Bruch mit dem Prinzen, der sie auf frischer Tat ertappte. Coraline wußte ihn jedoch zu besänftigen; einige Zeit darauf versöhnten sie sich wieder und zwar so aufrichtig, daß ein Püppchen das Resultat war. Es war ein Mädchen, dem der Prinz den Namen Adelaide und eine Aussteuer gab. Nach dem Tode seines Vaters, des Herzogs von Valentinois, verließ der Prinz sie endgültig, um Fräulein de Brignola aus Genua zu heiraten. Coraline wurde die Geliebte des Grafen de la Marche, des Späteren Prinzen von Conti. Coraline lebt nicht mehr; ebensowenig ein Sohn, den sie von ihm hatte und den der Prinz zum Grafen Monréal ernannte.

Die Frau Dauphine brachte eine Prinzessin zur Welt, die mit dem Titel Madame de France geschmückt wurde.

Im August fand im Louvre die öffentliche Gemäldeausstellung der Mitglieder der königlichen Malerakademie statt, und da ich dort kein einziges Schlachtenbild sah, beschloß ich, meinen Bruder nach Paris zu rufen. Er lebte in Venedig und hatte Talent für diesen Zweig der Malerei.

Da Paroselli, der einzige Schlachtenmaler Frankreichs, gestorben war, so glaubte ich, Francesco könnte Erfolg haben und sein Glück machen. Ich schrieb infolgedessen an Herrn Grimani und an meinen Bruder, und es gelang mir, sie zu überzeugen; indessen kam er erst zu Beginn des nächsten Jahres nach Paris.

Ludwig der Fünfzehnte liebte leidenschaftlich die Jagd und hatte die Gewohnheit, jedes Jahr sechs Wochen in Fontainebleau zu verbringen. Mitte November war er stets wieder in Versailles. Diese Reise kostete ihm oder vielmehr Frankreich fünf Millionen.

Er nahm alles mit sich, was zur Unterhaltung aller auswärtigen Gesandten und seines zahlreichen Hofes beitragen konnte. Daher folgten ihm die Mitglieder der italienischen und französischen Komödie und seine Künstler und Künstlerinnen von der Oper. Während dieser sechs Wochen war Fontainebleau viel glänzender als Versailles; trotzdem fielen die Pariser Vorstellungen der Oper, des französischen und des italienischen Theaters nicht aus, so zahlreich waren die Mitglieder dieser Bühnen.

Balettis Vater, dessen Gesundheit wiederhergestellt war, sollte mit Sylvia und der ganzen Familie nach Fontainebleau gehen. Sie luden mich ein, sie dorthin zu begleiten und bei ihnen in einem Hause zu wohnen, das sie gemietet hatten. Die Gelegenheit war schön; das Anerbieten kam von Freunden, und ich glaubte es nicht abschlagen zu dürfen, denn ich hätte mir niemals eine bessere Gelegenheit verschaffen können, den ganzen Hof Ludwigs des Fünfzehnten und alle fremden Gesandten kennen zu lernen. Ich stellte mich Herrn de Morosini vor, der heutzutage Prokurator des heiligen Markus ist und damals Botschafter der Republik in Paris war.

Am ersten Tage, wo eine Oper gegeben wurde, erlaubte er mir, ihn zu begleiten. Man spielte eine Musik von Lulli. Ich saß im Parkett genau unterhalb der Loge der Pompadour, die ich nicht kannte. Beim ersten Auftritt sah ich die berühmte Le Maur auf der Bühne erscheinen und hörte sie einen so unerwarteten Schrei ausstoßen, daß ich glaubte, sie sei verrückt geworden. Ich lachte darüber in aller Unschuld, denn ich dachte nicht, daß irgendjemand mir dies übelnehmen könnte. Ein Kavalier mit blauem Ordensband, der neben der Marquise saß, fragte mich in schroffem Ton, aus welchem Lande ich wäre. Ich antwortete im selben Ton:

»Aus Venedig.«

»Ich bin dort gewesen und habe sehr über das Rezitativ Ihrer Oper gelacht.«

»Ich glaube es Ihnen, mein Herr, und bin ich überzeugt, daß es keinem Menschen eingefallen ist, Sie am Lachen zu verhindern.«

Über meine etwas schneidende Antwort lachte Frau von Pompadour; sie fragte mich, ob ich wirklich von da unten wäre?

»Von wo da unten?«

»Von Venedig.«

»Venedig, Madame, liegt nicht da unten, sondern da oben.«

Diese Antwort fand man noch sonderbarer als die erste, und die ganze Loge beriet sich darüber, ob Venedig da unten oder da oben liege. Offenbar fand man, daß ich recht hätte, denn ich wurde nicht weiter angegriffen. Ich hörte nun der Oper zu, ohne zu lachen; da ich aber einen Schnupfen hatte, brauchte ich oft mein Taschentuch. Derselbe Herr mit dem blauen Ordensband richtete von neuem das Wort an mich und sagte mir, offenbar schlössen die Fenster meines Zimmers nicht gut. Dieser Herr, den ich nicht kannte, war der Marschall Richelieu. Ich antwortete ihm, er irre sich; meine Fenster seien calfoutrées. Sofort brach die ganze Loge in ein lautes Gelächter aus, und ich saß ganz verdutzt da, denn ich fühlte sofort mein Versehen: ich hätte aussprechen sollen: calfeutrées. Aber diese eu und ou sind eine wahre Qual für die meisten Angehörigen fremder Nationen.

Eine halbe Stunde später fragte Herr von Richelieu mich, welche von den beiden Hauptdarstellerinnen ich am schönsten fände.

»Diese da, mein Herr.«

»Aber sie hat häßliche Beine.«

»Man sieht sie nicht, mein Herr; außerdem, wenn ich die Schönheit einer Frau prüfe, schiebe ich zu allererst die Beine beiseite.«

Dieses zufällig hingeworfene Wort, an dessen Tragweite ich gar nicht gedacht hatte, machte die ganze Loge neugierig, mich kennen zu lernen. Der Marschall erfuhr von Herrn Morofini, wer ich sei, und dieser sagte mir im Auftrag des Herzogs, ich würde ihm Vergnügen machen, wenn ich mich ihm vorstellte. Mein zufällig gemachter Witz wurde berühmt, und der Herr Marschall empfing mich in der liebenswürdigsten Weise.

Unter den fremden Gesandten schloß ich mich besonders einem Botschafter des Königs von Preußen, Lordmarschall von Schottland, Keith, an. Ich werde noch Gelegenheit haben, von ihm zu sprechen.

Am Tage meiner Ankunft in Fontainebleau ging ich allein zu Hofe; ich sah Ludwig den Fünfzehnten, den schönen König, zur Messe gehen; ich sah die ganze königliche Familie und alle Hofdamen, deren Häßlichkeit mich ebensosehr überraschte, wie die Turiner Hofdamen mich durch ihre Schönheit überrascht hatten. Um so mehr erstaunte mich inmitten aller dieser Häßlichen der Anblick einer wirklichen Schönheit. Ich fragte, wer diese Dame sei. Ein Kavalier, der neben mir stand, antwortete mir: »Es ist Frau von Brionne, deren Tugendhaftigkeit noch größer ist als ihre Schönheit; denn es gibt nicht nur keine Skandalgeschichten über sie, sondern sie hat nicht einmal der Lästersucht den geringsten Anlaß geliefert, etwas über sie zu erfinden.«

»Vielleicht hat man nur nichts über sie erfahren.«

»Oh, mein Herr, bei Hofe erfährt man alles.«

Ich schlenderte allein in den inneren Gemächern umher, als ich plötzlich ein Dutzend häßliche Damen sah, die eher zu laufen als zu gehen schienen: sie standen so unsicher auf ihren Beinen, daß sie fortwährend vornüber zu fallen schienen. Da ein Herr in meiner Nähe stand, so trieb mich die Neugier, ihn zu fragen, woher die Damen kämen und warum sie so merkwürdig gingen.

»Sie kommen von der Königin, die gleich zum Essen gehen wird, und sie sind so schlecht auf den Füßen, weil ihre Schuhe sechs Zoll hohe Absätze haben, weshalb sie mit krummen Knieen gehen müssen, um nicht auf die Nase zu fallen.«

»Warum tragen sie keine niederen Absätze?«

»Es ist Mode.«

»Oh, die dumme Mode!«

Ich betrete aufs Geradewohl eine Galerie und sehe den König vorüberkommen, den einen Arm der Länge nach auf die Schultern des Herrn d’Argenson gestützt.

»Oh Knechtschaffenheit!« dachte ich bei mir selber; »kann ein Mensch sich dazu hergeben, in solcher Weise das Joch zu tragen? Und kann ein Mensch sich so hoch über alle anderen erhaben glauben, daß er derartige Manieren annimmt?«

Ludwig hatte den schönsten Kopf, den man nur sehen kann, und er trug ihn mit ebensoviel Anmut wie Majestät. Niemals ist es dem geschicktesten Maler gelungen, den Ausdruck dieses wundervollen Kopfes wiederzugeben, wenn der Herrscher ihn wohlwollend zur Seite wandte, um jemanden anzusehen. Seine Schönheit und seine Anmut rissen auf den ersten Blick zur Liebe hin. Als ich ihn sah, glaubte ich, der idealen Majestät begegnet zu sein, die ich zu meiner Enttäuschung an dem König von Sardinien nicht gefunden hatte. Ich bezweifelte nicht, daß Frau von Pompadour in dieses schöne Gesicht verliebt war, als sie sich um die Bekanntschaft ihres Gebieters bemühte. Vielleicht täuschte ich mich; aber wer König Ludwigs Gesicht sah, der mußte so denken.

Ich kam in einen prachtvollen Saal und sah dort etwa ein Dutzend auf und abgehender Hofkavaliere und eine Tafel für mindestens zwölf Personen, die jedoch nur für eine einzige Person hegerichtet war.

»Für wen ist dieses Gedeck?«

»Für die Königin. Dort kommt sie.«

Ich sah die Königin von Frankreich; sie hatte kein Rot aufgelegt und war einfach gekleidet, den Kopf mit einer großen Mütze bedeckt. Ihr Gesicht war alt und ihre Miene fromm. Sie trat an den Tisch heran und dankte freundlich zwei Nonnen, die einen Teller mit frischer Butter hinsetzten. Die Königin nahm Platz und sofort stellten die zwölf Hofkavaliere sich zehn Schritte vom Tische entfernt in einem Halbkreis auf. Ich gesellte mich zu ihnen, indem ich ihr ehrfurchtsvolles Schweigen nachahmte.

Ihre Majestät begann zu essen, ohne jemanden anzusehen, denn sie hielt die Augen auf ihren Teller gesenkt. Eine Speise, die ihr vorgesetzt wurde, schmeckte ihr; sie ließ sich zum zweitenmal davon geben und nun durchmaßen ihre Augen den Halbkreis vor ihr, ohne Zweifel, um zu sehen, ob nicht unter diesen Beobachtern jemand wäre, dem sie über ihre Leckerhaftigkeit Rechenschaft geben müßte. Sie fand ihn und sagte: »Herr von Löwendal!«

Auf diesen Anruf trat eine prächtige Männergestalt vor, neigte den Kopf und sagte: »Madame.«

»Ich glaube, dieses Ragout ist ein Hühnerfrikassee.«

»Ich bin derselben Ansicht, Madame«.

Nach dieser Antwort, die im ernstesten Ton gegeben wurde, fuhr die Königin fort, zu essen, und der Marschall begab sich, rückwärts schreitend, wieder auf seinen Platz. Die Königin beendete ihre Mahlzeit, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und kehrte in ihre Gemächer zurück, wie sie gekommen war. Ich dachte bei mir selber, wenn die Könige von Frankreich alle ihre Mahlzeiten in derselben Weise abhielten, so würde ich niemanden um die Ehre beneiden, ihr Tischgenosse zu sein.

Ich war entzückt, den berühmten Kriegsmann gesehen zu haben, dem Bergen-op-Zoom sich hatte ergeben müssen, aber mit innerem Schmerz hatte ich’s angehört, daß ein so großer Mann auf eine Frage wegen eines Hühnerfrikassees in demselben Tone antworten mußte, worin ein Richter ein Todesurteil ausspricht.

Um diese Anekdote bereichert, gab ich sie bei Sylvia während eines ausgezeichneten Diners zum besten, bei dem ich die Auslese der angenehmen Gesellschaft fand.

Einige Tage später war ich wieder früh morgens um zehn im Schloß und bildete mit einer Menge von Hofkavalieren Spalier, um das stets wieder neue Vergnügen zu haben, den König in die Messe gehen zu sehen; zu diesem Vergnügen muß ich noch ein zweites erwähnen, nämlich den ganzen Busen und die ganzen Schultern seiner Töchter Mesdames de France entblößt zu sehen. Plötzlich bemerkte ich die Cavamacchie, die ich in Cesena zuletzt unter dem Namen der Signora Querini gesehen hatte. Wenn ihr Anblick mich überraschte, so war sie nicht weniger erstaunt, mich an einem solchen Ort zu sehen. Der Marquis de St.-Simon, erster Kammerherr des Prinzen Conde, reichte ihr den Arm.

»Signora Querini! Sie hier!?«

»Ich erinnere mich des Wortes der Königin Elisabeth: Pauper ubique jacet.«

»Der Vergleich ist sehr richtig, gnädige Frau.«

»Ich scherze, mein lieber Freund; ich komme hierher, um den König zu sehen, der mich nicht kennt; aber morgen wird der Gesandte mich vorstellen.«

Sie trat fünf oder sechs Schritte von mir in die Reihe dicht bei der Tür, aus der der König heraustreten mußte. Seine Majestät erschienen, Herrn von Richelieu an Ihrer Seite und beäugelten die sogenannte Signora Querini. Ohne Zweifel gefiel sie ihm nicht, denn ohne stehen zu bleiben, sagte er zu seinem Freunde die bemerkenswerten Worte, die Giulietta hören mußte: »Wir haben hier schönere.«

Nach dem Essen ging ich zum venetianischen Botschafter. Ich fand ihn beim Dessert in großer Gesellschaft. Zu seiner Rechten saß Frau Querini, die mir die schmeichelhaftesten und freundschaftlichsten Sachen sagte. Dies war ganz außerordentlich von Seiten einer hitzköpfigen Person, die durchaus keinen Anlaß hatte, mich zu lieben; denn sie wußte, daß ich sie gründlich kannte und daß ich verstanden hatte, mit ihr fertig zu werden. Ich durchschaute jedoch den Grund ihres ganzen Verhaltens und beschloß, sie nicht zu enttäuschen, sondern sogar eine edle Rache zu nehmen, indem ich ihr alle Dienste erwiese, die in meiner Macht ständen.

Sie hatte das Gespräch auf Herrn Querini gebracht, und der Botschafter beglückwünschte sie dazu, daß er ihr durch die Heirat hätte Gerechtigkeit widerfahren lassen.

»Dies wußte ich nämlich nicht,« setzte er hinzu.

»Die Heirat ist aber schon länger als zwei Jahre her,« sagte Giulietta.

»Das ist eine Tatsache,« nahm nun ich das Wort; »denn vor zwei Jahren hat General Spada sie unter dem Namen und mit dem Titel Ihrer Exzellenz Frau Querini dem ganzen Adel von Cesena vorgestellt, wo ich die Ehre hatte, mich aufzuhalten.«

»Ich zweifle nicht daran,« fagte der Gesandte mit einem scharfen Blick auf mich; »denn Querini selber schrieb mir dies.«

Als ich einige Augenblicke später mich verabschieden wollte, sagte der Gesandte, er hätte mehrere Briefe erhalten, deren Inhalt er mir mitteilen möchte, und bat mich, mit ihm in sein Arbeitszimmer zu treten. Dort fragte er mich, was man in Venedig zu dieser Heirat sagte.

»Kein Mensch weiß ein Wort davon; man sagt sogar, der älteste des Hauses Querini werde eine Grimani heiraten, aber ich werde diese Nachricht nach Venedig schreiben.«

»Was für eine Nachricht?«

»Daß Giulietta wirklich Frau Querini ist, da Eure Exzellenz sie als solche dem König vorstellen werden.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Giulietta selber.«

»Es kann wohl sein, daß sie ihre Absicht geändert hat.«

Ich erzählte ihm hierauf die Worte, die der König zu Herrn von Richelieu über Giulietta geäußert hatte.

»Ach so!« sagte Seine Exzellenz; »jetzt errate ich auch, warum Giulietta ihm nicht mehr vorgestellt zu werden wünscht.«

Später habe ich erfahren, Herr de St.-Quintin, der Geheimminister der Privatwünsche des Königs, sei nach der Messe zur schönen Venetianerin gekommen und habe ihr gesagt, der König von Frankreich müsse einen recht schlechten Geschmack haben, denn er habe sie nicht schöner gefunden, als mehrere andere Damen, die sich an seinem Hof befänden.

Giulietta reiste am nächsten Tage von Fontainebleau ab.

Ich habe zu Beginn meiner Memoiren von Giuliettas Schönheit gesprochen: sie hatte in ihren Gesichtszügen außerordentliche Reize; aber sie hatte schon recht lange Zeit davon Gebrauch gemacht, und so waren sie schon ein bißchen verblüht, als sie nach Fontainebleau kam.

Ich sah sie in Paris beim Gesandten wieder, und sie sagte mir lachend, sie habe nur gescherzt, indem sie sich Frau Querini genannt und ich würde ihr Vergnügen machen, indem ich sie in Zukunft nur bei ihrem wahren Namen Gräfin Preati nennte. Sie bat mich, sie im Hotel du Luxembourg zu besuchen, wo sie wohnte. Ich ging oft hin, um mich über ihre Intrigen zu amüsieren, aber ich war zum Glück so vernünftig, mich niemals hineinzumischen.

Sie verbrachte vier Monate in Paris, und sie hatte das Talent, den Sekretär der venetianischen Botschaft, Herrn Zanchi, einen liebenswürdigen, vornehmen und gebildeten Mann, verliebt zu machen. Sie machte ihn so verliebt, daß er entschlossen war, sie zu heiraten; aber in einer Laune, die ihr vielleicht später leid tat, behandelte sie ihn schlecht, und der Dummkopf starb aus Kummer darüber. Der Botschafter der Kaiserin Maria Theresia, Graf Kaunitz, fand Geschmack an ihr; desgleichen der Graf von Zinzendorf. Der Vermittler bei diesen flüchtigen Liebeleien war ein gewisser Abbé Guasco, der wenig von Plutus begünstigt und obendrein häßlich war, daher nur durch seine Gefälligkeiten hier und da eine Gunst erhoffen konnte. Der Mann jedoch, auf den sie es ernstlich abgesehen hatte und dessen Frau sie werden wollte, war der Graf St.-Simon; dieser Graf hätte sie geheiratet, wenn sie ihm nicht falsche Adressen angegeben hätte, bei denen er sich nach ihrer Herkunft erkundigen könnte. Die Familie Preati von Verona verleugnete sie natürlich, und Herr von St.-Simon, der trotz seiner Liebe sich noch einige gesunde Vernunft bewahrt hatte, besaß die Kraft, sie zu verlassen. Kurz und gut, Paris war kein Dorado für meine schöne Landsmännin; denn sie mußte dort ihre Diamanten als Pfand zurücklassen. Sie kehrte nach Venedig zurück und heiratete dort den Sohn des nämlichen Uccelli, der sie sechzehn Jahre früher aus dem Elend gezogen hatte. Vor zehn Jahren ist sie gestorben. Ich nahm immer noch meine französischen Unterrichtsstunden bei meinem guten alten Crébillon. Trotzdem wimmelte meine Sprache von Italianismen, und ich sagte oft in Gesellschaft das Gegenteil von dem, was ich ausdrücken wollte; aber meine Quiproquo liefen fast immer auf eigentümliche Scherze hinaus, die Erfolg hatten, und das beste dabei war, daß mein Jargon mir keinen Schaden tat, indem er mich nicht als Dummkopf erscheinen ließ. Er verschaffte mir im Gegenteil schöne Bekanntschaften.

Mehrere Damen der ersten Kreise baten mich, sie Italienisch zu lehren, um, wie sie sagten, sich selber das Vergnügen zu verschaffen, mich Französisch zu lehren: bei diesem Austausch gewann ich mehr als sie.

Frau Préodot, eine meiner Schülerinnen, empfing mich eines Tages in ihrem Bett, indem sie mir sagte, sie habe keine Lust, ihre Stunde zu nehmen, weil sie am Abend vorher Medizin genommen habe. Dummerweise einen italienischen Ausdruck wörtlich übersetzend, fragte ich sie im Ton der tiefsten Teilnahme, ob sie tüchtig entladen [R1: bien déchargé] habe.

»Mein Herr, was fragen Sie da! Sie sind unerträglich.« Ich wiederhole meine Frage; neuer Zornausbruch auf Seiten der Dame: »Sprechen Sie niemals dies abscheuliche Wort aus!«

»Sie mögen sich entrüsten, so viel sie wollen: es ist gerade das passende Wort.«

»Im Gegenteil, höchst unpassend, mein Herr; aber lassen wir das Thema. Wollen Sie frühstücken?«

»Nein, ich habe schon; ich habe ein Kaffee mit Savoyarden genommen.«

»Ach, guter Gott! ich bin verloren! Was für ein rasendes Frühstück! Erklären Sie sich!«

»Ich habe ein Kaffee genommen und zwei Savoyarden gegessen, die ich hineingetaucht, wie ich es jeden Morgen mache.«

»Aber, das ist dumm, lieber Freund, ein Kaffee ist die Wirtschaft, worin man ihn verkauft; man trinkt eine Tasse Kaffee.«

»Gut! Trinken Sie die Tasse; wir sagen in Italien ein Kaffee und haben so viel Witz, nicht zu glauben, daß dies die Wirtschaft sei.«

»Er will durchaus recht haben! Und die beiden Savoyarden? Wie haben Sie denn die verschlungen?«

»Ich habe sie in den Kaffee gesteckt, denn sie waren nicht größer als die, die Sie hier auf dem Tische haben.«

»Und das nennen Sie Savoyarden? Sagen Sie Zwiebacke.«

»In Italien nennen wir sie Savoyarden, weil man sie in Savoyen erfunden hat, und es ist nicht meine Schuld, wenn Sie geglaubt haben, ich hätte zwei Dienstleute von der Ecke verschluckt, große Bengel, die Sie in Paris Savoyarden nennen und die oft genug niemals in Savoyen gewesen sind.«

In diesem Augenblick trat ihr Mann ein, und schleunigst erzählte sie ihm unsere ganze Unterhaltung.

Er lachte sehr darüber, aber er gab mir recht. Während wir noch darüber sprachen, kam seine Nichte, ein junges Mädchen von vierzehn Jahren, sittsam, bescheiden und klug. Ich hatte ihr fünf oder sechs Unterrichtsstunden gegeben und da sie die italienische Sprache sehr liebte und sich unaufhörlich darin übte, so begann sie schon zu sprechen. Sie wollte mir ein Kompliment auf italienisch machen und sagte. »Signore, sono incantata di vi vedere in buona salute.«

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein; aber um zu übersetzen: ich bin entzückt, muß man sagen; ho piacere, und Sie zu sehen heißt: di vedervi.«

»Ich glaubte, mein Herr, man müßte das vi vorsetzen.«

»Nein, mein Fräulein, wir setzen es hinten.«

Sofort platzen Herr Préodot und seine Frau los; das Fräulein ist verwirrt, ich aber war sprachlos und ganz verzweifelt, eine so ungeheure Dummheit gesagt zu haben, aber es war nun einmal geschehen. Schmollend nahm ich ein Buch, in der Hoffnung, ihr Gelächter würde doch einmal aufhören: es dauerte eine Woche. Meine unbeabsichtigte Zote wurde in ganz Paris belacht und verschaffte mir eine Art von Berühmtheit, die erst dann sich verminderte, als es mir allmählich gelang, die Bedeutung der Sprache besser kennen zu lernen. Crébillon lachte sehr über meinen Schnitzer und sagte mir, ein anderes Mal müßte ich aprés sagen und nicht derriére; aber warum haben auch nicht alle Sprachen denselben Geist! Übrigens, wenn die Franzosen sich über die Fehler erheiterten, die ich in ihrer Sprache machte, so vergalt ich es ihnen nicht übel, indem ich gewisse lächerliche Gebräuche bloßstellte.

»Mein Herr,« sagte ich zu einem, »wie befindet sich Ihre Frau Gemahlin?«

»Sie erweisen ihr viel Ehre!«

»Ei, ich bitte Sie, um was für Ehre kann es sich handeln, wenn man nur von Gesundheit spricht?«

Ich sehe im Boulognerwäldchen einen jungen Mann sein Pferd tummeln; er hat es aber nicht in der Gewalt, und schließlich wirft es ihn ab. Ich halte das Pferd an und eile dem jungen Mann zu Hilfe, der sich mit meiner Unterstützung wieder aufrichtet.

»Haben Sie sich weh getan?«

»O! danke mein Herr, im Gegenteil!«

»Wie zum Teufel, im Gegenteil! Sie haben sich also wohlgetan, dann fangen Sie nur gleich wieder an, mein Herr!«

Und tausend Widersinnigkeiten dieser Art! Aber so ist nun einmal der Geist der Sprache.

Eines Tages war ich zum erstenmal bei der Frau Präsidentin de N., als ihr Neffe, ein glänzender Stutzer, eintrat; sie stellte mich ihm vor, indem sie ihm meinen Namen und meine Heimat nannte.

»Wie, mein Herr, Sie sind Italiener? Meiner Seel, Sie sehen so gut aus, daß ich hätte wetten mögen, Sie seien Franzose!«

»Mein Herr, bei ihrem Anblick bin ich in dieselbe Falle geraten. Ich hätte darauf schwören mögen, Sie seien Italiener.«

Ich war bei Lady Lambert mit zahlreicher und glänzender Gesellschaft zum Diner. Man bemerkte einen Karneol, den ich am Finger trug und worauf mit großer Kunst der Kopf Ludwigs des Fünfzehnten eingeschnitten war. Mein Ring machte die Runde um den Tisch, und jeder fand die Ähnlichkeit verblüffend.

Eine junge Marquise, die für besonders geistreich galt, fragte mich mit der ernstesten Miene:

»Ist es wirklich eine Antike?«

»Der Stein, gnädige Frau, ganz gewiß.«

Alle lachten, mit Ausnahme der liebenswürdigen Zerstreuten, die gar nicht darauf achtete. Beim Nachtisch sprach man vom Rhinozeros, das für vierundzwanzig Sous auf dem Jahrmarkt von St.-Germain zu sehen war.

»Gehen wir hin! Gehen wir hin!«

Wir stiegen in unsere Wagen und kamen an. Dort machten wir einige Rundgänge durch die Alleen, bis wir den richtigen Ort fanden. Ich war der einzige Kavalier und hatte zwei Damen gegen die Belästigungen der Menge zu beschützen, und die geistreiche Marquise ging vor uns. Am Ende der Allee, wo das Tier, wie man uns gesagt harte, sich befinden sollte, saß ein Mann, um das Eintrittsgeld einzunehmen. Dieser Mann, in afrikanischer Tracht, war allerdings sehr dunkel von Hautfarbe und riesig dick; trotzdem aber hatte er doch menschliche Gestalt und sogar ausgesprochen männliche, und die schöne Marquise hätte sich eigentlich nicht irren dürfen. Aber in ihrer Gedankenlosigkeit geht sie auf ihn zu und fragt ihn:

»Sind Sie, mein Herr, das Rhinozeros?«

»Nur herein, Madame, nur herein!«

Wir wären vor Lachen beinahe erstickt, besonders als nun die Marquise das Tier sah und sich verpflichtet fühlte, dessen Herrn um Entschuldigung zu bitten, indem sie ihm versicherte, sie hätte in ihrem Leben noch nie ein Rhinozeros gesehen, und er dürfte sich daher nicht beleidigt fühlen, wenn sie sich geirrt hätte.

Eines Tages war ich im Foyer der italienischen Komödie, wohin in den Zwischenakten die vornehmsten Herren kamen, um mit den Künstlerinnen zu plaudern und zu lachen, die da sitzen und auf den Augenblick ihres Auftretens warten. Ich saß neben Coralinens Schwester, Camille, die ich zum lachen brachte, indem ich ihr süßen Unsinn erzählte. Ein junger Rat ärgerte sich darüber, daß ich sie beschäftigte, und griff mich auf eine sehr selbstgefällige Weise an, indem er eine Bemerkung kritisierte, die ich über ein italienisches Stück gemacht hatte; dabei erlaubte er sich, seine schlechte Laune zu zeigen, indem er meine Nation kritisierte. Ich gab ihm jede Bemerkung zurück, indem ich dabei die lachende Camilla ansah. Um uns herum stand ein ganzer Kreis und verfolgte aufmerksam das Gefecht, das bis dahin nur mit den Waffen des Witzes geführt wurde und nichts Unangenehmes hatte. Es schien aber ernst werden zu wollen, als der Stutzer die Rede auf die städtische Polizei brachte und zu mir sagte, seit einiger Zeit sei es gefährlich, bei Nacht zu Fuß durch die Pariser Straßen zu gehen. »Im Laufe des vorigen Monats haben auf dem Grèveplatz sieben am Galgen gebaumelt, darunter fünf Italiener; das ist erstaunlich.«

»Dabei ist gar nichts erstaunlich,« versetzte ich, »denn anständige Leute lassen sich fern von ihrer Heimat hängen ; so wurden zum Beispiel im Laufe des letzten Jahres zwischen Neapel, Rom und Venedig sechzig Franzosen gehängt; fünfmal zwölf sind sechzig; es ist also, wie Sie sehen, nur ein Tauschgeschäft.«

Die Lacher waren auf meiner Seite, und der schöne Herr Rat machte sich ein wenig verwirrt davon. Einer der Umstehenden fand meine Antwort gut, trat an Camille heran und fragte sie leise, wer ich sei. Damit war die Bekanntschaft gemacht. Es war Herr de Marigny. Ich war hocherfreut, seine Bekanntschaft zu machen, meines Bruders wegen, den ich jeden Tag erwartete. Herr von Marigny war Oberintendant der königlichen Gebäude, und die Malerakademie stand unter ihm. Ich sprach mit ihm über meinen Bruder, und er versprach mir huldvoll, ihn beschützen zu wollen. Ein anderer junger Kavalier, der mit mir in ein Gespräch geraten war, bat mich, ihn zu besuchen; es war der Herzog von Matalone. Ich sagte ihm, ich hätte ihn vor acht Jahren als Kind in Neapel gesehen, und ich hätte große Verpflichtungen gegen seinen Oheim Don Lelio; der junge Herzog war entzückt darüber, und wir wurden vertraute Freunde.

Im Frühling l751 kam mein Bruder nach Paris und nahm Wohnung bei Frau Quinson, wo auch ich wohnte. Er begann mit Erfolg für Privatleute zu arbeiten; seine Hauptabsicht war jedoch, ein Gemälde zu vollenden, um es dem Urteil der Akademie zu unterbreiten.

Ich stellte ihn daher Herrn de Marigny vor, der ihn ausgezeichnet aufnahm und ihn ermutigte, indem er ihm seine Protektion versprach.

Infolgedessen legte mein Bruder sich wieder aufs Studium und betrieb es mit großem Eifer.

Herr de Morosini war nach Venedig zurückgekehrt, und an seiner Stelle war Herr von Mocenigo Botschafter geworden. Ich war an ihn durch Herrn von Bragadino empfohlen, und er öffnete mir sein Haus, wie auch meinem Bruder; denn er hielt es sür seine Pflicht, diesen als Venetianer und als jungen Künstler zu beschützen, der durch sein Talent sein Glück zu machen suchte.

Herr von Mocenigo war von sehr mildem Charakter. Er liebte das Spiel und verlor stets; er liebte die Frauen und war unglücklich, weil er sie nicht zu nehmen wußte. Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Paris verliebte er sich in Madame de Colande und da er sich nicht ihre Gegenliebe erringen konnte, nahm er sich das Leben.

Die Frau Dauphine gebar den Herzog von Burgund, und die Freudenfeste, die bei dieser Gelegenheit stattfanden, erscheinen mir heute unglaublich, wenn ich sehe, was dieseselbe Nation gegen ihren König macht. Die Nation will sich frei machen; ihr Ehrgeiz ist edel, denn der Mensch ist nicht geschaffen, um Sklave des Willens eines anderen Menschen zu sein; aber was wird aus dieser Revolution werden unter einer volkreichen, großen, geistvollen und leichtfertigen Nation? Die Zeit muß es uns lehren.

Durch den Herzog von Matalone machte ich die Bekanntschaft der römischen Fürsten Don Marcantonio und Don Giambattista Vorghese, die sich in Paris amüsierten, wo sie ohne Verschwendung lebten.

Ich hatte Gelegenheit zu bemerken, daß man diesen römischen Principi, wenn sie am Hof von Frankreich vorgestellt wurden, nur den Titel Marquis gab. Man verweigerte den Fürstentitel auch den russischen Fürsten, die sich bei Hofe vorstellen ließen. Man nannte sie Knees und das war ihnen einerlei; denn dieses Wort bedeutet Fürst. Der französische Hof war stets in dummer Weise kleinlich in bezug auf Titel. Man geizte und geizt noch jetzt mit dem einfachen Titel Monsieur, den man auf allen Straßen hört: Man sagt Monsieur zu jeder Person, die keinen Adelstitel führt. Ich habe beobachtet, daß der König seine Bischöfe nur mit Abbé anredete, obgleich diese Herren sehr viel aus ihre Titel halten. Wenn ein adeliger Herr seines Reiches nicht seinen Namen in die Liste der Kavaliere eintragen ließ, die dem Hofe ihre Dienste zur Verfügung stellten so tat er, als kenne er ihn nicht.

Sein Hochmut war jedoch dem König Ludwig nur durch seine Erziehung eingeflößt; er war ihm nicht natürlich; wenn sein Gesandter ihm jemanden vorstellte, so zog der Vorgestellte sich mit der Gewißheit zurück, daß der König ihn gesehen hatte, aber das war auch alles. Im übrigen war der König sehr höflich, besonders gegen die Damen, auch gegen seine Mätressen bei öffentlichem Auftreten. Wer gegen sie den geringsten Verstoß beging, der fiel in Ungnade. Niemand besaß in höherem Maße als er die große königliche Tugend, die man Verstellung nennt. Er war ein getreuer Hüter eines Geheimnisses, und er war entzückt, wenn er sicher zu sein glaubte, daß niemand außer ihm es wüßte. Der Chevalier d’Eon ist ein kleines Beispiel dafür; denn der König allein wußte und hatte stets gewußt, daß er eine Frau war, und der ganze Streit des falschen Chevaliers mit dem Ministerium des Auswärtigen war eine Komödie, die der König zu seiner Belustigung sich bis zu ihrem Ende abspielen ließ.

Ludwig war groß in allem, und er wäre ohne Fehler gewesen, hätte nicht die Schmeichelei ihn gezwungen, welche zu haben. Aber wie hätte er Fehler an sich erkennen können, wenn man ihm jeden Tag wiederholte, er sei der beste aller Könige. Ein König aber, von der Art, wie er nach dem, was man ihm sagte, sich selber vorstellen mußte, war etwas so weit über die gewöhnliche Menschheit Erhabenes, daß er sich berechtigt glauben mußte, sich für eine Art Gott zu halten. Trauriges Geschick der Könige! Erbärmliche Schmeichler tun beständig alles, was erforderlich ist, sie noch unter den gewöhnlichen Menschen herabzudrücken.

Um diese Zeit bekam die Prinzessin von Ardore einen jungen Prinzen. Ihr Gemahl, der neapolitanischer Gesandter war, sprach den Wunsch aus, Ludwig der Fünfzehnte möchte Patenstelle übernehmen, und der König willigte ein. Er schenkte seinem Patensohn ein Regiment, aber die Mutter, die das Militär nicht liebte, wollte davon nichts wissen. Der Marschall von Richelieu erzählte mir, er habe den König niemals so herzlich lachen sehen, wie über diese eigentümliche Weigerung.

Bei der Herzogin de Fulvie lernte ich Fräulein Gaussin, genannt Lolotte, kennen. Sie war die Geliebte des englischen Botschafters Lord Albemarle, eines geistreichen, sehr edlen und sehr freigebigen Mannes. Er beklagte sich eines Abends bei seiner Freundin, daß sie die Schönheit der Sterne priese, die am Himmelsgewölbe glänzten, da sie doch wüßte, daß er sie ihr nicht schenken könnte. Wäre Lord Albemarle Gesandter in Paris gewesen, als es zum Bruch zwischen Frankreich und England kam, er würde alle Streitigkeiten beigelegt haben, und der unglückliche Krieg, durch den Frankreich ganz Kanada verlor, hätte nicht stattgefunden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das gute Einvernehmen zwischen zwei Nationen fast immer von ihren Gesandten abhängt, die sie an den Höfen unterhalten, wo die Gefahr eines Zerwürfnisses droht.

Über die Geliebte dieses edlen Lords herrschte nur eine Meinung. Sie hatte alle Eigenschaften, um seine Frau zu werden; die ersten Häuser Frankreichs haben nicht gefunden, daß der Titel einer Lady Albemarle notwendig sei, um sie mit Auszeichnung aufzunehmen, und keine Dame fand es anstößig, sie an ihrer Seite sitzen zu sehen, obgleich man wußte, daß sie keinen anderen Titel hatte, als den einer Geliebten des Lords. Sie war im Alter von dreizehn Jahren aus den Armen ihrer Mutter in die des Lords Albemarle übergegangen, und ihre Aufführung war stets achtungswert. Sie hatte Kinder, die der Lord anerkannte, und sie starb als Gräfin d’Eronville. Ich werde später von ihr sprechen.

Bei Herrn de Mocenigo hatte ich auch Gelegenheit, die Bekanntschaft einer venetianischen Dame zu machen, der Witwe des englischen Ritters Winne. Sie kam mit ihren Kindern von London, wohin sie hatte gehen müssen, um ihnen die Erbschaft ihres verstorbenen Gatten zu sichern, da sie alle ihre Rechte darauf verloren haben würden, wenn sie sich nicht zur anglikanischen Religion bekannt hätten. Zufrieden mit dem Erfolge ihrer Reise, kehrte Sie jetzt nach Venedig zurück. Ihre älteste Tochter, ein Kind von zwölf Iahren, trug trotz ihrer Jugend auf ihrem schönen Gesicht alle Kennzeichen der Vollendung. Sie lebt heutzutage in Venedig als Witwe des Grafen Rosenberg, der dort als Gesandter der Kaiserin und Königin Maria Theresia starb. Sie glänzt durch ihr sittsames Leben und durch alle gesellschaftlichen Tugenden, mit denen sie geschmückt ist. Niemand findet an ihr einen anderen Fehler, als den, daß sie nicht reich ist; aber sie selber bemerkt dies nur daran, daß sie sich nicht in der Lage befindet, alles Gute zu tun, das sie tun möchte.

Im folgenden Kapitel wird der Leser sehen, wie ich einen kleinen Handel mit der französischen Gerechtigkeit hatte.

Drittes Kapitel


Ich reise als glücklicher Mann von Bologna ab. – Der Hauptmann trennt sich von uns in Reggio, wo ich mit Henrietten die Nacht verbringe. – Unsere Ankunft in Parma. – Henriette legt wieder weibliche Kleider an. – Unser gegenseitiges Glück. – Ich finde Verwandte von mir, gebe mich aber nicht zu erkennen.

Der Leser wird erraten, daß die Szene sich sofort änderte. Das Zauberwort: Kommen Sie nach Parma! war eine glückliche Peripetie, und ich ging sofort vom drohenden zum zärtlichen, vom strengen Ton zum sanften über. Ja, ich fiel ihr zu Füßen, umschlang liebend ihre Knie und küßte sie ihr voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit. Keine Spur mehr von dem zornigen und drohenden Tone, der so wenig zum sanftesten aller Gefühle paßt. Zärtlich, unterwürfig, dankbar schwor ich ihr, ich würde von ihr keine einzige Gunstbezeigung, nicht einmal einen Handkuß verlangen, bevor ich ihre Liebe verdient hätte. Das göttliche Weib war angenehm überrascht, mich so schnell vom Tone der Verzweiflung zur lebhaftesten Zärtlichkeit übergehen zu sehen; und sie sagte mir mit einem Ausdruck, der noch zärtlicher war als der meine, ich möchte doch aufstehen.

»Ich bin überzeugt,« sagte sie mir, »daß Sie mich lieben, aber glauben Sie auch, daß ich alles tun werde, was von mir abhängt, um mir Ihre Beständigkeit zu sichern.«

Selbst wenn sie mir gesagt hätte, daß sie mich ebenso sehr liebte wie ich sie, so hätte sie mir doch damit nicht mehr gesagt; denn diese Worte drückten alles aus. Ich hielt meine Lippen auf ihre schöne Hand gepreßt, als der Hauptmann wieder eintrat. Er beglückwünschte uns in dem Ton der größten Aufrichtigkeit, und ich sagte ihm mit strahlendem Gesicht, ich würde die Pferde bestellen. Ich ging hinaus, ihn mit ihr allein lassend, und bald darauf machten wir uns vergnügt und zufrieden auf den Weg.

Vor unserer Ankunft in Reggio sagte der ehrenwerte Kapitän zu mir, nach seiner Meinung erfordere der Anstand, daß wir ihn allein nach Parma reisen ließen; denn wenn er mit uns zusammen ankäme, würde das Anlaß zu allerlei Bemerkungen geben, man würde Fragen an ihn richten und man würde überhaupt viel mehr über uns sprechen, als wenn wir allein ankämen. Henriette sowohl wie ich fanden diese Gründe sehr vernünftig, und wir entschlossen uns auf der Stelle, die Nacht in Reggio zu verbringen und ihn in einem Postwagen nach Parma fahren zu lassen. Nachdem dies alles besprochen war, wurde sein Koffer auf das Wägelchen geladen, das man ihm lieferte. Er sagte uns Lebewohl und fuhr ab, nachdem er uns noch versprochen hatte, am nächsten Tage mit uns zu Mittag zu essen.

Das Verhalten des biederen Ungarn mußte meiner Freundin ebenso sehr gefallen, wie mir, denn unser Zartgefühl nötigte uns, in seiner Gegenwart uns eine große Zurückhaltung aufzuerlegen.

Wie wäre uns bei der veränderten Sachlage möglich gewesen, in Reggio in demselben Gasthofe zu wohnen? Henriette hätte in Ehren nicht mehr das Bett des Hauptmanns teilen können; sie hätte sich aber auch nicht in das meinige legen können, ohne den Anstand zu verletzen. Wir hätten alle drei über eine solche Zurückhaltung gelacht; wir hätten sie lächerlich gefunden und uns dennoch ihr unterworfen.

Die Liebe ist eine Feindin der Scham, obgleich sie oft Dunkelheit und Geheimnis sucht; aber wenn die Liebe sich schämen muß, fühlt sie sich erniedrigt und verliert sofort drei Viertel ihrer Würde und einen großen Teil ihres Reizes. Man wird leicht begreifen, daß Henriette und ich nur glücklich sein konnten, wenn wir uns die Erinnerung an den braven Hauptmann fern hielten. Wir speisten unter vier Augen zu Abend; ich war berauscht von meinem Glück, das mir zu groß erschien, und war doch traurig. Aber Henriette hatte mir nichts vorzuwerfen, denn auch sie schien traurig zu sein. Es war im Grunde nur Verlegenheit; denn wir liebten uns, aber wir hatten keine Zeit gehabt, uns kennen zu lernen. Wir sprachen wenig; es fiel keine einzige pikante oder interessante Bemerkung; unsere Reden kamen uns selber abgeschmackt vor, und deshalb versenkten wir uns lieber in unsere Gedanken. Wir wußten, daß wir die Nacht zusammen verbringen würden; aber wir hätten befürchtet, indiskret zu sein, wenn wir eine Anspielung darauf gemacht hätten. Welche Nacht! Was für ein Weib war diese Henriette, die ich so sehr geliebt habe, die mich so glücklich gemacht hat!

Erst drei oder vier Tage darauf erkühnte ich mich, sie zu fragen, was sie ohne Geld und ohne Bekanntschaften in Parma würde angefangen haben, wenn ich mich gescheut hätte, ihr meine Liebe zu erklären. Sie antwortete mir, sie würde wahrscheinlich in die entsetzlichste Verlegenheit geraten sein; aber sie wäre überzeugt gewesen, daß ich sie liebte, und hätte vorausgesehen, daß es so kommen würde, wie es denn auch wirklich gekommen wäre. Da sie ungeduldig gewesen wäre, zu erfahren, wie ich über sie dächte, so hätte sie mich gebeten, dem Offizier ihren Entschluß zu verdolmetschen; denn sie hätte gewußt, daß er sich diesem nicht widersetzen und auch nicht weiter hätte mit ihr zusammen sein können. Da sie ferner mich nicht in die Bitte mit einbegriffen hätte, die sie durch mich an den Hauptmann richtete, so hätte sie es unmöglich gefunden, daß ich sie nicht hätte fragen sollen, ob ich ihr nicht irgendwie von Nutzen sein könnte. Auf diese Weise würde sie meine Gesinnungen kennen gelernt und danach dann ihren Entschluß gefaßt haben. Endlich sagte sie mir noch: wenn sie zugrunde gegangen wäre, so hätten daran ihr Gatte und ihr Schwiegervater schuld gehabt; das wären Ungeheuer.

In Parma angekommen, gab ich auf der Torwache wieder den Namen Farussi an, den ich auch in Cesena geführt hatte; es war der Familienname meiner Mutter. Henriette schrieb mit eigener Hand Anne d’Arci, Französin. Während wir die Fragen des Torschreibers beantworteten, bot ein gewandter und artiger junger Franzose mir seine Dienste an; er sagte mir, statt in der Post abzusteigen, würde ich gut tun, zu d’Adremont zu gehen, wo ich Wohnung und Küche nach französischer Art und die besten französischen Weine bekäme. Da ich sah, daß der Vorschlag Henrietten gefiel, ließ ich mich hinführen, und wir erhielten eine ausgezeichnete Wohnung. Ich nahm den Bedienten zu einem bestimmten Tagelohn an und traf ganz genaue Abmachungen mit dem Herrn d’Adremont. Hierauf besorgte ich selber eine Remise für meinen Wagen.

Nachdem ich noch einen Augenblick eingetreten war, um meiner Freundin zu sagen, daß wir uns zum Mittagessen wiedersehen würden, und dem Lakaien, daß er im Vorzimmer auf meine Befehle warten sollte, ging ich allein aus.

Parma stand unter der Zuchtrute einer neuen Regierung; ich konnte daher mit Fug annehmen, daß es überall von Spionen in allen möglichen Formen wimmeln würde, und wollte deshalb keinen Lakaien auf den Fersen haben, der mir vielleicht mehr geschadet als gedient hätte.

Ich war in der Heimatstadt meines Vaters, wo ich keinen Menschen kannte; aber obwohl ich allein war, war ich doch sicher, daß ich nicht lange Zeit brauchen würde, um mich zurecht zu finden.

Als ich die Straßen betrat, kam es mir vor, als wäre ich nicht mehr in Italien. Von den Vorübergehenden hörte ich nur französisch oder spanisch sprechen und die Leute, die sich nicht dieser Sprachen bedienten, flüsterten sich dem Anscheine nach ihre Bemerkungen ins Ohr. Ich ging aufs Geratewohl die Straße entlang, um ein Wäschegeschäft zu suchen; denn nach einem solchen mich erkundigen wollte ich nicht; schließlich fand ich das Gewünschte.

Ich trat ein und sagte zu einer guten dicken Matrone, die an der Kasse saß: »Madame, ich möchte einige Einkäufe machen.«

»Mein Herr, ich werde jemanden holen lassen, der französisch spricht.«

»Das ist unnötig, ich bin Italiener.«

»Gott sei gelobt! Denn nichts ist heutzutage so selten!«

»Warum selten?«

»Sie wissen also nicht, daß Don Filippo angekommen und daß seine Gemahlin, Madame de France, unterwegs ist?«

»Ich gratuliere Ihnen dazu. Das muß den Handel beleben; es bringt Geld unter die Leute, und man wird jedenfalls alles finden.«

»Allerdings; aber alles ist teuer, und wir können uns nicht an diese neuen Gebräuche gewöhnen; es ist ein schlechtes Gemisch von französischer Freiheit und spanischem Zwang, das macht uns die Köpfe ganz wirbelig. – Was für Wäsche wünschen Sie?«

»Vor allen Dingen muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich nicht handle, also nehmen Sie sich in acht: wenn Sie mich überteuern, komme ich nicht wieder. Ich brauche feine Leinwand für vierundzwanzig Frauenhemden, Barchent zu Unterröcken und Miedern; Mousselin; Battist zu Taschentüchern und noch andere Sachen, von denen ich hoffe, daß Sie sie haben; denn da ich Fremder bin, so weiß Gott, in was für Hände ich fallen werde.«

»Sie werden nur in gute Hände fallen, wenn Sie mir Ihr Vertrauen schenken wollen.«

»Ich denke, Sie verdienen es; ich vertraue mich also Ihnen an. Sie müssen mir auch Näherinnen besorgen, die bei der Dame, die sich in größter Eile alles Notwendige anfertigen lassen muß, auch auf dem Zimmer arbeiten können.«

»Und Kleider?«

»Kleider auch; dazu Hüte, Mäntelchen, mit einem Wort alles. Nehmen Sie an, daß sie nackt sei.«

»Wenn sie Geld hat, so bürge ich Ihnen dafür, daß sie alles bekommt, was sie wünschen kann; ist sie jung?«

»Sie ist vier Jahre jünger als ich und ist meine Frau.«

»Ach, Gott segne sie! Sie haben Kinder?«

»Nein, meine liebe Dame; aber das wird schon kommen, denn wir arbeiten dran.«

»Das versteht sich. Ach wie mich das freut! Mein Herr, ich werde Ihnen die Perle aller Schneiderinnen schicken. Unterdessen machen Sie sich den Spaß und suchen Sie aus, was Sie brauchen.«

Ich nahm das beste, was sie hatte, und bezahlte. Unterdessen war die Schneiderin angekommen; ich gab der Besitzerin des Ladens meine Adresse an, bat sie, mir Kleiderstoffe zuzuschicken, und sagte der Schneiderin und ihrer Tochter, die sie begleitet hatte, sie möchten mit mir kommen. Sie nahmen die Wäsche, die ich gekauft hatte, und wir gingen. Unterwegs kaufte ich seidene und leinene Strümpfe und bestellte einen Schuster, der neben dem Gasthof wohnte.

Und nun kam ein köstlicher Augenblick: Henriette, der ich vorher nichts gesagt hatte, besah sich alles mit einem Ausdruck vollkommener Befriedigung, aber ohne irgendwelche Selbstsucht zu verraten. Sie bewies mir ihre Erkenntlichkeit durch zartfühlende Lobsprüche über meine Auswahl und über die Schönheit der von mir gekauften Gegenstände. Sie war deshalb nicht fröhlicher als zuvor; aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Zärtlichkeit, der mehr wert war, als alle Dankbarkeit.

Der Lohndiener war mit den Schneiderinnen eingetreten; Henriette sagte ihm freundlich, er möchte hinausgehen und warten, bis er wieder hereingerufen würde. Die Schneiderin ging an die Arbeit, der Schuster nahm Maß, und ich sagte ihm, er möchte uns Pantoffeln holen. Eine Viertelstunde darauf kam er zurück, und mit ihm trat unberufen auch der Lohndiener ein. Der Schuster sprach französisch und erzählte Henrietten allerlei komische Geschichten; plötzlich unterbrach sie ihn und fragte den Bedienten, der sich ganz gemütlich im Zimmer aufhielt, was er denn wolle?

»Nichts, gnädige Frau; ich bin nur hier, um Ihre Befehle entgegenzunehmen.«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, man würde Sie rufen, sobald man Sie brauche?«

»Ich möchte wissen, wer von Ihnen beiden mein Herr ist.«

»Keiner!« rief ich lachend. »Hier haben Sie Ihren Tagelohn; gehen Sie!«

Als der Schuster bemerkte, daß die gnädige Frau nur französisch sprach, empfahl er ihr einen Sprachlehrer.

»Aus welchem Lande stammt er?« fragte Henriette.

»Er ist Vlame, gnädige Frau,« sagte Meister St. Crispin, »und er ist ein Gelehrter von ungefähr fünfzig Iahren. Er soll, wie man sagt, ein sehr tugendhafter Mann sein. Er nimmt drei Lire für eine Stunde und das doppelte für zwei Stunden, und er läßt sich nach jeder Unterrichtsstunde bezahlen.«

»Lieber Freund,« fragte Henriette mich, »möchtest du, daß ich diesen Lehrer annehme?«

»Ich bitte dich darum, liebes Herz; es wird dich unterhalten.«

Der Schuster empfahl sich mit dem Versprechen, daß er ihr am nächsten Morgen den Vlamen zuschicken werde; die Schneiderinnen arbeiteten tüchtig. Während die Mutter zuschnitt, nähte die Tochter; da aber eine einzige nicht viel schaffen konnte, sagte ich der Mutter, sie würde uns einen Gefallen tun, wenn sie uns eine zweite Nähterin besorgte, die französisch spräche.

»Sie sollen sie,« antwortete sie, »noch heute haben. Zugleich erlaube ich mir, Ihnen meinen Sohn als Bedienten anzubieten. Wenn Sie ihn nehmen, so haben Sie weder einen Dieb noch einen Spion um sich herum, und er weiß sich ganz leidlich auf französisch auszudrücken.«

»Ich glaube, lieber Freund,« sagte Henriette zu mir, »wir würden gut tun, ihn zu nehmen.«

Dies war genug, um meine sofortige Zustimmung zu veranlassen; denn für einen Mann, der liebt, ist der geringste Wunsch des geliebten Wesens allerhöchster Befehl.

Die Mutter holte ihn und kam mit ihm und der halbfranzösischen Nähterin zurück; diese war für meine Göttin eine Erleichterung und ein wahrer Zeitvertreib.

Der Sohn der Schneiderin war ein junger Mensch von achtzehn Jahren, ziemlich gut unterrichtet, sanft, bescheiden und von angenehmen Gesichtszügen. Ich fragte ihn nach seinem Namen; er antwortete mir, er heiße Caudagna.

Wie der Leser weiß, stammte mein Vater aus Parma, und er hat vielleicht nicht vergessen, daß eine seiner Schwestern einen Caudagna geheiratet hatte. – Es wäre scherzhaft, sagte ich bei mir selber, wenn diese Schneiderin meine Tante und mein Bedienter mein leiblicher Vetter wäre! Aber schweigen wir! – Henriette fragte mich, ob es mir recht wäre, wenn die Schneiderin mit uns äße. – »Ich bitte dich, angebetete Henriette, recht sehr, mich in Zukunft nicht mehr zu beschämen, indem du derartige Kleinigkeiten von meiner Einwilligung abhängig machst. Sei versichert, meine zärtliche Freundin, daß meine Einwilligung deinen geringsten Handlungen vorauseilen wird, wenn das möglich ist!« Sie dankte mir mit einem Lächeln. Ich zog hierauf eine Börse aus meiner Tasche und sagte ihr: »Da hast du fünfzig Zechinen; bezahle selber alle Kleinigkeiten, die du nötig hast, und die ich nicht erraten habe.« Sie nahm das Geld, indem sie mir versicherte, daß ich ihr ein großes Vergnügen mache.

Einen Augenblick, bevor wir uns zu Tische setzten, kam unser guter, ungarischer Hauptmann. Henriette lief ihm entgegen, um ihn zu umarmen, indem sie ihn ihren lieben Papa nannte, und ich folgte ihrem Beispiel, indem ich ihn meinen Freund nannte. Meine liebe Gattin bat ihn, alle Tage zu uns zum Essen zu kommen. Als der brave Soldat alle die weiblichen Wesen sah, die für Henrietten zu arbeiten hatten, empfand er eine außerordentliche Befriedigung die sich deutlich auf allen seinen Zügen ausdrückte. Er wünschte sich Glück, daß er seine Abenteuerin so gut untergebracht hatte, und seine Freude erreichte ihren Höhepunkt, als ich ihm sagte, daß ich ihm mein Glück verdankte.

Wir hatten eine ausgezeichnete und fröhliche Mahlzeit. Ich bemerkte, daß Henriette lecker und mein alter Offizier ein Feinschmecker war. Auch ich war beides in nicht geringem Maße, und ich fühlte mich imstande, ihnen die Spitze zu bieten. Wir genossen verschiedene ausgezeichnete Weine, die Herr d’Adremont mir mit Recht gerühmt hatte, und hatten auf diese Weise eine ganz reizende Mahlzeit.

An meinem jungen Bedienten gefiel mir die Ehrerbietung, womit er uns alle bediente, und seine Mutter ebensowohl, wie die Herrschaft. Seine Schwester und die anderen Nähterinnen hatten für sich allein gegessen.

Beim Nachtisch meldete man uns die Wäschehändlerin mit einer anderen Frau und eine Modistin, die französisch sprach. Die andere hatte Muster für alle möglichen Arten von Kleidern bei sich. Ich ließ Henriette Hüte, Mützen, Besätze und so weiter nach ihrem Belieben bestellen, aber ich bestand darauf, bei der Auswahl der Kleider ein Wort mitsprechen zu dürfen; indessen bequemte ich mich dabei dem Geschmack meiner anbetungswürdigen Freundin an.

Ich nötigte sie, Stoff zu vier Kleidern auszuwählen, und ich fühle noch jetzt, daß ich ihr Dank schuldete für ihre Gefälligkeit, sie anzunehmen; denn je mehr ich mir das Herz des reizenden Weibes errang, desto mehr fühlte ich mein Glück sich steigern. So verbrachten wir den ersten Tag, an welchem wir unmöglich mehr hätten tun können, als wir taten.

Als wir am Abend allein miteinander aßen, kam es mir vor, als entdeckte ich eine Wolke von Traurigkeit auf ihrem hübschen Gesicht; ich sagte es ihr.

»Mein Freund,« antwortete sie mir mit einem Ton in ihrer Stimme, der mir ins Herz drang: »du gibst viel Geld für mich aus; und wenn du es tust, damit ich dich noch mehr lieben soll, so sage ich dir zum voraus: dieses Geld ist verloren; denn ich liebe dich nicht mehr, als vorgestern, aber ich liebe dich von ganzer Seele. Alles, was du über die einfache Notwendigkeit hinaus tust, kann mir nur dadurch Vergnügen machen, daß ich immer mehr sehe, wie sehr du meiner würdig bist; aber, um dich zu lieben, wie du es verdienst, bedarf ich solcher Beweise nicht.«

»Ich glaube es, geliebte Freundin, und wünsche mir Glück zu meinem Glück, wenn du fühlst, daß deine Zärtlichkeit einer Steigerung nicht fähig ist. Aber laß auch du, angebetetes Weib, dir sagen, daß ich nur deshalb so handle, um dich immer noch mehr zu lieben, wenn mir dies möglich ist. Ich wünsche dich in dem ganzen Staat deines Geschlechts glänzen zu sehen, und wenn mich etwas bekümmert, so ist es nur das Gefühl, daß ich nicht imstande bin, dich so glänzen zu lassen, wie du es verdienst. Wenn es dir Vergnügen macht, liebe Freundin, muß ich da nicht entzückt darüber sein?«

»Du darfst nicht daran zweifeln, daß es mir großes Vergnügen macht; und in gewisser Weise hast du recht, da du gesagt hast, daß ich deine Frau bin. Aber wenn du nicht sehr reich bist, so wirst du fühlen, welche Vorwürfe ich mir machen muß.«

»Ach, mein Engel, laß mich doch, ich bitte dich, mich für reich zu halten, und glaube selber, daß du unmöglich die Ursache meines Ruins sein kannst; du bist nur zu meinem Glück geboren. Denke an weiter nichts, als daß du mich niemals verläßt, und sage mir, ob ich darauf hoffen kann.«

»Ich wünsche es, mein zärtlicher Freund, aber wer kann auf die Zukunft zählen! Bist du frei? Hängst du von irgend jemandem ab?«

»Ich bin frei im vollen Sinne des Wortes, und ich hänge von niemandem ab, als einzig und allein von dir, meine köstliche Herrin.«

»Ich wünsche dir Glück dazu, und meine Seele freut sich dessen; niemand kann dich mir entreißen, aber leider kann ich, wie du weißt, von mir nicht dasselbe sagen. Ich bin überzeugt, daß man mich sucht, denn ich weiß, daß man sich leicht meiner bemächtigen wird, sobald man mich entdeckt. Ach, wie unglücklich werde ich sein, wenn es ihnen gelingt, mich deinen Armen zu entreißen!«

»Du machst mich zittern! Kannst du dieses Unglück hier befürchten?«

»Nein – ich müßte denn von irgend jemandem gesehen werden, der mich kennt.«

»Ist es wahrscheinlich, daß dieser Irgendjemand hier in Parma ist?«

»Das scheint mir schwer möglich zu sein.«

»Dann laß uns doch nicht unsere Zärtlichkeit durch eine Furcht beunruhigen, die, wie ich hoffe, sich nicht bewahrheiten wird. Vor allem, liebenswürdige Freundin, sei fröhlich, wie du es in Cesena warst!«

»Ich will es mit aufrichtigerem Herzen sein, lieber Freund; denn in Cesena war ich unglücklich, und jetzt bin ich glücklich. Fürchte nicht, daß du mich traurig finden wirst; denn Fröhlichkeit ist der Grundzug meines Charakters.«

»Ich glaube, in Cesena mußtest du jeden Augenblick befürchten, von dem Offizier eingeholt zu werden, dem du in Rom durchgegangen warst.«

»Durchaus nicht, es war mein Schwiegervater, der, davon bin ich sicher überzeugt, nicht die geringsten Schritte getan hat, um zu erfahren, wohin ich gegangen sei. Er kann nur sehr froh gewesen sein, daß er mich los wurde. Nein, ich war unglücklich, weil ich einem Mann zur Last fiel, den ich nicht lieben konnte, mit dem ich nicht einmal einen Gedanken austauschen konnte. Obendrein konnte ich mir nicht einmal einbilden, daß ich ihn glücklich machte; denn ich hatte ihm nur eine Phantasie eingeflößt, die er auf zehn Zechinen bewertet hatte. Ich mußte fühlen, daß diese Phantasie nach ihrer Befriedigung bei seinem Alter nicht wieder erwacht war und daß ich ihm nur lästig sein konnte, denn offenbar war er nicht reich. Mein geheimer Kummer wurde noch durch eine klägliche Denkweise vermehrt: ich hielt mich für verpflichtet, ihm Liebkosungen zu erweisen, er seinerseits hielt es vielleicht für seine Pflicht, mir diese zu vergelten, und nun hatte ich Angst, er könnte seine Gesundheit opfern, und dieser Gedanke war für mich eine wahre Qual. Wir empfanden gegenseitig keine Liebe zueinander und legten uns aus Höflichkeit einen dummen Zwang auf. Wir vergeudeten an ein vermeintliches Gebot des Anstandes, was man nur der Liebe geben soll. Sehr peinlich war mir auch ein Gedanke, der mir oft die Schamröte ins Gesicht trieb: ich fürchtete, man könnte annehmen, daß der Mann mich seines Vorteils wegen mit sich führte; denn wenn ich darüber nachdachte, so mußte ich mir sagen, daß ein solches Urteil, so falsch es war, nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit entbehrte. Diesem Gefühl hast du ohne Zweifel meine Zurückhaltung zuzuschreiben; denn ich befürchtete, du möchtest diese beschimpfende Meinung von mir bekommen, wenn du in meinen Blicken den Eindruck lesen könntest, den du auf mich gemacht hattest.«

»Diese Zurückhaltung war also nicht von Stolz veranlaßt?«

»Nein, ich muß dir gestehn, dies war nicht der Fall; denn du konntest über mich nur das Urteil fällen, das ich verdiente. Ich beging die dir bekannte Torheit, weil mein Schwiegervater mich in ein Kloster stecken wollte, was durchaus nicht nach meinem Geschmack war. Übrigens, mein Freund, erlaube mir, dir meine Geschichte zu verschweigen.«

»Ich achte dein Geheimnis, mein Engel; fürchte nicht, daß ich dir in dieser Hinsicht lästig fallen werde; laß uns uns lieben und laß uns nicht durch Furcht vor der Zukunft unser gegenwärtiges Glück stören!«

Am anderen Morgen war ich nach der glücklichsten Nacht verliebter als am Tage vorher. Und so verbrachten wir drei Monate in einem Freudentaumel des Glücks.

Um neun Uhr ließ der italienische Sprachlehrer sich melden. Ich sah einen Mann von achtbarem Aussehen, höflich, bescheiden, wenig, aber gut sprechend, zurückhaltend in seinen Antworten und wohlunterrichtet nach der altmodischen Art. Wir plauderten, und ich mußte darüber lachen, daß er mir mit ganz überzeugter Miene sagte, ein Christ könne das Kopernikussche Weltsystem nur als eine gelehrte Hypothese zulassen. Ich antwortete ihm, dieses System könne nur das System Gottes sein, da es das der Natur sei, und die heilige Schrift sei nicht das Buch, woraus die Christen Physik lernen könnten.

Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, woran ich Tartüff erkannte, und wenn es sich nur um mich gehandelt hätte, so hätte ich den armen Menschen fortgeschickt; aber wenn er Henrietten unterhalten und ihr die italienische Sprache beibringen konnte, so war das alles, was ich von ihm verlangen konnte. Meine teuere Gattin sagte ihm, Sie würde ihm jeden Tag Sechs Lire für zwei Unterrichtsstunden geben: die Lira von Parma hat einen Wert von fünf französischen Sous; seine Lektionen waren also nicht teuer. Sie nahm am selben Tage ihren ersten Unterricht und gab ihm nach Beendigung desselben zwei Zechinen, um ihr einige Romane zu kaufen, deren Wert bereits anerkannt sei.

Während meine teuere Henriette ihre Stunde nahm, machte ich mir den Spaß, mit der Schneiderin zu plaudern, um mich zu vergewissern, ob wir miteinander verwandt wären.

»Welchen Beruf hat Ihr Mann?«

»Er ist Haushofmeister beim Marchese Lissa.«

»Lebt Ihr Vater noch?«

»Nein, mein Herr, er ist tot.«

»Wie lautete sein Familienname?«

»Scotti.«

»Und hat Ihr Mann noch Vater und Mutter?«

»Sein Vater ist tot, aber Seine Mutter lebt noch bei ihrem Oheim, dem Domherrn Casanova.«

Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Die gute Frau war meine Base im zweiten Grade, und ihre Kinder waren meine Neffen und Nichten. Meine Nichte Gianettina war nicht hübsch, aber sie sah aus wie ein braves Mädchen. Ich setze mein Gespräch mit der redseligen Mutter fort.

»Sind die Parmesaner zufrieden, daß sie Untertanen eines spanischen Prinzen geworden sind?«

»Zufrieden? Da müßte man leicht zufriedenzustellen sein, denn wir befinden uns in einem wahren Labyrinth. Alles ist auf den Kopf gestellt: wir wissen nicht mehr, woran wir sind. Glückliche Zeit, da das Haus Farnese regierte, du bist nicht mehr! Ich war vorgestern in der Komödie, und das ganze Haus lachte aus vollem Halse über Harlekin. Nun denken Sie sich: Don Filippo, unser neuer Herzog, der ganz gut in seinem Spanien hätte bleiben können, machte alle möglichen Anstrengungen, um sich das Lachen zu verhalten, und wenn er durchaus einmal herausplatzen mußte, steckte er das Gesicht in seinen Hut, damit man es nicht sehe; denn man sagt, das Lachen mache die Haltung eines spanischen Infanten von Spanien zuschanden, und wenn er seine Freude nicht verberge, wäre er für immer entehrt. Was sagen Sie dazu? Können solche Sitten uns passen – uns, die wir so gerne lachen? Oh! Der gute Herzog Antonio, Gott habe ihn selig, war ganz gewiß ein großer Fürst, wie dieser, und er verbarg es seinen Untertanen nicht, wenn er lustig war; denn er lachte zuweilen so herzlich, daß man ihn auf der Straße hörte. Jetzt sind wir in einen unglaublichen Wirrwarr hineingeraten, und seit drei Monaten weiß in Parma kein Mensch mehr, wieviel Uhr es ist.«

»Hat man denn die Uhren zerstört?«

»Das nicht; aber seitdem Gott die Welt erschaffen hat, ist die Sonne stets um dreiundzwanzigeinhalb untergegangen, und um vierundzwanzig Uhr hat man das Angelus geläutet: alle braven Leute wußten, daß dann die Kerze angezündet wurde. Jetzt aber ist es ganz unbegreiflich. Die Sonne ist verrückt geworden, denn sie geht jeden Tag zu verschiedener Zeit unter. Unsere Bauern wissen nicht mehr, zu welcher Stunde sie zu Markt gehen müssen. Man nennt das eine Regulierung; aber wissen Sie, warum? Weil jetzt jedermann weiß, daß man um 12 Uhr zu Mittag ißt. Eine schöne Regulierung, meiner Seel! Zur Zeit der Farnese aß man, wenn man Appetit hatte, und so war es viel besser.«

Ich fand dies Gerede freilich etwas sonderbar, aber doch vernünftig im Munde einer Frau aus dem Volke; denn ich bin in der Tat der Meinung, daß eine Regierung niemals mit Gewalt Gebräuche zerstören sollte, die durch jahrelange Gewohnheit eingewurzelt sind, und daß unschuldige Irrtümer nur Schritt um Schritt zerstört werden dürfen.

Henriette hatte keine Uhr; ich wollte mir den Genuß bereiten, ihr eine zu schenken, und ging in dieser Absicht aus; aber nachdem ich eine sehr schöne Uhr gekauft hatte, dachte ich auch an Ohrringe, einen Fächer und eine Menge hübscher Kinkerlitzchen, und kaufte diese ebenfalls. Sie empfing alle diese Gaben der Liebe mit einer feinfühlenden Zärtlichkeit, die mir eine große Wonne war. Ihr Lehrer war noch bei ihr, als ich zurückkam. »Ich hätte«, sagte er zu mir, »Madame in Heraldik, Geographie, Geschichte und sphärischer Geometrie unterrichten können, aber sie weiß das alles schon. Madame hat eine sehr sorgfältige Erziehung erhalten.«

Der Lehrer hieß Valentin de la Haye. Er sagte mir, er sei Ingenieur und Professor der Mathematik. Ich werde in diesen Memoiren viel von ihm zu sprechen haben, und mein Leser wird ihn besser durch seine Handlungen kennen lernen, als durch ein Porträt, das ich von ihm entwerfen könnte. Ich will nur soviel beiläufig sagen, daß er ein würdiger Schüler Escobars, ein wahrer Tartüff war.

Wir speisten heiter mit unserem Ungarn. Henriette war immer noch als Offizier gekleidet, und ich brannte vor Verlangen, sie als Frau zu sehen. Am nächsten Tage sollte ihr ein Kleid gebracht werden; Unterröcke und Hemden hatte sie schon.

Henriette sprühte von Geist und feinem Witz. Die Modistin, eine Lyonerin, trat eines Morgens ein und sagte: »Madame und Monsieur, ich habe die Ehre, Ihnen guten Tag zu wünschen.«

»Warum«, fragte meine Freundin sie, »sagen Sie nicht Monsieur und Madame?«

»Ich habe stets gesehen, daß man in der Welt den Damen die erste Ehre erweist.«

»Aber von wem erstreben wir diese Ehren?«

»Von den Männern natürlich.«

»Und Sie sehen nicht, daß die Frauen sich lächerlich machen, wenn sie nicht den Männern dieselben Ehren erweisen, die sie von ihnen verlangen? Damit sie es uns gegenüber niemals an Höflichkeit fehlen lassen, müssen wir darauf halten, ihnen mit gutem Beispiel voranzugehen.«

»Gnädige Frau,« sagte die feine Lyonerin, »ich halte Ihre Lektion für ausgezeichnet und werde sie mir zunutze machen; Monsieur und Madame, ich bin Ihre ergebene Dienerin.«

Dieser weibliche Zungenkampf versetzte mich in heitere Stimmung. Diejenigen, die da glauben, eine Frau genüge nicht, um einen Mann durch alle vierundzwanzig Stunden des Tages glücklich zu machen, haben niemals eine Henriette besessen. Das Glück, das mich ganz und gar erfüllte – der Ausdruck ist nicht übertrieben – war viel vollkommener, wenn ich mich mit ihr unterhielt, als wenn ich sie in meinen Armen hielt. Sie hatte viel gelesen, sie besaß viel Takt und natürlichen Geschmack; ihr Urteil war sicher, und ohne gelehrt zu sein, sprach sie logisch wie ein Mathematiker, aber leichthin und anspruchslos, und in alles mischte sie jene natürliche Anmut, die jedem Dinge Reiz verleiht. Da sie niemals die Absicht hatte, mit ihrem Geist zu prunken, so begleitete sie, wenn sie einmal eine bedeutende Bemerkung machte, diese mit einem Lächeln, das ihren Worten einen Anstrich von Frivolität gab und sie zugleich für jedermann verständlich machte. Hierdurch machte sie sogar solche Leute geistreich, die gar keinen Geist besaßen, und gewann dadurch alle Herzen. Eine Schönheit ohne Geist bietet der Liebe nur den materiellen Genuß ihrer Reize; eine geistreiche Häßliche dagegen fesselt durch die Reize ihres Geistes und läßt schließlich dem Manne, den sie für sich einnimmt, nichts mehr zu wünschen übrig. Wie mußte ich mich also fühlen, der ich eine Henriette besaß? Glücklich, dermaßen glücklich, daß ich mein Glück nicht mehr ermessen konnte!

Man frage eine Schönheit ohne Geist, ob sie gerne einen kleinen Teil ihrer Reize gegen eine hinreichende Menge Geist vertauschen wolle. Wenn sie nicht heuchelt, wird sie sagen: Nein, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, – aber warum ist sie zufrieden? Weil sie ihr Bedürfnis nicht empfindet. Man frage eine geistreiche Häßliche, ob sie ihren Geist gegen Schönheit vertauschen wolle. Sie wird ohne Zögern nein sagen. Warum? Weil sie ihren Geist kennt und weiß, daß dieser ihr alles andere ersetzt.

Eine geistreiche Frau, die nicht dazu geschaffen ist, einen Mann glücklich zu machen, ist die gelehrte Frau. Gelehrsamkeit ist für eine Frau nicht angebracht, denn sie beeinträchtigt die Sanftheit ihres Charakters, ihre Lieblichkeit, jene zarte Schüchternheit, die dem weiblichen Geschlecht so viele Reize verleiht; übrigens hat noch niemals eine Frau es im Wissen über gewisse Grenzen hinausgebracht, und der Wortschwall gelehrter Frauen imponiert nur Dummköpfen. Keine einzige große Entdeckung ist von einer Frau gemacht worden. Das weibliche Geschlecht entbehrt jener geistigen Kraft, die ein Ausfluß der körperlichen Kraft ist; aber im Ziehen einfacher Vernunftschlüsse, an Zartheit des Gefühls und an vielen Verdiensten, die mehr dem Herzen als dem Geist zuzuschreiben sind, da sind die Frauen uns weit überlegen.

Wirf einer geistvollen Frau einen Sophismus an den Kopf, sie wird ihn nicht zu erklären wissen, aber sie wird trotzdem sich nicht davon betrügen lassen; und wenn sie es dir auch nicht sagt, so wird sie dich doch fühlen lassen, daß sie etwas derartiges von sich weist. Der Mann dagegen, der diesen Sophismus unlösbar findet, nimmt ihn schließlich wörtlich, und in dieser Hinsicht ist die gelehrte Frau vollständig Mann. Welch eine schwer zu ertragende Bürde wäre eine Dacier! Gott behüte jeden braven Mann davor.

Als die Kleidermacherin kam, sagte Henriette mir, ich dürfte ihrer Umwandlung nicht beiwohnen; sie forderte mich auf, spazieren zu gehen, bis sie wieder sie selbst geworden wäre.

Ich gehorchte; denn wenn man liebt, ist es eine wahre Verdoppelung des Glückes, den geringsten Wunsch des angebeteten Wesens zu erfüllen.

Da mein Spaziergang kein bestimmtes Ziel hatte, trat ich bei einem französischen Buchhändler ein und machte dort die Bekanntschaft eines geistreichen Buckligen; und bei dieser Gelegenheit muß ich sagen, daß nichts so selten ist, wie ein Buckliger ohne Geist. Diese Erfahrung habe ich in allen Ländern gemacht. Nicht, daß der Geist bucklig machte – denn es sind, Gott sei Dank, nicht alle geistreichen Leute bucklig. Aber man kann als einen im allgemeinen gültigen Satz aufstellen, daß der Buckel Geist verleiht; denn die kleine Zahl von Buckligen, die wenig oder gar keinen Geist haben, macht die Regel nicht zu schanden. Der Bucklige, um den es sich hier handelt, hieß Dubois-Châteleraux. Er war ein geschickter Kupferstecher und zugleich Münzdirektor des Infanten-Herzogs von Parma, obgleich dieser kleine Fürst eine eigene Münze nicht besaß.

Ich verbrachte eine Stunde mit diesem geistreichen Buckligen, der mir mehrere von ihm selbst gestochene Kupfer zeigte; hierauf ging ich ins Hotel zurück, wo ich unsern Ungarn traf, der darauf wartete, daß Henriette sichtbar sein würde. Er wußte nicht, daß sie uns in Frauenkleidern empfangen würde. Die Tür öffnet sich, und eine reizende Frau begrüßt uns mit einer Verbeugung voller Anmut, die ebenso weit entfernt ist von der Steifheit wie von der Freiheit, die mit der militärischen Tracht verbunden sind. Ihr Anblick brachte uns außer Fassung: wir verloren wirklich die Haltung. Sie lud uns ein, uns an ihre Seiten zu setzen, warf dem Hauptmann einen Blick voller Freundschaft zu und drückte mir die Hand mit einer Zärtlichkeit voll innigen Gefühles, aber ohne jene äußerliche Vertraulichkeit, die ein junger Offizier sich erlauben kann, ohne der Liebe Abbruch zu tun, die sich aber für eine wohlerzogene Frau nicht schickt. Ihre edle und züchtige Haltung nötigte mich zu einem gleichen Benehmen, ohne mir darum einen Zwang anzutun; denn sie spielte keine Komödie, und da sie nur ihr natürliches Temperament wieder annahm, war es mir nicht schwierig, mich ihrem Benehmen anzupassen.

Ich betrachtete sie mit einer Art von Bewunderung. Hingerissen von einem Gefühl, über das ich mir nicht Rechenschaft abzulegen versuchte, ergriff ich ihre Hand, um sie ihr zu küssen; aber bevor ich diese an meine Lippen führen konnte, reichte sie mir ihren schönen Mund, und niemals hat ein Kuß mir so köstlich gedünkt.

»Bin ich denn nicht immer noch dieselbe?« fragte sie mich in einem Ton voll innigen Gefühles.

»Nein, meine göttliche Freundin! Sie sind es nicht mehr, in meinen Augen nicht mehr, denn es ist mir unmöglich, Sie zu duzen. Sie sind nicht mehr jener geistreiche, aber freie Offizier, der der Signora Querini antwortete, Sie spielten Pharao, Sie hielten die Bank, aber der Gewinn wäre so klein, daß es nicht der Mühe verlohne, davon zu sprechen.«

»Ganz gewiß würde ich in meinen Frauenkleidern solche Worte nicht noch einmal zu sagen wagen. Indessen, mein Freund, ich bin deswegen nicht weniger deine Henriette – Henriette, die in ihrem Leben drei tolle Streiche begangen hat, von denen ohne dich der letzte mich zugrunde gerichtet haben würde; nun aber nenne ich ihn einen reizenden tollen Streich, weil er Ursache ist, daß ich dich kennen gelernt habe.«

Diese Worte machten auf mich einen so starken Eindruck, daß ich nahe daran war, mich ihr zu Füßen zu werfen und sie dafür um Verzeihung zu bitten, daß ich sie nicht mehr respektiert hätte. Aber Henriette bemerkte meinen Zustand und begann, um diesem pathetischen Auftritt ein Ende zu machen, unseren guten Hauptmann zu schütteln, der wie ein versteinertes Bild dasaß. Er schämte sich, eine Frau dieser Art wie eine Abenteuerin behandelt zu haben, denn an eine Täuschung seiner Sinne konnte er nicht glauben. Er sah sie ganz verwirrt an und machte unaufhörlich ehrfurchtsvolle Verbeugungen, wie wenn er dadurch sein Unrecht wieder gut machen wollte. Sie aber schien ihm zu sagen, jedoch ohne den allergeringsten Vorwurf: »Es ist mir recht lieb, daß ich nach deiner jetzigen Meinung doch mehr als zehn Zechinen wert bin.«

Wir setzten uns zu Tisch, und sie spielte die Dame des Hauses mit einer Leichtigkeit des Benehmens, die von langer Gewohnheit zeugte. Sie behandelte den Hauptmann als geehrten Freund und mich als geliebten Gatten.

Der Hauptmann bat mich, ihr zu sagen, wenn er sie so in Civita vecchia gesehen hätte, als sie aus der Tartane ausstieg, wäre es ihm niemals eingefallen, seinen Cicerone zu ihr zu schicken.

»Oh! Sage ihm, davon sei ich fest überzeugt; aber es ist doch recht eigentümlich, daß ein Weiberfähnchen mehr Achtung einflößt als eine Uniform.«

»Bitte, schmähe nicht auf diese Uniform, denn ihr verdanke ich mein Glück!«

»Ja,« sagte sie zu mir mit einem liebenswürdigen Lächeln, »wie ich den Sbirren von Cesena.«

Lange blieben wir bei Tisch mit reizenden Bemerkungen, die sich alle auf unser gegenseitiges Glück bezogen; und nur die Verlegenheit, in der sich der biedere Ungar zu befinden schien, machte schließlich unserer artigen Unterhaltung und unserem Mahle ein Ende.

Dreißigstes Kapitel


Die unterirdischen Gefängnisse, genannt: I pozzi – Lorenzos Rache. – Ich trete in Briefwechsel mit einem andere Gefangenen, dem Pater Balbi; sein Charakter. – Ich verabrede mit ihm meine Flucht. – Listiges Verfahren, um ihn meinen Spieß bekommen zu lassen. – Es gelingt. – Man gibt mir einen niederträchtigen Menschen zur Gesellschaft; sein Porträt.

In diesem Zustand voll ängstlicher Erwartung und Verzweiflung befand ich mich, als zwei Sbirren mir mein Bett brachten. Sie entfernten sich sofort wieder, um das übrige zu holen; aber es vergingen mehr als zwei Stunden, bevor ich jemanden wiedersah, obgleich die Tür meines neuen Gefängnisses offen geblieben war. Diese Verzögerung war nicht natürlich, und ich machte mir eine Menge Gedanken darüber; doch konnte ich zu einer festen Meinung nicht kommen. Ich wußte nur, daß ich alles zu befürchten hatte, und diese Gewißheit veranlaßte mich, alles aufzubieten, um in einen Zustand von Ruhe zu gelangen, der mich zum Widerstand gegen jedes Mißgeschick waffnete.

Außer den Bleikammern und dem Quattro besitzen die Staatsinquisitoren noch neunzehn fürchterliche Gefängnisse. Sie befinden sich im Dogenpalast selber, unter der Erde, und sind entsetzliche Löcher für solche Unglückliche, die man nicht zum Tode verurteilen will, obgleich ihre Verbrechen sie einer solchen Strafe würdig erscheinen lassen.

Alle Richter und Herrscher der Erde haben stets gewissen Verbrechern eine große Gnade zu erweisen geglaubt, indem sie ihnen das Leben lassen, während ihre Handlungen den Tod verdient hätten. Aber oft tritt an die Stelle dieses augenblicklichen Todesschmerzes eine Lage, die nur ein unaufhörliches Leiden und darum schlimmer als der Tod ist. Vom religiösen und philosophischen Standpunkt aus kann man diese Strafumwandlungen nur dann als eine Gnade betrachten, wenn auch der Unglückliche, dem sie zuteil werden, sie als solche ansieht; aber der Verbrecher wird sehr selten befragt, und so artet die angebliche Gnade oft in eine wahre Ungerechtigkeit aus.

Diese unterirdischen Gefängnisse sind wahre Gräber; aber man nennt sie die Brunnen, weil in ihnen stets das Meerwasser zwei Fuß hoch steht; dieses dringt durch dasselbe Gitter ein, wodurch sie ein wenig Licht empfangen. Das Gitterfenster ist nur einen Quadratfuß hoch. Wenn der unglückliche Gefangene, der in diesen schmutzigen Kloaken zu leben verdammt ist, nicht beständig ein Salzwasserbad nehmen will, muß er den ganzen Tag auf einem Gestell sitzen, worauf ein Strohsack liegt und das ihm auch als Speiseschrank dient. Am Morgen gibt man ihm einen Krug Wasser, eine dünne Suppe und eine Portion Kommißbrot, das er sofort essen muß, wenn es nicht die Beute der großen Wasserratten werden soll, von denen diese entsetzlichen Höhlen wimmeln. Für gewöhnlich sind die Unglücklichen, die man in die Brunnen sperrt, auf Lebenszeit verurteilt, und zuweilen kommt es vor, daß einer ein hohes Alter erreicht. Ein Verbrecher, der in dem Brunnen starb, während ich unter den Bleidächern war, hatte siebenunddreißig Jahre dort unten verbracht, und er war vierundvierzig alt gewesen, als er gefangen gesetzt wurde. Da er überzeugt sein mußte, den Tod verdient zu haben, so hat er vielleicht die Umwandlung der Strafe als eine Gnade angesehen; denn es gibt Menschen, die nur den Tod fürchten. Er hieß Béguelin und war aus Frankreich gebürtig. Er hatte während des letzten Türkenkrieges im Jahre 1716 als Kapitän bei den Truppen der Republik gedient und stand unter dem Befehl des Marschalls Grafen Schulenburg, der den Großvezier nötigte, die Belagerung von Korfu aufzuheben. Béguelin diente dem Marschall als Spion: als Türke verkleidet ging er in das Lager der Moslin; zugleich aber bediente er auch den Großvezier. Er wurde dieser doppelten Spionage überführt, und gewiß erwies man ihm eine Gnade, indem man ihn in die Brunnen schickte, um dort zu sterben. Er hat da unten nur hungern und sich langweilen können; aber mit seinem gemeinen Charakter hat er sich vielleicht oft das Wort wiederholt: Dum vita superest bene est – wenn nur das Leben bleibt, ist alles gut.

Ich sah auf dem Spielberge in Mähren noch viel fürchterlichere Kerker; in diese brachte man aus Barmherzigkeit Verbrecher, die zum Tode verurteilt waren, und niemals hat es einer ein Jahr lang darin aushalten können. Welche Barmherzigkeit!

Während ich diese zwei tödlich langen Stunden wartete, kamen mir die düstersten Gedanken, und ich stellte mir alles mögliche Unglück vor. Natürlich bildete ich mir auch ein, man würde mich in eins dieser schrecklichen Löcher werfen, in denen der Unglückliche sich nur von trügerischen Hoffnungen nährt und ebenso unvernünftigen panischen Schrecken erliegt. Das Tribunal, das über die höchsten Höhen und über die tiefsten Tiefen des Palastes verfügt, war wohl imstande, jemanden, der dem Fegefeuer zu entrinnen versucht hatte, nunmehr in die Hölle zu schicken.

Endlich hörte ich einige Schritte, und bald sah ich Lorenzo vor mir. Sein Gesicht war ganz verzerrt vor Zorn; er schäumte vor Wut und fluchte auf Gott und alle Heiligen. Er befahl mir, ihm die Hacke und die Werkzeuge herauszugeben, mittels deren ich den Fußboden durchbrochen hätte, und ihm den Sbirren zu nennen, der sie mir geliefert hätte. Ich antwortete ihm ganz kaltblütig und ohne mich zu rühren, ich wisse nicht, von wem er spreche. Auf diese Antwort hin befahl er, mich zu durchsuchen; ich stand aber mit entschlossenem Gesicht auf, zog mich selber ganz nackt aus und rief den Halunken drohend zu: »Tut was eures Amtes ist! Aber keiner unterstehe sich, mich anzurühren!«

Man durchsuchte meine Matratzen, schüttete den Strohsack aus und befühlte die Polster meines Lehnstuhls; man fand nichts.

»Sie wollen mir nicht sagen, wo die Werkzeuge sind, mit denen Sie das Loch gemacht haben; aber man wird Mittel finden, Sie zum Sprechen zu bringen!«

»Wenn es wahr ist, daß ich irgendwo ein Loch gemacht habe, so werde ich sagen, daß Ihr selber mir die Werkzeuge dazu gegeben habt und daß ich Euch alles zurückgegeben habe.«

Diese Drohung rief bei den Knechten, die bei ihm waren und die er wahrscheinlich durch irgendwelche Bemerkungen geärgert hatte, ein beifälliges Lächeln hervor. Er stampfte mit dem Fuß, raufte sich die Haare und lief wie ein Besessener zur Tür hinaus. Seine Leute kamen wieder und brachten mir alle meine Sachen, mit Ausnahme meines Steines und meiner Lampe. Nachdem er mein Gefängnis geschlossen hatte, machte er die beiden Fenster zu, durch die ich ein wenig Luft empfing. So fand ich mich in engen Raum eingesperrt, wo ich von nirgendsher auch nur ein bißchen Luft erhalten konnte. Dies nahm ich mir aber nicht stark zu Herzen, denn ich gestehe, daß ich der Meinung war, noch gut davon gekommen zu sein. Lorenzo war ein alter erfahrener Gefängniswärter; trotzdem kam er glücklicherweise nicht auf den Gedanken, meinen Lehnstuhl umzudrehen. So besaß ich denn immer noch meinen Spieß und dankte dafür der Vorsehung; denn ich glaubte ihn immer noch als das Werkzeug des Glücks betrachten zu dürfen, das mir früher oder später meine Freiheit verschaffen würde.

Ich konnte die ganze Nacht kein Auge schließen, teils wegen der Hitze, teils wegen der gehabten Aufregung. Mit Tagesanbruch kam Lorenzo und brachte mir ungenießbaren Wein, dazu Wasser, das kein Mensch trinken konnte. Dementsprechend war auch alles übrige: der Salat war vertrocknet, das Fleisch stank, und das Brot war härter als Schiffszwieback. Er ließ mein Zimmer nicht reinigen, und als ich ihn bat, die Fenster zu öffnen, stellte er sich taub; aber ein Sbirre klopfte mit einer Eisenstange überall gegen die Wände und auf den Fußboden, ganz besonders unter dem Bett. Ich sah das alles mit unerschütterlichem Gesicht mir an; dabei entging es mir nicht, daß der Sbirre nicht gegen die Decke klopfte, und ich sagte zu mir selber, auf diesem Wege werde ich die Hölle hier verlassen. Um jedoch diesen Plan ausführen zu können, mußte ich abwarten, daß Umstände einträten, die nicht von mir abhingen; denn ich durfte nichts machen, was Lorenzos Blicken ausgesetzt war. Das Gefängnis war ganz neu; die kleinste Schramme wäre sofort von meinen Wächtern bemerkt worden.

Ich verbrachte einen fürchterlichen Tag, denn die Hitze war erstickend wie in einem Backofen, und außerdem waren die mir verabreichten Nahrungsmittel völlig ungenießbar. Das Schwitzen und der Mangel an Nahrung machten mich so schwach, daß ich weder lesen, noch umhergehen konnte. Am nächsten Tage bekam ich ebensolches Essen; vor dem fauligen Geruch des Kalbfleisches, das der Kerl mir brachte, wich ich entsetzt zurück. »Hast du,« rief ich, »Befehl erhalten, mich an Hunger und Hitze sterben zu lassen?« Er antwortete nicht und schloß meinen Kerker wieder zu. Am dritten Tage die gleiche Behandlung. Ich verlangte Bleistift und Papier, um dem Sekretär zu schreiben; keine Antwort.

Verzweifelt aß ich meine Suppe und etwas Brot in Cyperwein getunkt. Ich beschloß, Kräfte zu sammeln, um mich am nächsten Tag an Lorenzo rächen zu können. Ich wollte ihm meinen Spieß durch die Kehle stoßen. In meiner Wut schien mir kein anderer Entschluß möglich zu sein. Die Nacht beruhigte mich, und als am andern Morgen der Henkersknecht erschien, begnügte ich mich damit, ihm zu sagen, ich würde ihn töten, sobald ich wieder frei wäre. Er lachte nur ob meiner Drohung und ging wiederum hinaus, ohne den Mund aufzutun.

Ich begann zu glauben, er handle so auf Befehl des Sekretärs, dem er wahrscheinlich alles gemeldet hatte. Ich wußte nicht, was ich machen sollte: meine Geduld kämpfte mit meiner Verzweiflung. Meine Lage war fürchterlich, ich fühlte mich an Erschöpfung zugrunde gehen. Am achten Tage endlich übermannte mich die Wut: mit Donnerstimme nannte ich ihn in Gegenwart der Sbirren einen niederträchtigen Henker und befahl ihm, mir Rechnung über mein Geld abzugeben. Er antwortete mir kurz angebunden, ich würde die Abrechnung am nächsten Tage bekommen. Als er gehen wollte, ergriff ich den Kübel und tat, wie wenn ich ihn auf den Korridor ausgießen wollte. Er kam mir jedoch zuvor und befahl einem der Sbirren, mir den Kübel abzunehmen. Um den Geruch zu vertreiben, der sich unterdessen im Korridor verbreitet hatte, öffnete er ein Fenster, das er aber wieder schloß, sobald die Sache besorgt war, und ich blieb trotz meinem Geschrei in der Pestluft. Ich glaubte, daß ich diesen ekelhaften, aber unumgänglich notwendigen Dienst den Beleidigungen verdankte, die ich ihm gesagt hatte, und beschloß daher, ihn am nächsten Tage noch schlechter zu behandeln. Aber meine Wut legte sich, sobald ich ihn sah, denn bevor er mir meine Rechnung vorlegte, übergab er mir einen Korb voll Zitronen, den Herr von Bragadino mir schickte, und eine große Flasche mit Wasser, das gut zu sein schien; dazu ein sehr appetitliches gebratenes Huhn. Außerdem öffnete einer von den Sbirren die beiden Fenster. Als er mir meine Rechnung vorlegte, warf ich nur einen Blick auf die Gesamtsumme und sagte ihm, er solle den Rest seiner Frau geben mit Ausnahme einer Zechine. Diese befahl ich ihm den Sbirren zu geben, die mit ihm meine Aufwartung besorgten. Diese kleine Freigebigkeit gewann mir die Herzen der armen Teufel, die sich sehr eifrig bei mir bedankten.

Sobald Lorenzo mit mir allein war, fing er an zu sprechen: »Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie von mir selber die Werkzeuge erhalten haben, die Sie brauchten, um das Riesenloch zu machen. Danach bin ich also nicht mehr neugierig; aber würden Sie wohl die Gnade haben, mir zu sagen, wer Ihnen die notwendigen Bestandteile verschafft hat, um eine Lampe zu machen?«

»Ihr selber.«

»Oho; da bin ich paff! Was Sie da sagen, ist sehr kühn, aber nicht gescheit.«

»Ich lüge nicht. Ihr selber habt mir mit Euren Händen alles gegeben, was ich brauchte: Öl, Feuerstein, Schwefelfäden, das übrige besaß ich schon.«

»Sie haben recht; aber könnten Sie mich ebenso leicht auch davon überzeugen, daß ich Ihnen die Werkzeuge geliefert habe, um das Loch zu machen?«

»Ganz gewiß; denn ich habe alles nur von Euch erhalten.«

»Barmherzigkeit! Was höre ich da? Sagen Sie mir doch, wann ich Ihnen eine Hacke gegeben habe!«

»Ich werde Euch alles sagen und ich werde die Wahrheit sagen, aber es wird nur in Gegenwart des Sekretärs geschehen.«

»Ich will gar nichts mehr wissen, ich glaube Ihnen alles. Ich bitte Sie, schweigen Sie! Bedenken Sie, ich bin ein armer Mann und habe Kinder.« Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und ging hinaus.

Ich wünschte mir von ganzem Herzen Glück, daß ich ein Mittel gefunden hatte, den Spitzbuben in Furcht zu setzen, dem ich nach dem Willen des Schicksals das Leben kosten sollte. Ich sah, daß sein eigenes Interesse ihn nötigte, seinen Herren kein Wort von dem Vorgefallenen zu sagen.

Ich hatte Lorenzo befohlen, mir Maffeis Werke zu kaufen. Diese Ausgabe wurmte ihn, aber er wagte mir dies nicht offen herauszusagen, sondern fragte mich, warum ich denn immer noch neue Bücher brauchte, da ich schon so viele besäße.

»Ich habe alles gelesen und brauche Neues.«

»Ich werde Ihnen von einem der Gefangenen Bücher leihen lassen, wenn Sie ihm dafür die Ihrigen leihen wollen. Auf diese Weise sparen Sie Ihr Geld.«

»Es sind vielleicht Romane, und die liebe ich nicht.«

»Es sind wissenschaftliche Bücher; wenn Sie vielleicht glauben, Sie seien der einzige gute Kopf hier oben, so irren Sie sich.«

»Nun, mir soll es recht sein; wir werden sehen. Da habt Ihr ein Buch, das ich auf gut Glück herleihe. Bringt mir dafür ein anderes.«

Ich hatte ihm das Rationarium von Petau gegeben; vier Minuten später brachte er mir dafür den ersten Band von Wolff. Dies war mir recht angenehm; ich sagte ihm, ich wolle auf den Maffei verzichten, und darüber freute er sich sehr.

Mich erfreute weniger das Lesen dieser gelehrten Bücher, als die günstige Gelegenheit, eine Korrespondenz mit einem anderen anknüpfen zu können, der mir bei meinem Fluchtplan, den ich bereits im Kopf entworfen hatte, behilflich sein konnte. Sobald Lorenzo hinaus war, schlug ich das Buch auf und war außerordentlich erfreut, als ich auf einem Blatte eine Umschreibung des Senecaschen Wortes: calamitiosus est animus futuri anxius – unglücklich die Seele, die sich um künftige Sorgen quält, in sechs guten Versen fand. Ich machte sofort ebenfalls sechs, und um diese niederschreiben zu können, ersann ich folgendes Mittel: Ich hatte den Nagel. meines kleinen Fingers wachsen lassen, um ihn als Ohrlöffel benützen zu können; ich schnitt ihn spitz zu, so daß er als Feder dienen konnte. Tinte hatte ich nicht, und ich wollte mich schon in den Finger stechen, um mit meinem Blut zu schreiben, als mir plötzlich einfiel, daß ich statt Tinte auch Maulbeerensaft benutzen könnte, und solchen hatte ich. Außer den sechs Versen schrieb ich das Verzeichnis der Bücher auf, die ich besaß, und legte es in den Rücken des gleichen Buches. Man muß wissen, daß in Italien die Bücher gewöhnlich in Pergament gebunden sind und zwar so, daß beim Öffnen der Rücken eine Tasche bildet. Unter den Rückentitel schrieb ich: latet – hier ist etwas versteckt. Ich war ungeduldig, eine Antwort zu erhalten; als daher Lorenzo am anderen Morgen erschien, sagte ich ihm, ich hätte das Buch gelesen und bäte die Person, mir ein anderes zu schicken. Einen Augenblick darauf hatte ich den zweiten Band in Händen.

Kaum war ich allein, so schlug ich den Band auf und fand darin auf einem losen Blatt folgende Worte in lateinischer Sprache: »Wir sind zu zweien in demselben Gefängnis, und es macht uns den größten Spaß, zu sehen, daß die Unwissenheit eines habsüchtigen Kerkermeisters uns ein Vorrecht verschafft, das an diesem Ort beispiellos ist. Ich, der Schreiber dieses, bin Marino Balbi, venetianischer Nobile und Mitglied des Somaskenordens; mein Genosse ist der Graf Andrea Asquino ans Udine, der Hauptstadt des Friauls. Ich teile Ihnen in seinem Namen mit, daß alle Bücher, die er besitzt und deren Verzeichnis Sie im Rücken des Buches finden werden, Ihnen zu Diensten stehen; aber wir machen Sie darauf aufmerksam, mein Herr, daß wir außerordentlich vorsichtig sein müssen, um unseren Verkehr vor Lorenzo geheim zu halten.«

Es war nicht eben zu verwundern, daß wir in der Lage, worin wir uns befanden, auf den gleichen Gedanken verfielen, nämlich uns gegenseitig das Verzeichnis unseres kleinen Büchervorrats mitzuteilen, und daß wir dafür den Rücken des Buches wählten: diesen Gedanken gab uns der gesunde Menschenverstand ein; aber ich fand es eigentümlich, daß er auf einem losen Blatt Vorsicht empfahl. Es schien unmöglich zu sein, daß Lorenzo nicht das Buch öffnete; dann hätte er das Blatt gesehen, und da er es nicht lesen konnte, hätte er es in die Tasche gesteckt, um sich von irgendeinem den Inhalt sagen zu lassen. So wäre alles schon im ersten Anfang entdeckt worden. Dies ließ mich darauf schließen, daß mein Korrespondent ein recht unbesonnener Mensch sein müßte.

Nachdem ich das Bücherverzeichnis gelesen hatte schrieb ich, wer ich wäre, wie man mich verhaftet hätte, daß ich nicht wüßte, für welches Verbrechen man mich strafte, und daß ich hoffte, mich bald frei zu sehen. Balbi schrieb mir einen sechzehn Seiten langen Brief; der Graf Asquino schrieb nichts. Der Mönch erzählte mir all sein Mißgeschick: Seit vier Jahren saß er gefangen, und zwar weil er die Gunst von drei jungen Mädchen genossen hatte; er hatte von ihnen drei Kinder gehabt, die er aus Gutmütigkeit auf seinen Namen hatte taufen lassen. Das erstemal war er mit einer Strafpredigt seines Oberen davongekommen. Das zweitemal hatte man ihm eine scharfe Strafe angedroht, und das drittemal endlich hatte man ihn einsperren lassen. Der Vater Prior seines Klosters schickte ihm jeden Morgen sein Essen. Er sagte mir in seinem Brief, der Prior und das Tribunal seien Tyrannen, denn sie hätten keine Gewalt über sein Gewissen; er sei überzeugt gewesen, daß die drei Kinder von ihm seien, darum habe er als anständiger Mann sie nicht des Vorteils berauben dürfen, den ihnen vielleicht sein Name bringen könnte. Weiter sagte er mir, er habe nicht umhin gekonnt, seine Kinder öffentlich anzuerkennen, damit sie nicht verleumderischerweise anderen Vätern zugeschrieben würden, denn dies hätte dem guten Ruf der drei anständigen Mädchen geschadet, von denen er diese Kinder gehabt hätte; außerdem hätte er nicht die Stimme der Natur ersticken können, die zugunsten der unschuldigen Geschöpfe gesprochen hätte. Er schloß mit den Worten: »Es ist keine Gefahr vorhanden, daß mein Prior in denselben Fehler verfällt; denn seine Zärtlichkeit betätigt sich nur seinen Schülern gegenüber.«

Der Brief genügte, um mich den Mann kennen zu lehren. Ein sonderbarer Kauz, sinnlich, in falschen Vorstellungen befangen, boshaft, dumm, unvorsichtig, undankbar – so zeigte er sich schon in diesem ersten Brief; denn nachdem er mir gesagt hatte, er würde sich ohne den siebenzigjährigen Grafen Asquino, welcher Bücher und Geld besäße, sehr unglücklich befinden, schrieb er zwei ganze Seiten voll, um mir Böses von ihm zu sagen und mir die Fehler und Lächerlichkeiten des alten Mannes zu schildern. Als freier Mann würde ich einem Menschen von diesem Charakter nicht geantwortet haben; aber unter den Bleidächern mußte ich mir alles zunutze machen. Ich fand im Rücken des Buches Bleistift, Federn und Papier, so daß ich nunmehr ganz bequem schreiben konnte. Er schrieb mir auch genaue Mitteilungen über alle Gefangenen, die sich damals unter den Bleidächern befanden oder während seiner vierjährigen Haft dort gewesen waren. Er sagte mir, der Gefängnisknecht Niccolo kaufe ihm im geheimen alles, was er wünsche, nenne ihm die Namen der Gefangenen und erzähle ihm, was er von ihnen wisse. Zum Beweise berichtete er mir alles, was er über mein Loch erfahren hatte: Man habe mich aus meinem Gefängnis herausgenommen, um den Patrizier Priuli dort unterzubringen. Lorenzo habe zwei Stunden dazu gebraucht, den von mir angerichteten Schaden wieder auszubessern; er habe dem Tischler, dem Schlosser und allen Wächtern bei Todesstrafe verboten, ein Wort davon zu sagen. »Noch einen Tag,« hatte der Wächter gesagt, »und Casanova wäre auf sinnreiche Art entflohen, Lorenzo aber wäre an den Galgen gekommen; denn obwohl er sich beim Anblick des Loches sehr erstaunt stellte, ist es doch nicht zweifelhaft, daß nur er die erforderlichen Werkzeuge geliefert haben kann, um eine so schwierige Arbeit auszuführen. Niccolo hat mir ferner gesagt,« fuhr mein Korrespondent fort, »daß Herr von Bragadino ihm tausend Zechinen versprochen hat, wenn er Ihnen bei einer Flucht behilflich sein kann. Lorenzo aber weiß dies und hofft sich die Belohnung ohne Gefahr verdienen zu können, indem er durch seine Frau Ihre Befreiung bei Herrn Diedo erwirkt. Von den Wächtern wagt keiner über den Vorfall zu sprechen, weil jeder befürchtet, Lorenzo würde, wenn es ihm gelänge, sich auszureden, sich dadurch rächen, daß er ihn wegjagen ließe.« Der Mönch bat mich, ihm die ganze Geschichte ausführlich zu erzählen und ihm zu sagen, wie ich mir die Werkzeuge verschafft hätte; auf seine Verschwiegenheit könne ich rechnen.

An seiner Neugier zweifelte ich nicht, wohl aber sehr an seiner Verschwiegenheit, zumal schon aus seiner Bitte hervorging, daß er ein höchst indiskreter Mensch war. Indessen glaubte ich ihn gut behandeln zu müssen, denn er schien mir der Mann zu sein, alle meine Anordnungen auszuführen, um mir bei der Wiedererlangung meiner Freiheit zu helfen. Daher antwortete ich ihm. Plötzlich aber kam mir ein Verdacht, der mich veranlaßte, das von mir Geschriebene vorläufig nicht abzuschicken. Es fiel mir nämlich ein, dieser Briefwechsel könnte vielleicht ein Kniff von Lorenzo sein, um auf diese Weise zu erfahren, von wem ich die Werkzeuge erhalten und wo ich sie gelassen hätte. Um seinen Wunsch zu erfüllen, ohne mich bloßzustellen, schrieb ich ihm, ich hätte das Loch mit Hilfe eines starken Messers gemacht, das ich besäße, und das ich oben auf das Gesimse des Korridorfensters gelegt hätte. Mehr als drei Tage vergingen; ich war beruhigt, denn Lorenzo unterließ es, auf dem Gesimse nachzusuchen, was er unfehlbar getan haben würde, wenn er den Brief aufgefangen hätte. Übrigens schrieb Pater Balbi mir, er wisse, daß ich wohl ein solches Messer besitzen könne; denn Lorenzo habe ihm erzählt, daß man mich vor der Einsperrung nicht durchsucht habe. Lorenzo hätte keinen Befehl dazu empfangen; und dieser Umstand würde ihn vielleicht gerettet haben, wenn mir meine Flucht gelungen wäre; denn er behauptete: wenn er jemanden aus den Händen des Sbirrenführers erhielte, müßte er annehmen, daß er bereits durchsucht wäre. Messer-Grande seinerseits würde gesagt haben: er hätte mich aus meinem Bett steigen sehen und wäre daher sicher gewesen, daß ich keine Waffen bei mir haben konnte. Durch diesen Widerstreit wären sie vielleicht alle beide mit heiler Haut davon gekommen. Zum Schluß bat der Mönch mich, ich möchte ihm durch Niccolo, dem ich vertrauen könnte, mein Messer schicken.

Die Leichtfertigkeit des Mönches schien mir unbegreiflich. Ich schrieb ihm, ich hätte durchaus keine Neigung, mich dem Niccolo anzuvertrauen, und mein Geheimnis wäre so wichtig, daß ich es nicht zu Papier bringen könnte. Seine Briefe machten mir immerhin Spaß. In einem derselben teilte er mir mit, warum Graf Asquino unter den Bleidächern war. Es war eigentümlich, daß man ihn trotz seinem unbehilflichen körperlichen Zustand dort behielt, denn er war ungeheuer dick und konnte sich kaum bewegen, da ein gebrochenes Bein schlecht wieder angeheilt war. Der Graf, der nicht reich war, übte in Udine den Advokatenberuf aus; kraft dieses Berufes verteidigte er im Stadtrat den Bauernstand gegen den Adel, der ihm mit gewohnter Anmaßung das Stimmrecht in den Provinzialversammlungen bestreiten wollte. Die Ansprüche der Bauern störten den öffentlichen Frieden und um sie durch das Recht des Stärkeren zur Vernunft zu bringen, wandten die Adeligen sich an die Staatsinquisitoren, und diese befahlen dem gräflichen Advokaten, die Vertretung seiner Klienten niederzulegen. Der Graf antwortete, das Stadtrecht ermächtige ihn, die Verfassung zu verteidigen, und verweigerte den Gehorsam. Die Inquisitoren ließen ihn trotz dem Stadtrecht verhaften, und seit fünf Jahren atmete er die heilsame Luft der Bleigefängnisse. Er bekam wie ich täglich fünfzig Soldi, durfte aber über sein Geld verfügen. Der Mönch, der niemals einen Heller hatte, sagte mir viel Böses über den Geiz seines Kameraden. Er teilte mir ferner mit, daß in dem Gefängnis jenseits des Saales zwei Edelleute aus den Sieben Gemeinden säßen, die sich ebenfalls wegen Ungehorsams in Haft befänden; einer von diesen wäre wahnsinnig geworden und würde in Ketten gehalten. Endlich schrieb er mir noch, daß in einem anderen Gefängnis zwei Notare säßen.

Nachdem mein Verdacht gänzlich geschwunden war, hielt ich folgendes Selbstgespräch:

Ich will um jeden Preis mir die Freiheit verschaffen. Der Spieß den ich besitze, ist ausgezeichnet; aber es ist mir unmöglich, mich desselben zu bedienen, weil jeden Morgen mein ganzes Gefängnis, mit Ausnahme der Decke, mit einer Eisenstange abgeklopft wird. Will ich also aus meinem Gefängnisse herauskommen, so muß es auf dem Wege der Decke geschehen. Dazu brauche ich aber ein Loch und ein solches kann ich von unten her nicht durchbrechen, und in einem Tage läßt sich diese Arbeit nicht machen. Ich brauche einen Gehilfen, und dieser kann dann mit mir entfliehen.

Die Wahl konnte mich nicht in Verlegenheit bringen, denn sie konnte nur auf den Mönch fallen. Er war achtunddreißig Jahre alt, und wenn er auch nicht eben übermäßig klug war, so dachte ich doch, die Freiheitsliebe, das erste Bedürfnis des Menschen, würde ihm so viel Entschlossenheit leihen, daß er meine Befehle ausführen würde. Zunächst mußte ich mich entschließen, ihm alles anzuvertrauen, dann aber galt es ein Mittel auszudenken, um ihm meinen Spieß zuzustellen. Dies waren zwei schwierige Punkte.

Vor allen Dingen fragte ich ihn, ob er die Freiheit zu erlangen wünsche und ob er bereit sei, alles zu unternehmen, um sie sich mit mir zu verschaffen. Er antwortete mir, sein Kamerad und er seien zu allem bereit, um ihre Ketten zu brechen; aber er fügte hinzu, es sei zwecklos, sich mit unausführbaren Fluchtplänen den Kopf zu zerbrechen. Er füllte vier lange Seiten mit einer Aufzählung der Gründe, die nach seinem armen Verstand die Ausführung unmöglich machten; der unglückliche Mensch sah nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Ich antwortete ihm, die allgemeinen Schwierigkeiten beschäftigten mich nicht; beim Entwerfen meines Planes hätte ich nur an die besonderen Schwierigkeiten gedacht, und diese würden sich überwinden lassen. Zum Schluß gab ich ihm mein Ehrenwort, ihn frei zu machen, wenn er sich verpflichten wollte, alle meine Vorschriften buchstäblich auszuführen.

Das versprach er mir.

Ich teilte ihm nun mit, daß ich einen zwanzig Zoll langen Spieß besäße; mit diesem müßte er die Decke seines Gefängnisses durchbrechen und hierauf ein Loch in der Mauer machen, die uns voneinander trennte. Durch dieses Loch würde er auf den Boden über meinem Gefängnis gelangen; er würde die Decke durchbrechen und mir dann helfen, durch das Loch hindurch zu kommen.

»Wenn wir so weit sind, ist Ihre Arbeit getan und die meinige beginnt: Ich werde Sie und den Grafen Asquino befreien.«

Er antwortete mir: wenn er mich aus meiner Zelle befreit hätte, so wäre ich gleichwohl immer noch im Gefängnis, und unsere Lage würde sich von der jetzigen nur dadurch unterscheiden, daß wir etwas mehr Platz hätten; wir würde ganz einfach uns auf den Dachböden befinden, und diese wären durch drei starke Türen verschlossen.

»Dies weiß ich alles, mein ehrwürdiger Vater,« antwortete ich ihm; »aber wir werden auch nicht durch die Türen entfliehen. Mein Plan ist fertig, und ich bin des Erfolges gewiß. Ich verlange von Ihnen nur, daß Sie alles genau ausführen und sich aller Einwendungen enthalten. Denken Sie nur darüber nach, wie ich Ihnen am besten unser Befreiungswerkzeug zustellen kann, ohne daß der Überbringer Verdacht schöpft. Lassen Sie einstweilen durch den Kerkermeister vierzig oder fünfzig Heiligenbilder kaufen, die so groß sind, daß Sie damit die ganze Oberfläche Ihres Gefängnisses tapezieren können. Diese religiösen Bilder werden Lorenzo keinen Verdacht einflößen. Ihnen werden sie dazu dienen, das Loch zu verkleben, das Sie durch die Decke brechen müssen. Sie werden dazu mehrere Tage nötig haben, Lorenzo wird aber morgens nicht sehen können, was Sie am Tage vorher gemacht haben, denn Sie werden es mit einem Bilde zudecken. Wenn Sie mich fragen, warum ich es nicht selber mache, so antworte ich Ihnen: ich kann es nicht, weil unser Kerkermeister Verdacht auf mich hat; und dieser Grund wird Ihnen ohne Zweifel triftig erscheinen.«

Obwohl ich den Mönch gebeten hatte, über ein Mittel nachzudenken, wie ich ihm am besten den Spieß schicken könnte, so beschäftigte ich mich doch unaufhörlich auch selber damit, ein solches zu finden. Und da kam mir ein glücklicher Gedanke, den ich sofort erfaßte. Ich sagte Lorenzo, er solle mir eine grade eben erschienene Foliobibel kaufen; es war die Vulgata mit der Übersetzung der Septuaginta. Ich hoffte, meinen Spieß im Rücken des großen Bandes verbergen und so dem Mönch schicken zu können; aber als ich das Buch bekam, sah ich, daß mein Spieß um zwei Zoll zu lang war.

Mein Korrespondent hatte mir schon geschrieben, sein Gefängnis sei mit den Bildern austapeziert; ich hatte ihm meine Idee mit der Bibel mitgeteilt, und daß mir die Länge des Spießes Schwierigkeiten mache. Glücklich, auch einmal seinen Geist leuchten lassen zu können, verspottete er mich wegen der Dürre meiner Phantasie und schrieb mir: ich brauche doch einfach nur den Spieß in meinen Fuchspelz eingewickelt zu schicken. Lorenzo habe ihnen von dem schönen Pelz erzählt, und es werde gar keinen Verdacht erregen, wenn Graf Asquino den Wunsch äußere, sich ihn einmal anzusehen, weil er einen gleichen kaufen wolle. »Sie brauchen ihn mir nur zusammengefaltet zu schicken; Lorenzo wird ihn nicht öffnen.«

Ich war vom Gegenteil fest überzeugt, schon deshalb, weil ein zusammengelegter Pelz viel unbequemer zu tragen ist. Um ihn jedoch nicht zu entmutigen und ihn zugleich zu überzeugen, daß ich nicht so leichtsinnig sei wie er, schrieb ich ihm, er solle den Pelz nur holen lassen. Lorenzo bat mich darum, ich gab ihm den Pelz zusammengelegt, aber ohne den Spieß und eine Viertelstunde darauf brachte er ihn mir zurück mit dem Bescheid, die Herren hätten ihn sehr schön gefunden.

Der Mönch schrieb mir einen sehr wehleidigen Brief, worin er sich schuldig bekannte, mir einen schlechten Rat gegeben zu haben, aber er meinte, ich hätte diesen nicht befolgen sollen. Der Spieß wäre verloren, denn Lorenzo hätte den Pelz offen über dem Arm getragen. Durch dieses Unglück wäre aber jede Hoffnung vernichtet. Ich tröstete ihn, indem ich ihn über seinen Irrtum aufklärte, und bat ihn, in Zukunft weniger kühn in seinen Ratschlägen zu sein. Es mußte etwas geschehen, und ich entschloß mich daher, meinen Spieß doch unter dem Schutz der Bibel zu schicken. Dabei war allerdings eine Vorrichtung nötig, um den Träger des Riesenbuches zu verhindern, den Spieß zu entdecken. Ich machte nun folgendes:

Ich sagte Lorenzo, zur Feier des Michaelistages wolle ich Makkaroni mit Käse essen; um dem Herrn, der mir freundlicherweise seine Bücher leihe, eine Anerkennung seiner Liebenswürdigkeit zu geben, wolle ich auch ihm eine große Schüssel Makkaroni schicken, und zwar wolle ich diese selber zubereiten. Lorenzo sagte mir, der Herr Graf wünsche das große Buch zu lesen, das drei Zechinen gekostet habe; dies war zwischen uns verabredet worden.

»Sehr schön; ich werde es ihm zusammen mit den Makkaroni schicken; bringt mir nur die größte Schüssel, die Ihr im Hause habt, denn ich will die Sache im großen veranstalten.«

Er versprach mir, er wolle mich nach Wunsch bedienen. Ich wickelte meinen Spieß in Papier und brachte ihn so im Rücken der Bibel unter, daß er auf beiden Seiten genau gleich weit hervorragte. Wenn ich nun auf die Bibel eine große Schüssel Makkaroni mit viel zerlassener Butter stellte, war ich sicher, daß Lorenzo die Enden des Spießes nicht würde sehen können; denn er mußte seine Blicke auf den Rand der Schüssel heften, um keine Butter über das Buch zu gießen. Ich setzte den Pater Balbi von allem in Kenntnis, indem ich ihm besonders empfahl, beim Abnehmen des Buches nicht ungeschickt zu sein und vor allen Dingen die beiden Gegenstände gleichzeitig zu nehmen, und nicht etwa eins nach dem anderen.

Am Michaelistage kam Lorenzo früher als gewöhnlich mit einer Wärmpfanne voll von ganz heißen Makkaroni und mit allen erforderlichen Zutaten, um sie zurecht zu machen. Ich ließ ein großes Stück Butter zergehen, legte die Makkaroni auf die Schüssel und goß diese bis an den Rand mit Butter voll. Die Schüssel war riesig groß, viel größer als das Buch, worauf ich sie gestellt hatte. Dies alles vollzog sich an der Tür meines Gefängnisses; Lorenzo stand draußen auf dem Korridor.

Sobald alles fertig war, hob ich forgfältig Bibel und Schüssel hoch, und zwar so, daß der Rücken des Buches dem Träger zugewandt war. Dann sagte ich Lorenzo, er solle seine Arme ausstrecken, solle sich in acht nehmen, daß keine Butter auf das Buch laufe, und solle das ganze schnell hintragen. Während ich ihm die beträchtliche Last auf die Arme legte, sah ich ihm fest auf die Augen und bemerkte mit dem größten Vergnügen, daß er seine Blicke nicht von der Butter abwandte, die er zu verschütten fürchtete. Er sagte mir, es wäre doch besser, erst die Schüssel hinzutragen; er würde dann zurückkommen und auch das Buch holen; aber ich antwortete ihm, dadurch würde das Geschenk an Wert verlieren, und es müßte alles zusammen gehen. Hierauf beklagte er sich, ich hätte zuviel Butter an die Makkaroni getan, und er sagte mir, indem er eine komische Grimasse schnitt: wenn er Butter verschüttete, so wäre er für den Schaden nicht verantwortlich.

Sobald ich die Bibel auf den Armen des Kerls sah, fühlte ich mich des Erfolges gewiß; denn die Enden des Spießes waren nicht zu bemerken, wenn der Träger nicht eine starke Bewegung nach der Seite machte, und ich sah keinen Grund, warum er seine Augen von der Schüssel, die er doch im Gleichgewicht halten mußte, hätte abwenden sollen. Ich folgte ihm mit den Augen, bis ich ihn in den Vorraum des anderen Gefängnisses eintreten sah. Der Mönch schneuzte sich dreimal und gab mir dadurch das verabredete Zeichen, daß alles glücklich vonstatten gegangen war. Dies wurde mir von Lorenzo gleich darauf bestätigt.

Pater Balbi ging nun sofort an die Arbeit und machte in acht Tagen ein hinreichend großes Loch; dieses verbarg er hinter einem Heiligenbild, das er mit Brotkrume anheftete. Am achten Oktober schrieb er mir, er habe die ganze Nacht an der Mauer gearbeitet, die unsere beiden Gefängnisse trennten, habe aber nur einen einzigen Stein ausbrechen können. Er übertrieb die Schwierigkeit, die Ziegel loszubrechen, die durch einen sehr festen Zement verkittet waren; aber er versprach mir, die Arbeit fortzusetzen, obwohl wir dadurch unsere Lage nur verschlimmern würden. Ich antwortete ihm, ich sei des Gegenteiles gewiß, er solle mir dies glauben und ausharren. Leider war ich ganz und gar nicht sicher; aber ich mußte so handeln oder alles aufgeben. Ich wollte heraus aus der Hölle, in der mich die entsetzlichste Tyrannei gefangen hielt; weiter wußte ich nichts. Nur vorwärts! hieß es für mich; ich war entschlossen, meinen Plan durchzusetzen und erst abzulassen, wenn ich auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieße. Ich hatte in dem großen Buch der Erfahrung gelesen und hatte daraus gelernt, daß man bei großen Unternehmungen nicht zuviel bedenken darf, sondern daß man sie frisch ausführen und dabei auch darauf rechnen muß, daß bei jedem menschlichen Vorhaben das Glück das letzte Wort spricht. Hätte ich dem Pater Balbi diese hohen Geheimnisse der Moralphilosophie mitgeteilt, so hätte er mich für verrückt erklärt.

Seine Arbeit war nur in der ersten Nacht schwierig, je weiter er vordrang, desto leichter wurde sie, und schließlich hatte er sechsunddreißig Ziegel ausgehoben.

Am sechzehnten Oktober um zehn Uhr morgens hörte ich in dem Augenblick, wo ich gerade damit beschäftigt war, eine horazische Ode zu übertragen, über meinem Kopf ein Stampfen und drei leise Schläge. Dies war das verabredete Zeichen, um uns zu vergewissern, daß wir uns nicht geirrt hatten. Er arbeitete bis zum Abend und schrieb mir am nächsten Tage: wenn meine Decke nur zwei Bretter dick wäre, würde er am selben Tage mit der Arbeit fertig sein. Er gab mir die Versicherung, er würde darauf achten, daß das Loch kreisrund würde, wie ich gewünscht hatte, und daß er die Decke nicht beschädige. Dies war vor allen Dingen notwendig, denn das kleinste Loch in der Decke würde uns verraten haben. Er schrieb mir, er werde das Loch so machen, daß zur Vollendung der Arbeit dann nur eine Viertelstunde nötig sein werde. Ich setzte fest, daß ich am übernächsten Tage mein Gefängnis verlassen wollte, um es niemals wieder zu betreten; denn mit einem Kameraden fühlte ich mich gewiß, daß ich in drei oder vier Stunden ein Loch durch das Dach des Dogenpalast brechen könnte; von dort aus mußte ich dann alle Mittel benutzen, die mir der Zufall darbieten würde, um auf die ebene Erde zu gelangen. Aber ich war noch nicht so weit; mein böses Geschick hielt noch mehr als eine Schwierigkeit für mich bereit, die es zu überwinden galt. An demselben Tage, einem Montag, um zwei Uhr nachmittags hörte ich, während Pater Balbi an der Arbeit war, die Türe des neben meinem Gefängnis liegenden Saales sich öffnen. Ich fühlte all mein Blut zu Eis erstarren; doch hatte ich noch Geistesgegenwart genug, um durch zwei Schläge das verabredete Alarmzeichen zu geben, auf welches hin Pater Balbi schnell durch das Loch in der Wand kriechen, in seinen Kerker zurückkehren und alles in Ordnung bringen sollte. Weniger als eine Minute später schloß Lorenzo mein Gefängnis auf und bat mich um Verzeihung, daß er mir ein sehr schlechtes Subjekt zur Gesellschaft brächte. Dies war ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren: klein, mager, häßlich, schlecht gekleidet und mit einer schwarzen runden Perücke auf dem Kopf. Während ich ihn betrachtete, wurden ihm von zwei Sbirren die Fesseln abgenommen. Ich konnte nicht daran zweifeln, daß der Mann ein Halunke war; denn Lorenzo hatte ihn in seiner Gegenwart als solchen bezeichnet, ohne daß diese Worte einen sichtbaren Eindruck auf ihn machten. Ich antwortete ihm: »Es steht dem Tribunal vollständig frei, zu tun, was es will.« Lorenzo ließ ihm einen Strohsack bringen und sagte ihm, das Tribunal bewillige ihm zehn Soldi für den Tag; hierauf schloß er uns zusammen ein.

Ganz untröstlich über diesen bösen Streich des Schicksals, sah ich mir den Schuft an, den schon sein gemeines Gesicht als solchen verrriet. Ich war gerade im Begriff ihn zum Sprechen zu bringen, als er von selber anfing, indem er sich dafür bedankte, daß ich ihm hätte einen Strohsack geben lassen. Da ich die Absicht hatte, ihn für mich zu gewinnen, sagte ich ihm, er könne mit mir essen; er küßte mir die Hand und fragte mich, ob er trotzdem die zehn Soldi bekommen könnte, die das Tribunal ihm angewiesen hätte; ich bejahte dies. Hierauf warf er sich auf die Knie, zog einen riesigen Rosenkranz aus der Tasche und sah sich in allen Ecken des Gefängnisses um.

»Was sucht Ihr?«

»Sie werden mir verzeihen, Herr – aber ich suche irgendein Bild der heiligen Jungfrau, denn ich bin Christ. Wenn doch nur ein armseliges, kleines Kruzifix hier wäre; denn ich habe es niemals so nötig gehabt, mich dem heiligen Franz von Assisi zu empfehlen, dessen Namen ich unwürdigerweise trage.«

Ich konnte mir kaum das Lachen verhalten; nicht wegen seiner christlichen Frömmigkeit – denn in Gewissens- und Glaubenssachen hat kein Mensch das Recht sich einzumischen – sondern wegen seiner eigentümlichen Ausdrucksweise. Ich sah, daß er mich für einen Juden hielt. Und um ihm seinen Irrtum zu benehmen, gab ich ihm schnell das Gebet der heiligen Jungfrau. Er küßte ihr darauf befindliches Bild, gab mir aber das Blatt zurück und sagte mir in bescheidenem Tone, sein Vater, der Galerenaufseher gewesen sei, habe es verabsäumt, ihn lesen lernen zu lassen. Er fügte hinzu, er sei Anhänger des heiligen Rosenkranzes, und erzählte mir eine Menge von Wundergeschichten, die ich mit einer Engelsgeduld anhörte. Er bat mich, ihm zu gestatten, daß er seinen Rosenkranz bete und dabei das Bild der Jungfrau ansehe. Als er damit fertig war, fragte ich ihn, ob er zu Mittag gegessen habe; er antwortete, er sei halbtot vor Hunger. Ich gab ihm alles, was ich hatte, und er verschlang es förmlich. Dazu trank er allen meinen Wein aus, und als er betrunken war, fing er an zu weinen und allen möglichen Unsinn zu schwatzen. Ich fragte ihn nach der Ursache seines Unglücks, und er erzählte mir folgendes:

»Meine einzige Leidenschaft war stets der Ruhm Gottes und unserer heiligen Republik und pünktliche Befolgung ihrer Gesetze. Ich war stets aufmerksam auf die Übeltaten der Schelme, deren Gewerbe es ist, Leute zu betrügen, die Gebote des Staates zu übertreten und ihre Handlungen im Verborgenen zu begehen. Darum habe ich beständig getrachtet, ihre Geheimnisse zu entdecken, und habe stets alles, was ich entdecken konnte, getreulich dem Messer-Grande hinterbracht. Allerdings hat man mich stets dafür bezahlt; aber das Geld, das man mir gab, machte mir niemals soviel Freude wie die Genugtuung, die ich darüber empfand, etwas zum Ruhme des allerseligsten San Marco beitragen zu können. Stets lachte ich über das Vorurteil der Leute, die im Gewerbe eines Spions eine Schande sehen wollen. Dieser Name hat einen schlechten Klang nur in den Ohren solcher, die die Regierung nicht lieben; denn der Spion ist ein Freund des Staatswohles, eine Geißel der Verbrecher und ein treuer Untertan seines Fürsten. Wenn es galt, meinen Eifer auf die Probe zu stellen, hat das Gefühl der Freundschaft, das bei anderen Leuten vielleicht mitspricht, auf mich niemals den geringsten Einfluß geübt, noch weniger die sogenannte Dankbarkeit. Oft habe ich Verschwiegenheit geschworen, um irgend jemandem ein wichtiges Geheimnis zu entlocken, das ich dann gewissenhaft sofort hinterbracht habe. Dies konnte ich mit gutem Gewissen tun; denn mein Beichtvater, ein frommer Jesuit, hatte mir versichert, ich könnte das Geheimnis angeben, nicht nur deshalb, weil ich nicht die Absicht gehabt hätte, es zu bewahren, sondern auch, weil kein Eid bindend wäre, wenn es sich um das öffentliche Wohl handelte. Ich fühle, ich würde in meinem Eifer meinen eigenen Vater verraten und die Stimme der Natur zum Schweigen gebracht haben. Vor drei Wochen bemerkte ich, daß auf der kleinen Insel Isola, wo ich wohnte, zwischen vier oder fünf angesehenen Personen des Städtchens ein verdächtiger Verkehr stattfand. Ich wußte, daß sie mit der Regierung unzufrieden waren, weil die vornehmsten unter ihnen wegen einer entdeckten und beschlagnahmten Schmuggelware eine Gefängnisstrafe erlitten hatten. Der erste Kaplan, ein gebürtiger österreichischer Untertan, gehörte mit zur Verschwörung. Sie trafen sich abends im Wirtshaus in einem Zimmer, worin auch ein Bett stand; dort zechten und plauderten sie, bis sie nach Hause gingen. Entschlossen, die von ihnen geplante Verschwörung zu entdecken, faßte ich mir Mut und versteckte mich eines Tages, als ich sicher war von keinem Menschen gesehen werden zu können, unter dem Bett. Gegen Abend kamen meine Leute und begannen sofort ihr Gespräch. Sie sagten unter anderem, die Stadt Isola gehöre nicht zur Gerichtsbarkeit des heiligen Markus, sondern vielmehr zu der des Fürstentums Triest; denn sie könne keinesfalls als zum venetianischen Istrien gehörend angesehen werden. Der Kaplan sagte zum Leiter der Verschwörung, einem gewissen Pietro Paolo, wenn er und die anderen eine Schrift unterzeichnen wollten, so würde er persönlich zum kaiserlichen Botschafter gehen, und die Kaiserin würde nicht nur die Stadt in Besitz nehmen, sondern obendrein ihnen eine Belohnung bewilligen. Alle erklärten sich bereit, und der Kaplan erbot sich, am nächsten Tage die Schrift mitzubringen und dann sofort nach Venedig abzureisen, um sie dem Botschafter zu übergeben.

Ich beschloß diesen niederträchtigen Plan zu vereiteln, obgleich einer der Verschworenen mein Gevatter war und infolge dieser geistlichen Verwandtschaft mir näher stand, wie wenn er mein leiblicher Bruder gewesen wäre.

Als die Verschwörer fortgegangen waren, hatte ich Zeit genug, mich in Sicherheit zu bringen. Ich hielt es nicht für notwendig, mich noch ein zweites Mal zu verstecken und dadurch einer Gefahr auszusetzen, denn ich hatte genug entdeckt. Ich segelte noch in derselben Nacht ab und kam am nächsten Vormittag an. Ich ließ mir die Namen der sechs Rebellen aufschreiben, brachte sie dem Sekretär des Tribunals und erzählte ihnm alles, was ich gehört hatte. Er befahl mir, am nächsten Morgen in aller Frühe zu Messer-Grande zu gehen; dieser würde mir einen Menschen mitgeben, mit dem ich nach Isola zurückfahren sollte; ich müßte ihm den Kaplan zeigen, der wahrscheinlich noch nicht abgereist sein würde. Hierauf sollte ich mich um nichts mehr kümmern.

Ich führte seinen Befehl aus und zeigte dem mir von Messer- Grande mitgegebenen Mann den Kaplan; dann ging ich meinen Geschäften nach.

Nach dem Essen ließ mein Gevatter mich rufen, um ihn zu rasieren, denn ich bin Barbier; und als ich meine Arbeit getan hatte, gab er mir ein ausgezeichnetes Glas Refosco mit einigen Scheiben Wurst und jauste mit mir in guter Freundschaft. Da fiel es mir auf die Seele, daß er mein Gevatter war; unter echten Tränen ergriff ich seinen Arm und riet ihm, den Umgang mit dem Kaplan zu meiden und vor allen Dingen die bewußte Schrift nicht zu unterzeichnen. Er sagte mir, er sei mit dem Kaplan nicht mehr befreundet als mit irgendeinem anderen und schwor, auch er wisse nicht, von was für einer Schrift ich sprechen wolle, worauf ich ihm lachend sagte, ich hätte nur gescherzt. Ich ärgerte mich, einer augenblicklichen Rührung nachgegeben und dadurch einen so großen Fehler begangen zu haben. Am anderen Tage war weder der Mann noch der Kaplan zu sehen; acht Tage darauf fuhr ich nach Venedig und besuchte Messer-Grande, der mich ohne Umstände einsperren ließ; und so bin ich nun hier bei Ihnen, teurer Meister. Ich danke dem heiligen Franziskus, daß ich mich in der Gesellschaft eines guten Christen befinde, der hier aus Gründen sitzt, die ich nicht zu wissen brauche, denn ich bin nicht neugierig. Mein Name ist Soradaci, und meine Frau ist eine Legrenzi, Tochter eines Sekretärs des Rates der Zehn, die sich über das Vorurteil hinweggesetzt und mich der ganzen Welt zum Trotz geheiratet hat. Sie wird in Verzweiflung sein, da sie nicht weiß, was aus mir geworden ist; ich hoffe aber nur wenige Tage hier oben zu sein, denn ich kann hier wohl nur sein, weil der Sekretär mich zu seiner Bequemlichkeit hat einsperren lassen, um mich nach seinem Gutdünken jederzeit verhören zu können.«

Ich schauderte bei dem Gedanken, mit welchem Ungeheuer ich zusammen war, aber ich fühlte zugleich, daß ich mich in einer heiklen Lage befand und ihn schonen mußte. Darum heuchelte ich wie ein Jesuit gefühlvolle Teilnahme, beklagte ihn, pries seine Vaterlandsliebe und prophezeite ihm, er werde in wenigen Tagen wieder frei sein. Ein paar Augenblicke später schlief er ein, und ich machte mir seinen Schlaf zunutze, um dem Vater Balbi alles zu erzählen und ihm klar zu machen, daß wir unbedingt unsere Arbeit unterbrechen müßten, um sie erst bei günstigerer Gelegenheit wieder aufzunehmen. Am nächsten Tage befahl ich Lorenzo, mir ein hölzernes Kruzifix, ein Bild der heiligen Jungfrau und das Porträt des heiligen Franziskus zu kaufen und mir zwei Flaschen Weihwasser mitzubringen. Soradaci verlangte von ihm seine zehn Soldi, und Lorenzo gab ihm mit verächtlicher Miene zwanzig. Ich trug ihm auf, mir in Zukunft viermal so viel Wein zu kaufen, dazu Knoblauch und Salz, Leckerbissen für meinen greulichen Kameraden. Als der Kerkermeister fort war, zog ich geschickt Balbis neuesten Brief aus dem Buch. Er schilderte mir darin sein Entsetzen. Er hatte geglaubt, alles sei verloren, und er wiederholte immer von neuem, welches Glück wir gehabt hätten, daß Lorenzo den Soradaci zu mir gebracht hätte. »Denn«, schrieb er, »wenn er ihn in unser Gefängnis gebracht hätte, würde er mich nicht gefunden haben, und dann wären vielleicht zum Lohn für unseren Fluchtversuch die Brunnen unser Los gewesen.«

Aus Soradacis Erzählung ging für mich unzweifelhaft hervor, daß man ihn verhören würde; denn es schien mir klar zu sein, daß der Sekretär ihn nur deshalb eingesperrt hatte, weil er ihn in Verdacht der Verleumdung hatte. Ich entschloß mich nun, ihm zwei Briefe anzuvertrauen, die mir, wenn sie bestellt wurden, weder nützen noch schaden konnten, die aber zu meinen Gunsten wirken mußten, wenn der Verräter, woran ich nicht zweifelte, sie dem Sekretär auslieferte, um ihm einen Beweis seiner Treue abzulegen.

Ich verbrachte zwei Stunden damit, diese beiden Briefe mit Bleistift zu schreiben. Am nächsten Tage brachte Lorenzo mir das Kruzifix, die beiden Bilder und das Weihwasser. Ich gab meinem Halunken tüchtig zu essen und sagte ihm dann: »Ich erwarte von Euch einen Dienst, wovon mein Glück abhängt; ich rechne auf Eure Freundschaft und auf Euren Mut; hier sind zwei Briefe, die ich Euch zu bestellen bitte, sobald Ihr in Freiheit seid. Mein Glück hängt von Eurer Treue ab; Ihr müßt diese Briefe verstecken, denn wenn man sie bei Eurer Freilassung in Eurem Besitz fände, wären wir alle beide verloren. Ihr müßt mir bei diesem Kruzifix und bei diesen Heiligenbildern schwören, daß Ihr mich nicht verraten werdet.«

»Ich bin bereit, Herr, alles zu schwören, was Sie verlangen; ich bin Ihnen zu sehr zu Dank verpflichtet, als daß ich Sie verraten könnte.«

Hierauf vergoß er reichliche Tränen, jammerte und wehklagte, er wäre ein unglücklicher Mensch, daß ich ihn im Verdacht haben könnte, einen Herrn verraten zu wollen, für den er sein Leben hingeben würde. Ich wußte, was ich davon zu halten hatte, aber ich spielte meine Komödie weiter. Ich gab ihm ein Hemd und eine Mütze, entblößte meinen Kopf und besprengte unsern Kerker und ihn selber lange reichlich mit Weihwasser. Dann ließ ich ihn unter sinnlosen Beschwörungen, die aber gerade darum seine Seele in Schrecken setzen mußten, einen furchtbaren Eid schwören. Nachdem er sich mittels dieser possenhaften Zeremonie eidlich verpflichtet hatte, meine Briefe an ihre Adresse zu bestellen, gab ich sie ihm. Er selber schlug vor, sie in das Rückenfutter seiner Weste einzunähen; ich ließ ihn gewähren.

Ich war fest überzeugt, daß er bei der ersten Gelegenheit dem Sekretär meine Briefe ausliefern würde; darum hatte ich sie mit aller Kunst so abgefaßt, daß ihr Stil nicht meine List verraten konnte; sie konnte mir nur die Achtung des Tribunals und vielleicht dessen Gnade eintragen. Der eine war an Herrn von Bragadino überschrieben, der andere an Herrn Grimani. Ich sagte ihnen, sie möchten sich nicht über mein Schicksal beunruhigen, denn ich hätte allen Grund zur Hoffnung auf baldige Befreiung; wenn ich herauskäme, würden sie finden, daß die Strafe nur zu meinem Besten gewesen wäre; denn in ganz Venedig wäre kein Mensch, der der Besserung mehr bedürftig gewesen wäre als ich.

Ich bat Herrn von Bragadino, mir Pelzstiefel für den Winter zn schicken, denn mein jetziges Gefängnis wäre so hoch, daß ich aufrecht stehen und darin herumgehen könne.

Ich hütete mich wohl, den Soradaci ahnen zu lassen, daß meine Briefe so unschuldiger Natur waren; denn dann hätte er Lust bekommen können, eine anständige Handlung zu begehen und sie an ihre Adresse zu bestellen, und das wünschte ich durchaus nicht. Im nächsten Kapitel, lieber Leser, wirst du sehen, ob ein Eid auf die schwarze Seele meines gräßlichen Kameraden irgendwelche Wirkung üben konnte und wie sich das alte Wort bewährte: In vino veritas – im Wein ist Wahrheit. Der gemeine Mensch hatte sich in seiner Erzählung genau so geschildert, wie er war.

Einunddreißigstes Kapitel


Soradacis Verrat. – Ich mache ihn dumm. – Pater Balbi vollendet glücklich seine Arbeit. – Ich verlasse mein Gefängnis. – Unangebrachte Bedenken des Grafen Asquino. – Aufbruch zur Flucht.

Seit zwei oder drei Tagen hatte Soradaci meine Briefe, als eines Nachmittags Lorenzo ihn holte, um ihn vor den Sekretär zu führen. Da er mehrere Stunden ausblieb, hoffte ich schon, ihn nicht wieder zu sehen, aber zu meiner großen Überraschung brachte man mir ihn gegen Abend zurück. Als Lorenzo wieder fortgegangen war, sagte der Kerl zu mir, der Sekretär habe ihn im Verdacht, den Kaplan gewarnt zu haben; denn der Priester sei niemals beim Gesandten gewesen und man habe kein Schriftstück bei ihm gefunden. Nach einem sehr langen Verhör habe man ihn in einen engen Kerker gebracht und ihn mehrere Stunden dort gelassen; dann habe man ihn abermals gefesselt und in Ketten vor den Sekretär geführt, dieser habe von ihm verlangt, er solle gestehen, daß er in Isola zu jemandem gesagt habe, der Priester werde nicht wiederkommen; dies habe er jedoch nicht gestehen können, denn so etwas habe er zu keinem Menschen gesagt. Der Sekretär sei der Sache müde geworden, habe geklingelt, und er sei von den Sbirren wieder zu mir gebracht worden.

Diese Erzählung betrübte mich tief; denn ich sah klar und deutlich, daß der Unselige lange bei mir bleiben würde. Da ich Balbi von dem bösen Mißgeschick in Kenntnis setzen mußte, schrieb ich ihm während der Nacht; und da ich dies mehr als einmal tun mußte, gelang es mir schließlich durch die Übung, ziemlich richtig im Dunkeln zu schreiben.

Am anderen Tage wollte ich mich überzeugen, daß ich mich in meinem Verdacht nicht getäuscht hatte. Ich sagte dem Spion, er sollte mir den Brief herausgeben, den ich an Herrn von Bragadino geschrieben hätte; ich müßte noch etwas hinzufügen. »Ihr könnt ihn dann sofort wieder einnähen.«

»Das ist gefährlich, denn der Schließer könnte während dieser Zeit kommen, und dann wären wir verloren.«

»Das macht nichts; gebt mir meine Briefe heraus.« Plötzlich warf das Scheusal sich mir zu Füßen, und schwor mir, bei seiner zweiten Vorführung vor den gestrengen Sekretär habe ihn ein heftiges Zittern befallen und er habe auf seinem Rücken, genau an der Stelle, wo die Briefe eingenäht gewesen seien, einen unerträglichen Druck verspürt. Der Sekretär habe ihn gefragt, warum er so zittere, und er habe nicht die Kraft gehabt, ihm die Wahrheit zu verhehlen. Dann habe der Sekretär geschellt, Lorenzo sei hereingekommen, habe ihm die Fesseln abgenommen, die Jacke ausgezogen und das Futter ausgetrennt. Der Sekretär habe die beiden Briefe gelesen und in eine Schublade seines Schreibtisches gelegt. Der Herr Sekretär habe ihm gesagt, wenn er die Briefe bestellt hätte, so würde man es erfahren haben, und das hätte ihm das Leben kosten können.

Ich tat, als würde mir schlecht, bedeckte mein Gesicht mit den Händen, warf mich neben dem Bett vor dem Bilde der Jungfrau auf die Knie und verlangte von ihr in feierlichem Tone Rache an dem Schurken, der den heiligsten Eid gebrochen und mich verraten hätte. Hierauf legte ich mich auf mein Bett, drehte das Gesicht nach der Wand und besaß die Ausdauer, den ganzen Tag in dieser Stellung zu bleiben, ohne mich zu rühren, ohne auch nur ein Wort zu sprechen und ohne auf das Weinen, das Geschrei und die Unschuldsbeteuerungen des Halunken zu achten. Ich spielte ausgezeichnet meine Rolle in einer Komödie, deren Plan ich vollständig in meinem Kopf hatte. Während der Nacht schrieb ich Balbi, er solle Punkt ein Uhr mittags kommen, keine Minute früher oder später und in seiner Arbeit fortfahren, aber nur vier Stunden arbeiten, nicht eine Minute länger. »Unsere Freiheit hängt von Ihrer genauesten Pünktlichkeit ab, und Sie haben nichts zu befürchten.«

Wir hatten den fünfundzwanzigsten Oktober, und es nahte der Zeitpunkt, wo ich meinen Plan ausführen oder ihn unwiderruflich aufgeben mußte. Die Staatsinquisitoren und der Sekretär verbrachten jedes Jahr die ersten drei Tage des Novembers an irgendeinem Ort des Festlandes. Lorenzo machte sich die Abwesenheit seiner Herren zunutze, betrank sich jeden Abend, schlief länger als sonst und erschien erst spät unter den Bleidächern.

Dies wußte ich, und die Vorsicht verlangte, daß ich diesen Zeitpunkt zu meiner Flucht wählte; denn ich konnte überzeugt sein, daß meine Flucht erst spät am Morgen bemerkt wurde.

Daß ich meinen Entschluß faßte, obgleich ich an der Verruchtheit meines Mitgefangenen nicht mehr zweifeln konnte, hatte noch einen anderen Grund, der mir wichtig genug erscheint, um ihn meinen Lesern nicht vorzuenthalten.

Der größte Trost für einen Menschen, der sich in Not befindet, ist die Hoffnung, bald daraus befreit zu werden. Er sehnt das Ende seines Unglücks herbei und glaubt es durch seine Gebete zu beschleunigen; er würde alles mögliche tun, um genau die Stunde zu erfahren, die das Ende seiner Qual bedeutet. Leider kann niemand wissen, in welchem Augenblick ein Ereignis eintreten wird, das von dem Willen eines anderen abhängt, es sei denn, daß dieser andere selbst es ihm sagt. Der leidende Mensch wird ungeduldig und schwach und neigt unwillkürlich zum Aberglauben. Gott, sagt er zu sich, muß den Augenblick wissen, der meiner Not ein Ende machen wird; Gott kann erlauben, daß dieser Augenblick mir geoffenbart wird, einerlei, auf welche Weise. Wenn er erst einmal auf solche Gedanken verfallen ist, zögert er nicht mehr, das Schicksal zu befragen. Er wählt dazu ein Verfahren, das ihm seine Phantasie eingibt, und es kommt nicht darauf an, ob er mehr oder weniger fest an die Offenbarungen des von ihm gewählten Orakels glaubt. In diesem Geiste handelten die meisten von denen, die die Pythia oder die Eichen des Waldes von Dodona um Rat fragten; dieser Geist treibt auch in unsern Tagen diejenigen, die sich an die Kabbala wenden, oder die gewünschte Erleuchtung in einem Verse der Bibel oder des Virgil suchen, wodurch die Virgilianen so berühmt wurden, von denen so viele Schriftsteller uns berichten; derselbe Geist endlich beseelt auch die, welche fest überzeugt sind, durch die zufällige oder auf Berechnung beruhende Kombination eines elenden Spiels Karten Aufklärung aller ihrer Zweifel zu erhalten.

In dieser Geistesverfassung befand ich mich. Da ich jedoch nicht wußte, durch welche Methode ich das Schicksal zwingen könnte, durch die Bibel das mir bestimmte Los, das heißt, den Augenblick der Wiedererlangung des unvergleichlichen Gutes der Freiheit, zu erfahren, so entschloß ich mich, das göttliche Gedicht des Meisters Lodovico Ariosto zu befragen: Ich hatte den »Rasenden Roland« hundertmal gelesen. Ich wußte ihn auswendig und selbst unter den Bleidächern entzückte er mich. Abgöttisch verehrte ich den Genius des großen Dichters, und er war nach meiner Meinung viel mehr als Virgil geeignet, mir mein Glück zu prophezeien.

In diesem Sinne schrieb ich eine Frage auf, die an die vermeinliche Allwissenheit gerichtet war. Ich fragte sie, in welchem Gesange des Ariosto ich den Tag meiner Befreiung prophezeit finden würde. Ich bildete aus den Zahlen, die sich aus den Worten der Frage ergaben, eine umgekehrte Pyramide. Indem ich von jedem Zahlenpaar die Zahl neun abzog, fand ich die Endzahl Neun. Dies bedeutete also, daß die von mir gesuchte Prophezeiung sich im neunten Gesange befinden sollte. Dieselbe Methode befolgte ich, um Stanze und Vers festzustehen, und erhielt die Zahl Sieben für die Stanze und die Zahl Eins für den Vers.

Ich nahm das Gedicht zur Hand, und das Herz klopfte mir so, wie wenn ich völlig an das Orakel geglaubt hätte. Ich öffnete das Buch, suchte und fand die Stelle: Fra il fin d’ottobre è il capo di novembre. Das genaue Zutreffen dieses Verses erschien mir wunderbar. Ich will nicht sagen, daß ich ganz fest daran glaubte, aber der Leser wird begreifen, daß ich alles aufbot, um das Orakel wahr zu machen. Das Eigentümliche an der Sache ist, daß zwischen dem Ende des Oktobers und dem Anfang des Novembers nur der Augenblick der Mitternacht liegt. Und genau mit dem Glockenschlage der Mitternacht vom einunddreißigsten Oktober auf den ersten November verließ ich mein Gefängnis, wie der Leser bald sehen wird.

Übrigens bitte ich den Leser, mich trotz dieser Auseinandersetzung nicht für abergläubischer halten zu wollen als irgend einen anderen; er würde sich täuschen. Ich erzähle die Sache, weil sie wahr und weil sie außerordentlich ist und weil mir meine Flucht vielleicht nicht gelungen sein würde, wenn ich ihr keinen Wert beigemessen hätte. Der Fall lehrt jeden, der es noch nicht weiß, daß ohne die vorangegangenen Prophezeiungen mehrere wichtige Ereignisse niemals stattgefunden haben würden. Das Ereignis leistet der Prophezeiung den Dienst, die Prophezeiung wahr zu machen; tritt das Ereignis nicht ein, so wird die Weissagung hinfällig. Ich verweise den Leser auf die Weltgeschichte, wo er viele Ereignisse finden wird, die niemals eingetreten wären, wenn sie nicht vorhergesagt gewesen wären. Ich bitte, mir diese Abschweifung freundlichst zu verzeihen.

Den ganzen Morgen bis zum Mittag verbrachte ich damit, auf den Geist des boshaften dummen Viehs einzuwirken, um seine schwache Vernunft in Verwirrung zu bringen, ihn durch wunderbare Vorstellungen zu verblüffen und ihn unschädlich für mich zu machen.

Sobald Lorenzo uns allein gelassen hatte, sagte ich Soradaci, er solle seine Suppe essen. Der Schuft lag auf seinem Strohsack und hatte zu Lorenzo gesagt, er sei krank. Er hätte es nicht gewagt, zu mir zu kommen, wenn ich ihn nicht gerufen hätte. Er stand auf, warf sich der Länge nach vor meine Füße, küßte diese und sagte unter heißen Tränen, wenn ich ihm nicht verziehe, würde er an demselben Tage sterben müssen, denn er spürte schon die Rache der heiligen Jungfrau, die ich auf ihn herabbeschworen hätte. Er hätte schneidende Schmerzen in den Eingeweiden und sein Mund wäre voll von Geschwüren. Er zeigte mir diese, und ich sah, daß es Mundschwämmchen waren; ob er sie schon am Tage vorher gehabt hatte, weiß ich nicht. Ich gab mir keine große Mühe zu untersuchen, ob er mir die Wahrheit sagte; es lag in meinem Interesse, mich so zu stellen, als ob ich ihm glaubte, und ihn auf Gnade hoffen zu lassen. Der Verräter hatte vielleicht die Absicht, mich zu betrügen; und da ich selbst entschlossen war, ihn zu betrügen, so kam es darauf an, wer von uns beiden der geschicktere sei. Ich hatte einen Angriff gegen ihn vorbereitet, gegen den er sich schwerlich verteidigen konnte.

Eine verzückte Miene annehmend, sagte ich zu ihm: ›Setze dich und iß deine Suppe. Nachher werde ich dir dein Glück verkünden. Denn wisse, heute bei Tagesanbruch ist mir die heilige Jungfrau des Rosenkranzes erschienen und hat mir befohlen, dir zu verzeihen. Du wirst nicht sterben, sondern wirst mit mir das Gefängnis verlassen.‹

Ganz verblüfft aß er knieend – denn er hatte keinen Stuhl – seine Suppe. Dann setzte er sich auf seinen Strohsack, um mich anzuhören. Ich sagte ihn ungefähr folgendes:

»Der Kummer über deinen entsetzlichen Verrat bereitete mir eine schlaflose Nacht; denn meine Briefe müssen mich dazu verdammen, bis an mein Lebensende im Kerker zu bleiben. Erfüllt von diesem Gefühl, das eines Christen unwürdig ist – denn Gott befiehlt uns, zu vergeben – lag ich in meinem Bett; endlich versank ich vor Müdigkeit in Schlaf, und während dieses glücklichen Schlummers habe ich eine wirkliche Vision gehabt. Ich habe die heilige Jungfrau gesehen, diese Mutter Gottes, deren Bild du dort an der Wand siehst. Ich sah sie lebend vor mir stehen, und sie öffnete den Mund und sprach folgendermaßen zu mir:

›Soradaci ist Anhänger meines heiligen Rosenkranzes – er steht unter meinem Schutz, ich will, daß du ihm vergibst; dann wird der Fluch, den er auf sich gelenkt hat, seine Wirkung verlieren. Zur Belohnung für deine Großmut werde ich einem meiner Engel befehlen, menschliche Gestalt anzunehmen und vom Himmel herabzusteigen, um die Decke deines Gefängnisses zu durchbrechen und dich in fünf oder sechs Tagen frei zu machen. Dieser Engel wird heute mittag Punkt ein Uhr seine Arbeit beginnen und wird eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang aufhören, denn er muß noch bei hellem Tage in den Himmel zurückkehren. Wenn du, begleitet von meinem Engel, das Gefängnis verläßt, wirst du Soradaci mitnehmen und wirst für ihn sorgen, doch unter der Bedingung, daß er sein Spionengewerbe aufgibt. Du wirst ihm alles sagen.‹

Mit diesen Worten verschwand die heilige Jungfrau, und ich erwachte.«

Während ich im Tone eines Verzückten und mit dem ernstesten Gesicht diese Worte sprach, beobachtete ich die Züge des Verräters. Er saß da wie versteinert. Ich nahm nun mein Gebetbuch, besprengte das ganze Gefängnis mit Weihwasser und stellte mich, wie wenn ich zu Gott betete, wobei ich von Zeit zu Zeit das Bild der Jungfrau küßte. Eine Stunde darauf fragte mich der Kerl, der bis dahin nicht den Mund aufgetan hatte, ganz plötzlich, wann der Engel vom Himmel herunter kommen würde und ob wir das Geräusch hören würden, das er beim Durchbrechen unseres Kerkers machen müßte.

»Ich bin sicher, er wird um ein Uhr kommen; wir werden ihn arbeiten hören, und er wird zu der von der heiligen Jungfrau gesagten Zeit sich entfernen.«

»Sie haben vielleicht nur geträumt.«

»Ganz gewiß nicht. Fühlst du dich imstande, mir zu schwören, daß du das Spionieren aufgeben wirst?«

Statt mir zu antworten, drehte er sich um und schlief ein. Er erwachte erst nach zwei Stunden und fragte mich sofort, ob er den von mir verlangten Eid noch aufschieben könnte.

»Du kannst ihn aufschieben, bis der Engel kommt, um mich zu befreien; aber wenn du dann nicht unter deinem Eide deinem niederträchtigen Gewerbe entsagst, das dich hierher gebracht und dich noch an den Galgen bringen wird, so werde ich dich hier lassen. So lautet der Befehl der Mutter Gottes, die dir ihren Schutz entzogen hat.«

Ich las auf seinem häßlichen Gesicht die Befriedigung, die er empfand; denn er war überzeugt, daß der Engel nicht kommen würde. Er schien mich zu bedauern. Mit Ungeduld erwartete ich den Glockenschlag; denn diese Komödie machte mir ungeheuren Spaß und ich war überzeugt, daß die Ankunft des Engels seine kümmerliche Vernunft gänzlich über den Haufen werfen würde. Mein Plan konnte nicht fehlschlagen, Lorenzo hätte denn vergessen müssen, das abzuliefern, und das war nicht möglich.

Eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt sagte ich ihm, wir wollten zusammen essen. Ich trank nur Wasser, Soradaci aber trank allen Wein und aß zum Nachtisch den ganzen Knoblauch, den ich hatte, für ihn die größte Leckerei. Dadurch wurde seine Aufregung nicht wenig vermehrt. Im Augenblick, wo ich die Uhr schlagen hörte, warf ich mich auf die Knie und befahl ihm mit schrecklicher Stimme, es ebenso zu machen. Er sah mich mit einem irren Blick an, aber er gehorchte. Als ich das leise Geräusch hörte, das der Mönch beim Durchkriechen durch das Mauerloch machte, rief ich: »Der Engel kommt!« Ich warf mich platt auf den Bauch und gab ihm einen kräftigen Faustschlag, so daß er dieselbe Stellung einnahm. Das Zersplittern des Brettes machte ein starkes Geräusch. Eine Viertelstunde lang besaß ich die Geduld, in meiner unbequemen Stellung liegen zu bleiben. Unter anderen Umständen würde ich herzlich gelacht haben, wie das Vieh so unbeweglich da lag. Aber ich lachte nicht, denn ich vergaß keinen Augenblick meine löbliche Absicht, den Menschen ganz und gar verrückt oder wenigstens verdreht zu machen. Seine verworfene Seele konnte nur dadurch zur Menschlichkeit zurückgeführt werden, daß ich sie mit Schrecken überströmte. Endlich stand ich auf, doch kniete ich sofort wieder hin, indem ich ihm erlaubte, dieselbe Stellung einzunehmen. Dann ließ ich ihn dreiundeinehalbe Stunde lang den Rosenkranz herunterbeten. Von Zeit zu Zeit schlief er dabei ein, mehr durch die unbequeme Stellung als durch das eintönige Murmeln der Gebete ermüdet. Nicht ein einziges Mal wagte er es, mich zu stören. Zuweilen erkühnte er sich, einen verstohlenen Blick nach der Decke zu werfen oder mit verblüfftem Besicht dem Bilde der Jungfrau zuzuwinken. Dies alles war überwältigend komisch. Als ich die Uhr die fünfte Stunde schlagen hörte, sagte ich in halb feierlichem, halb frommem Ton zu ihm: »Wirf dich nieder; der Engel wird jetzt gehen.« Balbi kehrte in sein Gefängnis zurück, und wir hörten nichts mehr.

Ich stand auf, sah den Elenden fest an und bemerkte auf seinen. Gesicht Verwirrung und Schrecken; darüber war ich entzückt. Ich sprach ein paar Worte mit ihm, um zu sehen, wie es mit seiner Vernunft bestellt wäre. Er vergoß strömende Tränen, und was er sagte, war so verworren und unzusammenhängend, daß es sich nicht beschreiben läßt. Er sprach von seinen Sünden, von seiner großen Frömmigkeit, von seinem Eifer für den heiligen Markus, von seinen Pflichten gegen die Republik, und diesen Verdiensten schrieb er die Gnade zu, die ihm von Maria widerfahren war. Mit salbungsvoller Miene mußte ich eine lange Geschichte von Wundern des Rosenkranzes anhören, welche seine Frau, deren Beichtvater ein Dominikaner war, ihm erzählt hatte. Schließlich sagte er mir, er sehe nur nicht ein, was ein unwissender Mensch, wie er, mir nützen könnte.

»Du wirst in meinem Dienst stehen und wirst alles erhalten, was du nötig hast, ohne daß du das gefährliche Gewerbe eines Spions zu betreiben brauchst.«

»Aber dann werden wir nicht mehr in Venedig bleiben können?«

»Nein, natürlich nicht, der Engel wird uns in ein Land führen, das nicht dem heiligen Markus gehört. Bist du bereit, mir zu schwören, daß du dein schändliches Gewerbe aufgeben wirst? Und, wenn du schwörst, wirst du nicht etwa zum zweiten Mal meineidig werden?«

»Wenn ich schwöre, werde ich sicherlich meinem Schwur treu sein, das ist ganz gewiß. Aber geben Sie zu, daß ohne meinen Eidbruch die heilige Jungfrau Ihnen nicht die hohe Gnade erwiesen hätte. Meine Untreue ist Ursache Ihres Glücks, Sie müssen mich also lieben und sich meines Verrates freuen.«

»Liebst du Judas, der Jesum Christum verraten hat?«

»Nein.«

»Du siehst also: man verabscheut den Verräter und betet zugleich die Vorsehung an, die aus Bösem Gutes zu schaffen weiß. Bis jetzt bist du nur em Schurke gewesen; du hast Gott und seine jungfräuliche Mutter beleidigt, und ich werde deinen Eid nur annehmen, wenn du deine Sünden büßen willst.«

»Welche Sünde habe ich begangen?«

»Du hast durch Stolz gesündigt, Soradaci, indem du dachtest, ich sei dir Dank schuldig dafür, daß du mich verraten hast, indem du meine Briefe dem Sekretär abliefertest.«

»Wie werde ich diese Sünde büßen können?«

»Das werde ich dir sagen: Wenn morgen Lorenzo kommt, bleibst du auf deinem Strohsack liegen, das Gesicht nach der Wand gedreht, ohne auch nur die kleinste Bewegung zu machen und ohne Lorenzo einen Blick zuzuwerfen. Wenn er zu dir spricht, antwortest du ihm, ohne ihn anzusehen, du habest nicht schlafen können und müssest dich ausruhen. Versprichst du mir dies ohne Vorbehalt?«

»Ich verspreche Ihnen, alles was Sie mir sagen, genau auszuführen.«

»Schwöre es mir vor diesem heiligen Bilde! Schnell!«

»Ich verspreche dir, allerheiligste Mutter Gottes, daß ich Lorenzo nicht ansehen und daß ich mich nicht auf meinem Strohsack rühren werde.«

»Und ich, allerheiligste Jungfrau, ich schwöre dir bei dem Herzen deines göttlichen Sohnes: wenn ich Soradaci die kleinste Bewegung machen und Lorenzo anblicken sehe, werde ich mich sofort auf ihn werfen und ihn erbarmungslos zu deiner Ehre und zu deinem Ruhm erdrosseln.«

Ich rechnete mindestens ebensosehr auf die Wirkung dieser Drohung als auf seinen Eid. Um mir jedoch eine möglichst große Gewißheit zu verschaffen, fragte ich ihn, ob er gegen diesen Schwur etwas einzuwenden hätte. Nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, antwortete er mir: nein, er sei vollkommen damit einverstanden. Hiermit war ich sehr zufrieden. Ich gab ihm nun zu essen und befahl ihm hierauf, sich niederzulegen, weil ich Schlaf nötig hätte.

Sobald er eingeschlafen war, schrieb ich zwei Stunden lang an Balbi. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und sagte ihm, wenn die Arbeit weit genug vorgeschritten sei, so brauche er nur noch einmal zu kommen, um die Decke durchzubrechen. Ich teilte ihm mit, daß wir in der Nacht vom einunddreißigsten Oktober auf den ersten November entfliehen müßten und daß wir im ganzen vier sein würden. Diesen Brief schrieb ich am achtundzwanzigsten Oktober.

Am nächsten Tage schrieb der Mönch mir, der kleine Verbindungsweg sei fertig und er brauche nur noch die letzte Schicht über meinem Gefängnis einzuschlagen; dies sei in vier Minuten geschehen. Soradaci hielt seinen Schwur; er tat, als ob er schliefe, und Lorenzo sprach ihn nicht einmal an. Ich verlor ihn nicht einen Augenblick aus dem Auge, und ich glaube, ich würde ihn erdrosselt haben, wenn er die geringste Bewegung mit dem Kopf gemacht hätte; denn um mich zu verraten, brauchte er nur Lorenzo zuzublinzeln. Der ganze Rest des Tages wurde Gesprächen über die erhabensten Gegenstände geweiht. Ich sprach so feierlich wie ich nur konnte, und in den übertriebensten Ausdrücken, und es war für mich ein Genuß, zu sehen, wie er immer fanatischer wurde. Außer diesen mystischen Reden rief ich auch noch die Dünste des Weines zu Hilfe. Von Zeit zu Zeit ließ ich ihn große Mengen trinken, bis ihn endlich der Rausch und die Müdigkeit übermannten und er in Schlaf sank.

Obgleich seinem Kopf jedes metaphysische Denken fremd war und er seine Denkfähigkeit stets nur dazu gebraucht hatte, um Listen eines Spions zu ersinnen, brachte er mich doch einen Augenblick in Verlegenheit, als er mir sagte, er begreife nicht, warum ein Engel so viele Arbeit nötig habe, um uns unseren Kerker zu öffnen. Ich erhob meine Blicke zum Himmel oder vielmehr zur Decke meines traurigen Gefängnisses und sagte ihm: »Gottes Wege sind den Sterblichen unbekannt; außerdem arbeitet der Abgesandte des Himmels nicht als Engel, denn alsdann würde ein Hauch seines Mundes ihm genügen; er arbeitet als Mensch, dessen Gestalt er ohne Zweifel deshalb angenommen hat, weil wir nicht würdig sind, seine Gegenwart in seiner himmlischen Gestalt zu ertragen. Übrigens sehe ich voraus,« sagte ich als echter Jesuit, der sich jeden Umstand zunutze zu machen weiß, »daß der Engel, um uns für deinen boshaften Gedanken, der die heilige Jungfrau beleidigt hat, zu bestrafen, heute nicht kommen wird. Unglückseliger! Du denkst niemals wie ein frommer und gottesfürchtiger Ehrenmann, sondern stets wie ein verruchter Sünder, der es mit Messer-Grande und seinen Sbirren zu tun hat.«

Ich hatte ihn zur Verzweiflung bringen wollen, und dies war mir gelungen. Er weinte heiße Tränen und sein Schluchzen erstickte ihn, als er ein Uhr schlagen hörte und der Engel nicht kam. Statt ihn zu beruhigen, suchte ich seine Verzweiflung noch zu vermehren, indem ich bittere Klagen ausstieß. Am nächsten Tage war er seinem Schwur gehorsam; denn als Lorenzo ihn nach seinem Befinden fragte, antwortete er, ohne den Kopf herumzudrehen. Am nächsten Tage betrug er sich ebenso, und auch am Morgen des einunddreißigsten Oktober, wo ich Lorenzo zum letzten Male sah. Ich gab ihm das Buch für Balbi, und ich hatte dem Mönch geschrieben, er solle um elf Uhr kommen und die Decke durchbrechen. Ich fürchtete jetzt nicht mehr, daß noch etwas dazwischen kommen könnte; denn wie ich von Lorenzo gehört hatte, waren die Inquisitoren und der Sekretär bereits aufs Land gefahren. Ich hatte nicht mehr die Ankunft eines neuen Gefangenen zu befürchten, und ich brauchte meinen niederträchtigen Halunken nicht mehr zu schonen.

Es könnte wohl sein, daß meine Erinnerungen einem jener Prinzipienreiter in die Hände fallen, die sich mit kaltem Blut über alles mögliche erhitzen. Ein solcher könnte mich wohl wegen des Mißbrauchs verdammen, den ich mit den heiligen Mysterien trieb, und besonders deshalb, weil ich dem boshaften Dummkopf weis machte, die heilige Jungfrau sei mir erschienen. Ich möchte nicht gerne für schlechter gelten als andere, wenigstens nicht in der Meinung anständiger Leute, deren Intelligenz nicht durch ein überempfindliches Gewissen beschränkt ist: darum muß ich hier eine Art Verteidigungsrede halten, die meine Leser mir freundlichst wollen hingehen lassen.

Da ich den Zweck verfolge, die Geschichte meiner Flucht mit allen Nebenumständen zu berichten, so habe ich mich für verpflichtet gehalten, nichts von dem auszulassen, was zum Gelingen meines Planes beigetragen hat. Ich will nicht sagen, daß diese Erzählung eine Beichte vorstellen soll, denn ich fühle mich durchaus von keiner Reue belastet; aber ich bin auch ebensoweit entfernt, mich mit meinem Vorgehen zu berühmen, denn nur widerwillig bediente ich mich des Betruges, und wenn ich zwischen diesen Mitteln und einem anderen edleren hätte wählen können, so würde ich nicht einen Augenblick geschwankt haben; das wird man mir wohl glauben. Übrigens würde ich, um meine Freiheit wieder zu erlangen, noch heutigen Tages das gleiche tun, und vielleicht noch viel mehr.

Die Natur trieb mich, mir meine Freiheit wieder zu verschaffen, und die Religion konnte mir nicht befehlen, Sklave zu bleiben. Ich hatte keine Zeit zu verlieren, und es galt, einem Spion die Fähigkeit zu benehmen, mir zu schaden, indem er Lorenzo verriet, daß die Decke meines Gefängnisses durchbrochen wurde. Ich mußte ihn um so mehr fürchten, da er mich bereits einmal verraten hatte. Was mußte ich zu diesem Ende tun? Ich hatte nur zwei Mittel: entweder mußte ich handeln, wie ich es tat, indem ich die Seele dieses Halunken durch Schrecken lähmte; oder ich mußte ihn erdrosseln, wie jeder vernünftige und mutige, aber grausamere Mann es getan haben würde. Dies wäre für mich viel leichter und vollkommen gefahrlos gewesen; denn ich würde gesagt haben, er sei eines natürlichen Todes gestorben, und ganz gewiß machte man sich unter den Bleidächern zu wenig aus dem Leben eines solchen Menschen, um erst lange zu untersuchen, ob ich die Wahrheit gesagt hätte oder nicht. Wird unter meinen Lesern irgendeiner sein, der der Meinung ist, ich hätte besser daran getan, ihn zu erdrosseln? Wenn auch nur ein einziger unter ihnen dieser Meinung ist, wäre er auch ein Jesuit und sogar ein aufrichtig glaubender Jesuit, was nicht leicht vorkommen könnte, – so bitte ich Gott, ihn zu erleuchten. Seine Religion wird niemals die meinige sein. Ich glaube meine Pflicht getan zu haben, und der Sieg, der meine Mühe krönte, kann wohl als ein Beweis angesehen werden, daß die Vorsehung die von mir angewandten Mittel nicht mißbilligte. Der Eid, den ich mir von dem Schurken schwören ließ, war ohne Bedeutung, denn der Mann hatte sich nichts dabei gedacht; mein Schwur dagegen, daß ich immer für ihn sorgen wolle, wurde mir von ihm selber abgenommen, und so brauche ich nicht zu untersuchen, ob ich ihn gehalten haben würde, was ich allerdings nicht glaube. Er hatte nicht den Mut, mir zu folgen und mit mir zu fliehen. Ein Schuft wie Soradaci ist selten mutig. Übrigens konnte ich natürlich gewiß sein, daß seine Erregung nur bis zum Erscheinen des Paters Balbi dauern würde, der durchaus nicht wie ein Engel aussah. Dies mußte ihm beweisen, daß ich ihn betrogen hatte, und er mußte alles Vertrauen zu mir verlieren. Zum Schluß will ich nur noch meine Uberzeugung aussprechen, daß der Einzelne viel mehr recht hat, wenn er alles seiner Erhaltung aufopfert als die Fürsten, wenn sie auch nur den kleinsten Teil ihrer Staaten für ihre eigene Erhaltung opfern.

Als Lorenzo fort war, sagte ich Soradaci, der Engel würde um elf Uhr eine Öffnung in die Decke unseres Kerkers machen. »Er wird eine Schere mitbringen, und du wirst mir und dem Engel den Bart abschneiden.«

»Hat denn der Engel einen Bart?«

»Ja, du wirst es sehen. Hierauf werden wir hinausgehen und durch das Dach des Palastes brechen; von da steigen wir auf den Markusplatz hinunter und von da gehen wir nach Deutschland.«

Er antwortete nicht. Zu Mittag aß er allein, denn mir war Geist und Herz zu voll, um essen zu können. Ich hatte nicht einmal schlafen können.

Die Stunde schlug – der Engel kam. Soradaci wollte sich auf den Boden werfen, aber ich sagte ihm, dies sei nicht nötig. In drei Minuten war das Loch fertig, das letzte Stück des Brettes fiel mir vor die Füße und Pater Balbi warf sich mir in die Arme. »Jetzt ist Ihre Arbeit fertig,« rief ich, »und die meinige beginnt.«

Wir umarmten uns, und er gab mir den Spieß und eine Schere. Ich sagte Soradaci, er solle uns den Bart schneiden, und ich konnte das Lachen nicht zurückhalten, als ich sah, wie das Vieh mit offenem Munde dastand und den seltsamen Engel betrachtete, der wie ein Teufel aussah.

Ich war ungeduldig, die Örtlichkeit zu untersuchen, und sagte dem Mönch, er möchte bei Soradaci bleiben; denn ich wollte diesen nicht allein lassen. Dann ging ich. Ich fand das Loch in der Mauer eng, aber ich zwängte mich hindurch. Nun war ich über dem Gefängnis des Grafen; ich ließ mich hinunter und umarmte herzlich den ehrwürdigen Greis. Ich sah, daß er seiner Gestalt wegen nicht imstande war, eine Flucht über ein abschüssiges und ganz mit Bleiplatten gedecktes Dach mitzumachen. Er fragte mich nach meinem Plan und sagte mir, nach seiner Meinung wäre ich wohl etwas leichtsinnig vorgegangen.

»Ich will nur vorwärts, bis ich die Freiheit oder den Tod finde.«

Er schüttelte mir die Hand und sagte: »Wenn Sie daran denken, nach dem Dach durchzubrechen, sich einen Weg über die Bleiplatten zu suchen und von dort aus herabzusteigen, so sehe ich keine Möglichkeit des Gelingens, wenn Sie nicht Flügel haben, und ich habe nicht den Mut, Sie zu begleiten; ich werde hier bleiben und für Sie zu Gott beten.«

Ich ging wieder hinaus, um das große Dach zu untersuchen. Indem ich soweit wie möglich in den äußersten seitlichen Winkel hineinkroch, setzte ich mich schließlich auf das Dachgebälk, womit die Böden aller großen Paläste angefüllt find. Ich prüfte die Bretter mit der Spitze meines Spießes und hatte das Glück, sie halb vermodert zu finden. Bei jedem Stoß meines Spießes zerfiel in Staub, was ich berührte. Als ich sah, daß ich in weniger als einer Stunde ein hinreichend großes Loch machen konnte, begab ich mich in mein Gefängnis zurück und verbrachte dort vier Stunden damit, Tücher, Decken, Matratzen und Strohsack zu zerschneiden, um Stricke daraus zu machen. Alle Knoten machte ich selber und vergewisserte mich ihrer Festigkeit, denn ein einziger schlecht zugezogener Knoten hätte uns das Leben kosten können. Schließlich sah ich mich im Besitz von Stricken, deren Gesamtlänge hundert Faden betrug.

Bei großen Unternehmungen gibt es gewisse Umstände, von denen alles abhängt und bezüglich deren der Anführer, der Erfolg haben will, sich auf keinen anderen Menschen verläßt. Als die Stricke fertig waren, packte ich meinen Rock, meinen seidenen Mantel, einige Hemden, Strümpfe und Taschentücher zusammen, und wir begaben uns alle drei in den Kerker des Grafen. Der gute alte Herr wünschte Soradaci Glück dazu, daß er in mein Gefängnis gesetzt worden wäre und nun so bald seine Freiheit zurückerlangen würde. Soradacis verdutztes Gesicht machte mich lachen. Ich tat mir keinen Zwang mehr an, denn ich hatte die Maske des Tartüff abgeworfen, die mir entsetzlich unbequem gewesen war, die ich aber doch des Halunken wegen hatte anlegen müssen. Er war sichtlich überzeugt, daß ich ihn betrogen hätte; aber er begriff von der ganzen Sache nichts, denn er konnte nicht erraten, wie ich mit dem angeblichen Engel verkehrt hatte, so daß ich ihn zur bestimmten Stunde kommen und gehen lassen konnte. Er hörte aufmerksam dem Grafen zu, der uns sagte, wir würden alle ins Verderben rennen, und als echter Feigling wälzte er schon in seinem Kopf den Plan, sich von der gefährlichen Reise loszusagen. Ich sagte dem Mönch, er möchte sein Paket machen; inzwischen würde ich das Loch nach dem Dach zu beendigen.

Um acht Uhr abends hatte ich mein Loch fertig, ohne einer anderen Hilfe bedurft zu haben. Ich hatte die Bretter zu Staub zerstoßen, und die Öffnung war doppelt so groß, als nötig gewesen wäre. Die ganze Bleiplatte lag vor mir. Diese konnte ich nicht allein hochheben, weil sie vernietet war. Der Mönch half mir; indem ich den Spieß zwischen die Dachrinne und die Platte stieß, gelang es mir, die letztere loszumachen. Dann stemmten wir unsere Schultern gegen sie und bogen sie soweit um, daß wir hinauskriechen konnten. Ich steckte den Kopf durch das Loch und sah voll Schmerz, daß der Mond, der im ersten Viertel stand, eine große Helligkeit verbreitete. Dieses Mißgeschick mußte mit Geduld ertragen werden; wir mußten bis Mitternacht warten, bis der Mond verschwunden wäre, um unseren Antipoden zu leuchten, denn in einer so herrlichen Nacht mußte die ganze gute Gesellschaft auf dem Markusplatz sein, und darum konnten wir uns nicht auf dem Dache dem Mondschein aussetzen. Unsere Schatten wären auf den Markusplatz gefallen. Alle Augen hätten sich auf uns gerichtet, und das seltsame Schauspiel hätte unfehlbar die allgemeine Neugier erregt, besonders aber die des Messer-Grande und seiner Sbirren, die die einzigen Wächter über Venedig sind. Unser schöner Plan wäre gar bald durch ihren unangenehmen Eifer gestört worden. Ich entschied mich also, daß wir erst nach dem Untergang des Mondes das Dach betreten würden. Ich rief Gottes Hilfe an, aber ich verlangte keine Wunder. Den Launen des Glückes preisgegeben, mußte ich ihm möglichst wenig Angriffspunkte darbieten; wenn mein Plan scheitern sollte, so mußte ich wenigstens vor dem Vorwurf sicher sein, Fehler begangen zu haben. Der Mond mußte nach elf Uhr untergehen und die Sonne erhob sich erst um halb acht; so blieben uns bis zur Morgendämmerung sieben Stunden vollständiger Dunkelheit, während welcher wir handeln konnten. Wir hatten zwar eine harte Arbeit vor uns, aber in sieben Stunden mußten wir unser Ziel erreichen können.

Ich sagte dem Pater Balbi, wir könnten drei Stunden mit dem Grafen Asquino verplaudern. Er möchte ihm vorher mitteilen, daß ich dreißig Zechinen nötig hätte, die ich ihn mir zu leihen bäte, da sie für mich vielleicht ebenso wichtig werden könnten, wie es für das bisher Vollbrachte mein Spieß gewesen wäre. Er richtete meinen Auftrag aus und kam in vier Minuten mit dem Bescheid zurück, ich möchte selber gehen, der Graf wünsche mit mir ohne Zeugen zu sprechen. Der arme alte Herr sagte mir sehr freundlich: um zu fliehen, brauchte ich kein Geld; er hätte keins; er hätte eine zahlreiche Familie, und wenn ich umkäme, wäre das Geld, das er mir gegeben hätte, verloren. Kurz und gut, er sagte noch eine Menge überflüssige Dinge gleicher Art, um damit seinen Geiz oder seine Abneigung gegen das Verleihen des Geldes zu bemänteln. Meine Antwort dauerte eine halbe Stunde. Ich führte ausgezeichnete Gründe an; aber diese sind stets machtlos gewesen, solange die Welt besteht; denn die schönsten rhetorischen Wendungen prallen von dem Stahlpanzer der zähesten aller Leidenschaften ab. Hier war nun der Fall des Nolenti baculus – wer nicht will, muß Prügel haben; aber ich war nicht grausam genug, gegen einen unglücklichen Greis Gewalt anzuwenden. Schließlich sagte ich ihm: wenn er mit mir fliehen wollte, würde ich ihn auf meinen Schultern tragen, wie Aneas seinen Vater Anchises; wenn er aber zurückbleiben wollte, um Gott um sein Geleit für uns zu bitten, so wäre sein Gebet inkonsequent; denn er würde zu Gott beten, eine Sache gelingen zu lassen, zu der er selber nicht einmal durch die einfachsten Mittel hätte beitragen wollen.

Er antwortete mir, indem er Tränen vergoß. Ich wurde gerührt. Er fragte mich, ob zwei Zechinen mir genügen könnten; ich erwiderte ihm, mir müsse alles genügen. Er gab mir die zwei Zechinen, indem er mich bat, sie ihm zurückzugeben, wenn ich eine Runde über das Dach gemacht und gesehen hätte, daß es das vernünftigste für mich wäre, in mein Gefängnis zurückzukehren. Ich versprach es ihm, ein wenig überrascht, daß er von mir annehmen konnte, ich würde mich zur Umkehr entschließen. Er kannte mich nicht; ich war fest entschlossen, lieber zu sterben als an einen Ort zurückzukehren, den ich alsdann lebend nicht mehr verlassen hätte.

Ich rief meine Kameraden, und wir legten unser ganzes Gepäck neben das Loch, nachdem ich die hundert Faden Stricke auf zwei Pakete verteilt hatte. Dann plauderten wir zwei Stunden lang und erinnerten uns nicht ohne Vergnügen an die verschiedenen Wechselfälle unseres Unternehmens. Die erste Probe, welche Vater Balbi mir von seinem edlen Charakter gab, bestand darin, daß er mir zehnmal wiederholte, ich hätte ihm mein Wort gebrochen; denn ich hätte ihm versichert, mein Plan wäre fertig und wäre sicher; dies wäre aber durchaus nicht der Fall: er sagte mir sehr frech, wenn er das vorausgesehen hätte, würde er mich nicht aus meinem Kerker befreit haben. Der Graf sagte mir ebenfalls mit dem ganzen Ernst seiner siebenzig Jahre: es sei das klügste von mir, von meiner waghalsigen Unternehmung zurückzutreten, denn gelingen könne es mir unmöglich; dagegen sei augenscheinlich größere Gefahr vorhanden, daß wir dabei unser Leben verlieren würden. Was er mir sagte, war eine richtige Advokatenrede; ich erriet gleich, daß die wahre Ursache seines Eifers die zwei Zechinen waren, die ich ihm hätte zurückgeben müssen, wenn es ihm gelungen wäre, mich zum Bleiben zu überreden.

»Das mit Bleiplatten bedeckte Dach«, sagte er, »ist so abschüssig, daß Sie nicht darauf werden gehen können, denn Sie werden kaum imstande sein, sich aufrecht zu halten; das Dach ist allerdings mit sieben oder acht Dachluken versehen, aber diese sind sämtlich mit eisernen Stäben vergittert, und sie sind unzugänglich, weil sie alle weit vom Rande entfernt sind und weil man vor ihnen nicht festen Fuß fassen kann. Die Stricke, die Sie besitzen, werden Ihnen nichts nützen, weil Sie keine Stelle finden werden, um sie zu befestigen. Und selbst, wenn Sie eine solche Stelle finden sollten, so wäre Ihnen damit nicht geholfen; denn aus einer solchen Höhe kann ein Mensch nicht herabsteigen, weil er sich nicht festhalten kann, bis er unten ist. Sie müßten sich also den Strick um den Leib binden und einer von Ihnen dreien müßte seine beiden Kameraden, einen nach dem andern herunterlassen, wie einen Eimer oder ein Bündel Holz. Derjenige aber, der dies täte, müßte bleiben und in seinen Kerker zurückkehren. Wer von euch dreien fühlt sich wohl zu solchem barmherzigen, aber gefährlichen Werk bereit? Und selbst angenommen, einer von Ihnen wäre ein solcher Held, so sagen Sie mir doch, auf welcher Seite wollen Sie sich herunter lassen? Jedenfalls nicht nach dem Platz zu, denn da würde man Sie sehen; nach der Kirche zu ist es unmöglich, denn da würden Sie eingeschlossen sein; an die Seite nach dem Hof zu ist gar nicht zu denken, denn da würden Sie den Arsenalotti, die beständig die Runde machen, in die Hände fallen. Sie können also nur nach der Kanalseite hinuntersteigen, und haben Sie dort eine Gondel, die auf Sie wartet, oder ein Schiff? Nein. Sie werden also genötigt sein, ins Wasser zu springen und bis Santa Apollonia zu schwimmen; dort werden Sie in kläglichem Zustande ankommen und werden nicht wissen, wohin Sie weiter fliehen sollen. Bedenken Sie, daß Sie auf den Bleiplatten leicht ausrutschen können; und wenn Sie in den Kanal fallen, so sind Sie verloren, selbst wenn Sie schwimmen können wie die Haifische; denn infolge der Höhe des Gebäudes und der geringen Tiefe des Wassers kann der Sturz nur tödlich ablaufen. Sie werden zerschmettert werden, denn drei oder vier Fuß Wasser sind keine genügende Menge Flüssigkeit, um die Wirkung der Schwere aufzuheben, wenn Ihre Körper aus so großer Höhe herabfallen. Sie würden sich noch glücklich schätzen können, wenn Sie mit zerbrochenen Armen und Beinen unten ankämen.«

Diese Rede, die unter den Umständen jedenfalls sehr unvorsichtig war, brachte mein Blut in heiße Wallung; indessen hatte ich Mut, ihn mit einer Geduld anzuhören, die sonst nicht meine Sache war. Die rücksichtslosen Vorwürfe des Mönches empörten mich, und ich hatte große Lust, sie schroff zurückzuweisen; aber ich fühlte, daß ich in einer knifflichen Lage war und leicht mein eigenes Werk zerstören konnte; denn ich hatte es mit einem Feigling zu tun, der imstande war, mir zu antworten: er sei nicht so verzweifelt, um es auf Leben und Tod ankommen zu lassen; ich möge also nur allein gehen. Wenn ich aber allein war, konnte ich mir keine Hoffnung auf Gelingen machen. So tat ich mir denn Gewalt an, und sagte ihnen in freundlichem Ton, ich sei des Erfolges meiner Unternehmung sicher, obgleich ich ihnen die Einzelheiten nicht mitteilen könne. »Ihre weisen Bedenken«, sagte ich zum Grafen Asquino, »werden mich zu vorsichtigem Handeln veranlassen. Ich habe Vertrauen zu Gott und meinen eigenen Kräften, und dadurch werde ich alle Schwierigkeiten überwinden.«

Von Zeit zu Zeit streckte ich die Hand aus, um mich zu versichern, ob Soradaci noch da wäre, denn er sprach während der ganzen Zeit kein Wort. Ich lachte bei dem Gedanken, was wohl in seinem Kopf herumgehen mochte, nachdem er jetzt ganz sicher war, daß ich ihn getäuscht hatte. Etwa um halb elf Uhr sagte ich ihm, er möchte nachsehen, in welcher Himmelsgegend der Mond jetzt stände. Er gehorchte, kam sofort zurück und sagte mir, in anderthalb Stunden würde man den Mond nicht mehr sehen, und ein sehr dichter Nebel müßte die Bleidächer höchst gefährlich machen.

»Es genügt mir,« antwortete ich ihm, »daß der Nebel kein Öl ist. Packe deinen Mantel mit einem Teil unserer Stricke zusammen. Wir müssen diese in gleiche Pakete verteilen.« Zu meiner größten Überraschung fühlte ich plötzlich, wie er meine Knie umfaßte, dann meine Hände ergriff und sie küßte. Weinend sagte er zu mir: »Ich flehe Sie an, verlangen Sie nicht meinen Tod! Ich weiß gewiß, daß ich in den Kanal fallen werde. Ich kann Ihnen nicht den geringsten Nutzen bringen. Ach! lassen Sie mich hier, und ich werde die ganze Nacht zum heiligen Franziskus für Sie beten. Es steht in Ihrer Macht, mich zu töten; aber niemals werde ich mich entschließen, Ihnen zu folgen.«

Wie sehr er meinen eigenen Wünschen entgegenkam, das wußte der Dummkopf natürlich nicht!

»Du hast recht, bleibe hier; aber ich erlaube es dir nur unter der Bedingung, daß du zum heiligen Franziskus betest. Vorher aber schaffe alle meine Bücher hierher, ich will sie dem Herrn Grafen hinterlassen.«

Er gehorchte ohne Widerrede, und ohne Zweifel mit großer Freude. Meine Bücher waren mindestens hundert Taler wert. Der Graf sagte mir, er würde sie mir bei meiner Rückkehr wiedergeben.

»Sie werden mich hier nicht wieder sehen, darauf können Sie sich verlassen. Die Bücher werden Sie für Ihre zwei Zechinen entschädigen. Daß der Halunke Soradaci nicht den Mut hat, mir zu folgen, ist mir höchst angenehm; er würde mich in Verlegenheit setzen. Außerdem ist der elende Mensch nicht würdig, mit dem Vater Balbi und mir die Ehre einer so schönen Flucht zu teilen.«

»Das ist wahr,« sagte der Graf; »nur wäre es möglich, daß er morgen Anlaß hätte, sich dazu Glück zu wünschen.«

Ich bat den Grafen um Feder, Tinte und Papier, die er trotz dem Verbot besaß; denn die Verbote bedeuteten nichts für Lorenzo, der für einen Taler den heiligen Markus selber verkauft haben würde. Ich schrieb hierauf nachstehenden Brief, den ich Soradaci übergab und den ich nicht wieder durchlesen konnte, weil wir uns im Dunkeln befanden. Ich begann mit dem Ausspruch eines schwärmerischen Kopfes, den ich in lateinischer Sprache niederschrieb:

»Ich werde nicht sterben, sondern ich werde leben und werde das Lob des Herrn singen.

Die Herren Staatsinquisitoren müssen alles tun, um einen Schuldigen mit Gewalt unter den Bleidächern festzuhalten. Der Schuldige, der so glücklich ist, nicht Gefangener auf Wort zu sein, muß ebenfalls sein Mögliches tun, um sich die Freiheit zu verschaffen. Ihr Recht hat zur Grundlage die Justiz; das Recht des Schuldigen ist die Natur. Und so wenig, wie Sie seiner Einwilligung bedürfen, um ihn einzusperren, kann er der Ihrigen bedürfen, um seine Freiheit wieder zu erlangen.

Giacomo Casanova, der dieses in der Bitterkeit seines Herzens schreibt, weiß, daß er das Unglück haben kann, wieder eingefangen zu werden, bevor er den Staat verlassen und sich in ein gastliches Land in Sicherheit bringen kann. Dann wäre er wieder unter dem Richtschwert derer, denen er jetzt zu entfliehen sich anschickt. Aber wenn ihm dieses Unglück zustoßen sollte, so wendet er sich an die Menschlichkeit seiner Richter und bittet sie, ihm das gransame Los, dem er zu entfliehen sucht, nicht dadurch härter zu machen, daß sie ihn dafür bestrafen, der Stimme der Natur gefolgt zu sein. Wenn er wieder eingefangen wird, so bittet er, ihm alles zurückzugeben, was ihm gehört und was er in dem Kerker läßt. Wenn er aber das Glück hat, sein Ziel zu erreichen, so schenkt er alles dem Francesco Soradaci, der hier als Gefangener bleibt, weil er nicht den Mut hat, sich der Gefahr auszusetzen. Er zieht nicht wie ich die Freiheit dem Leben vor. Casanova bittet Ihre Exzellenzen, dem Unglücklichen dies Geschenk, das er ihm macht, nicht vorenthalten zu wollen. Geschrieben eine Stunde vor Mitternacht, ohne Licht, im Kerker des Grafen Asquino, am 31. Oktober 1756.«

Ich sagte Soradaci, er solle diesen Brief nicht Lorenzo geben, sondern nur dem Sekretär in Person; denn er würde ihn ohne Zweifel rufen lassen, wenn er nicht gar selber hinaufkäme, wie es noch wahrscheinlicher wäre. Der Graf sagte zu ihm, die Wirkung meines Briefes wäre unzweifelhaft; aber er müßte mir alles wiedergeben, wenn ich zurückkäme. Der Dummkopf antwortete ihm, er wünsche mich wiederzusehen, um mir zu beweisen, daß er mir alles von Herzen gern zurückgeben werde.

Aber es war Zeit, uns auf den Weg zu machen. Der Mond war nicht mehr zu sehen. Ich hängte dem Vater Balbi den auf ihn entfallenden Teil unseres Gepäcks um den Hals, so daß er auf der einen Seite die Hälfte unserer Stricke, auf der anderen seine eigenen Sachen trug. Ich machte es ebenso bei mir. Dann traten wir beide in Hemdärmeln, den Hut auf dem Kopf an die Offnung im Dache:

e quindi uscimmo a rimirar le stelle
und stiegen auf zum Wiedersehen der Sterne.
(Dante)

Zweiunddreißigstes Kapitel


Ich verlasse meinen Kerker. – Lebensgefahr auf dem Dach. – Ich verlasse den Dogenpalast, schiffe mich ein und gelange aufs Festland. – Pater Balbi bringt mich in große Gefahr. – Ich muß eine List anwenden, um mich für den Augenblick von ihm zu trennen.

Ich kroch zuerst hindurch, Balbi folgte mir. Soradaci, der uns bis an das Loch des Daches begleitet hatte, erhielt Befehl, die Bleiplatte wieder zurecht zu legen und hierauf zu seinem heiligen Franziskus zu beten. Ungeachtet des Nebels waren alle Gegenstände so ziemlich zu erkennen. Auf allen Vieren kriechend, packte ich mit fester Hand meinen Spieß, stieß ihn schräge in die Fuge zweier Bleiplatten und packte dann mit vier Fingern den Rand der von mir umgebogenen Platten. So kam ich allmählich bis an den First des Daches. Der Mönch, der mir folgte, hielt sich mit vier Fingern seiner rechten Hand an meinem Hosenbund fest. So befand ich mich in der unangenehmen Lage eines Lasttiers, das gleichzeitig ziehen und tragen muß, und noch dazu auf einem abschüssigen Dach, das von einem dichten Nebel schlüpfrig geworden war.

Als wir diesen gefahrvollen Aufstieg erst zur Hälfte hinter uns hatten, rief der Mönch mir zu, ich solle halten; eins von seinen Paketen habe sich losgelöst, er hoffe aber, daß es nicht über die Dachrinne hinausgerutscht sei. Mein erster Gedanke war, ihm einen Fußtritt zu versetzen und ihn hinter seinem Paket herzuschicken. Gottseidank beherrschte ich mich und tat es nicht; die Strafe wäre für beide Teile zu hart gewesen, denn mir allein hätte meine Flucht unmöglich gelingen können. Ich fragte ihn, ob es das Paket mit den Stricken sei, er antwortete mir jedoch, es sei sein eigenes Päckchen, worin sich ein von ihm auf dem Dachboden gefundenes Manuskript befinde, das ihm großen Gewinn bringen werde. Ich sagte ihm, diesen Verlust müsse er ertragen; ein Schritt zurück könne uns ins Verderben stürzen. Der arme Mönch seufzte, und wir kletterten weiter.

Nachdem wir mit außerordentlicher Anstrengung über fünfzehn oder sechzehn Platten hinaufgeklettert waren, kamen wir auf dem First an. Hier setzte ich mich bequem rittlings hin, und Pater Balbi machte es so wie ich. Wir saßen mit dem Rücken nach der kleinen Insel San Giorgio Maggiore, und hatten auf zweihundert Schritte vor uns die zahlreichen Kuppeln der Markuskirche, die zum herzoglichen Palast gehört; denn San Marco ist eigentlich nur die Kapelle des Dogen, und kein Monarch kann sich rühmen, eine schönere zu besitzen. Vor allen Dingen legte ich mein Bündel ab und forderte meinen Kameraden auf, das gleiche zu tun. Er legte seinen Pack Stricke so gut er konnte unter seine Schenkel; als er aber seinen Hut abnehmen wollte, der ihm lästig war, benahm er sich dabei ungeschickt; der Hut rollte von Platte zu Platte bis an die Dachrinne und folgte dem Kleiderpaket in den Kanal. Hierüber war mein armer Kamerad ganz verzweifelt, und er rief: »Böses Vorzeichen! Jetzt habe ich schon gleich im Anfang kein Hemd und keinen Hut mehr und habe noch dazu eine kostbare Handschrift verloren, die die interessante und gänzlich unbekannte Geschichte aller im Dogenpalast abgehaltenen Festlichkeiten enthielt.« Meine Wut hatte sich inzwischen gelegt, und ich sagte ihm ruhig: die beiden Unfälle hätten weiter nichts Außerordentliches an sich und könnten darum nur von einem abergläubischen Geist als böse Vorzeichen angesehen werden. Ich hielte sie nicht dafür und ließe mich durchaus nicht von ihnen entmutigen. »Sie müssen Ihnen, mein Lieber, zur Lehre dienen, daß Sie vorsichtig und vernünftig sind. Sie müssen daraus entnehmen, daß Gott uns ohne Zweifel beschützt; denn wäre Ihr Hut, statt nach der rechten Seite, nach der linken gefallen, so wären wir verloren gewesen, denn er wäre in den Palasthof gefallen. Dort hätten die Wachen ihn gefunden und dadurch notwendigerweise erkennen müssen, daß sich irgend jemand auf dem Dach befinden müßte. Und dann wären wir sofort wieder eingefangen gewesen. Nachdem ich einige Minuten lang nach rechts und links mich umgesehen hatte, sagte ich dem Mönch, er solle warten, bis ich zurückkäme, und sich nicht von der Stelle rühren. Nur meinen Spieß in der Hand haltend, ritt ich ohne Schwierigkeit den Dachfirst entlang. Fast eine Stunde lang untersuchte ich alle Dächer des Palastes, aber vergeblich; denn ich sah nirgends etwas, woran ich einen Strick hätte befestigen können. Ich war vollkommen ratlos. An den Kanal oder an den Palasthof war nicht zu denken, und die Kirche bot mir zwischen ihren Kuppeln nur tiefe Abgründe dar, die nach allen Seiten umschlossen waren. Um über die Kirche nach der Canonica zu gelangen, hätte ich über so abschüssige Dächer steigen müssen, daß ich keine Möglichkeit sah, diesen Weg zu wählen; denn natürlich verwarf ich sofort alles als unmöglich, was ich nicht für ausführbar hielt. Meine Lage erforderte kühnes Wagen, verbot aber jede Unvorsichtigkeit. Hier das Richtige zu treffen, war ungeheuer schwierig.

Ein Entschluß mußte gefaßt werden: ich mußte entweder in meinen Kerker zurückkehren, um ihn vielleicht nie wieder zu verlassen, oder ich mußte mich in den Kanal stürzen. Da mir nur die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten blieb, so mußte ich vieles dem Zufall überlassen und vor allen Dingen irgend etwas tun. Mein Blick fiel auf eine Dachluke nach der Kanalseite. Sie war von der Stelle, von der ich ausgegangen war, weit genug entfernt, um mir die Annahme zu gestalten, daß der von ihr erhellte Dachboden nicht zum Bereich der Gefängnisse gehörte. Sie mußte auf einen Dachboden über irgendeiner der Wohnungen des Palastes führen, deren Türen ich natürlich offen gefunden haben würde. Ich war fest überzeugt, daß die Diener des Palastes, sogar die der Dogenfamilie, wenn sie uns bemerkt hätten, uns bereitwillig unsere Flucht erleichtert haben würden. Ganz gewiß hätten sie uns nicht der Gewalt der Inquisitoren ausgeliefert, selbst wenn sie in uns die größten Staatsverbrecher erkannt haben würden. So verhaßt war die Inquisition in den Augen aller Venezianer.

Ich mußte nun diese Dachluke näher untersuchen. Indem ich mich vom First in grader Linie sachte herabgleiten ließ, befand ich mich bald rittlings auf dem kleinen Dach des Ausbaues. Mich mit beiden Händen am Rande festhaltend, streckte ich den Kopf vor und sah und fühlte ein kleines Gitter; hinter diesem befand sich ein Fenster mit Glasscheiben, die in Blei eingelassen waren. Das Fenster brachte mich nicht in Verlegenheit, aber das Gitter schien mir, so dünn es auch war, eine unüberwindliche Schwierigkeit darzubieten; denn ich glaubte es ohne Feile nicht beseitigen zu können, und ich hatte nur meinen Spieß.

Ich wußte nicht, was ich machen sollte, und begann den Mut zu verlieren, als plötzlich das einfachste und natürlichste Ereignis meine Seele wieder aufrichtete.

Philosophischer Leser, versetze dich bitte einen Augenblick in meine Lage! Stelle dir die Leiden vor, die ich fünfzehn Monate lang zu ertragen hatte; bedenke die Gefahren, denen ich auf einem Bleidach ausgesetzt war, wo die geringste falsche Bewegung mir mein Leben kosten konnte! Bedenke endlich, daß ich nur wenige Stunden vor mir hatte, um alle Schwierigkeiten zu besiegen, die bei jedem Schritt sich vermehren konnten; und bedenke, daß ich in dem doch sehr leicht möglichen Falle des Nichterfolges verdoppelte Strenge von Seiten eines ungerechten Tribunals erwarten mußte! Dann wird das Geständnis, das ich aufrichtig und wahrheitsgetreu dir machen will, mich in deiner Meinung nicht herabsetzen, besonders wenn du nicht vergissest, daß der Mensch in Unruhe und Not natürlich nicht halb so stark ist wie im Zustande unbekümmerter Ruhe.

Die Turmuhr von San Marco, die in diesem Augenblick Mitternacht schlug, befreite mich mit einem heftigen Stoß aus dem Zustande der Ratlosigkeit, der mich lähmte. Diese Glockenschläge erinnerten mich daran, daß in demselben Augenblick der Allerheiligentag begann und daß dieser Tag der Festtag meines Schutzheiligen sein mußte, wenigstens wenn ich einen hatte; und die Weissagung des Jesuiten, der mir die Beichte abgenommen hatte, kam mir in den Sinn. Besonders aber, ich will es gestehen, erhöhte meinen Mut und vermehrte tatsächlich meine körperlichen Kräfte das weltliche Orakel, das ich von meinem lieben Ariosto empfangen hatte:

Fra il fin d’ottobre è il capo di novembre.

Wenn ein großes Unglück zuweilen einen kleinen Geist fromm macht, so ist es fast unmöglich, daß der Aberglaube nicht dazu beiträgt. Der Klang der Turmuhr erschien mir als ein sprechender Talisman, der mich zum Handeln aufrief und mir den Sieg verhieß. Meiner ganzen Länge nach ausgestreckt, den Kopf gegen das Gitter geneigt, stieß ich meinen Spieß in den Rahmen, in den es eingelassen war, und beschloß diesen ganz loszubrechen. In einer Viertelstunde gelang mir dies. Das Gitter befand sich unversehrt in meinen Händen, und ich legte es neben die Dachluke. Ohne Schwierigkeit zertrümmerte ich nun das Dachfenster, obgleich ich mir an der linken Hand eine stark blutende Verletzung zugezogen hatte. Mit Hilfe meines Spießes gelangte ich auf die vorhin beschriebene Art wieder auf den First und kehrte auf diesem an die Stelle zurück, wo ich meinen Kameraden zurückgelassen hatte. Ich fand ihn in wütender Verzweiflung. Er sagte mir die gröbsten Beleidigungen, weil ich ihn so lange allein gelassen hätte, und erklärte, er hätte nur bis Schlag ein Uhr gewartet, um in sein Gefängnis zurückzukehren.

»Was dachten Sie denn von mir?«

»Ich glaubte, Sie seien in irgend einen Abgrund gestürzt.«

»Und Ihre Freude, die Sie doch darüber empfinden müssen, daß Sie mich wiedersehen, spricht sich nur in Beleidigungen aus?«

»Was haben Sie denn so lange gemacht?«

»Kommen Sie mit, Sie werden sehen!«

Ich lud mir meine Pakete wieder auf und machte mich auf den Weg nach der Dachluke. Als wir uns dieser gegenüber befanden, berichtete ich Balbi genau über alles, was ich getan hatte, und beriet mich mit ihm, wie wir auf den Dachboden gelangen könnten. Dies war leicht für einen von uns, denn der andere konnte ihn an dem Strick herunter lassen; aber ich sah keine Möglichkeit, wie nachher der Zweite ihm folgen könnte, da der Strick sich nicht am Eingang der Dachluke befestigen ließ. Wenn ich einstieg und hinuntersprang, konnte ich Arme und Beine brechen, denn die Entfernung von der Dachluke bis zum Fußboden war mir unbekannt. Als ich ihm dies vernünftige Bedenken im freundlichsten Ton vorgestellt hatte, antwortete der Mensch mir: »Lassen Sie mich nur einstweilen hinunter, wenn ich unten bin, haben Sie Zeit genug, darüber nachzudenken, wie Sie mir folgen können.«

Ich gestehe, daß ich in der ersten Entrüstung in Versuchung war, ihm meinen Spieß in die Brust zu stoßen. Ein guter Geist hielt mich zurück, und ich warf ihm mit keinem einzigen Wort seine niedrige Selbstsucht vor, sondern öffnete sofort mein Paket mit den Stricken. Nachdem ich ihm den Strick unter den Achseln fest um die Brust geschnürt hatte, ließ ich ihn mit den Füßen nach unten sich platt auf den Bauch legen und herunterrutschen, bis er auf der Dachluke ankam. Als er so weit war, sagte ich ihm, er solle bis ans Gesäß sich in die Öffnung hinunterlassen und sich mit den Händen am Rand festhalten. Als er dies getan hatte, rutschte ich wie früher über das Dach herunter, legte mich lang auf die Dachluke hin, zog den Strick straff an und sagte dem Mönch, er solle sich nun ohne Furcht loslassen. Unten angekommen, band er den Strick los; ich zog diesen hinauf und fand, daß die Höhe mehr als fünfzig Fuß betrug. Dies war zuviel, um den gefährlichen Sprung zu wagen. Des Mönches war ich nunmehr sicher. Er hatte fast zwei Stunden angstvoll auf dem Dachfirst verbracht, in einer, wie ich zugeben will, nicht eben Vertrauen erweckenden Lage. Er rief mir zu, ich solle ihm nur die Stricke herunter werfen; er wolle dann schon für das Weitere sorgen. Natürlich hütete ich mich, diesen dummen Rat zu befolgen. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Auf eine Eingehung wartend, kletterte ich einstweilen nach dem Dachfirst zurück. Mein Blick fiel auf eine Stelle neben einer Kuppel, die ich noch nicht besucht hatte, und ich machte mich dorthin auf den Weg. Ich sah eine mit Bleiplatten bedeckte ebene Terrasse neben einer großen Dachluke mit zwei verschlossenen Läden. Auf dieser Terrasse stand ein Trog mit fertigem Mörtel, Mauergerät und eine Leiter, die mir lang genug zu sein schien, um auf ihr nach dem Dachboden hinunter steigen zu können, wo mein Kamerad mich erwartete. Dies genügte mir, um meinen Entschluß zu fassen. Ich befestigte meinen Strick an der ersten Sprosse und schleppte die unbequeme Last bis an die Dachluke. Nun galt es aber, die schwere Leiter, welche zwölf von meinen Klaftern10 lang war, in die Luke hineinzubringen. Die Schwierigkeiten, die mir dies machte, ließen mich bedauern, daß ich mich der Hilfe des Mönches beraubt sah.

Ich hatte die Leiter so weit geschleppt, daß das eine Ende die Luke berührte, während sie um ein Drittel ihrer Länge über die Dachrinne hinausragte. Ich ließ mich bis auf die Luke herabgleiten, zog seitwärts die Leiter an mich heran und befestigte das Ende meines Strickes an ihrer achten Sprosse. Hierauf ließ ich sie wieder so weit hinunter, bis ihre Spitze sich unmittelbar neben der Luke befand. Ich bemühte mich nun, sie in diese hineinzubringen, aber es war mir unmöglich, sie weiter als bis zur fünften Sprosse eindringen zu machen; denn ihre Spitze stieß innen gegen das Dach der Luke an, und keine Kraft auf der ganzen Welt hätte sie tiefer hineingebracht, ohne entweder die Dachluke oder die Leiter zu zerbrechen. Hiergegen gab es nur ein einziges Mittel: ich mußte sie am anderen Ende lüpfen; durch die Neigung konnte die Spitze an dem Hindernis vorbeigelangen, und dann mußte die Leiter durch ihr eigenes Gewicht nach unten gleiten. Ich hätte allerdings die Leiter quer legen und meinen Strick an ihr befestigen können, um ohne Gefahr an ihr herabzugleiten. Aber dann wäre die Leiter dort liegen geblieben und hätte am anderen Morgen den Sbirren und Lorenzo den Ort verraten, wo wir uns vielleicht noch befunden hätten.

Ich wollte es nicht riskieren, durch eine Unvorsichtigkeit die Frucht so vieler Mühen und Gefahren zu verlieren; um alle Spuren zu beseitigen, mußte die Leiter ganz und gar verschwinden. Da niemand da war, um mir zu helfen, entschloß ich mich, selber bis zur Dachrinne hinunterzusteigen, um die Leiter hochzuheben, und so meinen Zweck zu erreichen. Dies tat ich denn auch, aber unter so großer Gefahr, daß ich es nur einer Art von Wunder verdankte, wenn ich für meine Waghalsigkeit nicht mit dem Leben büßte. Ich ließ den Strick los, ohne mich weiter um die Leiter zu bekümmern; denn ich brauchte nicht zu befürchten, daß sie in den Kanal fallen würde; sie hing nämlich mit der dritten Sprosse an der Dachrinne fest. Meinen Spieß in der Hand, ließ ich mich nun bis zur marmornen Dachrinne heruntergleiten. Ich berührte diese mit meinen Fußspitzen, während ich platt auf dem Bauch lag. In dieser Stellung konnte ich mit Aufgebot aller Kraft die Leiter unten um einen halben Fuß anheben und sie zugleich vorwärts stoßen. Zu meiner großen Freude sah ich, daß sie um einen Fuß tiefer in die Dachluke eingedrungen war. Der Leser wird begreifen, daß hierdurch ihr Gewicht sich beträchtlich verminderte. Es galt nun, sie noch um zwei Fuß weiter hineinzubringen, indem ich sie um ebensoviel emporhob; denn sobald dies geschehen war, brauchte ich mich nur wieder auf das Dach der Luke zu legen, um mit Hilfe des Stricks die ganze Leiter hineinzubringen. Um sie nun soweit emporzuheben wie es nötig war, richtete ich mich auf meinen Knien auf. Aber infolge der Kraftanstrengung glitt ich aus und befand mich nur noch mit der Brust und den beiden Ellenbogen auf dem Dach.

Entsetzlicher Augenblick! Noch jetzt schaudere ich bei der Erinnerung daran, und es ist dem Leser vielleicht nicht möglich, ihn sich in seiner ganzen Furchtbarkeit vorzustellen. Im Selbsterhaltungstriebe bot ich fast unbewußt alle meine Kräfte auf, um mich festzuhalten, und es glückte mir, ich möchte fast sagen: durch ein Wunder. Ich verlor keinen Augenblick die Kaltblütigkeit, und es gelang mir endlich, indem ich die ganze Kraft meiner Arme aufbot, mich hochzustemmen, so daß nunmehr mein Körpergewicht auf den Handgelenken ruhte, während ich mich zugleich auf den Unterleib aufstützte. Um die Leiter brauchte ich mir glücklicherweise keine Sorgen mehr zu machen, denn bei der ungeheuren Kraftanstrengung, die mir beinahe so teuer zu stehen gekommen wäre, hatte ich das Glück gehabt, sie um drei Fuß tiefer in die Dachluke hineinzustoßen, so daß sie nun unbeweglich feststand.

Indem ich mich also auf meine Handgelenke und auf die Leistengegend zwischen Unterleib und Schenkeln aufgestützt am Rande der Dachrinne festhielt, sah ich, daß ich außer aller Gefahr sein würde, wenn ich mein rechtes Bein hochheben und erst das eine, dann das andere Knie auf die Dachrinne bringen könnte. Aber meine Leiden waren noch nicht zu Ende. Infolge der Anstrengung zogen sich meine Sehnen so stark zusammen, daß ein überaus schmerzhafter Krampf mich an allen Gliedern lähmte. Ich verlor jedoch nicht den Kopf, sondern hielt mich unbeweglich, bis der Anfall vorüber war: ich wußte, daß dies das beste Mittel gegen den Krampf ist, denn ich habe es oft an mir selber erprobt. Wie entsetzlich war dieser Augenblick! Nach zwei Minuten erneuerte ich ein wenig meine Anstrengungen und erreichte glücklich mit beiden Knien die Dachrinne. Nachdem ich Atem geschöpft hatte, hob ich vorsichtig die Leiter empor, bis sie endlich parallel mit dem kleinen Dach der Luke schwebte. Dies genügte mir, da mir die Gesetze des Gleichgewichts und des Hebels genügend bekannt waren. Ich nahm meinen Spieß wieder zur Hand und kletterte in gleicher Weise zur Dachluke empor. Mit Leichtigkeit brachte ich nun die ganze Leiter hinein, deren Ende mein Kamerad mit seinen Armen auffing. Ich warf meine Kleider, die Stricke und die Trümmer des ausgebrochenen Gitterrahmens auf den Boden und stieg auf der Leiter hinunter. Der Mönch empfing mich voller Freuden und brachte die Leiter auf die Seite. Mit den Armen umhertastend, untersuchten wir nun den dunklen Ort, an dem wir uns befanden; er war etwa dreißig Schritte lang und zwanzig Schritte breit.

An dem einen Ende fanden wir eine Doppeltür, die aus eisernen Stäben bestand; dies war ein übles Vorzeichen. Als ich aber meine Hand auf die in der Mitte befindliche Klinke legte, gab diese dem Druck nach, und die Türe öffnete sich. Wir gingen zunächst an den Wänden entlang um den neuen Raum herum; als wir ihn aber durchqueren wollten, stießen wir auf einen großen Tisch, der von Stühlen und Lehnsesseln umgeben war. Wir gingen nach der Stelle zurück, wo wir Fenster gefunden hatten, und öffneten eines von diesen. Aber wir bemerkten beim Schimmer der Sterne nur Abgründe zwischen den Kuppeln des Doms. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, hier herabzusteigen. Denn der Ort, wo ich mich befand, war mir unbekannt, und ich wollte wissen, wohin ich geriete. Ich machte das Fenster wieder zu; wir verließen den Saal und gingen nach dem Ort zurück, wo wir unser Gepäck hatten liegen lassen. Über alle Maßen körperlich und geistig erschöpft, ließ ich mich auf den Fußboden sinken; ich schob mir ein Paket Stricke unter den Kopf, und ein sanfter Schlummer bemächtigte sich meiner Sinne. Ich überließ mich ihm völlig willenlos; es wäre nur unmöglich gewesen, dem Schlaf zu widerstehen, selbst wenn ich gewußt hätte, daß er mir das Leben kosten würde. Ich erinnere mich noch jetzt sehr gut, welch ein wonniges Gefühl es für mich war, als ich einschlief.

Ich schlief drei und eine halbe Stunde lang. Das Geschrei und das heftige Rütteln des Mönches vermochten mich kaum zu erwecken. Er sagte mir, es habe soeben fünf Uhr geschlagen und es sei ihm unbegreiflich, wie ich in der Lage, in der wir uns befänden, schlafen könnte. Ihm war das unbegreiflich, mir aber nicht: mein Schlaf war nicht freiwillig gewesen; ich hatte nur meiner erschöpften Natur nachgegeben und lag sozusagen in den letzten Zügen. Meine Erschöpfung konnte nicht überraschen: seit zwei Tagen hatte ich vor Aufregung nichts essen und kein Auge schließen können, und die Anstrengungen, die ich hatte machen müssen, gingen üher das hinaus, was ein Mensch unter gewöhnlichen Umständen leisten kann. Sie würden genügt haben, um auch die Kräfte eines jeden anderen Menschen vollkommen zu erschöpfen. Übrigens hatte dieser wohltätige Schlaf mir meine alte Kraft zurückgegeben, und in der Zwischenzeit war, wie ich mit großer Freude sah, die Dunkelheit so weit gewichen, daß wir zuversichtlicher und schneller handeln konnten.

Sobald ich mich umgesehen hatte, rief ich aus: »Dieser Ort ist kein Gefängnis; es muß hier einen leicht zu findenden Ausgang geben.« Wir gingen nun nach der Wand, die der eisernen Tür gegenüberlag, und ich glaubte in einem sehr engen Winkel eine Tür zu erkennen. Ich betastete sie mit den Fingern und fand endlich ein Schlüsselloch. In dieses stieß ich meinen Spieß hinein und sprengte mit drei oder vier Stößen das Schloß. Wir betraten eine kleine Kammer, wo ich auf einem Tisch einen Schlüssel fand. Ich versuchte diesen an einer gegenüberliegenden Türe, drehte ihn herum, und fand, daß das Schloß offen war. Ich legte den Schlüssel wieder auf den Tisch, wo ich ihn gefunden hatte, und bat den Mönch, unsere Pakete zu holen. Dann verließen wir das Zimmer und befanden uns in einem Gange, worin Nischen ganz mit Papieren angefüllt waren. Es waren Archive. Ich entdeckte eine kleine, steinerne Treppe und ging diese hinunter; ich fand eine andere, ging diese ebenfalls hinunter und stieß auf eine Glastür. Diese öffnete ich und befand mich plötzlich in einem Saale, den ich kannte. Ich öffnete ein Fenster. Es wäre mir leicht gewesen herauszuklettern; aber dann hätte ich mich in dem Labyrinth der kleinen Höfe befunden, die die Markuskirche umgeben. Um Gottes willen nur nicht eine solche Torheit!

Auf einem Schreibtisch sah ich ein eisernes Werkzeug mit runder Spitze und hölzernem Griff. Es diente dem Sekretär der Kanzlei dazu, die Pergamente zu durchbohren, um mittels eines Fadens das Bleisiegel anzuhängen. Ich nahm das Instrument an mich. Ich öffnete den Schreibtisch und fand die Abschrift eines Briefes, worin dem Provveditore von Korfu die Absendung von dreitausend Zechinen zur Ausbesserung der Festung gemeldet wurde. Ich suchte die Zechinen; sie waren nicht da. Gott weiß, mit welchem Vergnügen ich mich ihrer bemächtigt hätte, und wie ich den Mönch ausgelacht hätte, wenn er mich beschuldigt haben sollte, dadurch einen Diebstahl zu begehen. Ich hätte diese Summe als ein Geschenk vom Himmel angesehen, und hätte mich ganz aufrichtig nach dem Rechte des Eroberers als ihren Eigentümer betrachtet.

Ich ging an die Tür der Kanzlei und steckte meinen Spieß in das Schlüsselloch. Aber in weniger als einer Minute erlangte ich die Gewißheit, daß es mir unmöglich sein würde, das Schloß zu sprengen, und nun entschloß ich mich schnell ein Loch durch den einen Türflügel zu brechen. Ich suchte mir die Stelle aus, wo das Holz am wenigsten Äste hatte. Schnell ging ich ans Werk und bohrte und spaltete mit schnellen Stößen meines Spießes das Holz, so gut ich konnte. Der Mönch half mir nach Kräften mit der dicken Ahle, die ich auf dem Schreibtische gefunden hatte. Aber er zitterte bei dem hallenden Lärm, den mein Spieß hervorbrachte, so oft ich ihn in das Holz stieß, und den man auf weite Entfernung hören mußte. Ich fühlte recht wohl die große Gefahr, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen.

Nach einer halben Stunde war das Loch groß genug, und dies war gut für uns; denn es wäre mir schwierig gewesen, es ohne eine Säge noch größer zu machen. Die Ränder dieses Loches sahen grausig aus; denn die starrten von Spitzen, an denen man sich die Kleider und die Glieder zerreißen konnte. Das Loch befand sich fünf Fuß über dem Boden. Wir stellten unter das Loch zwei Schemel nebeneinander und stiegen hinauf.

Der Mönch kroch mit gekreuzten Armen und dem Kopf voraus in das Loch hinein; ich hielt ihn zuerst an den Schenkeln, dann an den Füßen fest, und es gelang mir, ihn durchzustoßen. Daß das Zimmer, in welches die Tür führte, dunkel war, machte mir keine Sorgen; denn ich kannte die Örtlichkeit. Als mein Kamerad draußen war, warf ich ihm unsere Decken zu; nur die Stricke ließ ich liegen. Dann setzte ich einen dritten Schemel auf die beiden ersten und stieg hinauf, so daß nunmehr das Loch sich in der Höhe meiner Schenkel befand. Ich kroch bis zum Unterleib hinein, obgleich mir dies große Schwierigkeiten machte, weil das Loch sehr eng war, weil ich keinen Stützpunkt für meine Hände hatte und weil mich niemand von hinten schieben konnte, wie ich den Mönch hindurchgeschoben hatte; ich sagte Balbi, er solle mich um den Leib packen und ohne Rücksicht an sich ziehen, wenn ich auch dabei in Fetzen ginge. Er gehorchte, und ich besaß die Sündhaftigkeit, den furchtbaren Schmerz zu ertragen, den mir die spitzigen Zacken des Holzes bereiteten, indem sie mir die Flanken und Schenkel zerrissen, so daß das Blut herunterströmte.

Als ich endlich glücklich draußen war, nahm ich schnell mein Paket an mich, stieg zwei Treppen hinunter und öffnete ohne Schwierigkeit die Tür des Ganges, der zu der großen Tür der Königstreppe führt und neben welchem sich das Kabinett des Savio alla scrittura oder Kriegsministers befindet. Diese große Tür war verschlossen, wie es die des Archivsaales gewesen war, und ich sah auf den ersten Blick, daß ich ohne eine Ramme oder eine Sprengpatrone gegen diese Tür nichts ausrichten konnte. Mein Spieß, den ich in der Hand hatte, schien mir zu sagen: Hier ist es zu Ende, ich kann dir nichts mehr nützen; du kannst mich fortwerfen. Der Spieß war das Werkzeug meiner Freiheit; ich liebte ihn; er war würdig, als Dankopfer über dem Altar der Freiheit und Erlösung zu hängen. Darum behielt ich ihn.

Vollkommen ruhig und gefaßt setzte ich mich auf einen Stuhl und sagte zum Mönch:

»Setzen Sie sich ebenfalls! Mein Werk ist zu Ende; Gott oder das Glück müssen das übrige tun:

Abbia, chi regge il ciel cura del resto,
o la fortuna, se non tocca a lui.

Laß für den Rest des Himmels Lenker sorgen
Oder das Glück, wenn es nicht Ihn bekümmert.

Ich weiß nicht, ob die Leute des Palastes heute, am Allerheiligentage und morgen, am Allerseelentage, zum Ausfegen kommen werden. Wenn einer kommt, so laufe ich hinaus, sobald die Tür sich öffnet, und Sie müssen mir auf dem Fuße folgen. Wenn aber niemand kommt, so rühre ich mich nicht von hier; und wenn ich vor Hunger sterben sollte, so ist eben nichts dabei zu machen.«

Über diese Worte geriet der arme Mönch in eine fürchterliche Wut. Er nannte mich einen hirnverbrannten Narren, einen Verführer, Betrüger, Lügner; dies rührte mich nicht, ich ließ ihn schimpfen. Plötzlich schlug es sechs Uhr. Seit meinem Erwachen auf dem Dachboden war nur eine Stunde vergangen.

Am wichtigsten war es nun für mich, mich völlig umzukleiden. Pater Balbi sah wie ein Bauer aus, aber er war unversehrt; seine Kleider waren nicht wie die meinigen zersetzt und mit Blut bedeckt; seine Weste von rotem Flanell und seine Hose von violettem Leder waren heil. Ich dagegen sah erbarmungswürdig aus – blutüberströmt und in ganz zerlumpten Kleidern. Über meinen Knien bluteten zwei tiefe Schrammen, die ich mir an der Dachrinne gerissen hatte; das Loch in der Kanzleitür hatte mir Weste, Hemd, Hosen, Hüften und Schenkel zerfetzt. Überall hatte ich fürchterliche Schrammen. Ich zerriß einige Taschentücher und verband mich damit, so gut es ging. Dann zog ich meinen schönen Anzug an, in welchem ich an dem kalten Herbsttage ziemlich komisch aussehen mußte. Ich ordnete meine Haare, so gut es eben gehen wollte, in meinen Haarbeutel, zog weiße Strümpfe an, legte in Ermangelung eines anderen ein Spitzenhemd an und zog noch zwei andere darüber. Taschentücher und Strümpfe steckte ich in meine Taschen und alles übrige warf ich in eine Ecke. Meinen schönen Mantel hängte ich dem Mönch um die Schultern, und der gute Mann sah aus, wie wenn er ihn gestohlen hätte. Ich mußte aussehen wie ein Kavalier, der einen Ball mitgemacht, hierauf die Nacht an einem schlechten Ort verbracht hatte und dort etwas zerzaust worden war. Nur die Verbände an meinen Knien, die man sah, stimmten nicht zu meiner etwas unangebrachten Eleganz.

In diesem eleganten Aufzug, meinen schönen Hut mit spanischer Goldspitze und weißer Feder auf dem Kopf, trat ich an ein offenes Fenster. Einige Faulenzer, die (wie ich zwei Jahre später in Paris erfuhr) sich zufällig im Hof des Dogenpalastes befanden und sich wunderten, daß ein so vornehm gekleideter Herr wie ich zu solcher Stunde dort oben sein könnte, gingen zu dem Mann, der den Schlüssel zu diesem Saal hatte, und sagten ihm Bescheid. Er glaubte, er hätte vielleicht am Tage vorher jemand eingeschlossen, holte seinen Schlüssel und kam herauf. Ich ärgerte mich, daß ich mich am Fenster gezeigt hatte. Ich wußte nicht, daß gerade dies das größte Glück für mich war. Ich setzte mich wieder neben den Mönch und ließ mich von ihm ausschelten, als plötzlich ein Klirren von Schlüsseln an mein Ohr drang. Ganz aufgeregt sprang ich auf und spähte durch eine schmale Ritze, die sich glücklicherweise zwischen den beiden Türflügeln befand. Ich sah einen einzelnen Mann, ohne Hut, nur mit einer Perücke auf dem Kopf; er stieg langsam, einen großen Schlüsselbund in der Hand haltend, die Treppe herauf. Ich sagte dem Mönch in sehr ernstem Ton, er solle nicht den Mund auftun, sondern hinter mich treten und mir sofort folgen. Meinen Spieß hielt ich in der rechten Hand unter meinem Rock verborgen. Ich trat nun so vor die Tür, daß ich hinauskonnte, sobald sie geöffnet wurde. Ich betete zu Gott, daß der Mann mir keinen Widerstand leisten möchte; denn in diesem Fall hätte ich mich genötigt gesehen, ihn niederzustoßen, und dazu war ich entschlossen.

Die Tür ging auf. Bei meinem Anblick stand der arme Mann wie versteinert da. Ohne mich aufzuhalten, ohne ein Wort zu sagen, machte ich mir seine Verblüffung zunutze und lief schnell die Treppe hinunter, der Mönch hinter mir her. Mit schnellen Schritten, aber nicht wie ein Fliehender, wandte ich mich nach der prachtvollen sogenannten Riesentreppe, ohne auf Balbi zu hören, der mir unaufhörlich zurief: »In die Kirche! in die Kirche!« Die Kirchentür war nur zwanzig Schritt von der Treppe entfernt; aber die Kirchen boten in Venedig verfolgten Verbrechern schon längst keine Sicherheit mehr, und deshalb nahm kein Mensch seine Zuflucht dorthin. Der Mönch wußte dies, aber in der Angst vergaß er es. Später sagte er mir, er habe mich nur deshalb aufgefordert, in die Kirche einzutreten, weil ihn ein religiöses Gefühl zum Altar hingezogen habe.

»Warum sind Sie nicht allein hineingegangen?«

»Ich wollte Sie nicht verlassen.«

Er hätte lieber sagen sollen: ich wollte Sie nicht verlieren. Die Sicherheit, die ich suchte, lag jenseits der Grenzen der Durchlauchtigsten Republik, und dorthin hatte ich den Weg nunmehr angetreten. Im Geiste war ich schon da. Aber es galt auch noch körperlich dahin zu gelangen. Ich ging geraden Weges durch die Königstür des Dogenpalastes. Ohne einen Menschen anzusehen – dies ist das beste Mittel, um nicht beachtet zu werden – ging ich über den kleinen Markusplatz bis an das Ufer, bestieg die erste beste Gondel und sagte dem Gondoliere, der auf dem Hinterteil stand, ganz laut: »Ich will nach Fusina; rufe schnell noch einen zweiten Ruderer.« Es war einer ganz in der Nähe, und während die Gondel losgemacht wurde, warf ich mich auf das Mittelpolster, der Mönch dagegen setzte sich auf die Seitenbank. Die sonderbare Gestalt Balbis, ohne Hut und mit einem schönen Mantel auf den Schultern, dazu mein unzeitgemäßer Anzug, das alles mußte die Leute auf den Gedanken bringen, ich sei ein Scharlatan oder ein Astrologe.

Sobald wir um das Zollhaus herumgefahren waren, begannen die Schiffer kräftig den Kanal der Giudecca entlang zu fahren, durch den man hindurch muß, um nach Fusina oder nach Mestre zu gelangen, wohin ich in Wirklichkeit wollte. Als wir über die Hälfte des Kanals hinaus waren, streckte ich den Kopf zum Fenster hinaus und fragte den hinteren Gondoliere: »Glaubst du, daß wir vor sieben Uhr in Mestre sind?«

»Aber, Herr, Sie haben gesagt, Sie wollten nach Fusina.«

»Du bist verrückt; ich habe gesagt: nach Mestre.«

Der zweite Schiffer sagte mir, ich irrte mich, und mein dummer Mönch, als eifriger Christ und großer Freund der Wahrheit, wiederholte natürlich, ich hätte unrecht. Ich hatte Lust, ihm einen Fußtritt zu versetzen, zur Strafe für seine fürchterliche Dummheit; dann aber fiel mir ein, daß ja nicht jeder gescheit ist, der es gerne sein möchte. Ich lachte hell auf und gab zu, ich könnte mich vielleicht geirrt haben, in Wirklichkeit hätte ich aber die Absicht, nach Mestre zu fahren. Ich bekam keine Antwort; aber einen Augenblick später sagte der Gondelführer zu mir, er sei bereit, nach England zu fahren, wenn ich wollte.

»Bravo! Also nach Mestre.«

»Wir werden in drei Viertelstunden dort sein, denn Wind und Flut sind uns günstig.«

Sehr zufrieden sah ich auf den Kanal zurück, der mir nie zuvor so schön erschienen war, besonders weil nicht ein einziges Boot hinter uns her fuhr. Der Morgen war herrlich, die Luft rein, die Sonne sandte uns ihre ersten wunderschönen Strahlen, und meine beiden jungen Schiffer ruderten kräftig und gewandt. Und als ich nun an die entsetzliche Nacht dachte, die ich durchgemacht, an die Gefahren, denen ich entronnen war, an den Ort, wo ich noch den Tag vorher ein Gefangener gewesen war, ferner an alle Fügungen des Zufalls, die mir günstig gewesen waren, und an die Freiheit, die ich eben zu genießen begann und die in ihrem vollen Glanze vor mir war – da überwältigte mich Dankbarkeit gegen Gott, der Überschwang der Gefühle erstickte mich fast, und ich brach in Tränen aus.

Mein wunderbarer Kamerad, der bis dahin kein Wort gesagt hatte, als daß er den Schiffern recht gegeben hatte, glaubte mich trösten zu müssen. Er täuschte sich über die Ursache meiner Tränen, und die ungeschickte Art, wie er sich bei seinen Tröstungsversuchen benahm, hatte zur Folge, daß meine köstlichen Tränen in ein eigentümliches Lachen übergingen, das ihn auf eine andere, ebenso falsche Vermutung brachte: er glaubte, ich wäre wahnsinnig geworden. Der arme Mönch war dumm, wie ich bereits gesagt habe, und boshaft war er nur, weil er dumm war. Ich hatte mich in der harten Notwendigkeit befunden, mir seine Dummheit zunutze zu machen, aber er hätte mich durch sie beinahe ins Verderben gestürzt, wenn gleich ohne böse Absicht. Es war mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß ich den Schiffern, in der Absicht nach Mestre zu gehen, befohlen hätte, nach Fusina zu gehen; er sagte mir, dieser Gedanke könnte mir erst auf dem Kanal gekommen sein.

Wir kamen in Mestre an. Auf der Post fand ich keine Pferde; aber im »Gasthof zur Glocke« waren eine Menge Fuhrleute, mit denen man ebenso gut fährt. Mit einem von ihnen machte ich ab, daß er mich in fünf Viertelstunden nach Treviso fahren sollte. In drei Minuten waren die Pferde eingespannt; in der Annahme, daß Balbi hinter mir stände, drehte ich mich um und sagte: »Steigen Sie ein.« Aber er war nicht da. Ich befahl einem Hausknecht, ihn herbeizuholen, und nahm mir vor, ihn tüchtig auszuscheren, selbst wenn er genötigt gewesen sein sollte, ein Bedürfnis zu befriedigen. Denn wir befanden uns in einer Lage, daß wir alle Bedürfnisse unterdrücken mußten, selbst solche der natürlichsten Art. Der Stallknecht kam zurück und sagte, er könnte den Mönch nicht finden. Ich war wütend. Ich dachte daran, ihn einfach im Stich zu lassen. Ich hätte es tun müssen; nur ein Gefühl der Menschlichkeit hielt mich davon ab. Ich steige wieder aus und erkundige mich; jedermann hat ihn gesehen, aber kein Mensch kann mir sagen, wo er ist oder wo er sein mag. Ich eile die Lauben der Hauptstraße hinunter, stecke instinktmäßig den Kopf zum Fenster eines Kaffeehauses hinein und sehe den unglückseligen Mönch am Schenktisch stehen, Schokolade trinken und mit der Kellnerin schäkern. Er sieht mich, zeigt mir das Mädchen, sagt mir, sie sei hübsch, und fordert mich auf, ebenfalls eine Tasse Schokolade zu trinken. Zugleich bittet er mich, für ihn zu bezahlen, denn er habe keinen Soldo bei sich. Ich unterdrücke meine Entrüstung und sage zu ihm: »Ich will keine, beeilen Sie sich!« Zugleich kneife ich ihn in den Arm, daß er vor Schmerz ganz blaß wird. Ich bezahle, und wir gehen.

Ich zitterte vor Wut.

Wir kamen nach der »Glocke« zurück und stiegen ein. Kaum aber waren wir zehn Schritte weit gefahren, so begegneten wir einem Einwohner von Mestre, einem gewissen Balbi Tomasi, einem guten Mann, der aber im Rufe stand, Beziehungen zu dem heiligen Offizium der Inquisition zu unterhalten. Er kannte mich, blieb stehen und rief mir zu: »Wie, Herr Casanova, Sie hier? Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Sie sind also entflohen? Wie haben Sie das angefangen?«

»Ich bin nicht entflohen; man hat mich entlassen.«

»Das ist nicht möglich; denn ich war erst gestern abend bei Herrn Grimani und würde es erfahren haben.«

Lieber Leser, du wirst dir leichter vorstellen können, in welchem Zustande ich mich in diesem Augenblick befand, als ich es dir schildern kann. Ich sah mich von einem Mann entdeckt, der, wie ich glaubte, bezahlt war, um mich zu verhaften, und der zu diesem Zweck nur einem von den Sbirren zuzuwinken brauchte, von denen es in Mestre wimmelte. Ich sagte ihm, er möchte leise sprechen, stieg vom Wagen herunter und bat ihn, mit mir ein bißchen zur Seite zu treten. Ich führte ihn hinter das Haus bis zu einem Graben, auf dessen anderer Seite freies Feld war. Als ich sah, daß niemand uns bemerkte, bewaffnete ich mich mit meinem Spieß und packte ihn am Kragen. Er sah meine Absicht, riß sich los, sprang über den Graben und lief aus Leibeskräften davon, ohne sich umzusehen. Sobald er einen gewissen Vorsprung gewonnen hatte, mäßigte er seinen Lauf, sah sich um und warf mir Kußhändchen zu, um mir anzudeuten, daß er mir gute Reise wünschte. Als ich ihn nicht mehr sah, dankte ich Gott, daß der Mann durch seine Gelenkigkeit mich davor bewahrt hatte, ein Verbrechen zu begehen; denn ich wollte ihn totstechen, und er hatte, wie es scheint, keine bösen Absichten.

Ich war in einer fürchterlichen Lage. Ich war allein und befand mich in offenem Kriege mit den gesamten Streitkräften der Republik. Vor der Vorsicht mußte alles andere zurücktreten, und meine eigene Sicherheit gebot mir, kein Mittel außer acht zu lassen, um mein Ziel zu erreichen.

Finster wie ein Mensch, der soeben einer großen Gefahr entgangen ist, warf ich dem jämmerlichen Mönch, der nun einsah, welcher Gefahr er uns ausgesetzt hatte, nur einen Blick der Verachtung zu und stieg wieder auf den Wagen. Ich dachte darüber nach, wie ich mir den Tölpel vom Halse schaffen könnte, und er saß da und wagte nicht den Mund aufzutun. Ohne weiteren Zwischenfall kamen wir in Treviso an, wo ich dem Postmeister sagte, er solle uns um zehn Uhr einen Zweispänner bereit halten. In Wirklichkeit hatte ich jedoch nicht die Absicht, mit der Post weiter zu reisen, erstens weil ich nich. so viel Geld hatte, zweitens weil ich verfolgt zu werden fürchtete. Der Gastwirt fragte mich, ob ich frühstücken wollte. Ich hatte es nötig, um mich bei Kräften zu erhaben; denn ich war halbtot vor Hunger. Aber ich hatte nicht den Mut, die Einladung anzunehmen: der Verlust einer Viertelstunde konnte verhängnisvoll für mich werden. Ich fürchtete, erwischt zu werden, und dessen hätte ich mich mein Leben lang geschämt, denn ein kluger Mann muß es auf freiem Felde mit viermalhunderttausend Mann aufnehmen können; wenn er sich nicht zu verstecken versteht, ist er ein Dummkopf.

Ich ging zum Thomastor hinaus, wie wenn ich einen Spaziergang machen wollte. Eine Miglie blieb ich auf der Landstraße, dann aber schlug ich mich querfeldein. Ich war entschlossen, keine Straße mehr zu betreten, solange ich mich noch im Gebiet der Republik befände. Der kürzeste Weg führte über Bassano, aber ich wählte den längsten; denn es war nicht unmöglich, daß man am Ausgang des nächsten Weges auf mich wartete, während man wahrscheinlich nicht daran denken würde, daß ich über Feltre gehen würde; denn dies war der längste Weg, um in das Gebiet des Bischofs von Trient zu gelangen. Nachdem wir drei Stunden marschiert waren, ließ ich mich auf die Erde niedersinken. Ich konnte nicht mehr. Ich mußte etwas essen oder auf dem Platze sterben. Ich sagte dem Mönch, er möchte den Mantel neben mich legen und in ein nahes Bauernhaus gehen, sich gegen Bezahlung etwas Essen geben lassen und es mir bringen. Ich gab ihm das nötige Geld dazu. Er ging, aber er sagte mir, er hätte mich für mutiger gehalten. Der Elende wußte nicht, was Mut heißt, aber er war kräftiger als ich und hatte sich ohne Zweifel vor unserem Ausbruch tüchtig den Magen versorgt. Außerdem hatte er Schokolade getrunken; er war mager, er war Mönch, und Vorsicht und Ehrgefühl beunruhigten nicht seinen Geist auf Kosten seines Körpers. Obgleich das Haus kein Wirtshaus war, schicke die gute Bäuerin mir durch ein Mädchen ein reichliches Essen, das mir nur dreißig Soldi kostete. Als ich meinen Hunger gestillt hatte, fühlte ich, daß der Schlaf mich übermannen wollte, und machte mich fofort wieder auf den Weg, nachdem ich mich ziemlich genau nach der Richtung erkundigt hatte. Nach einem vierstündigen Marsch machte ich in der Nähe eines Dörfchens Halt und erfuhr, daß ich vierundzwanzig Meilen von Treviso entfernt war. Ich war völlig erschöpft; meine Schuhe waren zerrissen und meine Enkel geschwollen Ich hatte nur noch eine Stunde bis zum Dunkelwerden vor mir. Ich streckte mich in einem Wäldchen auf den Boden aus, bat Balbi, sich neben mich zu setzen, und hielt folgende Ansprache an ihn: »Wir müssen nach Borgo di Valsugana; dies ist der erste Ort jenseits der Grenzen der Republik. Wir werden dort ebenso sicher sein wie in London und können uns dort ausruhen. Aber um diesen Ort zu erreichen, müssen wir außerordentlich vorsichtig sein, und die erste Vorsichtsmaßregel ist die, daß wir uns trennen. Sie gehen durch die Wälder von Mantello, ich gehe über die Berge; Sie auf dem leichtesten und kürzesten Wege, ich auf dem längsten und schwierigsten; endlich bekommen Sie alles Geld, und ich behalte keinen Heller. Ich schenke Ihnen meinen Mantel; Sie tauschen diesen gegen einen Bauernrock und einen Hut ein, und dann wird ein jeder Sie für einen Bauern halten, denn zum Glück sehen Sie so aus. Hier ist alles Geld, das mir von den beiden Zechinen des Grafen Asquino übrig geblieben ist, es sind siebzehn Lire; nehmen Sie sie. Sie werden übermorgen Abend in Borgo sein; vierundzwanzig Stunden später komme ich an. Sie erwarten mich im ersten Gasthof linker Hand, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich kommen werde. Ich muß diese Nacht in einem guten Bett schlafen, und die Vorsehung wird mir helfen, ein solch es irgendwo zu finden. Aber ich muß ganz ruhig sein können, und dies ist unmöglich, solange Sie bei mir sind.

Ich weiß gewiß, daß wir jetzt überall gesucht werden, und unsere Personen werden so genau beschrieben sein, daß man uns in jeder Herberge, die wir zusammen zu betreten wagten, sofort verhaften würde. Sie sehen, in welchem traurigen Zustande ich mich befinde, und daß ich mich unbedingt zehn Stunden ausruhen muß. Leben Sie also wohl! Gehen Sie und lassen Sie mich allein meiner Wege gehen; ich werde hier in der Nähe ein Nachtlager finden.«

»Alles was Sie mir da sagen, habe ich längst erwartet. Ich habe Ihnen nichts darauf zu antworten, als daß ich Sie an das erinnere, was Sie mir versprachen, als ich mich von Ihnen überreden ließ, Ihr Gefängnis zu erbrechen. Sie versprachen mir, wir würden uns nicht mehr trennen. Geben Sie also die Hoffnung auf, daß ich Sie verlasse: Ihr Schicksal wird das meine sein, mein Schicksal das Ihrige. Wir werden ein gutes Nachtlager für unser Geld finden und brauchen nicht in einen Gasthof zu gehen; man wird uns nicht festnehmen.«

»Sie sind also entschlossen, den guten Rat nicht zu befolgen, den ich Ihnen gegeben habe, weil die Klugheit es verlangt?«

»Vollkommen entschlossen.«

»Wir werden sehen!«

Nicht ohne Mühe stand ich auf, maß seine Gestalt und verzeichnete seine Größe auf dem Boden; dann zog ich meinen Spieß aus der Tasche, hockte mich hin, so daß ich fast auf der linken Seite lag, und begann mit der größten Ruhe ein kleines Loch zu graben, ohne auf seine Fragen ein Wort zu erwidern. Nachdem ich eine Viertelstunde gearbeitet hatte, sah ich ihn traurig an und sagte zu ihm: »Als guter Christ halte ich mich für verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Seele Gott empfehlen müssen; denn ich werde Sie tot oder lebendig hier begraben, und wenn Sie stärker sind als ich, so werden Sie mich begraben. Zu diesem verzweifelten Entschluß zwingt mich Ihr rücksichtsloser Eigensinn. Indessen können Sie sich noch entfernen, denn ich werde Sie nicht verfolgen.«

Als ich sah, daß er mir nicht antwortete, machte ich mich wieder an die Arbeit. Ich muß doch gestehen, ich begann zu fürchten, daß der Dummkopf mich zum äußersten treiben würde; ich war aber fest entschlossen, mich seiner zu entledigen.

Sei es, daß er Furcht hatte, sei es, daß er sich die Sache überlegt hatte – genug, er warf sich endlich neben mich. Da ich nicht wußte, was er beabsichtigte, bedrohte ich ihn mit meinem Spieß. Aber ich hatte nichts zu befürchten; denn er sagte zu mir: »Ich will alles tun, was Sie wünschen.«

Sogleich umarmte ich ihn, gab ihm all mein Geld und versprach ihm noch einmal, in Vorgo mit ihm zusammenzutreffen. Obwohl ich nun keinen Heller mehr hatte, und zwei Ströme überschreiten mußte, wünschte ich mir doch Glück, von der Gesellschaft eines Menschen von solchem Charakter befreit zu sein. Denn nun, da ich allein war, fühlte ich mich sicher, daß ich die Grenzen meiner geliebten Republik überschreiten würde.

  1. Da Casanova 1,75m groß war, also ebensoweit klafterte, wären dies 21 m gewesen. Die Kritiker, nach deren Meinung Casanova sich bei der Schilderung seiner Flucht einiger Übertreibungen schuldig gemacht haben soll, haben auch die Länge dieser Leiter beanstandet. Ich sehe wirklich nicht ein, warum. Wenn die Leiter Casanova überhaupt etwas nützen sollte, mußte sie mindestens zwanzig Meter lang sein, da die Entfernung von der Dachluke bis zum Fußboden mehr als fünfzig Fuß betrug. Übrigens scheint mir bei den außerordentlichen Verhältnissen des Dogenpalastes das Vorhandensein einer so langen Mauerleiter durchaus nichts Merkwürdiges zu haben; die Höhe des Daches betrug 28m.

Anhang


Casanovas Flucht und die Kritiker

Casanova wurde, wahrscheinlich auf Betreiben Condulmers durch den Edelsteinschneider und gewerbsmäßigen Spion Manuzzi schon längere Zeit vor seiner Verhaftung beobachtet. Es liegen noch mehrere Briefe Manuzzis im Staatsarchiv zu Venedig; besonders die Briefe vom 17., 21. und 24. Juli 1755 brachen Casanova den Hals. Der Spion berichtet: Casanova sei ein Freimaurer, der sich über Einrichtungen der katholischen Kirche lustig mache und sich zum Atheismus bekenne; er verkehre täglich mit Zechkumpanen im Kaffeehause »Zum triumphierenden Roland« und im Weinhause »La Malvagia« und führe dort aufwieglerische Reden, stoße Lästerungen gegen Gott und die Heiligen aus, spreche auch häufig französisch, beschäftige sich mit Zauberei und Kabbala, lese Ariost, Horaz, Aretin und andere unzüchtige Schriften, wie z. B. den berüchtigten Portier des Chartreux, äußere sich abfällig über die hohen Staatsbeamten und habe gedroht, den Abbate Chiari, der ein Pamphlet gegen ihn veröffentlicht hatte, totzuschlagen. Die Angaben des Spions sind meistens sehr töricht und in ihrer Form sehr unbeholfen, doch dürfte besonders der Brief vom 21. Juli, worin Casanovas Zugehörigkeit zum Freimaurertum eingehend behandelt wird, die Inquisitoren bewogen haben, die Verhaftung anzuordnen. Die Mutter der jungen Herren Memmo klagte, wahrscheinlich hauptsächlich auch darüber, daß Casanova ihre Söhne in die Geheimnisse der Freimaurerei einweihe; wir finden wirklich die Herren Memmo noch später in den venezianischen Freimaurerlisten (vgl. Martinelli, gli ultimi cinquant‘ anni, p. 10). Der Brief Manuzzis ist, nebenbei bemerkt, die früheste Quelle zur Geschichte der Freimaurerei in Venedig. Sicher ist nun, daß die Brüder alle Mittel in Bewegung gesetzt haben, ihren Ordensgenossen zu befreien. Wahrscheinlich gelang es ihnen auch, den Kerkermeister Lorenzo Bassadonna zu bestechen. Dies war vielleicht der Grund, weshalb Lorenzo nach der Entdeckung des Loches im Fußboden wohlweislich schwieg. Sicherlich hat auch Herr von Bragadino alles aufgeboten, um seinem Pflegesohn Erleichterungen und vielleicht die Freiheit zu verschaffen. Ich halte es sogar für wahrscheinlich, daß der erste mißlungene Fluchtversuch den Inquisitoren bekannt wurde und daß sie seinen Gönnern zuliebe ein Auge zudrückten und ihn nicht in die Brunnen steckten.

Hierauf aber beschränkt sich nach meiner Überzeugung die Förderung, die Casanova von außenher zuteil wurde. Ganz entschieden wende ich mich gegen einige Kritiker, die an der Hand von Akten haben nachweisen wollen, daß Casanova ohne besondere Schwierigkeiten den Kerker verließ und seine Entweichung, die vielleicht mit Einwilligung der Behörde erfolgte, als eine kühne Flucht nur maskierte. (!!)

Diese Kritiker stützen sich besonders auf die Autorität des venetianischen Staatsarchivar, Abbate Fulin, der zweifellos ein sehr gelehrter Mann war und dem wir einige der wichtigsten Beiträge zur Casanovaforschung verdanken. Nach meiner Meinung ist aber zur Beurteilung dieser Frage weniger Gelehrsamkeit als gesunder Menschenverstand nötig.

Sogar das von Casanova (u. anderen) berichtete Datum seiner Verhaftung ist von Fulin bestritten worden, weil auf der Rückseite des Manuzzischen Briefes vom 17. Juli der Sekretär der Inquisition außer anderem auf den Fall Casanova bezüglichen folgendes notiert hat: 27. Rifferta Missier di retenzione. Deshalb erklärt nun Fulin Casanovas Angabe, er sei am 26. verhaftet worden, für falsch. Die Notitz besagt aber doch nur, daß der Bericht über die Verhaftung am 27. eingegangen ist.

Der Bericht des Messer-Grande lautete:

27. Juli 1755. – »Hochberühmte und hocherhabene Herren der Staatsinquisition. – In Befolgung der hochgeehrten Befehle Eurer Exzellenzen, habe ich meines Amtes gewaltet und den Giacomo Casanova ins Gefängnis abgeführt und habe in seiner Wohnung alle diese Papiere vorgefunden, die ich Euren Exzellenzen hiermit in tiefster Ehrfurcht übersende. Mattio Varuti Messer-Grande.«

Wie Baschet dazu kam, das Datum an den Schluß zu setzen und statt des 27. den 25. Juli anzugeben, ist mir unbekannt. Das Datum des 27. Juli beweist nichts gegen Casanovas Angabe; denn es ist recht wohl denkbar, daß Messer-Grande seinen Bericht am Tage nach der Verhaftung aufsetzte und dann natürlich auch so datierte. Man kann wohl annehmen, daß Casanova einen solchen Tag genau in der Erinnerung hatte, zumal, da die Verhaftung an seinem Namenstag geschah.

Gegen Casanova führen nun die Kritiker folgendes an:

1. Seine Flucht sei nicht wahrscheinlich, weil es außer ihm überhaupt nur Zweien gelungen sei, aus den Bleikammern zu entweichen, nämlich dem Giulio Tommaseo am 11. Novenber 1658 und dem Gaetano Lachi am 27. März 1785.

Dies ist doch eine sehr eigentümliche Logik. Weil vorher und nachher einer es gekonnt, soll Casanova es nicht gekonnt haben! Waren denn die beiden genannten Herren an Mut und Gewandtheit Casanova soweit überlegen, daß er nicht einmal mit ihnen verglichen werden darf? Mir ist davon nichts bekannt, und den Herren Kritikern wohl auch nicht.

2. Es sind in den Archiven noch die Rechnungen über die Ausbesserungen der von Casanova und Balbi verursachten Schäden vorhanden. Die Kosten betrugen fast 4000 venetianische Lire, die vom Proto Giovanni Pastori auf 3236 venetianische Lire (etwa 1600 jetzige italienische Lire) herabgesetzt wurden. Hiervon waren für Holz 391 Lire, Eisen- und Schlosserarbeit 2002 Lire, Nägel 329 Lire, Tischlerarbeit 498 Lire, Glaser 16 Lire.

Diese Zahlen sprechen doch offenbar für die Richtigkeit von Casanovas Angaben. Nach der Meinung jener Kritiker nicht. Die Rechnungen könnten auf Veranlassung der Inquisitoren zu hoch angesetzt sein, um dadurch fälschlich den Eindruck zu erregen, es habe sich um eine unter großen Schwierigkeiten ausgeführte Flucht gehandelt. – Bei wem sollte dieser Eindruck erregt werden? Beim Publikum, das doch die Rechnungen nie zu sehen bekam? Und Fälschung von Akten, der geheimen Staatsakten einer despotischen Regierung wie der venetianischen? Um solcher Kleinigkeit willen? Ich glaube, es verlohnt sich nicht, auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren.

3. Die milde Bestrafung des Schließers Lorenzo Bassadonna sei ein Beweis, daß die Behörde vorher um die Flucht gewußt und diese geduldet habe. Lorenzo wurde nämlich nur zu zehn Jahren Kerkers verurteilt; und zwar nicht wegen Fluchtbegünstigung, sondern wegen eines Totschlages, den er inzwischen begangen hatte. So die Kritiker. Dieser Totschlag ist mir nun allerdings sehr zweifelhaft. Er soll ihn inzwischen begangen haben. Wann denn? Wenn es vor Casanovas Flucht geschah, so mußte Lorenzo doch schon in Haft sein, und daß er nach der Entdeckung der Flucht des Gefangenen nicht einen Augenblick mehr auf freiem Fuße blieb, ist doch selbstverständlich. Es könnte höchstens ein früher begangener Totschlag gewesen sein, der etwa von einem der Sbirren angezeigt wurde, als Lorenzo nicht mehr zu fürchten war.

Wenn nun aber Lorenzo nur wegen eines Totschlages und nicht wegen der Begünstigung bestraft worden wäre, so wäre dies doch ja auch nur in der Ordnung gewesen. Denn aus Casanovas Darstellung ergibt sich ja grade, daß Lorenzo an der Flucht keinen Anteil hatte. Konnten nicht auch die Inquisitoren zu diesem Ergebnis kommen?

Aber war denn die Strafe milde? Zehn Jahre Kerker und zwar in den Brunnen waren im allgemeinen gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Casanova berichtet in der Fuite, daß Lorenzo nach einigen Monaten in den Brunnen gestorben sei. An welcher Krankheit, das wisse er nicht. Nach dem allgemeinen Glauben der Venetianer war die Krankheit, an der viele Gefangene so auffällig bald starben, weiter nichts als eine Anwendung jener sinnreichen Erdrosselungsmaschine, deren Einrichtung gerade Lorenzo unserem Casanova so wohlgefällig erklärt hatte. Ob das wirklich so gewesen ist, weiß ich natürlich nicht, aber die Herren Kritiker wissen es ebensowenig.

Daß man gegen Casanova milde war, als er einmal aus dem Gefängnis ausgebrochen war, glaube ich allerdings auch. Denn seine Verfolgung wurde offenbar sehr lau betrieben, und dies ist recht wohl mit einem Wink von oben her zu erklären. Im übrigen war man gegen ihn wahrhaftig nicht milde gewesen. C. wurde ohne ein einziges Verhör, nach einer eilfertigen Untersuchung von etwa sechs Wochen, zu fünf Jahren verurteilt11 das Urteil wurde ihm nicht verkündet und er mußte glauben, auf Lebenszeit verdammt zu sein. Dies ist das Ungeheuerliche.

Auf mich macht auch die Schilderung der Gefangenschaft und Flucht den Eindruck jener inneren Wahrhaftigkeit, die unsern Casanova ziert. In einzelnen Kleinigkeiten mag er sich geirrt haben; daß er geflunkert hat, um sich interessant zu machen, glaube ich nicht. Er hätte gewiß recht herzlich über seine Kritiker gelacht, deren Kritik sich schon auf den ersten Blick als so oberflächlich und wenig stichhaltig erweist. Zudem haben die Herren, die an den Kleinigkeiten herumnörgeln, gar nicht begriffen, worin die Bedeutung von Casanovas Flucht eigentlich liegt. Ob die Inquisitoren seine Entweichung im Grunde nicht ungern sahen, das hatte für C. gar keine Bedeutung. Denn er wußte nichts davon. Er mußte alle Schwierigkeiten aus eigener Kraft überwinden. Daß er aus einem Nagel einen Spieß macht, Fußböden und Decken durchbricht, ist gar nichts. Dazu gehört nur Willens- und Muskelkraft. Hunderte haben vor und nach Casanova ähnliches und mehr vollbracht. Daß er in der gefahrvollsten Lage am Rande des Daches den Kopf nicht verlor – das ist schon mehr. Aber einen störrischen Dummkopf, wie den Pater Balbi, als Werkzeug zu der Flucht zu benutzen, einen Schuft wie den Soradaci vom Verrat abzuhalten – das gelingt nur einem Mann von dem unerschütterlichen Mute und der überlegenen Geistesgegenwart eines Casanova.

  1. Unter dem 21. Aug. 1755, also erst vier Wochen nach der Verhaftung, befindet sich im Geschäftsjournal des Sekretärs der Inquisition folgender Eintrag: »Nachdem die sehr bedenklichen Missetaten des Giacomo Casanova, besonders öffentliche Schmähungen der heiligen Religion, zur Kenntnis Ihrer Exzellenzen gekommen sind, haben diese den Casanova verhaften und unter die Bleidächer bringen lassen.« – Eine spätere Handnote lautet: »Besagter Casanova wurde (am 12. Sept.) zu fünf Jahren unter den Bleidächern verurteilt.«

Viertes Kapitel


Ich nehme trotz Henriettens Widerstreben eine Loge in der Oper. – Herr Dubois kommt zu uns zum Essen; Eulenspiegelstreich, den ihm meine Freundin spielt. – Betrachtungen Henriettens über das Glück. – Wir gehen zu Dubois; wunderbares Talent, das meine Freundin dort entfaltet. – Herr Dutillot. – Prachtvolles Hoffest im herzoglichen Park. Verhängnisvolle Begegnung. – Ich habe eine Zusammenkunft mit dem Günstling des Infanten, Herrn Antoine.

Das Glück, dessen ich genoß, war zu vollkommen, um dauerhaft sein zu können; es mußte mir entrissen werden. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor!

Nachdem die Gemahlin des Infanten Don Filippo, Madame de France, angekommen war, sagte ich Henrietten, ich wollte eine Loge in der Oper mieten, und wir würden alle Tage hingehen. Sie hatte mir mehrere Male gesagt, daß die Musik ihre größte Leidenschaft sei, und ich bezweifelte nicht, daß sie voll Freuden auf meinen Plan eingehen würde. Sie hatte noch keine italienische Oper gesehen und mußte neugierig sein, auch diesen Teil von Italiens Ruhm kennen zu lernen. Man denke sich meine Überraschung, als ich von ihr den Ausruf hörte: »Wie, lieber Freund, du wünschest, daß wir jeden Tag in die Oper gehen?«

»Ich denke, liebe Freundin, wenn wir nicht hingingen, würden wir den bösen Zungen Stoff zum Reden geben. Wenn du jedoch nicht gerne hingehst, so weißt du, daß nichts dich dazu zwingt. Tu dir keinen Zwang an. Ich ziehe die süßen Gespräche mit dir hier im Zimmer dem schönsten Engelkonzert vor.«

»Ich liebe die Musik rasend, mein zärtlicher Freund; aber ich zittere unwillkürlich bei dem bloßen Gedanken, daß wir ausgehen sollen.«

»Wenn du zitterst, so bebe ich; aber wir müssen in die Oper gehen oder von hier abreisen: gehen wir nach London, oder anders wohin! Befiehl – ich bin bereit, alles zu tun, was du willst.«

»Nimm eine Loge, die nicht allzusehr den Blicken ausgesetzt ist.«

»Du entzückst mich, und du sollst zufriedengestellt werden.«

Ich nahm eine Loge im zweiten Rang; da jedoch das Theater klein war, so konnte eine hübsche Frau schwerlich unbemerkt bleiben; dies sagte ich ihr.

»Ich glaube nicht,« antwortete sie mir, »daß ich irgend eine Gefahr laufe, denn in der Fremdenliste, die du mir zu lesen gegeben hast, habe ich keinen einzigen bekannten Namen gefunden.«

Henriette ging also mit mir in die Oper; sie hatte kein Rot aufgelegt, und in der Loge brannten keine Kerzen. Am ersten Abend wurde eine komische Oper gegeben; die Musik von Buranello war ausgezeichnet und die Schauspieler sehr gut.

Meine Freundin bediente sich ihres Glases nur, um die Vorgänge auf der Bühne zu beachten, und niemand achtete auf uns. Da das Finale des zweiten Aktes ihr sehr gefallen hatte, versprach ich ihr die Noten zu verschaffen; ich wandte mich an Dubois, um sie mir zu besorgen. Da ich glaubte, daß Henriette Klavier spielte, bot ich ihr eins an; aber sie sagte mir, sie hätte dies Instrumentt niemals spielen gelernt.

Bei unserem vierten oder fünften Besuch kam Herr Dubois in die Loge; da ich ihn meiner Freundin nicht vorstellen wollte, so begnügte ich mich damit, ihn zu fragen, worin ich ihm zu Diensten sein könnte. Er überreichte mir die Noten, die ich bei ihm bestellt hatte; ich bezahlte ihm den Preis, indem ich ihm für seine Gefälligkeit dankte. Da wir uns der herzoglichen Loge gegenüber befanden, fragte ich ihn gesprächsweise, ob er bereits die Bilder ihrer Hoheiten angefertigt habe. Er antwortete mir, er habe bereits zwei Medaillen gemacht, und ich bat ihn, sie mir in Gold zu bringen. Er versprach es mir und ging. Henriette hatte ihn nicht einmal angesehen; dies war in der Ordnung, da ich ihn nicht vorgestellt hatte. Am nächsten Tage jedoch ließ er sich bei uns melden, während wir bei Tisch saßen. Herr de la Hane, der mit uns speiste, beglückwünschte uns zu der Bekanntschaft des Herrn Dubois und stellte ihn, als er eingetreten war, sofort seiner Schülerin vor. Natürlich mußte Henriette ihn jetzt freundlich empfangen, und sie benahm sich dabei ausgezeichnet.

Nachdem sie ihm für die Partitur gedankt hatte, bat sie ihn, ihr auch noch einige andere Melodien zu besorgen, und der Künstler ging auf diese Bitte ein wie auf eine, die ihm viel Vergnügen machte.

»Mein Herr,« sagte Dubois zu mir, »ich nahm mir die Freiheit, zu Ihnen zu kommen, um Ihnen die Medaillen zu zeigen, nach denen Sie mich fragten: hier sind sie.«

Auf der einen befanden sich der Infant und seine Gemahlin, die andere trug nur das Bild von Don Filippo. Die heiden Medaillen waren von vollendet schöner Arbeit, und wir lobten sie mit Recht.

»Die Arbeit ist unbezahlbar,« sagte Henriette zu ihm; »aber das Gold kann man gegen anderes tauschen.«

»Gnädige Frau,« antwortete bescheiden der Künstler, »sie wiegen sechzehn Zechinen.« Sie zählte ihm diese sofort auf und lud ihn ein, er möchte ein anderes Mal schon zur Suppe kommen. Unterdessen war der Kaffee gebracht worden, und Henriette lud ihn ein, ihn mit uns zu trinken. Im Augenblick, wo sie den Zucker in seine Tasse tun wollte, fragte Henriette ihn, ob er den Kaffee süß liebe.

»Ihr Geschmack, gnädige Frau,« antwortete der galante Bucklige, »wird ganz gewiß auch der meinige sein.«

»Sie haben also erraten, daß ich ihn stets ohne Zucker trinke; es freut mich sehr, daß Sie diesen Geschmack mit mir teilen.«

Mit diesen Worten reichte sie ihm sehr anmutig die Tasse ohne Zucker, bediente hierauf de la Hane und mich, indem sie uns reichlich Zucker gab, und füllte ihre eigene Tasse in derselben Weise, wie die des Herrn Dubois. Ich hatte Mühe, nicht laut herauszuplatzen; denn meine boshafte Französin, die sonst den Kaffee nach Pariser Art, das heißt sehr süß, trank, schlürfte ihren bitteren Trank mit einer Miene, wie wenn er ihr den größten Genuß bereitete, und zwang dadurch den Herrn Münzdirektor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Der feine Bucklige war nun zwar für sein fades Kompliment bestraft; aber er war darum nicht verlegen, sondern lobte die Güte des Kaffees und behauptete sogar, diese sei die einzig richtige Art, das herrliche Aroma zu genießen.

Als nun Dubois und de la Haye fort waren, lachten wir über diesen Streich, »aber«, sagte ich zu ihr, »du wirst das erste Opfer deiner Bosheit sein, denn wenn er hier bei uns speist, wirst du genötigt sein, deine Rolle noch weiter zu spielen, um dich nicht zu verraten«.

»Ach, ich werde leicht ein Mittel finden, meinen Kaffee tüchtig gezuckert zu trinken und trotzdem ihn auch fernerhin die Schale der Bitternis leeren lassen.«

Nach einem Monat sprach Henriette geläufig italienisch, und dies verdankte sie mehr der beständigen Übung mit meiner Base Gianetta, die sie als Zofe bediente, als den Unterrichtsstunden des Herrn de la Haye; denn durch den Unterricht lernt man nur die Regeln, zum Sprechen aber braucht man Übung. Ich habe diese Erfahrung an mir selber gemacht. Ich lernte in der allzukurzen Zeit, da ich das Glück hatte, im vertrauten Umgange mit dieser anbetungswürdigen Frau zu leben, mehr Französisch, als ich bei Dalacqua gelernt hatte.

Wir waren zwanzigmal in der Oper gewesen, ohne eine einzige Bekanntschaft gemacht zu haben, und wir lebten glücklich in der vollen Bedeutung des Wortes. Ich ging nur mit Henrietten aus, und wir benutzten stets einen Wagen. Wir waren für niemanden zu sprechen, und daher kannte mich kein Mensch.

Seit der Abreise unseres guten Ungarn war Herr Dubois der einzige, der zuweilen zu uns zum Essen kam; de la Haye dagegen war unser täglicher Tischgenosse. Dubois war sehr neugierig, wer wir seien; aber er war schlau und verriet sich nicht. Übrigens waren wir zurückhaltend ohne Ziererei, und seine Neugier kam nicht auf ihre Rechnung. Eines Tages erzählte er uns von dem Glanz, der nach der Ankunft von Madame de France am Hofe des Infanten herrsche, und von dem Andrang von Fremden beiderlei Geschlechtes, die zurzeit in Parma seien. Sich sodann besonders zu Henrietten wendend, sagte er: »Die fremden Damen, die wir hier gesehen haben, sind uns zum größten Teil unbekannt.«

»Vielleicht würden, wenn sie es nicht wären, viele von ihnen sich nicht zeigen.«

»Das ist sehr wohl möglich, gnädige Frau; aber ich versichere Ihnen, selbst wenn sie durch ihre Schönheit oder durch ihren Putz auffallen sollten, so gehen doch die Wünsche unserer Herrscherfamilie dahin, daß volle Freiheit herrsche. Ich hoffe denn auch, gnädige Frau, daß wir die Ehre haben werden, Sie bei Hofe zu sehen.«

»Das wird wohl kaum angehen; denn ich finde es überaus lächerlich, wenn eine Frau zu Hofe geht, ohne vorgestellt zu sein; besonders wenn sie Anspruch darauf hat, sich vorstellen zu lassen.«

Auf diese letzten Worte, die Henriette etwas stärker betont hatte, wußte der kleine Bucklige nichts zu erwidern; meine Freundin benützte die hiedurch entstandene Pause und gab dem Gespräch eine andere Wendung.

Nach seinem Fortgehen lachten wir über die Niederlage, die die Neugier unseres Gastes erlitten hatte; aber ich sagte zu Henrietten, sie müsse wirklich allen verzeihen, die sie neugierig mache; denn… Sie schnitt mir das Wort ab, indem sie mein Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte. So im Glück schwelgend und jeden Augenblick uns selber genügend, lachten wir über die griesgrämigen Philosophen, welche leugnen, daß es ein vollkommenes Glück auf Erden gibt.

»Was wollen denn, Freund, jene Hohlköpfe, die da behaupten, das Glück sei nicht dauerhaft? Was verstehen sie unter diesem Wort? Wenn man ihm den Sinn von beständig, unsterblich, unaufhörlich gibt, so hat man recht; da aber der Mensch selber dies nicht ist, so kann in natürlicher Schlußfolgerung das Glück es ebensowenig sein. Jedes Glück ist dauernd schon dadurch, daß es vorhanden ist; und um dauernd zu sein, braucht es nur vorhanden zu sein. Versteht man aber unter vollkommenem Glück eine Reihenfolge verschiedenartiger und niemals unterbrochener Freuden, so hat man unrecht; denn indem wir nach jedem Vergnügen die Ruhe eintreten lassen, die dem Genuß folgen muß, verschaffen wir uns die Zeit, den glücklichen Zustand in seiner Wirklichkeit zu erkennen; oder mit anderen Worten: diese notwendigen Augenblicke der Ruhe sind eine wahre Quelle von Genüssen; denn durch sie kosten wir die Wonnen der Erinnerung, die alle Genüsse verdoppeln. Der Mensch kann nur glücklich sein, wenn er bei eigenem Nachdenken sich dafür hält, und nachdenken kann er nur, wenn er ruhig ist; in Wirklichkeit wäre er also ohne diese Ruhe nie ganz glücklich. Der Genuß muß also, um ein Genuß zu sein, aufhören, sich zu betätigen. Was will man also mit diesem Wort dauerhaft sagen?

Wir haben alle Tage einen Augenblick, wo wir den Schlaf herbeiwünschen; dieser ist ein Abbild der Nichtexistenz. Und trotzdem: wird man leugnen wollen, daß es ein Vergnügen ist? Nein; zum mindesten kann man dies, scheint mir, ohne Inkonsequenz nicht tun; denn sobald der Schlaf sich zeigt, ziehen wir ihn allen denkbaren Genüssen vor; aber dankbar können wir ihm erst sein, wenn er uns wieder verlassen hat.

Wer behauptet, niemand könne sein ganzes Leben lang glücklich sein, der spricht ein wenig leichtfertig. Die Philosophie lehrt das Geheimnis, sich ein solches Glück aufzubauen; doch gilt die Bedingung, daß man von körperlichen Leiden verschont sein muß; ein Glück, das in solcher Gestalt ein ganzes Leben dauert, läßt sich mit einem Blumenstrauß vergleichen, der aus tausend Blüten zusammengesetzt und der so schön und so gut ausgewählt ist, daß man ihn für eine einzige Blume halten könnte. Inwiefern wäre es also unmöglich, daß wir hier unser ganzes Leben verbrächten, genau so, wie wir jetzt einen Monat hier zugebracht haben: immer wohlauf, immer mit einander zufrieden, ohne jemals eine Leere oder ein Bedürfnis zu empfinden? Und um dieses Glück zu gründen, das sicherlich ein sehr großes Glück wäre, brauchten wir nur in hohem Alter, von unseren süßen Erinnerungen sprechend, zu sterben. Ganz gewiß, ein solches Glück wäre dauerhaft gewesen. Der Tod würde es nicht unterbrechen; er würde ihm ein Ende machen: wir könnten uns nur für unglücklich halten, insofern wir nach unserem Tode ein anderes, unglückliches Leben befürchten; und diese Idee scheint mir abgeschmackt zu sein, denn in ihr läge ein Widerspruch mit der Idee der Allmacht und göttlichem Vaterliebe.«

So philosophierte meine reizende Henriette mit mir lange köstliche Stunden über Gefühle. Sie philosophierte besser als Cicero in seinen Tusculanen; aber sie gab zu, daß dieses dauerhafte Glück, dessen Idee uns entzückte, nur zwischen zwei Wesen bestehen könnte, die miteinander zusammenlebend beständig ineinander verliebt, dazu gesund an Körper und Geist, aufgeklärt und reich genug wären, endlich einigermaßen den gleichen Geschmack, den gleichen Charakter und das gleiche Temperament hätten. Glücklich die Liebenden, bei denen der Geist an die Stelle der Sinne treten kann, wenn diese der Ruhe bedürfen! Hierauf kommt der süße Schlaf, und dieser dauert so lange, bis die physische Harmonie wieder hergestellt ist. Beim Erwachen sind zuerst die Sinne wieder da, stets bereit, sich von neuem zu betätigen.

Für den Menschen gelten dieselben Bedingungen wie für das Weltall; man könnte sogar sagen, es ist vollständige Identität vorhanden. Denn wenn wir das Weltall ausschalten, gibt es keinen Menschen mehr, und wenn wir den Menschen ausschalten, gibt es kein Weltall mehr. Denn angenommen, es gäbe nur unbelebte Materien, wer könnte sich einen Begriff davon machen? Ohne die Idee: nihil est, denn die Idee ist das wesentlichste von allem; Ideen aber hat nur der Mensch; übrigens können wir, wenn wir von der Form Abstand nehmen, uns nicht mehr die Existenz der Materie vorstellen, und umgekehrt.

Ich war mit Henrietten ebenso glücklich, wie dies anbetungswürdige Weib es mit mir war: wir liebten uns mit allen unseren Kräften; wir genügten einander vollkommen; wir lebten ganz und gar in und für einander. Sie wiederholte mir oft die hübschen Verse des guten Lafontaine:

Soyez-vous l’un à l’autre un monde toujours beau
Toujours divers, toujours noveau.
Tenez-vous lieu de tout: comptez pour rien le reste.

Seid euch einander eine Welt,
Stets schön, verschieden stets, stets neu;
Seid alles euch für euch allein,
Und alles andre sei euch einerlei!

Und wir lebten nach diesem Rat; denn niemals unterbrach ein Augenblick der Langweile oder der Erschlaffung unser Glück; niemals fühlten wir ein Rosenblatt in der Seligkeit, deren wir genossen. Am Tage nach dem Schluß der Oper speiste Dubois bei uns; nach dem Essen sagte er uns, er habe für den nächsten Tag den ersten Sänger und die erste Sängerin eingeladen, und es käme nur auf uns an, wenn wir die schönsten Arien, die sie auf der Bühne gesungen, nochmals hören wollten. Sie würden in einem gewölbten Saal seines Landhauses singen, der für die Entfaltung ihrer Stimmen außerordentlich günstig wäre. Henriette dankte ihm vielmals, bemerkte jedoch, daß sie eine zarte Gesundheit hätte und sich daher von einem Tage zum andern zu nichts verpflichten könnte; hierauf gab sie dem Gespräch eine andere Wendung.

Sobald wir allein waren, fragte ich sie, warum sie sich nicht bei Dubois unterhalten wolle?

»Ich würde hingehen, mein lieber Freund, und sogar mit sehr großem Vergnügen, wenn ich nicht fürchtete, dort irgend jemanden zu treffen, der mich erkennen und dadurch mein Glück zerstören könnte, dessen ich genieße.«

»Wenn du irgend einen neuen Anlaß zur Furcht hast, so tust du recht, vorsichtig zu sein; wenn es aber nur eine unbestimmte Bangigkeit ist, mein Engel, warum willst du dich dann eines wahren und recht unschuldigen Vergnügens berauben? Wenn du wüßtest, welche Freude ich empfinde, wenn ich sehe, daß du ein Vergnügen hast, besonders wenn ich dich beim Anhören guter Musik in einer Art von Verzückung sehe!«

»Nun mein Herz, du sollst nicht glauben, daß ich weniger mutig sei als du; wir werden zu Dubois gleich nach dem Essen gehen; vorher werden die Sänger nicht auftreten. Außerdem, mein Freund, hat er, da er nicht auf uns rechnet, niemand eingeladen, der neugierig wäre, mit mir zu sprechen. Wir werden hingehen, ohne es ihm zu sagen und ohne daß er uns erwartet; wir bereiten ihm gewissermaßen eine freundschaftliche Überraschung. Er hat uns gesagt, er werde in seinem Landhause sein, und Caudagna weiß, wo dieses ist.«

Aus ihren Worten sprachen Vorsicht und Liebe, zwei Dinge, die so selten miteinander vereint sind. Ich antwortete ihr mit einer Umarmung, worin ebensoviel Bewunderung wie Zärtlichkeit lag, und am anderen Tage um vier Uhr nachmittags begaben wir uns zu Herrn Dubois. Zu unserer Überraschung fanden wir ihn allein mit einem hübschen Mädchen, das er uns als seine Nichte vorstellte.

»Ich bin entzückt, Sie zu sehen,« sagte er zu uns; »da ich aber nicht auf das Glück zu hoffen wagte, Sie bei mir zu haben, so habe ich aus dem geplanten Mittagsmahl ein kleines Abendessen gemacht, und ich hoffe recht sehr, daß Sie dieses gütigst mit Ihrer Gegenwart beehren werden. Die beiden Virtuosi werden gleich kommen.«

So waren wir also wider Willen genötigt, am Abendessen teilzunehmen. »Haben Sie«, fragte sie, »viele Gäste eingeladen?«

»Sie werden sich«, antwortete er mit Siegermiene, »in einer Ihrer würdigen Gesellschaft bewegen. Es tut mir nur leid, keine Damen eingeladen zu haben.«

Auf diese galante und zartfühlende Bemerkung, die sich im besonderen an Henriette richtete, antwortete meine Freundin ihm mit einer Verbeugung, die sie mit einem Lächeln begleitete. Ich sah mit Vergnügen den Ausdruck der Befriedigung auf ihrem Gesicht. Aber ach, sie verbarg darunter nur das peinliche Gefühl, das sie empfand. Ihre große Seele wollte sich nicht unruhig zeigen, und ich drang nicht in ihre inneren Gedanken ein, weil ich glaubte, daß ich etwas zu befürchten hätte. Ich hätte anders gedacht und gehandelt, wenn ich ihre ganze Geschichte gekannt hätte; ich hätte sie nicht in Parma gelassen, sondern wäre mit ihr nach London gegangen, und sie wäre darüber hocherfreut gewesen.

Sehr bald kamen die beiden Sänger; es waren Laschi und Fräulein Baglioni, die damals sehr hübsch war.

Nach und nach kamen alle Gäste an.

Es waren alle Franzosen und Spanier und lauter Herren in mittleren Jahren. Von Vorstellung war nicht die Rede, und nun bewunderte ich den Takt des liebenswürdigen Dubois. Da aber alle gewandte Hofleute waren, so verhinderte dieser Verstoß gegen die Etikette nicht, daß meiner Freundin alle Ehren erwiesen wurden; sie empfing dieselben mit jener Leichtigkeit und Weltgewandtheit, die man nur in Frankreich kennt; und selbst dort nur in der besten Gesellschaft – ausgenommen allerdings einige Provinzen, wo der Adel, den man mit Unrecht die gute Gesellschaft nennt, ein wenig zu sehr den ihn kennzeichnenden Hochmut zutage treten läßt.

Das Konzert begann mit einer prachtvollen Symphonie; hierauf sang das Künstlerpaar mit viel Geschmack und Talent ein Duett. Dann kam ein Schüler des berühmten Vandini und spielte ein Cello-Konzert, das großen Beifall fand.

Der Beifall dauerte noch an, als plötzlich Henriette aufstand, auf den jungen Künstler zutrat, ihm sein Cello aus der Hand nahm, indem sie mit bescheidener aber zuversichtlicher Miene ihm sagte, sie wolle das Instrument noch mehr zur Geltung bringen. Ich fiel aus den Wolken. Sie setzte sich auf den Platz des jungen Mannes, nahm das Cello zwischen ihre Beine und bat das Orchester, das concerto noch einmal zu beginnen. Das tiefste Schweigen trat ein, ich aber zitterte wie Espenlaub und war einer Ohnmacht nahe. Zum Glück waren alle Blicke auf Henrietten gerichtet, und kein Mensch sah mich an. Auch sie sah nicht nach mir hin; sie wagte es nicht; denn wenn sie einen Blick ihrer schönen Augen auf mich geworfen hätte, so würde sie den Mut verloren haben. Da ich sie indessen sich nicht zum Spielen in Positur setzen sah, begann ich mir mit der Hoffnung zu schmeicheln, sie habe nur einen liebenswürdigen Scherz machen wollen.

Aber als ich sie den ersten Bogenstrich tun sah, bekam ich so starkes Herzklopfen, daß ich zu sterben glaubte. Man stelle sich jedoch meine Gefühle vor, als nach dem ersten Satz wohlverdienter Beifall das Orchester gänzlich übertönte! Dieser schnelle Übergang von äußerster Furcht zu überschwenglicher Freude versetzte mich in eine Erregung, die dem heftigsten Fieber glich. Der Beifall schien auf Henrietten gar keinen Eindruck zu machen; ohne ihre Augen von den Noten abzuwenden, die sie zum erstenmal sah, spielte sie hintereinander noch sechs Sätze mit derselben Vollkommenheit. Als sie ihren Platz verließ, machte sie der Gesellschaft kein Zeichen des Dankes für ihren Beifall, sondern wandte sich mit liebenswürdiger Miene zum jungen Künstler und sagte ihm mit einem freundlichen Lächeln, sie habe niemals auf einem besseren Instrument gespielt. Dann wandte sie sich zur Gesellschaft und sprach: »Ich bitte Sie, die kleine Eitelkeit zu entschuldigen, die mich veranlaßt hat, Ihre Geduld eine halbe Stunde lang zu mißbrauchen.«

Dieses würdevolle und zugleich anmutige Kompliment brachte mich vollends aus der Fassung, und ich verschwand in den Garten, um dort, wo niemand mich sehen konnte, zu weinen.

»Wer ist denn diese Henriette!« rief ich, mit gerührtem Herzen, Tränen vergießend; »was ist das für ein Schatz, den ich besitze!« Mein Glück schien mir zu groß, als daß ich seiner würdig Sein könnte.

In diese Betrachtungen versunken, die mir meine Tränen doppelt wonnig machten, wäre ich noch lange im Garten geblieben, wenn mich nicht Dubois selber geholt hätte. Er fand mich trotz dem nächtlichen Dunkel, das in dem Baumgang herrschte, worin ich träumte.

Er war unruhig wegen der Ursache meines Verschwindens; ich beruhigte ihn jedoch, indem ich ihm sagte, ein leichter Schwindel- anfall habe mich genötigt, hinauszugehen, um frische Luft zu schöpfen.

Unterwegs hatte ich Zeit, meine Tränen zu trocknen; doch konnte ich die Röte meiner Augen nicht beseitigen, und diese wurde zum Glück nur von Henrietten bemerkt, die mir sagte:

»Ich weiß, mein Engel, was du da draußen gemacht hast!«

Sie kannte mich und konnte leicht erraten, welchen Eindruck dieser Abend auf mein Herz gemacht hatte.

Dubois hatte bei sich die angenehmsten Kavaliere des Hofes versammelt und das Abendessen, das er ihnen gab, war ohne jede Verschwendung eingerichtet, aber ebenso delikat wie gut zusammengestellt. Ich saß Henrietten gegenüber, die als einzige Dame natürlich alle Aufmerksamkeiten auf sich lenkte; aber sie hätte nur gewinnen können, wäre sie von einem Kranze von Damen umgeben gewesen, die sie ganz gewiß überstrahlt hätte, ohne anderer Hilfsmittel zu bedürfen, als ihrer Schönheit, ihres Geistes und ihrer vornehmen Manieren. Sie verlieh der Mahlzeit Reiz durch den Zauber, den sie über die Unterhaltung verbreitete. Dubois sprach nicht; aber er strahlte vor Stolz, daß es ihm gelungen war, eine so anziehende Schönheit bei sich zu Gast zu haben. Mit großer Gewandheit sagte sie jedem etwas Liebenswürdiges, und sie besaß so viel Geist, daß sie niemals etwas Hübsches sagte, ohne mich mit hineinzuziehen. Zwar trug ich meinerseits Unterwürfigkeit, Ergebenheit und Ehrfurcht vor meiner Göttin zur Schau; aber sie wollte, daß ein jeder erriete, ich wäre ihr Orakel. Man konnte sie für meine Frau halten; aber so, wie ich mich gegen sie verhielt, mußte dies doch unwahrscheinlich vorkommen.

Als das Gespräch auf die beiderseitigen Vorzüge der französischen und der spanischen Nation kam, beging Dubois die Übereilung, Sie zu fragen, welcher Nation sie den Vorzug gäbe.

Die Frage war im höchsten Grade indiskret, denn die Hälfte der Gesellschaft waren Spanier und die andere Hälfte Franzosen.

Henriette sprach jedoch so gut, daß die Spanier hätten Franzosen und die Franzosen Spanier hätten sein mögen. Unersättlich fragte Dubois sie weiter, wie sie über die Italiener dächte. Ich zitterte. Ein gewisser Herr de la Combe schüttelte mißbilligend den Kopf; aber meine Freundin wich der Frage nicht aus.

»Was soll ich Ihnen über die Italiener sagen?« fragte sie; »ich kenne nur einen einzigen; wenn ich alle nach dem einen beurteile, wird mein Urteil sicher sehr günstig für sie lauten. Aber ein einziges Beispiel kann nicht für eine Regel gelten.«

Unmöglich hätte sie besser antworten können. Ich aber tat, wie der Leser sich wohl denken kann, als hätte ich nichts gehört, und um den indiskreten Dubois davon abzuhalten, noch weiter zu fragen, brachte ich das Gespräch auf etwas anderes, indem ich einige gleichgültige Fragen an ihn stellte.

Die Unterhaltung kam auf die Musik, und bei dem Anlaß fragte ein Spanier Henriette, ob sie außer Cello noch irgend ein anderes Instrument spiele. »Nein,« antwortete sie ihm, »ich hatte nur für dieses Neigung. Ich lernte es im Kloster meiner Mutter zu Gefallen, die es recht leidlich spielte; und wenn mein Vater es nicht in aller Form befohlen hätte und dabei vom Bischof unterstützt worden wäre, würde die Oberin es mir niemals erlaubt haben.«

»Welchen Grund konnte denn wohl die Abtissin haben, es Ihnen zu verbieten?«

»Die fromme Braut des Herrn behauptete, ich könnte Cello nur in einer unanständigen Stellung spielen.«

Bei diesen Worten bissen die Spanier sich auf die Lippen, die Franzosen aber lachten laut heraus und sparten nicht mit ihren Epigrammen gegen die gewissenhafte Nonne.

Nach einigen Minuten machte Henriette eine leichte Bewegung, wie wenn sie um Erlaubnis bäte, aufstehen zu dürfen. Wir standen alle auf, und wenige Augenblicke darauf gingen wir. Es drängte mich, mit der Göttin meiner Seele allein zu sein; ich richtete hundert Fragen an sie, ohne ihr Zeit zum Antworten zu lassen.

»Ah, du hattest wohl recht, meine Henriette, daß du nicht hingehen wolltest, denn du warst sicher, daß du mir Feinde machen mußtest. Man muß mich verabscheuen; aber ich lache darüber: du bist meine ganze Welt. Grausame Freundin! Du hast mir beinahe das Leben gekostet mit deinem Cello; denn ich konnte deine Zurückhaltung nicht für natürlich halten und habe geglaubt, du seist wahnsinnig geworden. Als ich dich aber dann hörte, habe ich hinausgehen müssen, um meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Sie haben mich von dem furchtbaren Druck erleichtert, den ich empfand. Sage mir jetzt, ich beschwöre dich, welche Talente hast du sonst noch? Verheimliche mir keins, denn du könntest mich töten, wenn du sie plötzlich in überraschender Weise zum Vorschein brächtest.«

»Ich habe keine anderen Talente, mein Herz; ich habe mein Säckchen gleich auf einmal geleert; jetzt kennst du deine Henriette ganz und gar. Wenn du mir nicht vor einem Monat zufällig gesagt hättest, daß du gar keinen Geschmack an Musik findest, so hätte ich dir gewiß erzählt, daß ich sehr gut Cello spiele; aber ich kenne dich: wenn ich es dir gesagt hätte, hättest du dich beeilt, mir ein Instrument zu beschaffen, und deine Freundin will sich nicht mit etwas unterhalten, was dich langweilt!

Gleich am nächsten Tage erhielt sie ein ausgezeichnetes Cello. Weit entfernt, mich jemals zu langweilen, bereitete sie mir dadurch jedesmal einen neuen Genuß; und ich glaube behaupten zu können, daß ein Mensch, der Abneigung gegen Musik hat, unbedingt ein leidenschaftlicher Freund derselben werden wird, wenn die ausübende Person es zur Meisterschaft darin gebracht hat und wenn diese Person von ihm angebetet wird.

Die menschliche Stimme des Cellos übertrifft die jedes anderen Musikinstrumentes; sie drang mir jedesmal ins Herz, wenn meine Freundin spielte. Diese war davon überzeugt und verschaffte mir jeden Tag den Genuß. Jch war von ihrem Talent so entzückt, daß ich ihr vorschlug, Konzerte zu geben; sie war aber so vorsichtig, nicht darin einzuwilligen. Leider konnten wir trotz ihrer Vorsicht den Willen des Schicksals nicht ablenken. Der verhängnisvolle Dubois besuchte uns am Tage nach seinem hübschen Abendessen, um uns zu danken und die Lobsprüche einzuheimsen, die wir ihm über sein Konzert, sein Essen und über seine gewählte Gesellschaft machten.

»Ich sehe voraus, gnädige Frau,« sagte er zu Henriette, »daß ich große Mühe haben werde, mich gegen die dringenden Bitten zu wehren, womit man mich bestürmen wird, um Ihnen vorgestellt zu werden.«

»Ihre Mühe, mein Herr, wird nicht groß sein; wie Sie wissen, empfange ich niemanden.«

Dubois wagte nicht mehr, von Vorstellung zu sprechen.

An demselben Tage erhielt ich einen Brief vom jungen Capitani, der mir mitteilte, er sei als Besitzer des Messers und der Scheide des heiligen Petrus bei Franzia gewesen mit zwei Magiern, die versprochen hätten, den Schatz zu heben.

Zu seiner großen Überraschung habe man ihn nicht empfangen wollen; er bat mich, ihm zu schreiben und in eigener Person hinzugehen, wenn ich einen Anteil am Schatz haben wollte. Wie man sich denken kann, blieb der Brief unbeantwortet; aber eins möchte ich gern meinen Lesern sagen: Ich empfand die größte Freude darüber, daß es mir gelungen war, den ehrenwerten, aber einfältigen Landmann vor den Betrügern zu schützen, die ihn zugrunde gerichtet haben würden.

Seit jener Abendgesellschaft bei Dubois war ein Monat verflossen, und wir waren während dieser Zeit an Geist und Sinnen glücklich gewesen; denn niemals hatte ein einziger leerer Augenblick uns zum Gähnen veranlaßt. Unser einziges Vergnügen außerhalb des Hauses war eine Spazierfahrt vor der Stadt bei schönem Wetter. Da wir niemals ausstiegen und an keinem öffentlichen Ort verkehrten, so hatte niemand versuchen können, uns kennen zu lernen, oder es hatte jedenfalls niemand Gelegenheit dazu finden können, obgleich meine Freundin vielleicht bei den Personen, mit denen uns der Zufall, besonders auf des Herrn Dubois‘ Abendgesellschaft, zusammengeführt hatte, einige Neugier erregt hatte. Henriette war mutiger und ich war zuversichtlicher geworden, nachdem wir gesehen hatten, daß weder im Theater noch bei jener Gesellschaft jemand sie erkannt hatte. Sie fürchtete nur den hohen Adel.

Als wir eines Tages vor dem Colornotor spazieren fuhren, begegneten wir dem Herzog mit seiner Gemahlin, die nach der Stadt zurückfuhren. Einen Augenblick später kam ein anderer Wagen, worin Dubois und ein uns unbekannter Herr saßen. Kaum war unser Wagen bei dem ihrigen vorbeigefahren, da stürzte eines von unseren Pferden. Der Herr, der neben Dubois saß, ließ seinen Wagen anhalten, um uns Hilfe zu schicken. Während das Pferd wieder auf die Beine gebracht wurde, trat er mit vornehmem Anstand an unseren Wagen heran und machte Henrietten ein den Umständen angemessenes Kompliment. Als feiner Höfling, der sich stets auf Kosten anderer in ein günstiges Licht zu setzen bestrebt war, ließ Dubois sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihr zu sagen, es sei der Minister, Herr Dutillot. Meine Freundin antwortete nur mit der üblichen Neigung des Kopfes. Als das Pferd wieder auf seinen Beinen stand, setzten wir unsere Spazierfahrt weiter fort, nachdem wir uns bei den Herren für ihre Liebenswürdigkeit bedankt hatten. Eine so gewöhnliche Begegnung hätte im gewöhnlichen Lauf der Dinge eigentlich keine Folgen haben sollen; aber oft führen kleine Ursachen die größten Ereignisse herbei!

Am anderen Tage kam Dubois zu uns zum Frühstück. Er sagte uns sofort ohne die mindesten Umschweife, Herr Dutillot sei entzückt über den glücklichen Zufall, der ihm das Vergnügen verschafft habe, uns kennen zu lernen, und habe ihn beauftragt, uns um die Erlaubnis zu bitten, daß er uns besuchen dürfe.

»Die gnädige Frau oder mich?« fragte ich sofort.

»Beide.«

»Sehr freundlich. Aber jedes für sich; denn Madame hat, wie Sie wissen, ihr Zimmer und ich das meinige.«

»Ja, aber sie liegen so dicht beieinander.«

»Das gebe ich zu. Ich muß Ihnen jedoch sagen, daß ich, soweit ich in Betracht komme, zu Seiner Exzellenz eilen werde, wenn der Herr Minister mir irgend einen Befehl zu geben oder eine Mitteilung zu machen hat; ich bitte Sie, ihm dies zu sagen. Was Madame anbetrifft, so ist sie ja selber zugegen; sprechen Sie mit ihr; denn ich, mein lieber Herr Dubois, bin nur ihr sehr untertäniger Diener.«

Henriette sagte ihm lachend und höflich: »Mein Herr, ich bitte Sie, Herrn Dutillot meinen Dank zu sagen und ihn zu fragen, ob er mich kennt.«

»Ich bin überzeugt, gnädige Frau, daß er Sie nicht kennt.«

»Sehen Sie? Er kennt mich nicht und will mir doch einen Besuch machen! Räumen Sie mir ein, daß ich ihm einen eigentümlichen Begriff von mir geben würde, wenn ich ihn empfinge. Sagen Sie ihm: obgleich niemand mich kennt und ich keines Menschen Bekanntschaft suche, bin ich doch keine Abenteuerin, und folglich kann ich nicht die Ehre haben, ihn zu empfangen.«

Dubois fühlte, daß er ein Versehen gemacht hatte, und schwieg. Während der folgenden Tage besuchte er uns mehrmals, aber wir fragten ihn nicht, wie der Minister unsere Absage aufgenommen hätte.

Drei Wochen später war der Hof in Colorno; es wurde ein prachtvolles Fest gegeben, und jedermann hatte freien Zutritt zum Park, der die ganze Nacht beleuchtet sein sollte. Der fatale bucklige Dubois hatte uns soviel von diesem Fest gesprochen, daß wir Lust bekamen, hinzugehen; das war für uns der Adamsapfel. Dubois begleitete uns. Wir fuhren den Tag vorher hinaus und nahmen Wohnung im Gasthof.

Gegen Abend gingen wir im Park spazieren, und der Zufall wollte, daß auch die höchsten Herrschaften mit ihrem Gefolge sich dort befanden. Madame de France machte nach dem Brauch des Hofes von Versailles meiner Henriette im Vorübergehen eine Verbeugung, ohne jedoch stehen zu bleiben. Bei diesem Anlaß fielen meine Blicke auf einen Kavalier, der neben dem Infanten Don Luis ging und meine Freundin aufmerksam ansah. Bald darauf kehrten wir um und begegneten demselben Kavalier, der uns eine tiefe Verbeugung machte und Dubois bat, ihn eine Minute anzuhören. Sie unterhielten sich eine volle Viertelstunde, indem sie hinter uns hergingen; wir wollten den Park verlassen, als der fremde Herr den Schritt beschleunigte und, nachdem er mich sehr höflich um Entschuldigung gebeten harte, Henrierten fragte, ob er die Ehre habe, von ihr gekannt zu sein.

»Ich erinnere mich nicht, jemals die Ehre gehabt zu haben, Sie zu sehen.« »Das genügt, Madame; ich bitte Sie recht sehr um Entschuldigung.«

Dubois sagte uns, der Herr sei ein vertrauter Freund des Infanten Don Luis; er habe geglaubt, die gnädige Frau zu kennen, und deshalb ihn gebeten, ihn ihr vorzustellen. Dubois habe ihm gesagt, sie heiße d’Arci, und wenn er sie kenne, so bedürfe er seiner nicht, um Ihr einen Besuch zu machen. Herr d’Antoine habe ihm geantwortet, der Name d’Arci sei ihm nicht bekannt; er wolle sich aber nicht gerne irren.

»In dieser Ungewißheit«, fuhr Dubois fort, »hat er sich selbst vorgestellt, um Aufklärung zu erhalten; gegenwärtig aber muß er überzeugt sein, daß er sich getäuscht hat.«

Nach dem Essen kam Henriette mir unruhig vor, und ich fragte sie, ob sie nicht etwa nur so getan habe, als kenne sie Herrn d’Antoine nicht.

»Ich versichere dir, mein Freund, es war keine Verstellung. Ich kenne seinen Namen; es ist der einer berühmten Familie der Provence; aber seine Person ist mir gänzlich unbekannt.«

»Ist es möglich, daß er dich kennt?«

»Er mag mich vielleicht gesehen haben; aber ganz gewiß habe ich niemals mit ihm gesprochen; denn dann hätte ich ihn erkannt.«

»Diese Begegnung beunruhigt mich; und mir scheint, sie ist auch dir nicht gleichgültig.«

»Ich gestehe es.«

»Verlassen wir Parma, wenn es dir recht ist, und gehen wir nach Genua. Sobald meine Sache beigelegt ist, reisen wir dann nach Venedig.«

»Ja, mein lieber Freund, wir werden dann ruhiger sein. Ich glaube jedoch nicht, daß wir uns zu beeilen brauchen.«

Am übernächsten Tage kehrten wir nach Parma zurück, und zwei Tage darauf übergab mein Bedienter mir einen Brief, indem er mir sagte, der Läufer, der ihn gebracht hätte, warte im Vorzimmer.

»Dieser Brief«, sagte ich zu Henriette, »beunruhigt mich.« Sie nahm ihn, öffnete ihn, las ihn und reichte ihn mir mit den Worten: »Ich glaube, Herr d’Antoine ist ein Ehrenmann; ich hoffe daher, wir haben nichts zu befürchten.« Der Brief lautete folgender- maßen:

»Entweder bei Ihnen, oder bei mir, oder an irgend einem anderen Ort, den Sie mir gütigst bezeichnen wollen, bitte ich Sie, mein Herr, mir Gelegenheit zu geben, mich mit Ihnen über etwas zu unterhalten, das Sie sehr interessieren muß. Ich habe die Ehre (und so weiter) …. d’Antoine.« Der Brief war überschrieben: An Herrn de Farussi.

»Ich glaube,« sagte ich zu meiner Freundin, »ich muß ihn sehen; aber wo?«

»Weder hier noch in seiner Wohnung, sondern im herzoglichen Park. Deine Antwort darf nur Stunde und Ort deiner Ankunft enthalten.«

Ich setzte mich an den Schreibtisch und teilte ihm mit, daß ich mich um halb Zwölf im herzoglichen Park einfinden würde, indem ich ihn bat, mir eine andere Stunde zu bezeichnen, falls die von mir genannte ihm nicht passen sollte. Ich kleidete mich sofort an, um pünktlich zur verabredeten Zeit fertig zu sein; in der Zwischenzeit bemühten wir beide uns, ruhig zu erscheinen, aber wir konnten uns trüber Ahnungen nicht erwehren. Ich war pünktlich zur Stelle und fand, daß Herr d’Antoine bereits vor mir gekommen war. Er sagte zu mir: »Ich bin genötigt gewesen, mir die Ehre, die Sie mir erweisen, zu verschaffen, weil ich kein sichereres Mittel ausfindig machen konnte, Frau d’Arci diesen Brief zuzustellen, den ich Sie ihr zu übergeben bitte. Wollen Sie es mir, bitte, nicht übelnehmen, daß ich den Brief Ihnen versiegelt übergebe. Wenn ich mich täusche, so ist es nichts gewesen, und der Brief braucht nicht einmal beantwortet zu werden; wenn ich mich jedoch nicht getäuscht habe, so muß die gnädige Frau allein bestimmen, ob sie Ihnen den Brief zeigen will. Aus diesem Grunde übergebe ich ihn Ihnen versiegelt. Wenn Sie wirklich ihr Freund sind, so muß der Inhalt des Briefes Sie sicher ebenso interessieren wie die gnädige Frau. Kann ich darauf rechnen, daß Sie so freundlich sein werden, ihr den Brief zu übergeben?«

»Mein Herr, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.«

Hierauf trennten wir uns, nachdem wir uns gegenseitig eine tiefe Verbeugung gemacht hatten, und ich ging eilends nach meinem Gasthof zurück.