12. Kapitel

Religion, Bildung, Literatur und Kunst

In der religiös-philosophischen Entwicklung tritt in dieser Epoche kein neues Moment hervor. Die römisch-hellenische Staatsreligion und die damit untrennbar verbundene stoische Staatsphilosophie waren für jede Regierung, Oligarchie, Demokratie oder Monarchie, nicht bloß ein bequemes Instrument, sondern deshalb geradezu unentbehrlich, weil es ebenso unmöglich war, den Staat ganz ohne religiöse Elemente zu konstruieren als irgendeine neue zur Ersetzung der alten geeignete Staatsreligion aufzufinden. So fuhr denn zwar der revolutionäre Besen gelegentlich sehr unsanft in die Spinnweben der auguralen Vogelweisheit hinein; aber die morsche, in allen Fugen krachende Maschine überdauerte dennoch das Erdbeben, das die Republik selber verschlang, und rettete ihre Geistlosigkeit und ihre Hoffart ungeschmälert hinüber in die neue Monarchie. Es versteht sich, daß sie zunahm an Ungnade bei allen denen, die ein freies Urteil sich bewahrten. Zwar gegen die Staatsreligion verhielt die öffentliche Meinung sich wesentlich gleichgültig; sie war allerseits als eine Institution politischer Konvenienz anerkannt und es bekümmerte sich niemand sonderlich um sie, mit Ausnahme der politischen und antiquarischen Gelehrten. Aber gegen ihre philosophische Schwester entwickelte sich in dem unbefangenen Publikum jene Feindseligkeit, die die leere und doch auch perfide Phrasenheuchelei auf die Länge nie verfehlt zu erwecken. Daß der Stoa selbst von ihrer eigenen Nichtigkeit eine Ahnung aufzugehen begann, beweist ihr Versuch, auf dem Wege des Synkretismus sich wieder einigen Geist künstlich einzuflößen: Antiochos von Askalon (blüht 675 79), der mit dem stoischen System das platonisch-aristotelische zu einer organischen Einheit zusammengeklittert zu haben behauptete, brachte es in der Tat dahin, daß seine mißgeschaffene Doktrin die Modephilosophie der Konservativen seiner Zeit und von den vornehmen Dilettanten und Literaten Roms gewissenhaft studiert ward. Wer irgend in geistiger Frische sich regte, opponierte der Stoa oder ignorierte sie. Es war hauptsächlich der Widerwille gegen die großmauligen und langweiligen römischen Pharisäer, daneben freilich auch der zunehmende Hang, sich aus dem praktischen Leben in schlaffe Apathie oder nichtige Ironie zu flüchten, dem während dieser Epoche das System Epikurs seine Ausbreitung in weiteren Kreisen und die Diogenische Hundephilosophie ihre Einbürgerung in Rom verdankte. Wie matt und gedankenarm auch jenes sein mochte, eine Philosophie, die nicht in der Veränderung der hergebrachten Bezeichnungen den Weg zur Freiheit suchte, sondern mit den vorhandenen sich begnügte und durchaus nur die sinnliche Wahrnehmung als wahr gelten ließ, war immer noch besser als das terminologische Geklapper und die hohlen Begriffe der stoischen Weisheit; und die Hundephilosophie gar war von allen damaligen philosophischen Systemen insofern bei weitem das vorzüglichste, als ihr System sich darauf beschränkte, gar kein System zu haben, sondern alle Systeme und alle Systematiker zu verhöhnen. Auf beiden Gebieten wurde gegen die Stoa mit Eifer und Glück Krieg geführt; für ernste Männer predigte der Epikureer Lucretius mit dem vollen Akzent der innigen Überzeugung und des heiligen Eifers gegen den stoischen Götter- und Vorsehungsglauben und die stoische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele; für das große lachbereite Publikum traf der Kyniker Varro mit den flüchtigen Pfeilen seiner vielgelesenen Satiren noch schärfer zum Ziel. Wenn also die tüchtigsten Männer der älteren Generation die Stoa befehdeten, so stand dagegen die jüngere, wie zum Beispiel Catullus, zu ihr in gar keinem innerlichen Verhältnis mehr und kritisierte sie noch bei weitem schärfer durch vollständiges Ignorieren.

Indes wenn hier ein glaubenloser Glaube aus politischer Konvenienz aufrecht erhalten ward, so brachte man dies anderswo reichlich wieder ein. Unglaube und Aberglaube, verschiedene Farbenbrechungen desselben geschichtlichen Phänomens, gingen auch in der damaligen römischen Welt Hand in Hand und es fehlte nicht an Individuen, welche sie beide in sich vereinigten, mit Epikuros die Götter leugneten und doch vor jeder Kapelle beteten und opferten. Natürlich galten nur noch die aus dem Orient gekommenen Götter, und wie die Menschen fortfuhren, aus den griechischen Landschaften nach Italien zu strömen, so wanderten auch die Götter des Ostens in immer steigender Zahl nach dem Westen hinüber. Was der phrygische Kult damals in Rom bedeutete, beweist sowohl die Polemik bei den älteren Männern, wie bei Varro und Lucretius, als auch die poetische Verherrlichung desselben bei dem modernen Catullus, die mit der charakteristischen Bitte schließt, daß die Göttin geneigen möge, nur andere, nicht den Dichter selbst verrückt zu machen. Neu trat hinzu der persische Götterdienst, der zuerst durch Vermittlung der von Osten und von Westen her auf dem Mittelmeere sich begegnenden Piraten zu den Okzidentalen gelangt sein soll und als dessen älteste Kultstätte im Westen der Berg Olympos in Lykien bezeichnet wird. Dafür, daß man bei der Aufnahme der orientalischen Kulte im Okzident das, was sie von höheren spekulativen und sittlichen Elementen enthielten, durchgängig fallen ließ, ist es ein merkwürdiger Beleg, daß der höchste Gott der reinen Lehre Zarathustras, Ahuramazda, im Westen so gut wie unbekannt blieb und hier die Verehrung sich vorzugsweise wieder demjenigen Gott zuwandte, der in der alten persischen Volksreligion den ersten Platz eingenommen hatte und durch Zarathustra an den zweiten gerückt worden war, dem Sonnengott Mithra. Rascher noch als die lichteren und milderen persischen Himmelsgestalten traf der langweilig geheimnisvolle Schwarm der ägyptischen Götterkarikaturen in Rom ein, die Naturmutter Isis mit ihrem ganzen Gefolge, dem ewig sterbenden und ewig wiederauflebenden Osiris, dem finsteren Sarapis, dem schweigsam ernsten Harpokrates, dem hundsköpfigen Anubis. In dem Jahre, wo Clodius die Klubs und Konventikel freigab (696 58), und ohne Zweifel eben infolge dieser Emanzipation des Pöbels, machte jener Schwarm sogar Anstalt, in die alte Burg des römischen Jupiter auf dem Kapitol seinen Einzug zu halten, und kaum gelang es, von hier ihn noch abzuwehren und die unvermeidlichen Tempel wenigstens in die Vorstädte Roms zu bannen. Kein Kult war in den unteren Schichten der hauptstädtischen Bevölkerung gleich populär: als der Senat die innerhalb der Ringmauer angelegten Isistempel einzureißen befahl, wagte kein Arbeiter, die erste Hand daran zu legen, und der Konsul Lucius Paullus mußte selber den ersten Axtschlag tun (704 50); man konnte darauf wetten, daß je lockerer ein Dirnchen war, es desto frommer die Isis verehrte. Daß Loswerfen, Traumdeuten und dergleichen freie Künste ihren Mann ernährten, versteht sich von selbst. Das Horoskopstellen ward schon wissenschaftlich betrieben: Lucius Tarutius aus Firmum, ein angesehener und in seiner Art gelehrter, mit Varro und Cicero befreundeter Mann, stellte ganz ernsthaft den Königen Romulus und Numa und der Stadt Rom selbst die Nativität und erhärtete zur Erbauung der beiderseitigen Gläubigen mittels seiner chaldäischen und ägyptischen Weisheit die Berichte der römischen Chronik. Aber bei weitem die merkwürdigste Erscheinung auf diesem Gebiet ist der erste Versuch, das rohe Glauben mit dem spekulativen Denken zu verquicken, das erste Hervortreten derjenigen Tendenzen, die wir als neuplatonische zu bezeichnen gewohnt sind, in der römischen Welt. Ihr ältester Apostel daselbst war Publius Nigidius Figulus, ein vornehmer Römer von der strengsten Fraktion der Aristokratie, der 696 (58) die Prätur bekleidete und im Jahre 709 (45) als politischer Verbannter außerhalb Italiens starb. Mit staunenswerter Vielgelehrtheit und noch staunenswerterer Glaubensstärke schuf er aus den disparatesten Elementen einen philosophisch-religiösen Bau, dessen wunderlichen Grundriß er mehr wohl noch in mündlichen Verkündigungen entwickelte als in seinen theologischen und naturwissenschaftlichen Schriften. In der Philosophie griff er, Erlösung suchend von den Totengerippen der umgehenden Systeme und Abstraktionen, zurück auf den verschütteten Born der vorsokratischen Philosophie, deren alten Weisen der Gedanke selber noch mit sinnlicher Lebendigkeit erschienen war. Die naturwissenschaftliche Forschung, die, zweckmäßig behandelt, dem mystischen Schwindel und der frommen Taschenspielerei auch jetzt noch so vortreffliche Handhaben darbietet und im Altertum, bei der mangelhafteren Einsicht in die physikalischen Gesetze, sie noch bequemer darbot, spielte begreiflicherweise auch hier eine ansehnliche Rolle. Seine Theologie beruhte wesentlich auf dem wunderlichen Gebräu, in dem den geistesverwandten Griechen orphische und andere uralte oder sehr neue einheimische Weisheit mit persischen, chaldäischen und ägyptischen Geheimlehren zusammengeflossen war und in welches Figulus noch die Quasiresultate der tuskischen Forschung in das Nichts und die einheimische Vogelfluglehre zu weiterer harmonischer Konfusion einarbeitete. Dem ganzen System gab die politisch-religiös-nationale Weihe der Name des Pythagoras, des ultrakonservativen Staatsmannes, dessen oberster Grundsatz war, „die Ordnung zu fördern und der Unordnung zu wehren“, des Wundermannes und Geisterbeschwörers, des in Italien heimischen, selbst in Roms Sagengeschichte verflochtenen und auf dem römischen Markte im Standbilde zu schauenden uralten Weisen. Wie Geburt und Tod miteinander verwandt sind, so, schien es, sollte Pythagoras nicht bloß an der Wiege der Republik stehen als des weisen Numa Freund und der klugen Mutter Egeria Kollege, sondern auch als der letzte Hort der heiligen Vogelweisheit an ihrem Grabe. Das neue System war aber nicht bloß wunderhaft, es wirkte auch Wunder: Nigidius verkündigte dem Vater des nachmaligen Kaisers Augustus an dem Tage selbst, wo dieser geboren ward, die künftige Größe des Sohnes; ja die Propheten bannten den Gläubigen Geister und, was mehr sagen will, sie wiesen ihnen die Plätze nach, wo ihre verlorenen Münzen lagen. Die neu-alte Weisheit, wie sie nun eben war, machte doch auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck; die vornehmsten, gelehrtesten, tüchtigsten Männer der verschiedensten Parteien, der Konsul des Jahres 705 (49), Appius Claudius, der gelehrte Marcus Varro, der tapfere Offizier Publius Vatinius, machten das Geisterzitieren mit, und es scheint sogar, daß gegen das Treiben dieser Gesellschaften polizeilich eingeschritten werden mußte. Diese letzten Versuche, die römische Theologie zu retten, machen, ähnlich wie Catos verwandte Bestrebungen auf dem politischen Gebiet, zugleich einen komischen und einen wehmütigen Eindruck; man darf über das Evangelium wie über die Apostel lächeln, aber immer ist es eine ernsthafte Sache, wenn auch die tüchtigen Männer anfangen, sich dem Absurden zu ergeben.

Die Jugendbildung bewegte sich, wie sich von selbst versteht, in dem in der vorigen Epoche vorgezeichneten Kreise zwiesprachiger Humanität, und mehr und mehr ging die allgemeine Bildung auch der römischen Welt ein auf die von den Griechen dafür festgestellten Formeln. Selbst die körperlichen Übungen schritten von dem Ballspiel, dem Laufen und Fechten fort zu den kunstmäßiger entwickelten griechischen Turnkämpfen; wenn es auch für diese noch keine öffentlichen Anstalten gab, pflegte doch in den vornehmen Landhäusern schon neben den Badezimmern die Palästra nicht zu fehlen. In welcher Art der Kreis der allgemeinen Bildung sich in der römischen Welt im Laufe eines Jahrhunderts umgewandelt hatte, zeigt die Vergleichung der Catonischen ‚Encyklopädie‘ mit der gleichartigen Schrift Varros ‚Von den Schulwissenschaften‘. Als Bestandteile der nichtfachwissenschaftlichen Bildung erscheinen bei Cato die Redekunst, die Ackerbau-, Rechts-, Kriegs- und Arzneikunde, bei Varro – nach wahrscheinlicher Vermutung – Grammatik, Logik oder Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik, Medizin und Architektur. Es sind also im Verlaufe des siebenten Jahrhunderts Kriegs-, Rechts- und Ackerbaukunde aus allgemeinen zu Fachwissenschaften geworden. Dagegen tritt bei Varro die hellenische Jugendbildung bereits in ihrer ganzen Vollständigkeit auf: neben dem grammatisch-rhetorisch-philosophischen Kursus, der schon früher in Italien eingeführt war, findet jetzt auch der länger spezifisch hellenisch gebliebene geometrisch-arithmetisch-astronomisch-musikalische125 sich ein. Daß namentlich die Astronomie, die in der Nomenklatur der Gestirne dem gedankenlosen gelehrten Dilettantismus der Zeit, in ihren Beziehungen zur Astrologie dem herrschenden religiösen Schwindel entgegenkam, in Italien von der Jugend regelmäßig und eifrig studiert ward, läßt sich auch anderweitig belegen: Aratos‘ astronomische Lehrgedichte fanden unter allen Werken der alexandrinischen Literatur am frühesten Eingang in den römischen Jugendunterricht. Zu diesem hellenischen Kursus trat dann noch die aus dem älteren römischen Jugendunterricht stehengebliebene Medizin und endlich die dem damaligen statt des Ackers Häuser und Villen bauenden vornehmen Römer unentbehrliche Architektur.

Im Vergleich mit der vorigen Epoche nimmt die griechische wie die lateinische Bildung an Umfang und an Schulstrenge ebenso zu wie ab an Reinheit und an Feinheit. Der steigende Drang nach griechischem Wissen gab dem Unterricht von selbst einen gelehrten Charakter. Horneros oder Euripides zu exponieren war am Ende keine Kunst; Lehrer und Schüler fanden besser ihre Rechnung bei den alexandrinischen Poesien, welche überdies auch ihrem Geiste nach der damaligen römischen Welt weit näher standen als die echte griechische Nationalpoesie und die, wenn sie nicht ganz so ehrwürdig wie die Ilias waren, doch bereits ein hinreichend achtbares Alter besaßen, um Schulmeistern als Klassiker zu gelten. Euphorions Liebesgedichte, Kalkmachos‘ ‚Ursachen‘ und seine ‚Ibis‘, Lykophrons komisch dunkle ‚Alexandra‘ enthielten in reicher Fülle seltene Vokabeln ( glossae), die zum Exzerpieren und Interpretieren sich eigneten, mühsam verschlungene und mühsam aufzulösende Sätze, weitläufige Exkurse voll Zusammengeheimnissung verlegener Mythen, überhaupt Vorrat zu beschwerlicher Gelehrsamkeit aller Art. Der Unterricht bedurfte immer schwierigerer Übungsstücke; jene Produkte, großenteils Musterarbeiten von Schulmeistern, eigneten sich vortrefflich zu Lehrstücken für Musterschüler. So nahmen die alexandrinischen Poesien in dem italischen Schulunterricht, namentlich als Probeaufgaben, bleibenden Platz und förderten allerdings das Wissen, aber auf Kosten des Geschmacks und der Gescheitheit. Derselbe ungesunde Bildungshunger drängte ferner die römische Jugend, den Hellenismus so viel wie möglich an der Quelle zu schöpfen. Die Kurse bei den griechischen Meistern in Rom genügten nur noch für den ersten Anlauf; wer irgend wollte mitsprechen können, hörte griechische Philosophie in Athen, griechische Rhetorik in Rhodos und machte eine literarische und Kunstreise durch Kleinasien, wo noch am meisten von den alten Kunstschätzen der Hellenen an Ort und Stelle anzutreffen war und, wenn auch handwerksmäßig, die musische Bildung derselben sich fortgepflanzt hatte; wogegen das fernere und mehr als Sitz der strengen Wissenschaften gefeierte Alexandreia weit seltener das Reiseziel der bildungslustigen jungen Leute war.

Ähnlich wie der griechische steigert sich auch der lateinische Unterricht. Zum Teil geschah dies schon durch die bloße Rückwirkung des griechischen, dem er ja seine Methode und seine Anregungen wesentlich entlehnte. Ferner trugen die politischen Verhältnisse, der durch das demokratische Treiben in immer weitere Kreise getragene Zudrang zu der Rednerbühne auf dem Markte, zur Verbreitung und Steigerung der Redeübungen nicht wenig bei; „wo man hinblickt“, sagt Cicero, „ist alles von Rhetoren voll“. Es kam hinzu, daß die Schriften des sechsten Jahrhunderts, je weiter sie in die Vergangenheit zurücktraten, desto entschiedener als klassische Texte der goldenen Zeit der lateinischen Literatur zu gelten anfingen und damit dem wesentlich auf sie sich konzentrierenden Unterricht ein größeres Schwergewicht gaben. Endlich gab die von vielen Seiten her einreißende und einwandernde Barbarei und die beginnende Latinisierung ausgedehnter keltischer und spanischer Landschaften der lateinischen Sprachlehre und dem lateinischen Unterricht von selbst eine höhere Bedeutung, als er sie hatte haben können, solange nur Latium lateinisch sprach: der Lehrer der lateinischen Literatur hatte in Comum und Narbo von Haus aus eine andere Stellung als in Praeneste und Ardea. Im ganzen genommen war die Bildung mehr im Sinken als im Steigen. Der Ruin der italischen Landstädte, das massenhafte Eindringen fremder Elemente, die politische, ökonomische und sittliche Verwilderung der Nation, vor allem die zerrüttenden Bürgerkriege verdarben auch in der Sprache mehr, als alle Schulmeister der Welt wieder gutmachen konnten. Die engere Berührung mit der hellenischen Bildung der Gegenwart, der bestimmtere Einfluß der geschwätzigeren athenischen Weisheit und der rhodischen und kleinasiatischen Rhetorik führten vorwiegend eben die schädlichsten Elemente des Hellenismus der römischen Jugend zu. Die propagandistische Mission, die Latium unter den Kelten, Iberern und Libyern übernahm, wie stolz die Aufgabe auch war, mußte doch für die lateinische Sprache ähnliche Folgen haben, wie die Hellenisierung des Ostens sie für die hellenische gehabt hatte. Wenn das römische Publikum dieser Zeit die wohlgefügte und rhythmisch kadenzierte Periode des Redners beklatschte und dem Schauspieler ein sprachlicher oder metrischer Verstoß teuer zu stehen kam, so zeigt dies wohl, daß die schulmäßig reflektierte Einsicht in die Muttersprache in immer weiteren Kreisen Gemeingut ward: aber daneben klagen urteilsfähige Zeitgenossen, daß die hellenische Bildung in Italien um 690 (64) weit tiefer gestanden als ein Menschenalter zuvor; daß man das reine gute Latein nur selten mehr, am ersten noch aus dem Munde älterer gebildeter Frauen zu hören bekomme; daß die Überlieferung echter Bildung, der alte, gute lateinische Mutterwitz, die Lucilische Feinheit, der gebildete Leserkreis der scipionischen Zeit allmählich ausgingen. Daß Wort und Begriff der „Urbanität“, das heißt der feinen nationalen Gesittung, in dieser Zeit aufkamen, beweist nicht, daß sie herrschte, sondern daß sie im Verschwinden war und daß man in der Sprache und dem Wesen der latinisierten Barbaren oder barbarisierten Lateiner die Abwesenheit dieser Urbanität schneidend empfand. Wo noch der urbane Konversationston begegnet, wie in Varros Satiren und Ciceros Briefen, da ist es ein Nachklang der alten in Reate und Arpinum noch nicht so wie in Rom verschollenen Weise.

So blieb die bisherige Jugendbildung ihrem Wesen nach unverändert, nur daß sie, nicht so sehr durch ihren eigenen als durch den allgemeinen Verfall der Nation, weniger Gutes und mehr Übles stiftete als in der vorhergegangenen Epoche. Eine Revolution auch auf diesem Gebiet leitete Caesar ein. Wenn der römische Senat die Bildung erst bekämpft und sodann höchstens geduldet hatte, so mußte die Regierung des neuen italisch-hellenischen Reiches, dessen Wesen ja die Humanität war, dieselbe notwendig in hellenischer Weise von oben herab fördern. Wenn Caesar sämtlichen Lehrern der freien Wissenschaften und sämtlichen Ärzten der Hauptstadt das römische Bürgerrecht verlieh, so darf darin wohl eine gewisse Einleitung gefunden werden zu jenen Anstalten, in denen späterhin für die höhere zwiesprachige Bildung der Jugend des Reiches von Staats wegen gesorgt ward und die der prägnanteste Ausdruck des neuen Staates der Humanität sind; und wenn Caesar ferner die Gründung einer öffentlichen griechischen und lateinischen Bibliothek in der Hauptstadt beschlossen und bereits den gelehrtesten Römer der Zeit, Marcus Varro, zum Oberbibliothekar ernannt hatte, so liegt darin unverkennbar die Absicht, mit der Weltmonarchie die Weltliteratur zu verknüpfen.

Die sprachliche Entwicklung dieser Zeit knüpfte an den Gegensatz an zwischen dem klassischen Latein der gebildeten Gesellschaft und der Vulgärsprache des gemeinen Lebens. Jenes selbst war ein Erzeugnis der spezifischen italischen Bildung; schon in dem Scipionischen Kreise war das „reine Latein“ Stichwort gewesen und wurde die Muttersprache nicht mehr völlig naiv gesprochen, sondern in bewußtem Unterschied von der Sprache des großen Haufens. Diese Epoche eröffnet mit einer merkwürdigen Reaktion gegen den bisher in der höheren Umgangssprache und demnach auch in der Literatur alleinherrschenden Klassizismus, einer Reaktion, die innerlich und äußerlich mit der gleichartigen Sprachreaktion in Griechenland eng zusammenhing. Eben um diese Zeit begannen der Rhetor und Romanschreiber Hegesias von Magnesia und die zahlreichen, an ihn sich anschließenden kleinasiatischen Rhetoren und Literaten sich aufzulehnen gegen den orthodoxen Attizismus. Sie forderten das Bürgerrecht für die Sprache des Lebens, ohne Unterschied, ob das Wort und die Wendung in Attika entstanden sei oder in Karien und Phrygien; sie selber sprachen und schrieben nicht für den Geschmack der gelehrten Cliquen, sondern für den des großen Publikums. Gegen den Grundsatz ließ sich nicht viel einwenden; nur freilich konnte das Resultat nicht besser sein als das damalige kleinasiatische Publikum war, das den Sinn für Strenge und Reinheit der Produktion gänzlich verloren hatte und nur nach dem Zierlichen und Brillanten verlangte. Um von den aus dieser Richtung entsprungenen Afterkunstgattungen, namentlich dem Roman und der romanhaften Geschichte, hier zu schweigen, so war schon der Stil dieser Asiaten begreiflicherweise zerhackt und ohne Kadenz und Periode, verzwickt und weichlich, voll Flitter und Bombast, durchaus gemein und manieriert; „wer Hegesias kennt“, sagt Cicero, „der weiß, was albern ist“.

Dennoch fand dieser neue Stil seinen Weg auch in die latinische Welt. Als die hellenische Moderhetorik, nachdem sie am Ende der vorigen Epoche in den latinischen Jugendunterricht sich eingedrängt hatte, zu Anfang der gegenwärtigen den letzten Schritt tat und mit Quintus Hortensius (640-704 114-50), dem gefeiertsten Sachwalter der sullanischen Zeit, die römische Rednerbühne selbst betrat, da schmiegte sie auch in dem lateinischen Idiom dem schlechten griechischen Zeitgeschmack eng sich an; und das römische Publikum, nicht mehr das rein und streng gebildete der scipionischen Zeit, beklatschte natürlich eifrig den Neuerer, der es verstand, dem Vulgarismus den Schein kunstgerechter Leistung zu geben. Es war dies von großer Bedeutung. Wie in Griechenland der Sprachstreit immer zunächst in den Rhetorenschulden geführt ward, so war auch in Rom die gerichtliche Rede gewissermaßen mehr noch als die Literatur maßgebend für den Stil, und es war deshalb mit dem Sachwalterprinzipat gleichsam von Rechts wegen die Befugnis verbunden, den Ton der modischen Sprech- und Schreibweise anzugeben. Hortensius‘ asiatischer Vulgarismus verdrängte also den Klassizismus von der römischen Rednerbühne und zum Teil auch aus der Literatur. Aber bald schlug in Griechenland wie in Rom die Mode wieder um. Dort war es die Rhodische Rhetorenschule, die ohne auf die ganze keusche Strenge des attischen Stils zurückzugehen, doch versuchte, zwischen ihm und der modernen Weise einen Mittelweg einzuschlagen; wenn die rhodischen Meister es mit der innerlichen Korrektheit des Denkens und Sprechens nicht allzu genau nahmen, so drangen sie doch wenigstens auf sprachliche und stilistische Reinheit, auf sorgfältige Auswahl der Wörter und Wendungen und durchgeführte Kadenzierung der Sätze. In Italien war es Marcus Tullius Cicero (648-711 106-43), der, nachdem er in seiner ersten Jugend die Hortensische Manier mitgemacht hatte, durch das Hören der rhodischen Meister und durch eigenen gereifteren Geschmack auf bessere Wege zurückgeführt ward und fortan sich strenger Reinheit der Sprache und durchgängiger Periodisierung und Kadenzierung der Rede befliß. Die Sprachmuster, an die er hierbei sich anschloß, fand er vor allen Dingen in denjenigen Kreisen der höheren römischen Gesellschaft, welche von dem Vulgarismus noch wenig oder gar nicht gelitten hatten; und wie schon gesagt ward, es gab deren noch, obwohl sie anfingen zu schwinden. Die ältere lateinische und die gute griechische Literatur, so bedeutend auch namentlich auf den Numerus der Rede die letztere eingewirkt hat, standen daneben doch nur in zweiter Linie; es war diese Sprachreinigung also keineswegs eine Reaktion der Buch- gegen die Umgangssprache, sondern eine Reaktion der Sprache der wirklich Gebildeten gegen den Jargon der falschen und halben Bildung. Caesar, auch auf dem Gebiet der Sprache der größte Meister seiner Zeit, sprach den Grundgedanken des römischen Klassizismus aus, indem er in Rede und Schrift jedes fremdartige Wort so zu vermeiden gebot, wie der Schiffer die Klippe meidet: man verwarf das poetische und das verschollene Wort der älteren Literatur ebenso, wie die bäurische oder der Sprache des gemeinen Lebens entlehnte Wendung und namentlich die, wie die Briefe dieser Zeit es beweisen, in sehr weitem Umfang in die Umgangssprache eingedrungenen griechischen Wörter und Phrasen. Aber nichtsdestoweniger verhielt dieser schulmäßige und künstliche Klassizismus der ciceronischen Zeit sich zu dem scipionischen, wie zu der Unschuld die bekehrte Sünde oder wie zu dem mustergültigen Französisch Molières und Boileaus das der napoleonischen Klassizisten; wenn jener aus dem vollen Leben geschöpft hatte, so fing dieser gleichsam die letzten Atemzüge eines unwiderbringlich untergehenden Geschlechts noch eben rechtzeitig auf. Wie er nun war, er breitete rasch sich aus. Mit dem Sachwalterprinzipat ging auch die Sprach- und Geschmacksdiktatur von Hortensius auf Cicero über, und die mannigfaltige und weitläufige Schriftstellerei des letzteren gab diesem Klassizismus, was ihm noch gefehlt hatte, ausgedehnte prosaische Texte. So wurde Cicero der Schöpfer der modernen klassischen lateinischen Prosa und knüpfte der römische Klassizismus durchaus und überall an Cicero als Stilisten an; dem Stilisten Cicero, nicht dem Schriftsteller, geschweige denn dem Staatsmanne, galten die überschwenglichen und doch nicht ganz phrasenhaften Lobsprüche, mit denen die begabtesten Vertreter des Klassizismus, namentlich Caesar und Catullus, ihn überhäufen.

Bald ging man weiter. Was Cicero in der Prosa, das führte in der Poesie gegen das Ende der Epoche die neurömische an die griechische Modepoesie sich anlehnende Dichterschule durch, deren bedeutendstes Talent Catullus war. Auch hier verdrängte die höhere Umgangssprache die bisher auf diesem Gebiet noch vielfach waltenden archaistischen Reminiszenzen und fügte wie die lateinische Prosa sich dem attischen Numerus, so die lateinische Poesie sich allmählich den strengen oder vielmehr peinlichen metrischen Gesetzen der Alexandriner; so zum Beispiel wird von Catullus an es nicht mehr verstattet, mit einem einsilbigen oder einem nicht besonders schwerwichtigen zweisilbigen Wort zugleich einen Vers zu beginnen und einen im vorigen begonnenen Satz zu schließen. Endlich trat denn die Wissenschaft hinzu, fixierte das Sprachgesetz und entwickelte die Regel, die nicht mehr aus der Empirie bestimmt ward, sondern den Anspruch machte, die Empirie zu bestimmen. Die Deklinationsendungen, die bisher noch zum Teil geschwankt hatten, sollten jetzt ein für allemal fixiert werden, wie zum Beispiel von den bisher nebeneinander gangbaren Genetiv- und Dativformen der sogenannten vierten Deklination (senatuis und senatus, senatui und senatu) Caesar ausschließlich die zusammengezogenen ( us und u) gelten ließ. In der Orthographie wurde mancherlei geändert, um die Schrift mit der Sprache wieder vollständiger ins gleiche zu setzen – so ward das inlautende u in Wörtern wie maxumus nach Caesars Vorgang durch i ersetzt und von den beiden überflüssig gewordenen Buchstaben k und q die Beseitigung des ersten durchgesetzt, die des zweiten wenigstens vorgeschlagen. Die Sprache war, wenn noch nicht erstarrt, doch im Erstarren begriffen, von der Regel zwar noch nicht gedankenlos beherrscht, aber doch bereits ihrer sich bewußt geworden. Daß für diese Tätigkeit auf dem Gebiete der lateinischen Grammatik die griechische nicht bloß im allgemeinen den Geist und die Methode hergab, sondern die lateinische Sprache auch wohl geradezu nach jener rektifiziert ward, beweist zum Beispiel die Behandlung des schließenden s, das bis gegen den Ausgang dieser Epoche nach Gefallen bald als Konsonant, bald nicht als solcher gegolten hatte, von den neumodischen Poeten aber durchgängig wie im Griechischen als konsonantischer Auslaut behandelt ward. Diese Sprachregulierung ist die eigentliche Domäne des römischen Klassizismus; in der verschiedensten Weise und ebendarum nur um so bedeutsamer wird bei den Koryphäen desselben, bei Cicero, Caesar, sogar in den Gedichten Catulls, die Regel eingeschärft und der Verstoß dagegen abgetrumpft; wogegen die ältere Generation sich über die auf dem sprachlichen Gebiet ebenso rücksichtslos wie auf dem politischen durchgreifende Revolution mit begreiflicher Empfindlichkeit äußert126. Indem aber der neue Klassizismus, das heißt das regulierte und mit dem mustergültigen Griechisch soweit möglich ins gleiche gesetzte mustergültige Latein, hervorgehend aus der bewußten Reaktion gegen den in die höhere Gesellschaft und selbst in die Literatur eingedrungenen Vulgarismus, sich literarisch fixierte und schematisch formulierte, räumte dieser doch keineswegs das Feld. Wir finden ihn nicht bloß naiv in den Werken untergeordneter, nur zufällig unter die Schriftsteller verschlagener Individuen, wie in dem Bericht über Caesars zweiten spanischen Krieg, sondern wir werden ihm auch in der eigentlichen Literatur, im Mimus, im Halbroman, in den ästhetischen Schriften Varros mehr oder weniger ausgeprägt begegnen; und charakteristisch ist es, daß er eben in den am meisten volkstümlichen Gebieten der Literatur sich behauptet und daß wahrhaft konservative Männer, wie Varro, ihn in Schutz nehmen. Der Klassizismus ruht auf dem Tode der italischen Sprache wie die Monarchie auf dem Untergang der italischen Nation; es war vollkommen konsequent, daß die Männer, in denen die Republik noch lebendig war, auch der lebenden Sprache fortfuhren, ihr Recht zu geben und ihrer relativen Lebendigkeit und Volkstümlichkeit zuliebe ihre ästhetischen Mängel ertrugen. So gehen denn die sprachlichen Meinungen und Richtungen dieser Epoche überall hin auseinander: neben der altfränkischen Poesie des Lucretius erscheint die durchaus moderne des Catullus, neben Ciceros kadenzierter Periode Varros absichtlich jede Gliederung verschmähender Satz. Auch hierin spiegelt sich die Zerrissenheit der Zeit.

In der Literatur dieser Periode fällt zunächst, im Vergleich mit der früheren, die äußere Steigerung des literarischen Treibens in Rom auf. Die literarische Tätigkeit der Griechen gedieh längst nicht mehr in der freien Luft der bürgerlichen Unabhängigkeit, sondern nur noch in den wissenschaftlichen Anstalten der größeren Städte und besonders der Höfe. Angewiesen auf Gunst und Schutz der Großen und durch das Erlöschen der Dynastien von Pergamon (621 133), Kyrene (658 96), Bithynien (679 75) und Syrien (690 64), durch den sinkenden Glanz der Hofhaltung der Lagiden aus den bisherigen Musensitzen verdrängt127

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Die literarische Tendenz dieser Zeit war keine einfache und konnte es nicht sein, da die Zeit selbst zwischen der alten und der neuen Weise geteilt war. Dieselben Richtungen, die auf dem politischen Gebiet sich bekämpften, die national-italische der Konservativen, die hellenisch-italische oder, wenn man will, kosmopolitische der neuen Monarchie, haben auch auf dem literarischen ihre Schlachten geschlagen. Jene lehnt sich auf die ältere lateinische Literatur, die auf dem Theater, in der Schule und in der gelehrten Forschung mehr und mehr den Charakter der Klassizität annimmt. Mit minderem Geschmack und stärkerer Parteitendenz, als die scipionische Epoche bewies, werden jetzt Ennius, Pacuvius und namentlich Plautus in den Himmel erhoben. Die Blätter der Sibylle steigen im Preise, je weniger ihrer werden; die relative Nationalität und relative Produktivität der Dichter des sechsten Jahrhunderts wurde nie lebhafter empfunden als in dieser Epoche des ausgebildeten Epigonentums, die in der Literatur ebenso entschieden wie in der Politik zu dem Jahrhundert der Hannibalskämpfer hinaufsah als zu der goldenen, leider unwiederbringlich dahingegangenen Zeit. Freilich war in dieser Bewunderung der alten Klassiker ein guter Teil derselben Hohlheit und Heuchelei, die dem konservativen Wesen dieser Zeit überhaupt eigen sind, und die Zwischengänger mangelten auch hier nicht. Cicero zum Beispiel, obwohl in der Prosa einer der Hauptvertreter der modernen Tendenz, verehrte dennoch die ältere nationale Poesie ungefähr mit demselben anbrüchigen Respekt, welchen er der aristokratischen Verfassung und der Auguraldisziplin zollte; „der Patriotismus erfordert es“, heißt es bei ihm, „lieber eine notorisch elende Übersetzung des Sophokles zu lesen als das Original“. Wenn also die moderne, der demokratischen Monarchie verwandte literarische Richtung selbst unter den rechtgläubigen Enniusbewunderern stille Bekenner genug zählte, so fehlte es auch schon nicht an dreisteren Urteilern, die mit der einheimischen Literatur ebenso unsäuberlich umgingen wie mit der senatorischen Politik. Man nahm nicht bloß die strenge Kritik der scipionischen Epoche wieder auf und ließ den Terenz nur gelten, um Ennius und mehr noch die Ennianisten zu verdammen, sondern die jüngere und verwegenere Welt ging weit darüber hinaus und wagte es schon, wenn auch nur noch in ketzerischer Auflehnung gegen die literarische Orthodoxie, den Plautus einen rohen Spaßmacher, den Lucilius einen schlechten Verseschmied zu heißen. Statt auf die einheimische lehnt sich diese moderne Richtung vielmehr auf die neuere griechische Literatur oder den sogenannten Alexandrinismus.

Es kann nicht umgangen werden, von diesem merkwürdigen Wintergarten hellenischer Sprache und Kunst hier wenigstens so viel zu sagen, als für das Verständnis der römischen Literatur dieser und der späteren Epochen erforderlich ist. Die alexandrinische Literatur ruht auf dem Untergang des reinen hellenischen Idioms, das seit der Zeit Alexanders des Großen im Leben ersetzt ward durch einen verkommenen, zunächst aus der Berührung des makedonischen Dialekts mit vielfachen griechischen und barbarischen Stämmen hervorgegangenen Jargon; oder genauer gesagt, die alexandrinische Literatur ist hervorgegangen aus dem Ruin der hellenischen Nation überhaupt, die, um die alexandrinische Weltmonarchie und das Reich des Hellenismus zu begründen, in ihrer volkstümlichen Individualität untergehen mußte und unterging. Hätte Alexanders Weltreich Bestand gehabt, so würde an die Stelle der ehemaligen nationalen und volkstümlichen eine nur dem Namen nach hellenische, wesentlich denationalisierte und gewissermaßen von oben herab ins Leben gerufene, aber allerdings die Welt beherrschende, kosmopolitische Literatur getreten sein; indes wie der Staat Alexanders mit seinem Tode aus den Fugen wich, gingen auch die Anfänge der ihm entsprechenden Literatur rasch zugrunde. Die griechische Nation aber gehörte darum nicht weniger mit allem, was sie gehabt, mit ihrer Volkstümlichkeit, ihrer Sprache, ihrer Kunst, der Vergangenheit an. Nur in einem verhältnismäßig engen Kreis nicht von Gebildeten, die es als solche nicht mehr gab, sondern von Gelehrten wurde die griechische Literatur noch als tote gepflegt, ihr reicher Nachlaß in wehmütiger Freude oder trockener Grübelei inventarisiert und auch wohl das lebendige Nachgefühl oder die tote Gelehrsamkeit bis zu einer Scheinproduktivität gesteigert. Diese posthume Produktivität ist der sogenannte Alexandrinismus. Er ist wesentlich gleichartig derjenigen Gelehrtenliteratur, welche, abstrahierend von den lebendigen romanischen Nationalitäten und ihren vulgären Idiomen, in einem philologisch gelehrten, kosmopolitischen Kreise als künstliche Nachblüte des untergegangenen Altertums während des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts erwuchs; der Gegensatz zwischen dem klassischen und dem Vulgärgriechisch der Diadochenzeit ist wohl minder schroff, aber nicht eigentlich ein anderer als der zwischen dem Latein des Manutius und dem Italienischen Macchiavellis.

Italien hatte bisher sich gegen den Alexandrinismus im wesentlichen ablehnend verhalten. Die relative Blütezeit desselben ist die Zeit kurz vor und nach dem Ersten Punischen Krieg; dennoch schlossen Naevius, Ennius, Pacuvius und schloß überhaupt die gesamte nationalrömische Schriftstellerei bis hinab auf Varro und Lucretius in allen Zweigen poetischer Produktion, selbst das Lehrgedicht nicht ausgenommen, nicht an ihre griechischen Zeitgenossen oder jüngsten Vorgänger sich an, sondern ohne Ausnahme an Homer, Euripides, Menandros und die anderen Meister der lebendigen und volkstümlichen griechischen Literatur. Die römische Literatur ist niemals frisch und national gewesen; aber solange es ein römisches Volk gab, griffen seine Schriftsteller instinktmäßig nach lebendigen und volkstümlichen Mustern und kopierten, wenn auch nicht immer aufs beste noch die besten, doch wenigstens Originale. Die ersten römischen Nachahmer – denn die geringen Anfänge aus der marianischen Zeit können kaum mitgezählt werden – fand die nach Alexander entstandene griechische Literatur unter den Zeitgenossen Ciceros und Caesars; und nun griff der römische Alexandrinismus mit reißender Schnelligkeit um sich. Zum Teil ging dies aus äußerlichen Ursachen hervor. Die gesteigerte Berührung mit den Griechen, namentlich die häufigen Reisen der Römer in die hellenischen Landschaften und die Ansammlung griechischer Literaten in Rom, verschafften natürlich der griechischen Tagesliteratur, den zu jener Zeit in Griechenland gangbaren epischen und elegischen Poesien, Epigrammen und milesischen Märchen, auch unter den Italikern ein Publikum. Indem ferner die alexandrinische Poesie, wie früher dargestellt ward, in dem italischen Jugendunterricht sich festsetzte, wirkte dies auf die lateinische Literatur um so mehr zurück, als diese von der hellenischen Schulbildung zu allen Zeiten wesentlich abhängig war und blieb. Es findet sich hier sogar eine unmittelbare Anknüpfung der neurömischen an die neugriechische Literatur: der schon genannte Parthenios, einer der bekannteren alexandrinischen Elegiker, eröffnete, es scheint um 700 (54), eine Literatur- und Poesieschule in Rom, und es sind noch die Exzerpte vorhanden, in denen er Stoffe für lateinische erotisch-mythologische Elegien nach dem bekannten alexandrinischen Rezept einem seiner vornehmen Schüler an die Hand gab. Aber es waren keineswegs bloß diese zufälligen Veranlassungen, die den römischen Alexandrinismus ins Leben riefen; er war vielmehr ein vielleicht nicht erfreuliches, aber durchaus unvermeidliches Erzeugnis der politischen und nationalen Entwicklung Roms. Einerseits löste, wie Hellas im Hellenismus, so jetzt Latium im Romanismus sich auf; die nationale Entwicklung Italiens überwuchs und zersprengte sich in ganz ähnlicher Weise in Caesars Mittelmeer – wie die hellenische in Alexanders Ostreich. Wenn andererseits das neue Reich darauf beruhte, daß die mächtigen Ströme der griechischen und lateinischen Nationalität, nachdem sie Jahrtausende hindurch in parallelen Betten geflossen, nun endlich zusammenfielen, so mußte auch die italische Literatur nicht bloß wie bisher an der griechischen überhaupt einen Halt suchen, sondern eben mit der griechischen Literatur der Gegenwart, das heißt mit dem Alexandrinismus sich ins Niveau setzen. Mit dem schulmäßigen Latein, der geschlossenen Klassikerzahl, dem exklusiven Kreise der klassikerlesenden „Urbanen“ war die volkstümliche lateinische Literatur tot und zu Ende; es entstand dafür eine durchaus epigonenhafte, künstlich großgezogene Reichsliteratur, die nicht auf einer bestimmten Volkstümlichkeit ruhte, sondern in zweien Sprachen das allgemeine Evangelium der Humanität verkündigte und geistig durchaus und bewußt von der hellenischen, sprachlich teils von dieser, teils von der altrömischen Volksliteratur abhing. Es war dies kein Fortschritt. Die Mittelmeermonarchie Caesars war wohl eine großartige und, was mehr ist, eine notwendige Schöpfung; aber sie war von oben herab ins Leben gerufen und darum nichts in ihr zu finden von dem frischen Volksleben, von der übersprudelnden Nationalkraft, wie sie jüngeren, beschränkteren, natürlicheren Gemeinwesen eigen sind, wie noch der Staat Italien des sechsten Jahrhunderts sie hatte aufzeigen können. Der Untergang der italischen Volkstümlichkeit, abgeschlossen in Caesars Schöpfung, brach der Literatur das Herzblatt aus. Wer ein Gefühl hat für die innige Wahlverwandtschaft der Kunst und der Nationalität, der wird stets sich von Cicero und Horaz ab zurück zu Cato und Lucretius wenden; und nur die, freilich auf diesem Gebiete verjährte, schulmeisterliche Auffassung der Geschichte wie der Literatur hat es vermocht, die mit der neuen Monarchie beginnende Kunstepoche vorzugsweise die goldene zu heißen. Aber wenn der römisch-hellenische Alexandrinismus der caesarischen und augusteischen Zeit zurückstehen muß hinter der, wie immer unvollkommenen, älteren nationalen Literatur, so ist er andererseits dem Alexandrinismus der Diadochenzeit ebenso entschieden überlegen wie Caesars Dauerbau der ephemeren Schöpfung Alexanders. Es wird später darzustellen sein, daß die augustische Literatur, verglichen mit der verwandten der Diadochenzeit, weit minder eine Philologen- und weit mehr eine Reichsliteratur gewesen ist als diese und darum auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft weit dauernder und weit allgemeiner als jemals der griechische Alexandrinismus gewirkt hat.

Nirgends sah es trübseliger aus als in der Bühnenliteratur. Trauerspiel wie Lustspiel waren in der römischen Nationalliteratur bereits vor der gegenwärtigen Epoche innerlich abgestorben. Neue Stücke wurden nicht mehr gespielt. Daß noch in der sullanischen Zeit das Publikum dergleichen zu sehen erwartete, zeigen die dieser Zeit angehörigen Wiederaufführungen Plautinischer Komödien mit gewechselten Titeln und Personennamen, wobei die Direktion wohl hinzufügte, daß es besser sei, ein gutes altes, als ein schlechtes neues Stück zu sehen. Davon hatte man denn nicht weit zu der völligen Einräumung der Bühne an die toten Poeten, die wir in der ciceronischen Zeit finden und der der Alexandrinismus sich gar nicht widersetzte. Seine Produktivität auf diesem Gebiete war schlimmer als keine. Eine wirkliche Bühnendichtung hat die alexandrinische Literatur nie gekannt; nur das Afterdrama, das zunächst zum Lesen, nicht zur Aufführung geschrieben ward, konnte durch sie in Italien eingebürgert werden, und bald fingen denn diese dramatischen Jamben auch an, in Rom ebenso wie in Alexandreia zu grassieren und namentlich das Trauerspielschreiben unter den stehenden Entwicklungskrankheiten zu figurieren. Welcher Art diese Produktionen waren, kann man ungefähr danach bemessen, daß Quintus Cicero, um die Langeweile des gallischen Winterquartiers homöopathisch zu vertreiben, in sechzehn Tagen vier Trauerspiele verfertigte. Einzig in dem „Lebensbild“ oder dem Mimus verwuchs der letzte noch grünende Trieb der nationalen Literatur, die Atellanenposse, mit den ethologischen Ausläufern des griechischen Lustspiels, die der Alexandrinismus mit größerer poetischer Kraft und besserem Erfolg als jeden anderen Zweig der Poesie kultivierte. Der Mimus ging hervor aus den seit langem üblichen Charaktertänzen zur Flöte, die teils bei anderen Gelegenheiten, namentlich zur Unterhaltung der Gäste während der Tafel, teils besonders im Parterre des Theaters während der Zwischenakte aufgeführt wurden. Es war nicht schwer, aus diesen Tänzen, bei denen die Rede wohl längst gelegentlich zur Hilfe genommen ward, durch Einführung einer geordneteren Fabel und eines regelrechten Dialogs kleine Komödien zu machen, die jedoch von dem früheren Lustspiel und selbst von der Posse sich doch dadurch noch wesentlich unterschieden, daß der Tanz und die von solchem Tanz unzertrennliche Laszivität hier fortfuhren, eine Hauptrolle zu spielen, und daß der Mimus, als nicht eigentlich auf den Brettern, sondern im Parterre zu Hause, jede szenische Idealisierung wie die Gesichtsmasken und die Theaterschuhe, beiseite warf und, was besonders wichtig war, die Frauenrollen auch von Frauen darstellen ließ. Dieser neue Mimus, der zuerst um 672 (82) auf die hauptstädtische Bühne gekommen zu sein scheint, verschlang bald die nationale Harlekinade, mit der er ja in den wesentlichsten Beziehungen zusammenfiel, und ward als das gewöhnliche Zwischen- und namentlich Nachspiel neben den sonstigen Schauspielen verwendet131

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Mit der Nichtigkeit der Bühnenliteratur Hand in Hand geht die Steigerung des Bühnenspiels und der Bühnenpracht. Dramatische Vorstellungen erhielten ihren regelmäßigen Platz im öffentlichen Leben nicht bloß der Hauptstadt, sondern auch der Landstädte; auch jene bekam nun endlich durch Pompeius ein stehendes Theater (699 55) und die kampanische Sitte, während des in alter Zeit stets unter freiem Himmel stattfindenden Schauspiels zum Schutze der Spieler und der Zuschauer Segeldecken über das Theater zu spannen, fand ebenfalls jetzt Eingang in Rom (676 78). Wie derzeit in Griechenland nicht die mehr als blassen Siebengestirne der alexandrinischen Dramatiker, sondern das klassische Schauspiel, vor allem die Euripideische Tragödie in reichster Entfaltung szenischer Mittel die Bühne behauptete, so wurden auch in Rom zu Ciceros Zeit vorzugsweise die Trauerspiele des Ennius, Pacuvius und Accius, die Lustspiele des Plautus gegeben. Wenn der letztere in der vorigen Periode durch den geschmackvolleren, aber an komischer Kraft freilich geringeren Terenz verdrängt worden war, so wirkten jetzt Roscius und Varro, das heißt das Theater und die Philologie zusammen, um ihm eine ähnliche Wiederaufstehung zu bereiten, wie sie Shakespeare durch Garrick und Johnson widerfuhr; und auch Plautus hatte dabei von der gesunkenen Empfänglichkeit und der unruhigen Hast des durch die kurzen und lotterigen Possen verwöhnten Publikums zu leiden, so daß die Direktion die Länge der Plautinischen Komödien zu entschuldigen, ja vielleicht auch zu streichen und zu ändern sich genötigt sah. Je beschränkter das Repertoire war, desto mehr richtete sich sowohl die Tätigkeit des dirigierenden und exekutierenden Personals, als auch das Interesse des Publikums auf die szenische Darstellung der Stücke. Kaum gab es in Rom ein einträglicheres Gewerbe als das des Schauspielers und der Tänzerin ersten Ranges. Das fürstliche Vermögen des tragischen Schauspielers Aesopus ward bereits erwähnt; sein noch höher gefeierter Zeitgenosse Roscius schlug seine Jahreseinnahme auf 600000 Sesterzen (46000 Taler) an133 und die Tänzerin Dionysia die ihrige auf 200000 Sesterzen (15000 Taler). Daneben wandte man ungeheure Summen auf Dekorationen und Kostüme: gelegentlich schritten Züge von sechshundert aufgeschirrten Maultieren über die Bühne und das troische Theaterheer ward dazu benutzt, um dem Publikum eine Musterkarte der von Pompeius in Asien besiegten Nationen vorzuführen. Die den Vortrag der eingelegten Gesangstücke begleitende Musik erlangte gleichfalls größere und selbständigere Bedeutung; wie der Wind die Wellen, sagt Varro, so lenkt der kundige Flötenspieler die Gemüter der Zuhörer mit jeder Abwandlung der Melodie. Sie gewöhnte sich, das Tempo rascher zu nehmen und nötigte dadurch den Schauspieler zu lebhafterer Aktion. Die musikalische und Bühnenkennerschaft entwickelte sich; der Habitué erkannte jedes Tonstück an der ersten Note und wußte die Texte auswendig; jeder musikalische oder Rezitationsfehler ward streng von dem Publikum gerügt. Lebhaft erinnert das römische Bühnenwesen der ciceronischen Zeit an das heutige französische Theater. Wie den losen Tableaus der Tagesstücke der römische Mimus entspricht, für den wie für jene nichts zu gut und nichts zu schlecht war, so findet auch in beiden sich dasselbe traditionell klassische Trauerspiel und Lustspiel, die zu bewundern oder mindestens zu beklatschen der gebildete Mann von Rechts wegen verpflichtet ist. Der Menge wird Genüge getan, indem sie in der Posse sich selber wiederfindet, in dem Schauspiel den dekorativen Pomp anstaunt und den allgemeinen Eindruck einer idealen Welt empfängt; der höher Gebildete kümmert im Theater sich nicht um das Stück, sondern einzig um die künstlerische Darstellung. Endlich die römische Schauspielkunst selbst pendelte in ihren verschiedenen Sphären, ähnlich wie die französische, zwischen der Chaumière und dem Salon. Es war nichts Ungewöhnliches, daß die römischen Tänzerinnen bei dem Finale das Obergewand abwarfen und dem Publikum einen Tanz im Hemde zum besten gaben; andererseits aber galt auch dem römischen Talma als das höchste Gesetz seiner Kunst nicht die Naturwahrheit, sondern das Ebenmaß.

In der rezitativen Poesie scheint es an metrischen Chroniken nach dem Muster der Ennianischen nicht gefehlt zu haben; aber sie dürften ausreichend kritisiert sein durch jenes artige Mädchengelübde, von dem Catullus singt: der heiligen Venus, wenn sie den geliebten Mann von seiner bösen politischen Poesie ihr wieder zurück in die Arme führe, das schlechteste der schlechten Heldengedichte zum Brandopfer darzubringen. In der Tat ist auf dem ganzen Gebiet der rezitativen Dichtung in dieser Epoche die ältere nationalrömische Tendenz nur durch ein einziges namhaftes Werk vertreten, das aber auch zu den bedeutendsten dichterischen Erzeugnissen der römischen Literatur überhaupt gehört. Es ist das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus (655-699 99-55) ‚Vom Wesen der Dinge‘, dessen Verfasser, den besten Kreisen der römischen Gesellschaft angehörig, vom öffentlichen Leben aber, sei es durch Kränklichkeit, sei es durch Abneigung ferngehalten, kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges im besten Mannesalter starb. Als Dichter knüpft er energisch an Ennius an und damit an die klassische griechische Literatur. Unwillig wendet er sich weg von dem „hohlen Hellenismus“ seiner Zeit und bekennt sich mit ganzer Seele und vollem Herzen als den Schüler der „strengen Griechen“, wie denn selbst des Thukydides heiliger Ernst in einem der bekanntesten Abschnitte dieser römischen Dichtung keinen unwürdigen Widerhall gefunden hat. Wie Ennius bei Epicharmos und Euhemeros seine Weisheit schöpft, so entlehnt Lucretius die Form seiner Darstellung dem Empedokles, „dem herrlichsten Schatz des gabenreichen sizilischen Eilands“, und liest dem Stoffe nach „die goldenen Worte alle zusammen aus den Rollen des Epikuros“, „welcher die anderen Weisen überstrahlt, wie die Sonne die Sterne verdunkelt“. Wie Ennius verschmäht auch Lucretius die der Poesie von dem Alexandrinismus aufgelastete mythologische Gelehrsamkeit und fordert nichts von seinem Leser als die Kenntnis der allgemein geläufigen Sagen134. Dem modernen Purismus zum Trotz, der die Fremdwörter aus der Poesie auswies, setzt Lucretius, wie es Ennius getan, statt matten und undeutlichen Lateins lieber das bezeichnende griechische Wort. Die altrömische Alliteration, das Nichtineinandergreifen der Vers- und Satzeinschnitte und überhaupt die ältere Rede- und Dichtweise begegnen noch häufig in Lucretius‘ Rhythmen, und obwohl er den Vers melodischer behandelt als Ennius, so wälzen sich doch seine Hexameter nicht wie die der modernen Dichterschule zierlich hüpfend gleich dem rieselnden Bache, sondern mit gewaltiger Langsamkeit gleich dem Strome flüssigen Goldes. Auch philosophisch und praktisch lehnt Lucretius durchaus an Ennius sich an, den einzigen einheimischen Dichter, den sein Gedicht feiert; das Glaubensbekenntnis des Sängers von Rudiae:

Himmelsgötter freilich gibt es, sagt‘ ich sonst und sag‘ ich noch,
Doch sie kümmern keinesweges, mein‘ ich, sich um der Menschen Los

bezeichnet vollständig auch Lucretius‘ religiösen Standpunkt und nicht mit Unrecht nennt er deshalb selbst sein Lied gleichsam die Fortsetzung dessen,

Das uns Ennius sang, der des unverwelklichen Lorbeers
Kranz zuerst mitbracht‘ aus des Helikon lieblichem Haine,
Daß Italiens Völkern er strahl‘ in glänzender Glorie.

Noch einmal, zum letztenmal noch erklingt in Lucretius‘ Gedicht der ganze Dichterstolz und der ganze Dichterernst des sechsten Jahrhunderts, in welchem, in den Bildern von dem furchtbaren Pöner und dem herrlichen Scipiaden, die Anschauung des Dichters heimischer ist als in seiner eigenen gesunkenen Zeit135. Auch ihm klingt der eigene „aus dem reichen Gemüt anmutig quillende“ Gesang den gemeinen Liedern gegenüber „wie gegen das Geschrei der Kraniche das kurze Lied des Schwanes“; auch ihm schwillt das Herz, den selbsterfundenen Melodien lauschend, von hoher Ehren Hoffnung – ebenwie Ennius den Menschen, denen er „das Feuerlied kredenzet aus der tiefen Brust“, verbietet, an seinem, des unsterblichen Sängers Grabe zu trauern.

Es ist ein seltsames Verhängnis, daß dieses ungemeine, an ursprünglicher poetischer Begabung den meisten, wo nicht allen seinen Vorgängern weit überlegene Talent in eine Zeit gefallen war, in der es selber sich fremd und verwaist fühlte und infolgedessen in der wunderlichsten Weise sich im Stoffe vergriffen hat. Epikuros‘ System, welches das All in einen großen Atomenwirbel verwandelt und die Entstehung und das Ende der Welt sowie alle Probleme der Natur und des Lebens in rein mechanischer Weise abzuwickeln unternimmt, war wohl etwas weniger albern als die Mythenhistorisierung, wie Euhemeros und nach ihm Ennius sie versucht hatten; aber ein geistreiches und frisches System war es nicht, und die Aufgabe nun gar, diese mechanische Weltanschauung poetisch zu entwickeln, war von der Art, daß wohl nie ein Dichter an einen undankbareren Stoff Leben und Kunst verschwendet hat. Der philosophische Leser tadelt an dem Lucretischen Lehrgedicht die Weglassung der feineren Pointen des Systems, die Oberflächlichkeit namentlich in der Darstellung der Kontroversen, die mangelhafte Gliederung, die häufigen Wiederholungen mit ebensogutem Recht, wie der poetische an der rhythmisierten Mathematik sich ärgert, die einen großen Teil des Gedichtes geradezu unlesbar macht. Trotz dieser unglaublichen Mängel, denen jedes mittelmäßige Talent unvermeidlich hätte erliegen müssen, durfte dieser Dichter mit Recht sich rühmen, aus der poetischen Wildnis einen neuen Kranz davongetragen zu haben, wie die Musen noch keinen verliehen hatten; und es sind auch keineswegs bloß die gelegentlichen Gleichnisse und sonstigen eingelegten Schilderungen mächtiger Naturerscheinungen und mächtigerer Leidenschaften, die dem Dichter diesen Kranz erwarben. Die Genialität der Lebensanschauung wie der Poesie des Lucretius ruht auf seinem Unglauben, welcher mit der vollen Siegeskraft der Wahrheit und darum mit der vollen Lebendigkeit der Dichtung dem herrschenden Heuchel- oder Aberglauben gegenübertrat und treten durfte.

>Als danieder er sah das Dasein liegen der Menschheit
Jammervoll auf der Erd‘, erdrückt von der lastenden Gottfurcht,
Die vom Himmelsgewölb ihr Antlitz offenbarend,
Schauerlich anzusehen, hinab auf die Sterblichen drohte,
Wagt‘ es ein griechischer Mann zuerst das sterbliche Auge
Ihr entgegenzuheben, zuerst ihr entgegenzutreten;
Und die mutige Macht des Gedankens siegte; gewaltig
Trat hinaus er über die flammenden Schranken des Weltalls
Und der verständige Geist durchschritt das unendliche Ganze.

Also eiferte der Dichter, die Götter zu stürzen, wie Brutus die Könige gestürzt, und „die Natur von ihren strengen Herren zu erlösen“. Aber nicht gegen Jovis altersschwachen Thron wurden diese Flammenworte geschleudert; ebenwie Ennius kämpft Lucretius praktisch vor allen Dingen gegen den wüsten Fremd- und Aberglauben der Menge, den Kult der Großen Mutter zum Beispiel und die kindische Blitzweisheit der Etrusker. Das Grauen und der Widerwille gegen die entsetzliche Welt überhaupt, in der und für die der Dichter schrieb, haben dies Gedicht eingegeben. Es wurde verfaßt in jener hoffnungslosen Zeit, wo das Regiment der Oligarchie gestürzt und das Caesars noch nicht aufgerichtet war, in den schwülen Jahren, während deren der Ausbruch des Bürgerkrieges in langer peinlicher Spannung erwartet ward. Wenn man dem ungleichartigen und unruhigen Vortrag es anzufühlen meint, daß der Dichter täglich erwartete, den wüsten Lärm der Revolution über sich und sein Werk hereinbrechen zu sehen, so wird man auch bei seiner Anschauung der Menschen und der Dinge nicht vergessen dürfen, unter welchen Menschen und in Aussicht auf welche Dinge sie ihm entstand. War es doch in Hellas in der Epoche vor Alexander ein gangbares und von allen Besten tief empfundenes Wort, daß nicht geboren zu sein das Beste von allem, das nächstdem Beste aber sei zu sterben. Unter allen in der verwandten caesarischen Zeit einem zarten und poetisch organisierten Gemüt möglichen Weltanschauungen war diese die edelste und die veredelndste, daß es eine Wohltat für den Menschen ist, erlöst zu werden von dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und damit von der bösen die Menschen, gleichwie die Kinder die Angst im dunkeln Gemach, tückisch beschleichenden Furcht vor dem Tode und vor den Göttern; daß, wie der Schlaf der Nacht erquicklicher ist als die Plage des Tages, so auch der Tod, das ewige Ausruhen von allem Hoffen und Fürchten, besser ist als das Leben, wie denn auch die Götter des Dichters selber nichts sind noch haben als die ewige selige Ruhe; daß die Höllenstrafen nicht nach dem Leben den Menschen peinigen, sondern während desselben in den wilden und rastlosen Leidenschaften des klopfenden Herzens; daß die Aufgabe des Menschen ist, seine Seele zum ruhigen Gleichmaß zu stimmen, den Purpur nicht höher zu schätzen als das warme Hauskleid, lieber unter den Gehorchenden zu verharren, als in das Getümmel der Bewerber um das Herrenamt sich zu drängen, lieber am Bach im Grase zu liegen, als unter dem goldenen Plafond des Reichen dessen zahllose Schüsseln leeren zu helfen. Diese philosophisch-praktische Tendenz ist der eigentliche ideelle Kern des Lucretischen Lehrgedichts und durch alle öde physikalischer Demonstrationen nur verschüttet, nicht erdrückt. Wesentlich auf ihr beruht dessen relative Weisheit und Wahrheit. Der Mann, der mit einer Ehrfurcht vor seinen großen Vorgängern, mit einem gewaltsamen Eifer, wie sie dies Jahrhundert sonst nicht kennt, solche Lehre gepredigt und sie mit musischem Zauber verklärt hat, darf zugleich ein guter Bürger und ein großer Dichter genannt werden. Das Lehrgedicht vom Wesen der Dinge, wie vieles auch daran den Tadel herausfordert, ist eines der glänzendsten Gestirne in den sternenarmen Räumen der römischen Literatur geblieben, und billig wählte der größte deutsche Sprachenmeister die Wiederlesbarmachung des Lucretischen Gedichts zu seiner letzten und meisterlichsten Arbeit.

Lucretius, obwohl seine poetische Kraft wie seine Kunst schon von den gebildeten Zeitgenossen bewundert ward, blieb doch, Spätling wie er war, ein Meister ohne Schüler. In der hellenischen Modedichtung dagegen fehlte es an Schülern wenigstens nicht, die den alexandrinischen Meistern nachzueifern sich mühten. Mit richtigem Takt hatten die begabteren unter den alexandrinischen Poeten die größeren Arbeiten und die reinen Dichtgattungen, das Drama, das Epos, die Lyrik, vermieden; ihre erfreulichsten Leistungen waren ihnen, ähnlich wie den neulateinischen Dichtern, in „kurzatmigen“ Aufgaben gelungen und vorzugsweise in solchen, die auf den Grenzgebieten der Kunstgattungen, namentlich dem weiten, zwischen Erzählung und Lied in der Mitte liegenden sich bewegten. Lehrgedichte wurden vielfach geschrieben. Sehr beliebt waren ferner kleine heroisch-erotische Epen, vornehmlich aber eine diesem Altweibersommer der griechischen Poesie eigentümliche und für ihre philologische Hippokrene charakteristische, gelehrte Liebeselegie, wobei der Dichter die Schilderung der eigenen, vorwiegend sinnlichen Empfindungen mit epischen Fetzen aus dem griechischen Sagenkreis mehr oder minder willkürlich durchflocht. Festlieder wurden fleißig und künstlich gezimmert; überhaupt waltete bei dem Mangel an freiwilliger poetischer Erfindung das Gelegenheitsgedicht vor und namentlich das Epigramm, worin die Alexandriner Vortreffliches geleistet haben. Die Dürftigkeit der Stoffe und die sprachliche und rhythmische Unfrische, die jeder nicht volkstümlichen Literatur unvermeidlich anhaftet, suchte man möglichst zu verstecken unter verzwickten Themen, geschraubten Wendungen, seltenen Wörtern und künstlicher Versbehandlung, überhaupt dem ganzen Apparat philologisch-antiquarischer Gelehrsamkeit und technischer Gewandtheit.

Dies war das Evangelium, das den römischen Knaben dieser Zeit gepredigt ward, und sie kamen in hellen Haufen, um zu hören und auszuüben: schon um 700 (54) waren Euphorions Liebesgedichte und ähnliche alexandrinische Poesien die gewöhnliche Lektüre und die gewöhnlichen Deklamationsstücke der gebildeten Jugend136. Die literarische Revolution war da; aber sie lieferte zunächst mit seltenen Ausnahmen nur frühreife oder unreife Früchte. Die Zahl der „neumodischen Dichter“ war Legion, aber die Poesie war rar und Apollo, wie immer, wenn es so gedrang am Parnasse hergeht, genötigt, sehr kurzen Prozeß zu machen. Die langen Gedichte taugten niemals etwas, die kurzen selten. Auch in diesem literarischen Zeitalter war die Tagespoesie zur Landplage geworden; es begegnete wohl, daß einem der Freund zum Hohn als Festtagsgeschenk einen Stoß schofler Verse frisch vom Buchhändlerlager ins Haus schickte, deren Wert der zierliche Einband und das glatte Papier schon auf drei Schritte verriet. Ein eigentliches Publikum, in dem Sinne wie die volkstümliche Literatur ein Publikum hat, fehlte den römischen Alexandrinern so gut wie den hellenischen: es ist durchaus die Poesie der Clique oder vielmehr der Cliquen, deren Glieder eng zusammenhalten, dem Eindringling übel mitspielen, unter sich die neuen Poesien vorlesen und kritisieren, auch wohl in ganz alexandrinischer Weise die gelungenen Produktionen wieder poetisch feiern und vielfach durch Cliquenlob einen falschen und ephemeren Ruhm erschwindeln. Ein namhafter und selbst in dieser neuen Richtung poetisch tätiger Lehrer der lateinischen Literatur, Valerius Cato, scheint über den angesehensten dieser Zirkel eine Art Schulpatronat ausgeübt und über den relativen Wert der Poesien in letzter Instanz entschieden zu haben. Ihren griechischen Mustern gegenüber sind diese römischen Poeten durchgängig unfrei, zuweilen schülerhaft abhängig; die meisten ihrer Produkte werden nichts gewesen sein als die herben Früchte einer im Lernen begriffenen und noch keineswegs als reif entlassenen Schuldichtung. Indem man in der Sprache und im Maß weit enger, als je die volkstümliche lateinische Poesie es getan, an die griechischen Vorbilder sich anschmiegte, ward allerdings eine größere sprachliche und metrische Korrektheit und Konsequenz erreicht; aber es geschah auf Kosten der Biegsamkeit und Fülle des nationalen Idioms. Stofflich erhielten unter dem Einfluß teils der weichlichen Muster, teils der sittenlosen Zeit die erotischen Themen ein auffallendes, der Poesie wenig zuträgliches Übergewicht; doch wurden auch die beliebten metrischen Kompendien der Griechen schon vielfach übersetzt, so das astronomische des Aratos von Cicero und entweder am Ende dieser oder wahrscheinlicher am Anfang der folgenden Periode das geographische Lehrbuch des Eratosthenes von Publius Varro von der Aude und die physikalisch-medizinischen des Nikandros von Aemilius Macer. Es ist weder zu verwundern noch zu bedauern, daß von dieser zahllosen Dichterschar uns nur wenige Namen aufbehalten worden sind; und auch diese werden meistens nur genannt als Kuriositäten oder als gewesene Größen: so der Redner Quintus Hortensius mit seinen „fünfhunderttausend Zeilen“ langweiliger Schlüpfrigkeit und der etwas häufiger erwähnte Laevius, dessen ‚Liebesscherze‘ nur durch ihre verwickelten Maße und manierierten Wendungen ein gewisses Interesse auf sich zogen. Nun gar das Kleinepos ‚Smyrna‘ des Gaius Helvius Cinna († 710? 44), so sehr es von der Clique angepriesen ward, trägt sowohl in dem Stoff, der geschlechtlichen Liebe der Tochter zu dem eigenen Vater, wie in der neunjährigen darauf verwandten Mühsal die schlimmsten Kennzeichen der Zeit an sich. Eine originelle und erfreuliche Ausnahme machen allein diejenigen Dichter dieser Schule, die es verstanden, mit der Sauberkeit und der Formgewandtheit derselben den in dem republikanischen und namentlich dem landstädtischen Leben noch vorhandenen volkstümlichen Gehalt zu verbinden. Es galt dies, um von Laberius und Varro hier zu schweigen, namentlich von den drei schon oben erwähnten Poeten der republikanischen Opposition Marcus Furius Bibaculus (652-691 102-63), Gaius Licinius Calvus (672-706 82-48) und Quintus Valerius Catullus (667 bis ca. 700 87-54).

Von den beiden ersten, deren Schriften untergegangen sind, können wir dies freilich nur mutmaßen; über die Gedichte des Catullus steht auch uns noch ein Urteil zu. Auch er hängt in Stoff und Form ab von den Alexandrinern. Wir finden in seiner Sammlung Übersetzungen von Stücken des Kallimachos und nicht gerade von den recht guten, sondern von den recht schwierigen. Auch unter den Originalen begegnen gedrechselte Modepoesien, wie die überkünstlichen Galliamben zum Lobe der Phrygischen Mutter; und selbst das sonst so schöne Gedicht von der Hochzeit der Thetis ist durch die echt alexandrinische Einschachtelung der Ariadneklage in das Hauptgedicht künstlerisch verdorben. Aber neben diesen Schulstücken steht die melodische Klage der echten Elegie, steht das Festgedicht im vollen Schmuck individueller und fast dramatischer Durchführung, steht vor allem die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmutigen sehr ungenierten Mädchenabenteuer, davon das halbe Vergnügen im Ausschwatzen und Poetisieren der Liebesgeheimnisse besteht, das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beuteln, die Reise- und die Dichterlust; die römische und öfter noch die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem vertrauten Zirkel der Freunde. Jedoch nicht bloß in die Saiten greift des Dichters Apoll, sondern er führt auch den Bogen: der geflügelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber keinen trifft er öfter und schärfer als die Gewaltigen, von denen der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurzweiligen, oft von anmutigen Refrains belebten Maße sind von vollendeter Kunst und doch ohne die widerwärtige Glätte der Fabrik. Umeinander führen diese Gedichte in das Nil- und in das Potal; aber in dem letzteren ist der Dichter unvergleichlich besser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandrinischen Kunst, aber doch auch auf dem bürgerlichen, ja dem landstädtischen Selbstgefühl, auf dem Gegensatz von Verona zu Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Munizipalen gegen die hochgeborenen, ihren geringen Freunden gewöhnlich übel mitspielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimat, dem blühenden und verhältnismäßig frischen Cisalpinischen Gallien, lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte. In die schönsten seiner Lieder spielen die süßen Bilder vom Gardasee hinein und schwerlich hätte in dieser Zeit ein Hauptstädter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfundene auf des Bruders Tod oder das brave, echt bürgerliche Festlied zu der Hochzeit des Manlius und der Arunculeia. Catullus, obwohl abhängig von den alexandrinischen Meistern und mitten in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch nicht bloß ein guter Schüler unter vielen mäßigen und schlechten, sondern seinen Meistern selbst um so viel überlegen, als der Bürger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmopolitische hellenische Literat. Eminente schöpferische Kraft und hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht suchen; er ist ein reichbegabter und anmutiger, aber kein großer Poet, und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als „Scherze und Torheiten“. Aber wenn nicht bloß die Zeitgenossen von diesen flüchtigen Liedchen elektrisiert wurden, sondern auch die Kunstkritiker der augustischen Zeit ihn neben Lucretius als den bedeutendsten Dichter dieser Epoche bezeichnen, so hatten die Zeitgenossen wie die Späteren vollkommen recht. Die lateinische Nation hat keinen zweiten Dichter hervorgebracht, in dem der künstlerische Gehalt und die künstlerische Form in so gleichmäßiger Vollendung wiedererscheinen wie bei Catullus; und in diesem Sinne ist Catullus‘ Gedichtsammlung allerdings das Vollkommenste, was die lateinische Poesie überhaupt aufzuweisen vermag.

Es beginnt endlich in dieser Epoche die Dichtung in prosaischer Form. Das bisher unwandelbar festgehaltene Gesetz der echten, naiven wie bewußten, Kunst, daß der poetische Stoff und die metrische Fassung sich einander bedingen, weicht der Vermischung und Trübung aller Kunstgattungen und Kunstformen, welche zu den bezeichnendsten Zügen dieser Zeit gehört. Zwar von Romanen ist noch weiter nichts anzuführen, als daß der berühmteste Geschichtschreiber dieser Epoche, Sisenna, sich nicht für zu gut hielt, die viel gelesenen Milesischen Erzählungen des Aristeides, schlüpfrige Modenovellen der plattesten Sorte, ins Lateinische zu übersetzen. Eine originellere und erfreulichere Erscheinung auf diesem zweifelhaften poetisch-prosaischen Grenzgebiet sind die ästhetischen Schriften Varros, der nicht bloß der bedeutendste Vertreter der lateinischen philologisch-historischen Forschung, sondern auch in der schönen Literatur einer der fruchtbarsten und interessantesten Schriftsteller ist. Einem in der sabinischen Landschaft heimischen, dem römischen Senat seit zweihundert Jahren angehörigen Plebejergeschlechte entsprossen, streng in altertümlicher Zucht und Ehrbarkeit erzogen137 und bereits am Anfang dieser Epoche ein reifer Mann, gehörte Marcus Terentius Varro von Reate (638-727 116-27) politisch, wie sich von selbst versteht, der Verfassungspartei an und beteiligte sich ehrlich und energisch an ihrem Tun und Leiden. Er tat dies teils literarisch, indem er zum Beispiel die erste Koalition, das „dreiköpfige Ungeheuer“ in Flugschriften bekämpfte, teils im ernsteren Kriege, wo wir ihn im Heere des Pompeius als Kommandanten des Jenseitigen Spaniens fanden. Als die Sache der Republik verloren war, ward Varro von seinem Überwinder zum Bibliothekar der neu zu schaffenden Bibliothek in der Hauptstadt bestimmt. Die Wirren der folgenden Zeit rissen den alten Mann noch einmal in ihren Strudel hinein, und erst siebzehn Jahre nach Caesars Tode, im neunundachtzigsten seines wohlausgefüllten Lebens rief der Tod ihn ab. Die ästhetischen Schriften, die ihm einen Namen gemacht haben, waren kürzere Aufsätze, teils einfach prosaische ernsteren Inhalts, teils launige Schilderungen, deren prosaisches Grundwerk vielfach eingelegte Poesien durchwirken. Jenes sind die ‚Philosophisch-historischen Abhandlungen‘ ( logistorici), dies die Menippischen Satiren. Beide schließen nicht an lateinische Vorbilder sich an, namentlich die Varronische Satura keineswegs an die Lucilische; wie denn überhaupt die römische Satura nicht eigentlich eine feste Kunstgattung, sondern nur negativ das bezeichnet, daß „das mannigfaltige Gedicht“ zu keiner der anerkannten Kunstgattungen gezählt sein will und darum denn auch die Saturapoesie bei jedem begabten Poeten wieder einen andern und eigenartigen Charakter annimmt. Es war vielmehr die voralexandrinische griechische Philosophie, in der Varro die Muster für seine strengeren wie für seine leichteren ästhetischen Arbeiten fand: für die ernsteren Abhandlungen in den Dialogen des Herakleides von Herakleia am Schwarzen Meer († um 450 300), für die Satiren in den Schriften des Menippos von Gadara in Syrien (blüht um 475 280). Die Wahl war bezeichnend. Herakleides, als Schriftsteller angeregt durch Platons philosophische Gespräche, hatte über deren glänzende Form den wissenschaftlichen Inhalt gänzlich aus den Augen verloren und die poetisch-fabulistische Einkleidung zur Hauptsache gemacht; er war ein angenehmer und vielgelesener Autor, aber nichts weniger als ein Philosoph. Menippos war es ebensowenig, sondern der echteste literarische Vertreter derjenigen Philosophie, deren Weisheit darin besteht, die Philosophie zu leugnen und die Philosophen zu verhöhnen, der Hundeweisheit des Diogenes; ein lustiger Meister ernsthafter Weisheit, bewies er in Exempeln und Schnurren, daß außer dem rechtschaffenen Leben alles auf Erden und im Himmel eitel sei, nichts aber eitler als der Hader der sogenannten Weisen. Dies waren die rechten Muster für Varro, einen Mann voll altrömischen Unwillens über die erbärmliche Zeit und voll altrömischer Laune, dabei durchaus nicht ohne plastisches Talent, aber für alles, was nicht wie Bild und Tatsache aussah, sondern wie Begriff oder gar wie System, vollständig vernagelt und vielleicht den unphilosophischsten unter den unphilosophischen Römern138. Allein Varro war kein unfreier Schüler. Die Anregung und im allgemeinen die Form entlehnte er von Herakleides und Mennippos; aber er war eine zu individuelle und zu entschieden römische Natur, um nicht seine Nachschöpfungen wesentlich selbständig und national zu halten. Für seine ernsten Abhandlungen, in denen ein moralischer Satz oder sonst ein Gegenstand von allgemeinem Interesse behandelt ward, verschmähte er in der Fabulierung an die Milesischen Märchen zu streifen, wie Herakleides es getan, und so gar kinderhafte Geschichten wie die vom Abaris und von dem nach siebentägigem Tode wieder zum Leben erwachenden Mädchen dem Leser aufzutischen. Nur selten entnahm er die Einkleidung den edleren Mythen der Griechen, wie in dem Aufsatz ‚Orestes oder vom Wahnsinn‘; regelmäßig gab ihm einen würdigeren Rahmen für seine Stoffe die Geschichte, namentlich die gleichzeitige vaterländische, wodurch diese Aufsätze zugleich, wie sie auch heißen, ‚Lobschriften‘ wurden auf geachtete Römer, vor allem auf die Koryphäen der Verfassungspartei. So war die Abhandlung ‚Vom Frieden‘ zugleich eine Denkschrift auf Metellus Pius, den letzten in der glänzenden Reihe der glücklichen Feldherrn des Senats; die ‚Von der Götterverehrung‘ zugleich bestimmt, das Andenken an den hochgeachteten Optimaten und Pontifex Gaius Curio zu bewahren; der Aufsatz ‚Über das Schicksal‘ knüpfte an Marius an, der ‚Über die Geschichtschreibung‘ an den ersten Historiker dieser Epoche, Sisenna, der ‚Über die Anfänge der römischen Schaubühne‘ an den fürstlichen Spielgeber Scaurus, der ‚Über die Zahlen‘ an den feingebildeten römischen Bankier Atticus. Die beiden philosophisch-historischen Aufsätze ‚Laelius oder von der Freundschaft, ‚Cato oder vom Alter‘, welche Cicero, wahrscheinlich nach dem Muster der Varronischen, schrieb, mögen von Varros halb lehrhafter, halb erzählender Behandlung dieser Stoffe ungefähr eine Vorstellung geben.

Ebenso originell in Form und Inhalt ward von Varro die Menippische Satire behandelt; die dreiste Mischung von Prosa und Versen ist dem griechischen Original fremd und der ganze geistige Inhalt von römischer Eigentümlichkeit, man möchte sagen von sabinischem Erdgeschmack durchdrungen. Auch diese Satiren behandeln, wie die philosophisch-historischen Aufsätze, irgendein moralisches oder sonst für das größere Publikum geeignetes Thema, wie dies schon einzelne Titel zeigen: ‚Hercules‘ Säulen oder vom Ruhm‘; ‚Der Topf findet den Deckel oder von den Pflichten des Ehemanns‘; ‚Der Nachttopf hat sein Maß oder vom Zechen‘; ‚Papperlapapp oder von der Lobrede‘. Die plastische Einkleidung, die auch hier nicht fehlen durfte, ist natürlich der vaterländischen Geschichte nur selten entlehnt, wie in der Satire ‚Serranus oder von den Wahlen‘. Dagegen spielt die Diogenische Hundewelt wie billig eine große Rolle: es begegnen der Hund Gelehrter, der Hund Rhetor, der Ritter-Hund, der Wassertrinker-Hund, der Hundekatechismus und dergleichen mehr. Ferner wird die Mythologie zu komischen Zwecken in Kontribution gesetzt: wir finden einen ‚Befreiten Prometheus‘, einen ‚Strohernen Aias‘, einen ‚Herkules Sokratiker‘, einen ‚Anderthalb Odysseus‘, der nicht bloß zehn, sondern fünfzehn Jahre in Irrfahrten sich umhergetrieben hat. Der dramatisch-novellistische Rahmen schimmert in einzelnen Stücken, zum Beispiel im ‚Befreiten Prometheus‘, in dem ‚Mann von sechzig Jahren‘, im ‚Frühauf‘ noch aus den Trümmern hervor; es scheint, daß Varro die Fabel häufig, vielleicht regelmäßig als eigenes Erlebnis erzählte, wie zum Beispiel im ‚Frühauf‘ die handelnden Personen zum Varro hingehen und ihm Vortrag halten, „da er als Büchermacher ihnen bekannt war“. Über den poetischen Wert dieser Einkleidung ist uns ein sicheres Urteil nicht mehr gestattet; einzeln begegnen noch in unseren Trümmern allerliebste Schilderungen voll Witz und Lebendigkeit – so eröffnet im ‚Befreiten Prometheus‘ der Heros nach Lösung seiner Fesseln eine Menschenfabrik, in welcher Goldschuh, der Reiche, sich ein Mädchen bestellt von Milch und feinstem Wachs, wie es die milesischen Bienen aus mannigfachen Blüten sammeln, ein Mädchen ohne Knochen und Sehnen, ohne Haut und Haar, rein und fein, schlank, glatt, zart, allerliebst. Der Lebensatem dieser Dichtung ist die Polemik – nicht so sehr die politische der Partei, wie Lucilius und Catullus sie übten, sondern die allgemeine sittliche des strengen Alten gegen die zügellose und verkehrte Jugend, des in seinen Klassikern lebenden Gelehrten gegen die lockere und schofle oder doch ihrer Tendenz nach verwerfliche moderne Poesie139

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Gewiß, niemals hat ein Kranker etwas je geträumt

So toll, was nicht gelehrt schon hätte ein Philosoph.

Es ist spaßhaft anzusehen, wie so ein Langbart- der etymologisierende Stoiker ist gemeint – ein jedes Wort bedächtig auf der Goldwaage wägt; aber nichts geht doch über den echten Philosophenzank – ein stoischer Faustkampf übertrifft weit jede Athletenbalgerei. In der Satire ‚Die Marcusstadt oder vom Regimente‘, wo Marcus sich ein Wolkenkuckucksheim nach seinem Herzen schuf, erging es, ebenwie in dem attischen, dem Bauern gut, dem Philosophen aber übel; der Schnell-durch-ein-Glied-Beweis ( Celer-δι΄-ενός-λήμματος-λόγος), Antipatros, des Stoikers Sohn, schlägt darin seinem Gegner, offenbar dem philosophischen Zweiglied (Dilemma), mit der Feldhacke den Schädel ein. Mit dieser sittlich polemischen Tendenz und diesem Talent, einen kaustischen und pittoresken Ausdruck für sie zu finden, das, wie die dialogische Einkleidung der im achtzigsten Jahre geschriebenen Bücher vom Landbau beweist, bis in das höchste Alter ihn nicht verließ, vereinigte sich auf das glücklichste Varros unvergleichliche Kunde der nationalen Sitte und Sprache, die in den philologischen Schriften seines Greisenalters kollektaneenartig, hier aber in ihrer ganzen unmittelbaren Fülle und Frische sich entfaltet. Varro war im besten und vollsten Sinne des Wortes ein Lokalgelehrter, der seine Nation in ihrer ehemaligen Eigentümlichkeit und Abgeschlossenheit wie in ihrer modernen Verschliffenheit und Zerstreuung aus vieljähriger eigener Anschauung kannte und seine unmittelbare Kenntnis der Landessitte und Landessprache durch die umfassendste Durchforschung der geschichtlichen und literarischen Archive ergänzt und vertieft hatte. Was insofern an verstandesmäßiger Auffassung und Gelehrsamkeit in unserem Sinn ihm abging, das gewann die Anschauung und die in ihm lebendige Poesie. Er haschte weder nach antiquarischen Notizen noch nach seltenen veralteten oder poetischen Wörtern142; aber er selbst war ein alter und altfränkischer Mann und beinah ein Bauer, die Klassiker seiner Nation ihm liebe, langgewohnte Genossen; wie konnte es fehlen, daß von der Sitte der Väter, die er über alles liebte und vor allen kannte, gar vielerlei in seinen Schriften erzählt ward, und daß seine Rede überfloß von sprichwörtlichen griechischen und lateinischen Wendungen, von guten alten, in der sabinischen Umgangssprache bewahrten Wörtern, von Ennianischen, Lucilischen, vor allem Plautinischen Reminiszenzen? Den Prosastil dieser ästhetischen Schriften aus Varros früherer Zeit darf man sich nicht vorstellen nach dem seines im hohen Alter geschriebenen und wahrscheinlich im unfertigen Zustand veröffentlichten sprachwissenschaftlichen Werkes, wo allerdings die Satzglieder am Faden der Relative aufgereiht werden wie die Drosseln an der Schnur; daß aber Varro grundsätzlich die strenge Stilisierung und die attische Periodisierung verwarf, wurde früher schon bemerkt, und seine ästhetischen Aufsätze waren zwar ohne den gemeinen Schwulst und die falschen Flitter des Vulgarismus, aber in mehr lebendig gefügten als wohl gegliederten Sätzen unklassisch und selbst schluderig geschrieben. Die eingelegten Poesien dagegen bewiesen nicht bloß, daß ihr Urheber die mannigfaltigsten Maße meisterlich wie nur einer der Modepoeten zu bilden verstand, sondern auch, daß er ein Recht hatte, denen sich zuzuzählen, welchen ein Gott es vergönnt hat, „die Sorgen aus dem Herzen zu bannen durch das Lied und die heilige Dichtkunst“143

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Dem da Romas liegt und Latiums Blühen am Herzen,

und sie behaupten denn auch einen ehrenvollen Platz in der Literatur wie in der Geschichte des italischen Volkes149

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Zu einer kritischen Geschichtschreibung in der Art, wie die Nationalgeschichte von den Attikern in ihrer klassischen Zeit, wie die Weltgeschichte von Polybios geschrieben ward, ist man in Rom eigentlich niemals gelangt. Selbst auf dem dafür am meisten geeigneten Boden, in der Darstellung der gleichzeitigen und der jüngst vergangenen Ereignisse, blieb es im ganzen bei mehr oder minder unzulänglichen Versuchen; in der Epoche namentlich von Sulla bis auf Caesar wurden die nicht sehr bedeutenden Leistungen, welche die vorhergehende auf diesem Gebiet aufzuweisen hatte, die Arbeiten Antipaters und Asellios, kaum auch nur erreicht. Das einzige diesem Gebiete angehörende namhafte Werk, das in der gegenwärtigen Epoche entstand, ist des Lucius Cornelius Sisenna (Prätor 676 78) Geschichte des Bundesgenossen- und Bürgerkrieges. Von ihr bezeugen die, welche sie lasen, daß sie an Lebendigkeit und Lesbarkeit die alten trockenen Chroniken weit übertraf, dafür aber in einem durchaus unreinen und selbst in das Kindische verfallenden Stil geschrieben war; wie denn auch die wenigen übrigen Bruchstücke eine kleinliche Detailmalerei des Gräßlichen157 und eine Menge neugebildeter oder der Umgangssprache entnommener Wörter aufzeigen. Wenn noch hinzugefügt wird, daß das Muster des Verfassers und sozusagen der einzige ihm geläufige griechische Historiker Kleitarchos war, der Verfasser einer zwischen Geschichte und Fiktion schwankenden Biographie Alexanders des Großen in der Art des Halbromans, der den Namen des Curtius trägt, so wird man nicht anstehen, in Sisennas vielgerühmtem Geschichtswerk nicht ein Erzeugnis echter historischer Kritik und Kunst zu erkennen, sondern den ersten römischen Versuch in der bei den Griechen so beliebten Zwittergattung von Geschichte und Roman, welche das tatsächliche Grundwerk durch erfundene Ausführung lebendig und interessant machen möchte und es dadurch schal und unwahr macht; und es wird nicht ferner Verwunderung erregen demselben Sisenna auch als Übersetzer griechischer Moderomane zu begegnen.

Daß es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der Weltchronik noch weit erbärmlicher aussah, lag in der Natur der Sache. Die steigende Regsamkeit der antiquarischen Forschung ließ erwarten, daß aus Urkunden und sonstigen zuverlässigen Quellen die gangbare Erzählung rektifiziert werden würde; allein diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher trat es hervor, was es hieß, eine kritische Geschichte Roms schreiben. Schon die Schwierigkeiten, die der Forschung und Darstellung sich entgegenstellten, waren unermeßlich; aber die bedenklichsten Hindernisse waren nicht die literarischer Art. Die konventionelle Urgeschichte Roms, wie sie jetzt seit wenigstens zehn Menschenaltern erzählt und geglaubt ward, war mit dem bürgerlichen Leben der Nation aufs innigste zusammengewachsen; und doch mußte bei jeder eingehenden und ehrlichen Forschung nicht bloß einzelnes hie und da modifiziert, sondern das ganze Gebäude so gut umgeworfen werden wie die fränkische Urgeschichte vom König Pharamund und die britische vom König Arthur. Ein konservativ gesinnter Forscher, wie zum Beispiel Varro war, konnte an dieses Werk nicht Hand legen wollen; und hätte ein verwegener Freigeist sich dazu gefunden, so würde gegen diesen schlimmsten aller Revolutionäre, der der Verfassungspartei sogar ihre Vergangenheit zu nehmen Anstalt machte, von allen guten Bürgern das „Kreuzige“ erschollen sein. So führte die philologische und antiquarische Forschung von der Geschichtschreibung mehr ab als zu ihr hin. Varro und die Einsichtigeren überhaupt gaben die Chronik als solche offenbar verloren; höchstens daß man, wie Titus Pomponius Atticus tat, die Beamten- und Geschlechtsverzeichnisse in tabellarischer Anspruchslosigkeit zusammenstellte – ein Werk übrigens, durch das die synchronistische griechisch-römische Jahrzählung in der Weise, wie sie den Späteren konventionell feststand, zum Abschluß geführt worden ist. Die Stadtchronikenfabrik stellte aber darum ihre Tätigkeit natürlich nicht ein, sondern fuhr fort zu der großen, von der Langenweile für die Langeweile geschriebenen Bibliothek ihre Beiträge so gut in Prosa wie in Versen zu liefern, ohne daß die Buchmacher, zum Teil bereits Freigelassene, um die eigentliche Forschung irgend sich bekümmert hätten. Was uns von diesen Schriften genannt wird – erhalten ist keine derselben –, scheint nicht bloß durchaus untergeordneter Art, sondern großenteils sogar von unlauterer Fälschung durchdrungen gewesen zu sein. Zwar die Chronik des Quintus Claudius Quadrigarius (um 676? 78) war in einem altmodischen, aber guten Stil geschrieben und befliß in der Darstellung der Fabelzeit sich wenigstens einer löblichen Kürze. Aber wenn Gaius Licinius Macer († als gewesener Prätor 688 66), des Dichters Calvus Vater und ein eifriger Demokrat, mehr als irgendein anderer Chronist auf Urkundenforschung und Kritik Anspruch machte, so sind seine „leinenen Bücher“ und anderes ihm Eigentümliche im höchsten Grade verdächtig und wird wahrscheinlich eine sehr umfassende und zum Teil in die späteren Annalisten übergegangene Interpolation der gesamten Chronik zu demokratisch-tendenziösen Zwecken auf ihn zurückgehen. Valerius Antias endlich übertraf in der Weitläufigkeit wie in der kindischen Fabulierung alle seine Vorgänger. Die Zahlenlüge war hier systematisch bis auf die gleichzeitige Geschichte herab durchgeführt und die Urgeschichte Roms aus dem Platten abermals ins Platte gearbeitet; wie denn zum Beispiel die Erzählung, in welcher Art der weise Numa nach Anweisung der Nymphe Egeria die Götter Faunus und Picus mit Weine fing, und die schöne, von selbigem Numa hierauf mit Gott Jupiter gepflogene Unterhaltung allen Verehrern der sogenannten Sagengeschichte Roms nicht dringend genug empfohlen werden können, um womöglich auch sie, versteht sich ihrem Kerne nach, zu glauben. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die griechischen Novellenschreiber dieser Zeit solche für sie wie gemachte Stoffe sich hätten entgehen lassen. In der Tat fehlte es auch nicht an griechischen Literaten, welche die römische Geschichte zu Romanen verarbeiteten: eine solche Schrift waren zum Beispiel des schon unter den in Rom lebenden griechischen Literaten erwähnten Polyhistors Alexandros fünf Bücher ‚Über Rom‘, ein widerwärtiges Gemisch abgestandener historischer Überlieferung und trivialer, vorwiegend erotischer Erfindung. Er vermutlich hat den Anfang dazu gemacht, das halbe Jahrtausend, welches mangelte, um Troias Untergang und Roms Entstehung in den durch die beiderseitigen Fabeln geforderten chronologischen Zusammenhang zu bringen, auszufüllen mit einer jener tatenlosen Königslisten, wie sie den ägyptischen und griechischen Chronisten leider geläufig waren; denn allem Anschein nach ist er es, der die Könige Aventinus und Tiberinus und das albanische Silviergeschlecht in die Welt gesetzt hat, welche dann im einzelnen mit Namen, Regierungszeit und mehrerer Anschaulichkeit wegen auch einem Konterfei auszustatten die Folgezeit nicht versäumte.

So dringt von verschiedenen Seiten her der historische Roman der Griechen in die römische Historiographie ein; und es ist mehr als wahrscheinlich, daß von dem, was man heute Tradition der römischen Urzeit zu nennen gewohnt ist, nicht der kleinste Teil aus Quellen herrührt von dem Schlage der ‚Amadis von Gallien‘ und der Fouquéschen Ritterromane – eine erbauliche Betrachtung wenigstens für diejenigen, die Sinn haben für den Humor der Geschichte und die Komik der noch in gewissen Zirkeln des neunzehnten Jahrhunderts für König Numa gehegten Pietät zu würdigen verstehen. Neu ein in die römische Literatur tritt in dieser Epoche neben der Landes- die Universal- oder, richtiger gesagt, die zusammengefaßte römisch-hellenische Geschichte. Cornelius Nepos aus Ticinum (ca. 650 – ca. 725 100-30) liefert zuerst eine allgemeine Chronik (herausgegeben vor 700 54) und eine nach gewissen Kategorien geordnete allgemeine Biographiensammlung politisch oder literarisch ausgezeichneter römischer und griechischer oder doch in die römische oder griechische Geschichte eingreifender Männer. Diese Arbeiten schließen an die Universalgeschichten sich an, wie sie die Griechen schon seit längerer Zeit schrieben; und ebendiese griechischen Weltchroniken begannen jetzt auch, wie zum Beispiel die im Jahre 698 (56) abgeschlossene des Kastor, Schwiegersohns des galatischen Königs Deiotarus, die bisher von ihnen vernachlässigte römische Geschichte in ihren Kreis zu ziehen. Diese Arbeiten haben allerdings, ebenwie Polybios, versucht, an die Stelle der lokalen die Geschichte der Mittelmeerwelt zu setzen; aber was bei Polybios aus großartig klarer Auffassung und tiefem geschichtlichen Sinn hervorging, ist in diesen Chroniken vielmehr das Produkt des praktischen Bedürfnisses für den Schul- und den Selbstunterricht. Der künstlerischen Geschichtschreibung können diese Weltchroniken, Lehrbücher für den Schulunterricht oder Handbücher zum Nachschlagen, und die ganze damit zusammenhängende, auch in lateinischer Sprache späterhin sehr weitschichtig gewordene Literatur kaum zugezählt werden; und namentlich Nepos selbst war ein reiner, weder durch Geist noch auch nur durch Planmäßigkeit ausgezeichneter Kompilator.

Merkwürdig und in hohem Grade charakteristisch ist die Historiographie dieser Zeit allerdings, aber freilich so unerfreulich wie die Zeit selbst. Das Ineinandergreifen der griechischen und der lateinischen Literatur tritt auf keinem Gebiet so deutlich hervor wie auf dem der Geschichte; hier setzen die beiderseitigen Literaturen in Stoff und Form am frühesten sich ins gleiche und die einheitliche Auffassung der hellenisch-italischen Geschichte, mit der Polybios seiner Zeit vorangeeilt war, lernte jetzt bereits der griechische wie der römische Knabe in der Schule. Allein wenn der Mittelmeerstaat einen Geschichtschreiber gefunden hatte, ehe er seiner selbst sich bewußt worden war, so stand jetzt, wo dies Bewußtsein sich eingestellt hatte, weder bei den Griechen noch bei den Römern ein Mann auf, der ihm den rechten Ausdruck zu leihen vermochte. Eine römische Geschichtschreibung, sagt Cicero, gibt es nicht; und soweit wir urteilen können, ist dies nicht mehr als die einfache Wahrheit. Die Forschung wendet von der Geschichtschreibung sich ab, die Geschichtschreibung von der Forschung; die historische Literatur schwankt zwischen dem Schulbuch und dem Roman. Alle reinen Kunstgattungen, Epos, Drama, Lyrik, Historie, sind nichtig in dieser nichtigen Welt; aber in keiner Gattung spiegelt doch der geistige Verfall der ciceronischen Zeit in so grauenvoller Klarheit sich wieder wie in ihrer Historiographie.

Die kleine historische Literatur dieser Zeit weist dagegen unter vielen geringfügigen und verschollenen Produktionen eine Schrift ersten Ranges auf: die Memoiren Caesars oder vielmehr der militärische Rapport des demokratischen Generals an das Volk, von dem er seinen Auftrag erhalten hatte. Der vollendete und allein von dem Verfasser selbst veröffentlichte Abschnitt, der die keltischen Feldzüge bis zum Jahre 702 (52) schildert, hat offenbar den Zweck, das formell verfassungswidrige Beginnen Caesars, ohne Auftrag der kompetenten Behörde ein großes Land zu erobern und zu diesem Ende sein Heer beständig zu vermehren, so gut wie möglich vor dem Publikum zu rechtfertigen; es ward geschrieben und bekannt gemacht im Jahre 703 (51), als in Rom der Sturm gegen Caesar losbrach und er aufgefordert ward, sein Heer zu entlassen und sich zur Verantwortung zu stellen158

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Verwandter Art sind die Briefwechsel von Staatsmännern und Literaten dieser Zeit, die in der folgenden Epoche mit Sorgfalt gesammelt und veröffentlicht wurden: so die Korrespondenz von Caesar selbst, von Cicero, Calvus und andern. Den eigentlich literarischen Leistungen können sie noch weniger beigezählt werden; aber für die geschichtliche wie für jede andere Forschung war diese Korrespondenzliteratur ein reiches Archiv und das treueste Spiegelbild einer Epoche, in der so viel würdiger Gehalt vergangener Zeiten und so viel Geist, Geschicklichkeit und Talent im kleinen Treiben sich verflüchtigte und verzettelte.

Eine Journalistik in dem heutigen Sinn hat bei den Römern niemals sich gebildet; die literarische Polemik blieb angewiesen auf die Broschürenliteratur und daneben allenfalls auf die zu jener Zeit allgemein verbreitete Sitte die für das Publikum bestimmten Notizen an öffentlichen Orten mit dem Pinsel oder dem Griffel anzuschreiben. Dagegen wurden untergeordnete Individuen dazu verwandt, für die abwesenden Vornehmen die Tagesvorfälle und Stadtneuigkeiten aufzuzeichnen; auch für die sofortige Veröffentlichung eines Auszugs aus den Senatsverhandlungen traf Caesar schon in seinem ersten Konsulat geeignete Maßregeln. Aus den Privatjournalen jener römischen Penny-a-liners und diesen offiziellen laufenden Berichten entstand eine Art von hauptstädtischem Intelligenzblatt (acta diurna), in dem das Resümee der vor dem Volke und im Senat verhandelten Geschäfte, ferner Geburten, Todesfälle und dergleichen mehr verzeichnet wurden. Dasselbe wurde eine nicht unwichtige geschichtliche Quelle, blieb aber ohne eigentliche politische wie ohne literarische Bedeutung.

Zu der historischen Nebenliteratur gehört von Rechts wegen auch die Redeschriftstellerei. Die Rede, aufgezeichnet oder nicht, ist ihrer Natur nach ephemer und gehört der Literatur nicht an; indes kann sie, wie der Bericht und der Brief, und sie noch leichter als diese, durch die Prägnanz des Moments und die Macht des Geistes, denen sie entspringt, eintreten unter die bleibenden Schätze der nationalen Literatur. So spielten denn auch in Rom die Aufzeichnungen der vor der Bürgerschaft oder den Geschworenen gehaltenen Reden politischen Inhalts nicht bloß seit langem eine große Rolle in dem öffentlichen Leben, sondern es wurden auch die Reden namentlich des Gaius Gracchus mit Recht gezählt zu den klassischen römischen Schriften. In dieser Epoche aber tritt hier nach allen Seiten hin eine seltsame Verwandlung ein. Die politische Redeschriftstellerei ist im Sinken wie die Staatsrede selbst. Die politische Rede fand, in Rom wie überhaupt in den alten Politien, ihren Höhepunkt in den Verhandlungen vor der Bürgerschaft: hier fesselten den Redner nicht, wie im Senat, kollegialische Rücksichten und lästige Formen, nicht, wie in den Gerichtsreden, die der Politik an sich fremden Interessen der Anklage und Verteidigung; hier allein schwoll ihm das Herz hoch vor der ganzen, an seinen Lippen hangenden großen und mächtigen römischen Volksgemeinde. Allein damit war es nun vorbei. Nicht als hätte es an Rednern gemangelt oder an der Veröffentlichung der vor der Bürgerschaft gehaltenen Reden; vielmehr ward die politische Schriftstellerei jetzt erst recht weitläufig und es fing an, zu den stehenden Tafelbeschwerden zu gehören, daß der Wirt die Gäste durch Vorlesung seiner neuesten Reden inkommodierte. Auch Publius Clodius ließ seine Volksreden als Broschüren ausgehen, ebenwie Gaius Gracchus; aber es ist nicht dasselbe, wenn zwei Männer dasselbe tun. Die bedeutenderen Führer selbst der Opposition, vor allem Caesar selbst, sprachen zu der Bürgerschaft nicht oft und veröffentlichten nicht mehr die vor ihr gehaltenen Reden; ja sie suchten zum Teil für ihre politischen Flugschriften sich eine andere Form als die hergebrachte der Contionen, in welcher Hinsicht namentlich die Lob- und Tadelschriften auf Cato bemerkenswert sind. Es ist das wohl erklärlich. Gaius Gracchus hatte zur Bürgerschaft gesprochen; jetzt sprach man zu dem Pöbel; und wie das Publikum, so die Rede. Kein Wunder, wenn der reputierliche politische Schriftsteller auch die Einkleidung vermied, als habe er seine Worte an die auf dem Markte der Hauptstadt versammelten Haufen gerichtet. Wenn also die Redeschriftstellerei in ihrer bisherigen literarischen und politischen Geltung in derselben Weise verfällt, wie alle naturgemäß aus dem nationalen Leben entwickelten Zweige der Literatur, so beginnt zugleich eine seltsame nichtpolitische Plädoyerliteratur. Bisher hatte man nichts davon gewußt, daß der Advokatenvortrag als solcher, außer für die Richter und die Parteien, auch noch für Mit- und Nachwelt zur literarischen Erbauung bestimmt sei; kein Sachwalter hatte seine Plädoyers aufgezeichnet und veröffentlicht, wofern dieselben nicht etwa zugleich politische Reden waren und insofern sich dazu eigneten, als Parteischriften verbreitet zu werden, und auch dies war nicht gerade häufig geschehen. Noch Quintus Hortensius (640-704 114-50), in den ersten Jahren dieser Periode der gefeiertste römische Advokat, veröffentlichte nur wenige und wie es scheint nur die ganz oder halb politischen Reden. Erst sein Nachfolger in dem Prinzipat der römischen Sachwalter, Marcus Tullius Cicero (648-711 106-43), war von Haus aus ebensosehr Schriftsteller wie Gerichtsredner; er publizierte seine Plädoyers regelmäßig und auch dann, wenn sie nicht oder nur entfernt mit der Politik zusammenhingen. Dies ist nicht Fortschritt, sondern Unnatur und Verfall. Auch in Athen ist das Auftreten der nichtpolitischen Advokatenreden unter den Gattungen der Literatur ein Zeichen der Krankheit; und zwiefach ist es dies in Rom, das diese Mißbildung nicht wie Athen aus dem überspannten rhetorischen Treiben mit einer gewissen Notwendigkeit erzeugt, sondern willkürlich und im Widerspruch mit den besseren Traditionen der Nation dem Ausland abgeborgt hat. Dennoch kam diese neue Gattung rasch in Aufnahme, teils weil sie mit der älteren politischen Redeschriftstellerei vielfach sich berührte und zusammenfloß, teils weil das unpoetische, rechthaberische, rhetorisierende Naturell der Römer für den neuen Samen einen günstigen Boden darbot, wie ja denn noch heute die Advokatenrede und selbst eine Art von Prozeßliteratur in Italien etwas bedeutet. Also erwarb die von der Politik emanzipierte Redeschriftstellerei das Bürgerrecht in der römischen Literatenwelt durch Cicero. Wir haben dieses vielseitigen Mannes schon mehrfach gedenken müssen. Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht, hat er nacheinander als Demokrat, als Aristokrat und als Werkzeug der Monarchen figuriert und ist nie mehr gewesen als ein kurzsichtiger Egoist. Wo er zu handeln schien, waren die Fragen, auf die es ankam, regelmäßig eben abgetan: so trat er im Prozeß des Verres gegen die Senatsgerichte auf, als sie bereits beseitigt waren; so schwieg er bei der Verhandlung über das Gabinische und verfocht das Manilische Gesetz; so polterte er gegen Catilina, als dessen Abgang bereits feststand, und so weiter. Gegen Scheinangriffe war er gewaltig und Mauern von Pappe hat er viele mit Geprassel eingerannt; eine ernstliche Sache ist nie, weder im guten noch im bösen, durch ihn entschieden worden und vor allem die Hinrichtung der Catilinarier hat er weit mehr geschehen lassen als selber bewirkt. In literarischer Hinsicht ist es bereits hervorgehoben worden, daß er der Schöpfer der modernen lateinischen Prosa war; auf seiner Stilistik ruht seine Bedeutung, und allein als Stilist auch zeigt er ein sicheres Selbstgefühl. Als Schriftsteller dagegen steht er vollkommen ebenso tief wie als Staatsmann. Er hat in den mannigfaltigsten Aufgaben sich versucht, in unendlichen Hexametern Marius‘ Groß- und seine eigenen Kleintaten besungen, mit seinen Reden den Demosthenes, mit seinen philosophischen Gesprächen den Platon aus dem Felde geschlagen und nur die Zeit hat ihm gefehlt, um auch den Thukydides zu überwinden. Er war in der Tat so durchaus Pfuscher, daß es ziemlich einerlei war, welchen Acker er pflügte. Eine Journalistennatur im schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten, wie er selber sagt, überreich, an Gedanken über alle Begriffe arm, gab es kein Fach, worin er nicht mit Hilfe weniger Bücher rasch einen lesbaren Aufsatz übersetzend oder kompilierend hergestellt hätte. Am treuesten gibt seine Korrespondenz sein Bild wieder. Man pflegt sie interessant und geistreich zu nennen: sie ist es auch, solange sie das hauptstädtische oder Villenleben der vornehmen Welt widerspiegelt; aber wo der Schreiber auf sich selbst angewiesen ist, wie im Exil, in Kilikien und nach der Pharsalischen Schlacht, ist sie matt und leer, wie nur je die Seele eines aus seinen Kreisen verschlagenen Feuilletonisten. Daß ein solcher Staatsmann und ein solcher Literat auch als Mensch nicht anders sein konnte als von schwach überfirnißter Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit, ist kaum noch nötig zu sagen. Sollen wir den Redner noch schildern? Der große Schriftsteller ist doch auch ein großer Mensch; und vor allem dem großen Redner strömt die Überzeugung und die Leidenschaft klarer und brausender aus den Tiefen der Brust hervor als den dürftigen vielen, die nur zählen und nicht sind. Cicero hatte keine Überzeugung und keine Leidenschaft; er war nichts als Advokat und kein guter Advokat. Er verstand es, seine Sacherzählung anekdotenhaft pikant vorzutragen, wenn nicht das Gefühl, doch die Sentimentalität seiner Zuhörer zu erregen und durch Witze oder Witzeleien meist persönlicher Art das trockene Geschäft der Rechtspflege zu erheitern; seine besseren Reden, wenngleich auch sie die freie Anmut und den sicheren Treff der vorzüglichsten Kompositionen dieser Art, zum Beispiel der Memoiren von Beaumarchais, bei weitem nicht erreichen, sind doch eine leichte und angenehme Lektüre. Werden aber schon die eben bezeichneten Vorzüge dem ernsten Richter als Vorzüge sehr zweifelhaften Wertes erscheinen, so muß der absolute Mangel politischen Sinnes in den staatsrechtlichen, juristischer Deduktion in den Gerichtsreden, der pflichtvergessene, die Sache stets über dem Anwalt aus den Augen verlierende Egoismus, die gräßliche Gedankenöde jeden Leser der Ciceronischen Reden von Herz und Verstand empören. Wenn hier etwas wunderbar ist, so sind es wahrlich nicht die Reden, sondern die Bewunderung, die dieselben fanden. Mit Cicero wird jeder Unbefangene bald im reinen sein; der Ciceronianismus ist ein Problem, das in der Tat nicht eigentlich aufgelöst, sondern nur aufgehoben werden kann in dem größeren Geheimnis der Menschennatur: der Sprache und der Wirkung der Sprache auf das Gemüt. Indem die edle lateinische Sprache, eben bevor sie als Volksidiom unterging, von jenem gewandten Stilisten noch einmal gleichsam zusammengefaßt und in seinen weitläufigen Schriften niedergelegt ward, ging auf das unwürdige Gefäß etwas über von der Gewalt, die die Sprache ausübt, und von der Pietät, die sie erweckt. Man besaß einen großen lateinischen Prosaiker; denn Caesar war, wie Napoleon, nur beiläufig Schriftsteller. War es zu verwundern, daß man in Ermangelung eines solchen wenigstens den Genius der Sprache ehrte in dem großen Stilisten? und daß, wie Cicero selbst, so auch Ciceros Leser sich gewöhnten zu fragen, nicht was, sondern wie er geschrieben? Gewohnheit und Schulmeisterei vollendeten dann, was die Macht der Sprache begonnen hatte. Ciceros Zeitgenossen übrigens waren begreiflicherweise in dieser seltsamen Abgötterei weit weniger befangen als viele der Späteren. Die Ciceronische Manier beherrschte wohl ein Menschenalter hindurch die römische Advokatenwelt, so gut wie die noch weit schlechtere des Hortensius es getan; allein die bedeutendsten Männer, zum Beispiel Caesar, hielten doch stets derselben sich fern, und unter der jüngeren Generation regte bei allen frischen und lebendigen Talenten sich die entschiedenste Opposition gegen jene zwitterhafte und schwächliche Redekunst. Man vermißte in Ciceros Sprache Knappheit und Strenge, in den Späßen das Leben, in der Anordnung Klarheit und Gliederung, vor allen Dingen aber in der ganzen Beredsamkeit das Feuer, das den Redner macht. Statt der rhodischen Eklektiker fing man an, auf die echten Attiker, namentlich auf Lysias und Demosthenes zurückzugehen und suchte eine kräftigere und männlichere Beredsamkeit in Rom einzubürgern. Dieser Richtung gehörten an der feierliche, aber steife Marcus Iunius Brutus (669-712 85-42), die beiden politischen Parteigänger Marcus Caelius Rufus (672-706 82-48) und Gaius Scribonius Curio († 705 49), beide als Redner voll Geist und Leben, der auch als Dichter bekannte Calvus (672-706 82-48), die literarische Koryphäe dieses jüngeren Rednerkreises, und der ernste und gewissenhafte Gaius Asinius Pollio (678-757 76-4 n. Chr.). Unleugbar war in dieser jüngeren Redeliteratur mehr Geschmack und mehr Geist als in der Hortensischen und Ciceronischen zusammengenommen; indes vermögen wir nicht zu ermessen, wie weit unter den Stürmen der Revolution, die diesen ganzen reichbegabten Kreis mit einziger Ausnahme des Pollio rasch wegrafften, die besseren Keime noch zur Entwicklung gelangten. Die Zeit war ihnen allzu kurz gemessen. Die neue Monarchie begann damit, der Redefreiheit den Krieg zu machen und unterdrückte die politische Rede bald ganz. Seitdem ward wohl noch die untergeordnete Gattung des reinen Advokatenplädoyers in der Literatur festgehalten; aber die höhere Redekunst und Redeliteratur, die durchaus ruht auf dem politischen Treiben, ging mit diesem selbst notwendig und für immer zu Grabe.

Endlich entwickelt sich in der ästhetischen Literatur dieser Zeit die künstlerische Behandlung fachwissenschaftlicher Stoffe in der Form des stilisierten Dialogs, wie sie bei den Griechen sehr verbreitet und vereinzelt auch bereits früher bei den Römern vorgekommen war. Namentlich Cicero versuchte sich vielfach in der Darstellung rhetorischer und philosophischer Stoffe in dieser Form und in der Verschmelzung des Lehrbuchs mit dem Lesebuche. Seine Hauptschriften sind die ‚Vom Redner‘ (geschrieben 699 55), wozu die Geschichte der römischen Beredsamkeit (der Dialog ‚Brutus‘, geschrieben 708 46) und andere kleinere rhetorische Aufsätze ergänzend hinzutreten, und die Schrift ‚Vom Staat‘ (geschrieben 700 54), womit die Schrift ‚Von den Gesetzen‘ (geschrieben 702? 52) nach Platonischem Muster in Verbindung gesetzt ist. Es sind keine große Kunstwerke, aber unzweifelhaft diejenigen Arbeiten, in denen die Vorzüge des Verfassers am meisten und seine Mängel am wenigsten hervortreten. Die rhetorischen Schriften erreichen bei weitem nicht die lehrhafte Strenge und begriffliche Schärfe der dem Herennius gewidmeten Rhetorik, aber enthalten dafür einen Schatz von praktischer Sachwaltererfahrung und Sachwalteranekdoten aller Art in leichter und geschmackvoller Darstellung und lösen in der Tat das Problem einer amüsanten Lehrschrift. Die Schrift vom Staat führt in einem wunderlichen, geschichtlich-philosophischen Zwittergebilde den Grundgedanken durch, daß die bestehende Verfassung Roms wesentlich die von den Philosophen gesuchte ideale Staatsordnung sei; eine freilich eben so unphilosophische wie unhistorische, übrigens auch nicht einmal dem Verfasser eigentümliche Idee, die aber begreiflicherweise populär ward und blieb. Das wissenschaftliche Grundwerk dieser rhetorischen und politischen Schriften Ciceros gehört natürlich durchaus den Griechen und auch vieles einzelne, zum Beispiel der große Schlußeffekt in der Schrift vom Staate, der Traum des Scipio, ist geradezu ihnen abgeborgt; doch kommt denselben insofern eine relative Originalität zu, als die Bearbeitung durchaus römische Lokalfarbe zeigt und das staatliche Selbstgefühl, zu dem der Römer den Griechen gegenüber allerdings berechtigt war, den Verfasser sogar mit einer gewissen Selbständigkeit seinen griechischen Lehrmeistern entgegentreten ließ. Auch die Gesprächsform Ciceros ist zwar weder die echte Fragedialektik der besten griechischen Kunstdialoge noch der echte Konversationston Diderots oder Lessings; aber die großen Gruppen der um Crassus und Antonius sich versammelnden Advokaten und der älteren und jüngeren Staatsmänner des Scipionischen Zirkels geben doch einen lebendigen und bedeutenden Rahmen, passende Anknüpfungen für geschichtliche Beziehungen und Anekdoten und geschickte Ruhepunkte für die wissenschaftliche Erörterung. Der Stil ist ebenso durchgearbeitet und gefeilt wie in den bestgeschriebenen Reden und insofern erfreulicher als diese, als der Verfasser hier nicht oft einen vergeblichen Anlauf zum Pathos nimmt. Wenn diese philosophisch gefärbten rhetorischen und politischen Schriften Ciceros nicht ohne Verdienst sind, so fiel dagegen der Kompilator vollständig durch, als er in der unfreiwilligen Muße seiner letzten Lebensjahre (709, 710 45, 44) sich an die eigentliche Philosophie machte und mit ebenso großer Verdrießlichkeit wie Eilfertigkeit in ein paar Monaten eine philosophische Bibliothek zusammenschrieb. Das Rezept war sehr einfach. In roher Nachahmung der populären aristotelischen Schriften, in welchen die dialogische Form hauptsächlich zur Entwicklung und Kritisierung der verschiedenen älteren Systeme benutzt war, nähte Cicero die das gleiche Problem behandelnden epikureischen, stoischen und synkretistischen Schriften, wie sie ihm in die Hand kamen oder gegeben wurden, zu einem sogenannten Dialog aneinander, ohne von sich mehr dazu zu tun als teils irgendeine, aus der reichen Sammlung von Vorreden für künftige Werke, die er liegen hatte, dem neuen Buche vorgeschobene Einleitung, teils eine gewisse Popularisierung, indem er römische Beispiele und Beziehungen einflocht, auch wohl auf ungehörige, aber dem Schreiber wie dem Leser geläufigere Gegenstände, in der Ethik zum Beispiel auf den rednerischen Anstand, abschweifte, teils diejenige Verhunzung, ohne welche ein weder zum philosophischen Denken noch auch nur zum philosophischen Wissen gelangter, schnell und dreist arbeitender Literat dialektische Gedankenreihen nicht reproduziert. Auf diesem Wege konnten denn freilich sehr schnell eine Menge dicker Bücher entstehen – „es sind Abschriften“, schrieb der Verfasser selbst einem über seine Fruchtbarkeit verwunderten Freunde; „sie machen mir wenig Mühe, denn ich gebe nur die Worte dazu und die habe ich in Überfluß“. Dagegen war denn weiter nichts zu sagen; wer aber in solchen Schreibereien klassische Produktionen sucht, dem kann man nur raten sich in literarischen Dingen eines schönen Stillschweigens zu befleißigen.

Unter den Wissenschaften herrschte reges Leben nur in einer einzigen: es war dies die lateinische Philologie. Das von Stilo angelegte Gebäude sprachlicher und sachlicher Forschung innerhalb des latinischen Volksbereichs wurde vor allem von seinem Schüler Varro in der großartigsten Weise ausgebaut. Es erschienen umfassende Durcharbeitungen des gesamten Sprachschatzes, namentlich Figulus‘ weitschichtige grammatische Kommentarien und Varros großes Werk ‚Von der lateinischen Sprache‘; grammatische und sprachgeschichtliche Monographien, wie Varros Schriften vom lateinischen Sprachgebrauch, über die Synonymen, über das Alter der Buchstaben, über die Entstehung der lateinischen Sprache; Scholien zu der älteren Literatur, besonders zum Plautus; literargeschichtliche Arbeiten, Dichterbiographien, Untersuchungen über die ältere Schaubühne, über die szenische Teilung der Plautinischen Komödien und über die Echtheit derselben. Die lateinische Realphilologie, welche die gesamte ältere Geschichte und das aus der praktischen Jurisprudenz ausfallende Sakralrecht in ihren Kreis zog, wurde zusammengefaßt in Varros fundamentalen und für alle Zeiten fundamental gebliebenen ‚Altertümern der menschlichen und der göttlichen Dinge‘ (bekanntgemacht zwischen 687 und 709 67 und 45). Die erste Hälfte ‚Von den menschlichen Dingen‘ schilderte die Urzeit Roms, die Stadt- und Landeinteilung, die Wissenschaft von den Jahren, Monaten und Tagen, endlich die öffentlichen Handlungen daheim und im Kriege; in der zweiten Hälfte ‚Von den göttlichen Dingen‘ wurde die Staatstheologie, das Wesen und die Bedeutung der Sachverständigenkollegien, der heiligen Stätten, der religiösen Feste, der Opfer- und Weihgeschenke, endlich der Götter selbst übersichtlich entwickelt. Dazu kam außer einer Anzahl von Monographien – zum Beispiel über die Herkunft des römischen Volkes, über die aus Troia stammenden römischen Geschlechter, über die Distrikte – als ein größerer und selbständigerer Nachtrag die Schrift ‚Vom Leben des römischen Volkes‘; ein merkwürdiger Versuch einer römischen Sittengeschichte, die ein Bild des häuslichen finanziellen und Kulturzustandes in der Königs-, der ersten republikanischen, der hannibalischen und der jüngsten Zeit entwarf. Diese Arbeiten Varros ruhen auf einer so vielseitigen und in ihrer Art so großartigen empirischen Kenntnis der römischen Welt und ihres hellenischen Grenzgebiets, wie sie nie weder vor- noch nachher ein anderer Römer besessen hat und zu der die lebendige Anschauung der Dinge und das Studium der Literatur gleichmäßig beigetragen haben; das Lob der Zeitgenossen war wohlverdient, daß Varro seine in ihrer eigenen Welt fremden Landsleute in der Heimat orientiert und die Römer kennen gelehrt habe, wer und wo sie seien. Kritik aber und System wird man vergebens suchen. Die griechische Kunde scheint aus ziemlich trüben Quellen geflossen und es finden sich Spuren, daß auch in der römischen der Schreiber von dem Einfluß des historischen Romans seiner Zeit nicht frei war. Der Stoff ist wohl in ein bequemes und symmetrisches Fachwerk eingereiht, aber methodisch weder gegliedert noch behandelt und bei allem Bestreben, Überlieferung und eigene Beobachtung harmonisch zu verarbeiten, sind doch Varros wissenschaftliche Arbeiten weder von einem gewissen Köhlerglauben gegenüber der Tradition noch von unpraktischer Scholastik freizusprechen160. Die Anlehnung an die griechische Philologie besteht mehr im Nachahmen der Mängel als der Vorzüge derselben, wie denn vor allem das Etymologisieren auf bloßen Anklang hin sowohl bei Varro selbst wie bei den sonstigen Sprachgelehrten dieser Zeit sich in die reine Scharade und oft geradezu ins Alberne verläuft161. In ihrer empirischen Sicherheit und Fülle wie auch in ihrer empirischen Unzulänglichkeit und Unmethode erinnert die Varronische lebhaft an die englische Nationalphilologie und findet auch ebenwie diese ihren Mittelpunkt in dem Studium der älteren Schaubühne. Daß die monarchische Literatur im Gegensatz gegen diese sprachliche Empirie die Sprachregel entwickelte, ward bereits bemerkt. Es ist in hohem Grade bedeutsam, daß an der Spitze der modernen Grammatiker kein geringerer Mann steht als Caesar selbst, der in seiner Schrift über die Analogie (bekanntgemacht zwischen 696 und 704 68 und 50) es zuerst unternahm die freie Sprache unter die Gewalt des Gesetzes zu zwingen.

Neben dieser ungemeinen Regsamkeit auf dem Gebiet der Philologie fällt die geringe Tätigkeit in den übrigen Wissenschaften auf. Was von Belang in der Philosophie erschien, wie Lucretius‘ Darstellung des epikureischen Systems in dem poetischen Kinderkleide der vorsokratischen Philosophie und die besseren Schriften Ciceros, tat seine Wirkung und fand sein Publikum nicht durch, sondern trotz des philosophischen Inhalts einzig durch die ästhetische Form; die zahlreichen Übersetzungen epikureischer Schriften und die pythagoreischen Arbeiten, wie Varros großes Werk über die Elemente der Zahlen und das noch ausführlichere des Figulus von den Göttern, hatten ohne Zweifel weder wissenschaftlichen noch formellen Wert.

Auch in den Fachwissenschaften ist es schwach bestellt. Varros dialogisch geschriebene Bücher vom Landbau sind freilich methodischer als die seiner Vorgänger Cato und Saserna, auf die denn auch mancher tadelnde Seitenblick fällt, dafür aber im ganzen mehr aus der Schreibstube hervorgegangen als, wie jene älteren Werke, aus der lebendigen Erfahrung. Von desselben sowie des Servius Sulpicius Rufus (Konsul 703 51) juristischen Arbeiten ist kaum etwas weiter zu sagen, als daß sie zu dem dialektischen und philologischen Aufputz der römischen Jurisprudenz beigetragen haben. Weiter aber ist hier nichts zu nennen als etwa noch des Gaius Matius drei Bücher über Kochen, Einsalzen und Einmachen, unseres Wissens das älteste römische Kochbuch und als das Werk eines vornehmen Mannes allerdings eine bemerkenswerte Erscheinung. Daß Mathematik und Physik durch die gesteigerten hellenistischen und utilitarischen Tendenzen der Monarchie gefördert wurden, zeigt sich wohl in der steigenden Bedeutung derselben im Jugendunterricht und in einzelnen praktischen Anwendungen, wohin, außer der Reform des Kalenders, etwa noch gezählt werden können das Aufkommen der Wandkarten in dieser Zeit; die verbesserte Technik des Schiffsbaus und der musikalischen Instrumente; Anlagen und Bauten wie das von Varro angegebene Vogelhaus, die von Caesars Ingenieuren ausgeführte Pfahlbrücke über den Rhein, sogar zwei halbkreisförmige, zum Zusammenschieben eingerichtete, zuerst gesondert als zwei Theater, dann zusammen als Amphitheater benutzte Brettergerüste. Ausländische Naturmerkwürdigkeiten bei den Volksfesten öffentlich zur Schau zu stellen war nicht ungewöhnlich; und die Schilderungen merkwürdiger Tiere, die Caesar in seine Feldzugsberichte eingelegt hat, beweisen, daß ein Aristoteles, wenn er aufgetreten wäre, seinen Fürsten wiederum gefunden haben würde. Was aber von literarischen Leistungen auf diesem Gebiet erwähnt wird, hängt wesentlich an den Neupythagoreismus sich an; so des Figulus Zusammenstellung griechischer und barbarischer, d. h. ägyptischer Himmelsbeobachtungen und desselben Schriften von den Tieren, den Winden, den Geschlechtsteilen. Nachdem überhaupt die griechische Naturforschung von dem Aristotelischen Streben, im einzelnen das Gesetz zu finden, mehr und mehr zu der empirischen und meistens unkritischen Beobachtung des Äußerlichen und Auffallenden in der Natur abgeirrt war, konnte die Naturwissenschaft, indem sie als mystische Naturphilosophie auftrat, statt aufzuklären und anzuregen, nur noch mehr verdummen und lähmen; und solchem Treiben gegenüber ließ man es besser noch bei der Plattheit bewenden, welche Cicero als sokratische Weisheit vorträgt, daß die Naturforschung entweder nach Dingen sucht, die niemand wissen könne, oder nach solchen, die niemand zu wissen brauche.

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Kunst, so zeigen auch hier sich dieselben unerfreulichen Erscheinungen, die das ganze geistige Leben dieser Periode erfüllen. Das Staatsbauwesen stockte in der Geldklemme der letzten Zeit der Republik so gut wie ganz. Von dem Bauluxus der Vornehmen Roms war bereits die Rede; die Architekten lernten infolgedessen den Marmor verschwenden – die farbigen Sorten wie der gelbe numidische (Giallo antico) und andere kamen in dieser Zeit in Aufnahme und auch die lunensischen (carrarischen) Marmorbrüche wurden jetzt zuerst benutzt – und fingen an, die Fußböden der Zimmer mit Mosaik auszulegen, die Wände mit Marmorplatten zu täfeln oder auch den Stuck marmorartig zu bemalen – die ersten Anfänge der späteren Zimmerwandmalerei. Die Kunst aber gewann nicht bei dieser verschwenderischen Pracht.

In den bildenden Künsten waren Kennerschaft und Sammelei in weiterem Zunehmen. Es war eine bloße Affektation catonischer Simplizität, wenn ein Advokat vor den Geschworenen von den Kunstwerken „eines gewissen Praxiteles“ sprach; alles reiste und schaute und das Handwerk der Kunstciceronen oder, wie sie damals hießen, der Exegeten, war keines von den schlechtesten. Auf alte Kunstwerke wurde förmlich Jagd gemacht – weniger freilich noch auf Statuen und Gemälde, als nach der rohen Art römischer Prachtwirtschaft auf kunstvolles Gerät und Zimmer- und Tafeldekoration aller Art. Schon zu jener Zeit wühlte man die alten griechischen Gräber von Capua und Korinth um wegen der Erz- und Tongefäße, die den Toten waren mit ins Grab gegeben worden. Für eine kleine Nippfigur von Bronze wurden 40000 (3000 Taler), für ein paar kostbare Teppiche 200000 Sesterzen (15000 Taler) bezahlt; eine gutgearbeitete kupferne Kochmaschine kam höher zu stehen als ein Landgut. Wie billig ward bei dieser barbarischen Kunstjagd der reiche Liebhaber von seinen Zuträgern häufig geprellt: aber der ökonomische Ruin namentlich des an Kunstwerken überreichen Kleinasiens brachte auch manches wirklich alte und seltene Prachtstück und Kunststück auf den Markt und von Athen, Syrakus, Kyzikos, Pergamon, Chios, Samos und wie die alten Kunststätten weiter hießen, wanderte alles, was feil war und gar manches, was es nicht war, in die Paläste und Villen der römischen Großen. Welche Kunstschätze zum Beispiel das Haus des Lucullus barg, der freilich wohl nicht mit Unrecht beschuldigt wurde, sein artistisches Interesse auf Kosten seiner Feldherrnpflichten befriedigt zu haben, ward bereits erwähnt. Die Kunstliebhaber drängten sich daselbst wie heutzutage in Villa Borghese und beklagten auch damals schon sich über die Verbannung der Kunstschätze auf die Paläste und Landhäuser der vornehmen Herren, wo sie schwierig und nur nach besonders von dem Besitzer eingeholter Erlaubnis gesehen werden konnten. Die öffentlichen Gebäude dagegen füllten sich keineswegs im Verhältnis mit berühmten Werken griechischer Meister, und vielfach standen noch in den Tempeln der Hauptstadt nichts als die alten holzgeschnitzten Götterbilder. Von Ausübung der Kunst ist so gut wie gar nichts zu berichten; kaum wird aus dieser Zeit ein anderer römischer Bildhauer oder Maler mit Namen genannt als ein gewisser Arellius, dessen Bilder reißend abgingen, nicht ihres künstlerischen Wertes wegen, sondern weil der arge Roué in den Bildern der Göttinnen getreue Konterfeie seiner jedesmaligen Mätressen lieferte.

Die Bedeutung von Musik und Tanz stieg im öffentlichen wie im häuslichen Leben. Wie die Theatermusik und das Tanzstück in der Bühnenentwicklung dieser Zeit zu selbständigerer Geltung gelangte, wurde bereits dargestellt; es kann noch hinzugefügt werden, daß jetzt in Rom selbst auf der öffentlichen Bühne schon sehr häufig von griechischen Musikern, Tänzern und Deklamatoren Vorstellungen gegeben wurden, wie sie in Kleinasien und überhaupt in der ganzen hellenischen und hellenisierenden Welt üblich waren162

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Indes gegen das Ende dieser Periode zeigen mit der beginnenden Monarchie sich auch in der Kunst die Anfänge einer besseren Zeit. Welchen gewaltigen Aufschwung das hauptstädtische Bauwesen durch Caesar nahm und das Reichsbauwesen nehmen sollte, ist früher erzählt worden. Sogar im Stempelschnitt der Münzen erscheint um das Jahr 700 (54) eine bemerkenswerte Änderung: das bis dahin größtenteils rohe und nachlässige Gepräge wird seitdem feiner und sorgsamer behandelt.

Wir stehen am Ende der römischen Republik. Wir sahen sie ein halbes Jahrtausend in Italien und in den Landschaften am Mittelmeer schalten; wir sahen sie nicht durch äußere Gewalt, sondern durch inneren Verfall politisch und sittlich, religiös und literarisch zugrunde gehen und der neuen Monarchie Caesars Platz machen. Es war in der Welt, wie Caesar sie vorfand, viel edle Erbschaft vergangener Jahrhunderte und eine unendliche Fülle von Pracht und Herrlichkeit, aber wenig Geist, noch weniger Geschmack und am wenigsten Freude im und am Leben. Wohl war es eine alte Welt; und auch Caesars genialer Patriotismus vermochte nicht, sie wieder jung zu machen. Die Morgenröte kehrt nicht wieder, bevor die Nacht völlig hereingebrochen ist. Aber doch kam mit ihm den vielgeplagten Völkern am Mittelmeer nach schwülem Mittag ein leidlicher Abend; und als sodann nach langer geschichtlicher Nacht der neue Völkertag abermals anbrach und frische Nationen in freier Selbstbewegung nach neuen und höheren Zielen den Lauf begannen, da fanden sich manche darunter, in denen der von Caesar ausgestreute Same aufgegangen war und die ihm ihre nationale Individualität verdankten und verdanken.

  1. Es sind dies, wie bekannt, die sogenannten sieben freien Künste, die mit dieser Unterscheidung der früher in Italien eingebürgerten drei und der nachträglich rezipierten vier Disziplinen sich durch das ganze Mittelalter behauptet haben.
  2. So sagt Varro (rust. 1, 2): ab aeditimo, ut dicere didicimus a patribus nostris; ut corrigimur ab recentibus urbanis, ab aedituo.
  3. Merkwürdig ist für diese Verhältnisse die Dedikation der auf den Namen des Skymnos gehenden poetischen Erdbeschreibung. Nachdem der Dichter seine Absicht erklärt hat, in dem beliebten menandrischen Maß einen für Schüler faßlichen und leicht auswendig zu lernenden Abriß der Geographie zu bearbeiten, widmet er, wie Apollodoros sein ähnliches historisches Kompendium dem König Attalos Philadelphos von Pergamon widmete,
  4. dem es ewigen Ruhm
    Gebracht, daß seinen Namen dies Geschichtswerk trägt,
  5. sein Handbuch dem König Nikomedes III. (663? – 679 91 – 75) von Bithynien:
  6. Daß, wie die Leute sagen, königliche Huld
    Von allen jetzigen Königen nur du erzeigst,
    Dies zu erproben an mir selbst, entschloß ich mich,
    Zu kommen und zu sehen, was ein König sei.
    Bestärkt in diesem durch Apolls Orakelwort,
    Nah‘ ich mich billig deinem fast, auf deinen Wink,
    Zu der Gelehrten insgemein gewordnen Herd.
  7. Daß der Mimus zu seiner Zeit an die Stelle der Atellane getreten sei, bezeugt Cicero (ad fam. 9 16); damit stimmt überein, daß die Mimen und Miminnen zuerst um die sullanische Zeit hervortreten (Rhet. Her. 1, 14, 24; 2, 13, 19; Atta com. 1 Ribbeck.; Plin. nat. 7, 48, 158; Plut. Sull. z. 36). Übrigens wird die Bezeichnung mimus zuweilen ungenau von dem Komöden überhaupt gebraucht. So war der bei der Apollonischen Festfeier 542/43 212/211 auftretende mimus (Festus v. salva res est; vgl. Cic. De orat. 2, 59, 242) offenbar nichts als ein Schauspieler der palliata, denn für wirkliche Mimen im spätem Sinn ist in dieser Zeit in der römischen Theaterentwicklung kein Raum.
  8. Zu dem Mimus der klassischen griechischen Zeit, prosaischen Dialogen, in denen Genrebilder, namentlich ländliche, dargestellt wurden, hat der römische Mimus keine nähere Beziehung.
  9. Vom Staat erhielt er für jeden Spieltag 1000 Denare (300 Taler) und außerdem die Besoldung für seine Truppe. In späteren Jahren wies er für sich das Honorar zurück.
  10. Einzelne scheinbare Ausnahmen, wie das Weihrauchland Panchaea, sind daraus zu erklären, daß dies aus dem Reiseroman des Euhemeros vielleicht schon in die Ennianische Poesie, auf jeden Fall in die Gedichte des Lucius Manlius (Plin. nat. 10, 2, 4) übergegangen und daher dem Publikum, für das Lucretius schrieb, wohlbekannt war.
  11. Naiv erscheint dies in den kriegerischen Schilderungen, in denen die heerverderbenden Seestürme, die die eigenen Leute zertretenden Elefantenscharen, also Bilder aus den Punischen Kriegen, erscheinen, als gehörten sie der unmittelbaren Gegenwart an. Vgl. 2, 41; 5, 1226, 1303, 1339.
  12. „Freilich“, sagt Cicero (Tusc. 3, 19, 45) in Beziehung auf Ennius, „wird der herrliche Dichter von unseren Euphorionrezitierern verachtet.“ „Ich bin glücklich angelangt“, schreibt derselbe an Atticus (7, 2 z. A.), „da uns von Epirus herüber der günstige Nordwind wehte. Diesen Spondaicus kannst du, wenn du Lust hast, einem von den Neumodischen als dein eigen verkaufen“ (ita belle nobis flavit ab Epiro lenissumus Onchesmites. Hunc σποδειάζοντα si cui voles τών νεοτέρων pro tuo vendito).
  13. „Mir als Knaben“, sagt er irgendwo, „genügte ein einziger Flausrock und ein einziges Unterkleid, Schuhe ohne Strümpfe, ein Pferd ohne Sattel; ein warmes Bad hatte ich nicht täglich, ein Flußbad selten.“ Wegen seiner persönlichen Tapferkeit erhielt er im Piratenkrieg, wo er eine Flottenabteilung führte, den Schiffskranz.
  14. Etwas Kindischeres gibt es kaum als Varros Schema der sämtlichen Philosophien, das erstlich alle nicht die Beglückung des Menschen als letztes Ziel aufstellenden Systeme kurzweg für nicht vorhanden erklärt und dann die Zahl der unter dieser Voraussetzung denkbaren Philosophien auf zweihundertachtundachtzig berechnet. Der tüchtige Mann war leider zu sehr Gelehrter um einzugestehen, daß er Philosoph weder sein könne noch sein möge, und hat deshalb als solcher zeit seines Lebens zwischen Stoa, Pythagoreismus und Diogenismus einen nicht schönen Eiertanz aufgeführt.
  15. „Willst du etwa“, schreibt er einmal, „die Redefiguren und Verse des Quintussklaven Clodius abgurgeln und ausrufen: O Geschick! o Schicksalsgeschick!“ Anderswo: „Da der Quintussklave Clodius eine solche Anzahl von Komödien ohne irgendeine Muse gemacht hat, sollte ich da nicht einmal ein einziges Büchlein mit Ennius zu reden ‚fabrizieren‘ können?“ Dieser sonst nicht bekannte Clodius muß wohl ein schlechter Nachahmer des Terenz gewesen sein, da zumal jene ihm spöttisch heimgegebenen Worte: „O Geschick! o Schicksalsgeschick!“ in einem Terenzischen Lustspiel sich wiederfinden. Die folgende Selbstvorstellung eines Poeten in Varros ‚Esel beim Lautenspiel‘:
  16. Schüler mich heißt man Pacuvs; er dann war des Ennius Schüler,
    Dieser der Musen; ich selbst nenne Pompilius mich
  17. könnte füglich die Einleitung des Lucretius parodieren, dem Varro schon als abgesagter Feind des epikurischen Systems nicht geneigt gewesen sein kann und den er nie anführt.
  18. Er selbst sagt einmal treffend, daß er veraltete Wörter nicht besonders liebe, aber öfter brauche, poetische Wörter sehr liebe, aber nicht brauche.
  19. Die folgende Schilderung ist dem ‚Marcussklaven‘ entnommen:
  20. Auf einmal, um die Zeit der Mitternacht etwa,
    Als uns mit Feuerflammen weit und breit gestickt
    Der luftige Raum den Himmelssternenreigen wies,
    Umschleierte des Himmels goldenes Gewölb
    Mit kühlem Regenflor der raschen Wolken Zug,
    Hinab das Wasser schüttend auf die Sterblichen,
    Und schossen, los sich reißend von dem eisigen Pol,
    Die Wind‘, heran, des Großen Bären tolle Brut,
    Fortführend mit sich Ziegel, Zweig‘ und Wetterwust.
    Doch wir, gestürzt, schiffbrüchig, gleich der Störche Schwarm,
    Die an zweizackigen Blitzes Glut die Flügel sich
    Versengt, wir fielen traurig jäh zur Erd‘ hinab.
  21. In der ‚Menschenstadt‘ heißt es:
  22. Nicht wird frei dir die Brust durch Gold und Fülle der Schätze;
    Nicht dem Sterblichen nimmt von der Seele der persische Goldberg
    Sorg‘ und Furcht, und auch der Saal nicht Crassus des Reichen.
    Aber auch leichtere Weise gelang dem Dichter. In ‚Der Topf hat sein Maß‘ stand folgender zierliche Lobspruch auf den Wein:
    Es bleibt der Wein für jedermann der beste Trank.
    Er ist das Mittel, das den Kranken macht gesund;
    Er ist der süße Keimeplatz der Fröhlichkeit,
    Er ist der Kitt, der Freundeskreis zusammenhält.
  23. Und in dem ‚Weltbohrer‘ schließt der heimkehrende Wandersmann also seinen Zuruf an die Schiffer:
  24. Laßt schießen die Zügel dem leisesten Hauch,
    Bis daß uns des frischeren Windes Geleit
    Rückführt in die liebliche Heimat!
  25. Die Skizzen Varros haben eine so ungemeine historische und selbst poetische Bedeutsamkeit und sind doch infolge der trümmerhaften Gestalt, in der uns die Kunde davon zugekommen ist, so wenigen bekannt und so verdrießlich kennenzulernen, daß es wohl erlaubt sein wird, einige derselben hier mit der wenigen zur Lesbarkeit unumgänglichen Restauration zu resümieren.
  26. Die Satire ‚Frühauf‘ schildert die ländliche Haushaltung. „Frühauf ruft mit der Sonne zum Aufstehen und führt selbst die Leute auf den Arbeitsplatz. Die Jungen machen selbst sich ihr Bett, das die Arbeit ihnen weich macht, und stellen sich selber Wasserkrug und Lampe dazu. Der Trank ist der klare frische Quell, die Kost Brot und als Zubrot Zwiebeln. In Haus und Feld gedeiht alles. Das Haus ist kein Kunstbau; aber der Architekt könnte Symmetrie daran lernen. Für den Acker wird gesorgt, daß er nicht unordentlich und wüst in Unsauberkeit und Vernachlässigung verkomme; dafür wehrt die dankbare Ceres den Schaden von der Frucht, daß die Schober hochgeschichtet das Herz des Landmannes erfreuen. Hier gilt noch das Gastrecht; willkommen ist, wer nur Muttermilch gesogen hat. Brotkammer und Weinfaß und der Wurstvorrat am Hausbalken, Schlüssel und Schloß sind dem Wandersmann dienstwillig, und hoch türmen vor ihm die Speisen sich auf; zufrieden sitzt der gesättigte Gast, nicht vor- noch rückwärts schauend, nickend am Herde in der Küche. Zum Lager wird der wärmste doppelwollige Schafpelz für ihn ausgebreitet. Hier gehorcht man noch als guter Bürger dem gerechten Gesetz, das weder aus Mißgunst Unschuldigen zu nahe tritt, noch aus Gunst Schuldigen verzeiht. Hier redet man nicht Böses wider den Nächsten. Hier rekelt man nicht mit den Füßen auf dem heiligen Herd, sondern ehrt die Götter mit Andacht und mit Opfern, wirft dem Hausgeist sein Stückchen Fleisch in das bestimmte Schüsselchen und geleitet, wenn der Hausherr stirbt, die Bahre mit demselben Gebet, mit welchem die des Vaters und des Großvaters hinweggetragen wurde.“
  27. In einer anderen Satire tritt ein „Lehrer der Alten auf, dessen die gesunkene Zeit dringender zu bedürfen scheint als des Jugendlehrers, und setzt auseinander, „wie einst alles in Rom keusch und fromm war und jetzt alles so ganz anders ist“. „Trügt mich mein Auge oder sehe ich Sklaven in Waffen gegen ihre Herren? – Einst ward, wer zur Aushebung sich nicht stellte, von Staats wegen als Sklave in die Fremde verkauft; jetzt heißt [der Aristokratie, 2, 225; 3, 358; 4, 103 u. 330] der Zensor, der Feigheit und alles hingehen läßt, ein großer Bürger und erntet Lob, daß er nicht darauf aus ist, sich durch Kränkung der Mitbürger einen Namen zu machen. – Einst ließ der römische Bauer sich alle Woche einmal den Bart scheren; jetzt kann der Ackersklave es nicht fein genug haben. – Einst sah man auf den Gütern einen Kornspeicher, der zehn Ernten faßte, geräumige Keller für die Weinfässer und entsprechende Keltern; jetzt hält der Herr sich Pfauenherden und läßt seine Türen mit afrikanischem Zypressenholz einlegen. – Einst drehte die Hausfrau mit der Hand die Spindel und hielt dabei den Topf auf dem Herd im Auge, damit der Brei nicht verbrenne; jetzt“ – heißt es in einer andern Satire –“bettelt die Tochter den Vater um ein Pfund Edelsteine, das Weib den Mann um einen Scheffel Perlen an. – Einst war der Mann in der Brautnacht stumm und blöde; jetzt gibt die Frau sich dem ersten besten Kutscher preis. – Einst war der Kindersegen der Stolz des Weibes, jetzt, wenn der Mann sich Kinder wünscht, antwortet sie: Weißt du nicht, was Ennius sagt?:
  28. Lieber will ich ja das Leben dreimal wagen in der Schlacht,
    Als ein einzig Mal gebären. –
  29. Einst war die Frau vollkommen zufrieden, wenn der Mann ein- oder zweimal im Jahre sie in dem ungepolsterten Wagen über Land fuhr“; jetzt – konnte er hinzusetzen (vgl. Cic. Mil. 21, 55) – schmollt die Frau, wenn der Mann ohne sie auf sein Landgut geht, und folgt der reisenden Dame das elegante griechische Bedientengesindel und die Kapelle nach auf die Villa.“
  30. In einer Schrift der ernsteren Gattung ‚Catus oder die Kinderzucht‘ belehrt Varro den Freund, der ihn deswegen um Rat gefragt, nicht bloß über die Gottheiten, denen nach altem Brauch für der Kinder Wohl zu opfern war, sondern, hinweisend auf die verständigere Kindererziehung der Perser und auf seine eigene streng verlebte Jugend, warnt er vor überfüttern und überschlafen, vor süßem Brot und feiner Kost – die jungen Hunde, meint der Alte, werden jetzt verständiger genährt als die Kinder –, ebenso vor dem Besiebnen und Besegnen, das in Krankheitsfällen so oft die Stelle des ärztlichen Rates vertrat. Er rät, die Mädchen zum Sticken anzuhalten, damit sie später die Stickereien und Webereien richtig zu beurteilen verständen, und sie nicht zu früh das Kinderkleid ablegen zu lassen; er warnt davor, die Knaben in die Fechterspiele zu führen, in denen früh das Herz verhärtet und die Grausamkeit gelernt wird.
  31. In dem ‚Mann von sechzig Jahren‘ erscheint Varro als ein römischer Epimenides, der, als zehnjähriger Knabe eingeschlafen, nach einem halben Jahrhundert wiedererwacht. Er staunt darüber, statt seines glattgeschorenen Knabenkopfes ein altes Glatzhaupt wiederzufinden, mit häßlicher Schnauze und wüsten Borsten gleich dem Igel; mehr noch aber staunt er über das verwandelte Rom. Die lucrinischen Austern, sonst eine Hochzeitschüssel, sind jetzt ein Alltagsgericht; dafür rüstet denn auch der bankrotte Schlemmer im stillen die Brandfackel. Wenn sonst der Vater dem Knaben vergab, so ist jetzt das Vergeben an den Knaben gekommen; das heißt, er vergibt dem Vater mit Gift. Der Wahlplatz ist zur Börse geworden, der Kriminalprozeß zur Goldgrube für die Geschworenen. Keinem Gesetze wird noch gehorcht, außer dem einen, daß nichts für nichts gegeben wird. Alle Tugenden sind geschwunden; dafür begrüßen den Erwachten als neue Insassen die Gotteslästerung, die Wortlosigkeit, die Geilheit. „O wehe dir, Marcus, über solchen Schlaf und solches Erwachen!“
  32. Die Skizze gleicht der catilinarischen Zeit, kurz nach welcher (um 697 57) sie der alte Mann geschrieben haben muß, und es lag eine Wahrheit in der bitteren Schlußwendung, wo der Marcus, gehörig ausgescholten wegen seiner unzeitgemäßen Anklagen und antiquarischen Reminiszenzen, mit parodischer Anwendung einer uralten römischen Sitte, als unnützer Greis auf die Brücke geschleppt und in den Tiber gestürzt wird. Es war allerdings für solche Männer in Rom kein Platz mehr.
  33. „Die Unschuldigen“, hieß es in einer Rede, „zitternd an allen Gliedern, schleppst du heraus und am hohen Uferrande des Flusses beim Morgengrauen (lässest du sie schlachten).“ Solche ohne Mühe einer Taschenbuchsnovelle einzufügende Phrasen begegnen mehrere.
  34. Daß die Schrift über den Gallischen Krieg auf einmal publiziert worden ist, hat man längst vermutet; den bestimmten Beweis dafür liefert die Erwähnung der Gleichstellung der Boier und der Häduer schon im ersten Buch (c. 28), während doch die Boier noch im siebenten (c. 10) als zinspflichtige Untertanen der Häduer vorkommen und offenbar erst wegen ihres Verhaltens und desjenigen der Häduer in dem Kriege gegen Vercingetorix gleiches Recht mit ihren bisherigen Herren erhielten. Andererseits wird, wer die Geschichte der Zeit aufmerksam verfolgt, in der Äußerung über die Milonische Krise (7, 6) den Beweis finden, daß die Schrift vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges publiziert ward; nicht weil Pompeius hier gelobt wird, sondern weil Caesar daselbst die Ausnahmegesetze vom Jahr 702 (52) billigt. Dies konnte und mußte er tun, solange er ein friedliches Abkommen mit Pompeius herbeizuführen suchte, nicht aber nach dem Bruch, wo er die aufgrund jener für ihn verletzenden Gesetze erfolgten Verurteilungen umstieß. Darum ist die Veröffentlichung dieser Schrift mit vollem Recht in das Jahr 703 (51) gesetzt worden.
  35. Die Tendenz der Schrift erkennt man am deutlichsten in der beständigen, oft, am entschiedensten wohl bei der aquitanischen Expedition, nicht glücklichen Motivierung jedes einzelnen Kriegsakts als einer nach Lage der Dinge unvermeidlichen Defensivmaßregel. Daß die Gegner Caesars Angriffe auf die Kelten und Deutschen vor allem als unprovoziert tadelten, ist bekannt (Suet. Caes. 24).
  36. Ein merkwürdiges Exempel ist in der Schrift von der Landwirtschaft die allgemeine Auseinandersetzung über das Vieh (2, 1), mit den neunmal neun Unterabteilungen der Viehzuchtlehre, mit der „unglaublichen“ aber „wahren“ Tatsache, daß die Stuten bei Olisipo (Lissabon) vom Winde befruchtet werden, überhaupt mit ihrem sonderbaren Gemenge philosophischer, historischer und landwirtschaftlicher Notizen.
  37. So leitet Varro facere her von facies, weil wer etwas macht, der Sache ein Ansehn gibt, volpes, den Fuchs, nach Stilo von volare pedibus als den Fliegefuß; Gaius Trebatius, ein philosophischer Jurist dieser Zeit, sacellum von sacra cella; Figulus frater von fere alter und so weiter. Dies Treiben, das nicht etwa vereinzelt, sondern als Hauptelement der philologischen Literatur dieser Zeit erscheint hat die größte Ähnlichkeit mit der Weise, wie man bis vor kurzem Sprachvergleichung trieb, ehe die Einsicht in den Sprachenorganismus hier den Empirikern das Handwerk legte.
  38. Dergleichen „griechische Spiele“ waren nicht bloß in den griechischen Städten Italiens, namentlich in Neapel (Cic. Arch. 5, 10; Plut. Brut. 21), sondern jetzt schon auch in Rom sehr häufig (Cic. ad. fam. 7, 1, 3; Att. 16, 5, 1; Suet. Caes. 39; Plut. Brut. 21). Wenn die bekannte Grabschrift der vierzehnjährigen Licinia Eucharis, die wahrscheinlich dem Ende dieser Epoche angehört, dieses „wohlunterrichtete und in allen Künsten von den Musen selbst unterwiesene Mädchen“, in den Privatvorstellungen der vornehmen Häuser als Tänzerin glänzen und öffentlich zuerst auf der griechischen Schaubühne auftreten läßt (modo nobilium ludos decoravi choro, Et Graeca in scaena prima populo apparui), so kann dies wohl nur heißen, daß sie das erste Mädchen war, das auf der öffentlichen griechischen Schaubühne in Rom erschien, wie denn überhaupt erst in dieser Epoche die Frauenzimmer in Rom anfingen, öffentlich aufzutreten.
  39. Diese „griechischen Spielen in Rom scheinen nicht eigentlich szenische gewesen zu sein, sondern vielmehr zu der Gattung der zusammengesetzten, zunächst musikalisch-deklamatorischen Aufführungen gehört zu haben, wie sie auch in Griechenland in späterer Zeit nicht selten vorkamen (F. G. Welcker, Die griechischen Tragödien. Bonn 1839-41, S. 1277). Dahin führt das Hervortreten des Flötenspiels bei Polybios (30, 13) des Tanzes in dem Berichte Suetons über die bei Caesars Spielen aufgeführten kleinasiatischen Waffentänze und in der Grabschrift der Eucharis; auch die Beschreibung des Kitharöden Her. Rhet. 4, 47, 60 (vgl. Vitr. 5, 7) wird solchen „griechischen Spielen“ entnommen sein. Bezeichnend ist noch die Verbindung dieser Vorstellungen in Rom mit griechischen Athletenkämpfen (Polyb. a. a. O.; Liv. 39, 22). Dramatische Rezitationen waren von diesen Mischspielen keineswegs ausgeschlossen, wie denn unter den Spielern, die Lucius Anicius 587 (167) in Rom auftreten ließ, ausdrücklich Tragödien miterwähnt werden; aber es wurden doch dabei nicht eigentlich Schauspiele aufgeführt, sondern vielmehr von einzelnen Künstlern entweder ganze Dramen oder wohl noch häufiger Stücke daraus deklamierend oder singend zur Flöte vorgetragen. Das wird denn auch in Rom vorgekommen sein; aber allem Anschein nach war für das römische Publikum die Hauptsache bei diesen griechischen Spielen Musik und Tanz, und die Texte mögen für sie wenig mehr bedeutet haben als heutzutage die der italienischen Oper für die Londoner und Pariser. Jene zusammengesetzten Spiele mit ihrem wüsten Potpourri eigneten sich auch weit besser für das römische Publikum und namentlich für die Aufführungen in Privathäusern als eigentlich szenische Aufführungen in griechischer Sprache; daß auch die letzteren in Rom vorgekommen sind, läßt sich nicht widerlegen, aber auch nicht beweisen.