12. Kapitel

Nationalität, Religion, Erziehung

In dem großen Kampfe der Nationalitäten innerhalb des weiten Umfangs des Römischen Reiches erscheinen die sekundären Nationen in dieser Zeit im Zurückweichen oder im Verschwinden. Die bedeutendste unter allen, die phönikische, empfing durch die Zerstörung Karthagos die Todeswunde, an der sie sich langsam verblutet hat. Die Landschaften Italiens, die ihre alte Sprache und Sitte bis dahin noch gewahrt hatten, Etrurien und Samnium, wurden nicht bloß von den schwersten Schlägen der Sullanischen Reaktion getroffen, sondern die politische Nivellierung Italiens nötigte ihnen auch im öffentlichen Verkehr die lateinische Sprache und Weise auf und drückte die alten Landessprachen herab zu rasch verkümmernden Volksdialekten. Nirgendmehr erscheint im ganzen Umfange des römischen Staates eine Nationalität als befugt, mit der römischen und der griechischen auch nur zu ringen. Dagegen ist extensiv wie intensiv die latinische Nationalität im entschiedensten Aufschwung. Wie seit dem Bundesgenossenkrieg jedes italische Grundstück jedem Italiker zu vollem römischen Eigen zustehen, jeder italische Tempelgott römische Gabe empfangen kann, wie in ganz Italien mit Ausnahme der transpadanischen Landschaft seitdem das römische Recht mit Beseitigung aller anderen Stadt- und Landrechte ausschließlich gilt: so ist damals die römische Sprache auch die allgemeine Geschäfts- und bald gleichfalls die allgemeine Sprache des gebildeten Verkehrs auf der ganzen Halbinsel von den Alpen bis zur Meerenge geworden. Aber sie beschränkte sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in Italien zusammenströmende Kapitalmasse, der Reichtum seiner Produkte, die Intelligenz seiner Landwirte, die Gewandtheit seiner Kaufleute fand keinen hinreichenden Spielraum auf der Halbinsel; hierdurch und durch den öffentlichen Dienst wurden die Italiker massenweise in die Provinzen geführt. Ihre privilegierte Stellung daselbst privilegierte auch die römische Sprache und das römische Recht, selbst wo nicht bloß Römer miteinander verkehrten; überall standen die Italiker zusammen als festgeschlossene und organisierte Massen, die Soldaten in ihren Legionen, die Kaufleute jeder größeren Stadt als eigene Korporationen, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtssprengel domizilierten oder verweilenden römischen Bürger als „Kreise“ (conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschworenenliste und gewissermaßen mit Gemeindeverfassung; und wenn auch diese provinzialen Römer regelmäßig früher oder später nach Italien zurückgingen, so bildete sich dennoch allmählich aus ihnen der Stamm einer festen, teils römischen, teils an die römische sich anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Daß in Spanien, wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia 583 (171), Valentia 616 (133), später Palma und Pollentia organisiert worden sind, ward bereits erwähnt. Wenn das Binnenland noch wenig zivilisiert war, das Gebiet der Vaccäer zum Beispiel noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten und widerwärtigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker genannt wird, so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, daß schon um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch war. In bewußter Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den Gedanken, die Provinzen des römischen Staats durch die italische Emigration zu kolonisieren, das heißt zu romanisieren, und legte Hand an die Ausführung desselben; und obgleich die konservative Opposition gegen den kühnen Entwurf sich auflehnte, die gemachten Anfänge größtenteils zerstörte und die Fortführung hemmte, so blieb doch die Kolonie Narbo erhalten, schon an sich eine bedeutende Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines großen Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues. Der antike Gallizismus, ja das heutige Franzosentum sind von dort ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen des Gaius Gracchus. Aber die latinische Nationalität erfüllte nicht bloß die italischen Grenzen und fing an sie zu überschreiten, sondern sie gelangte auch in sich zu tieferer geistiger Begründung. Wir finden sie im Zuge, eine klassische Literatur, einen eigenen höheren Unterricht sich zu schaffen; und wenn man im Vergleich mit den hellenischen Klassikern und der hellenischen Bildung sich versucht fühlen kann, die schwächliche italische Treibhausproduktion gering zu achten, so kam es doch für die geschichtliche Entwicklung zunächst weit weniger darauf an, wie die lateinische klassische Literatur und die lateinische Bildung, als darauf, daß sie neben der griechischen stand; und herabgekommen wie die gleichzeitigen Hellenen auch literarisch waren, durfte man wohl das Wort des Dichters auch hier anwenden, daß der lebendige Tagelöhner mehr ist als der tote Achill.

Wie rasch und ungestüm aber die lateinische Sprache und Nationalität vorwärts dringt, sie erkennt zugleich die hellenische an als durchaus gleich, ja früher und besser berechtigt und tritt mit dieser überall in das engste Bündnis oder durchdringt sich mit ihr zu gemeinschaftlicher Entwicklung. Die italische Revolution, die sonst alle nichtlatinischen Nationalitäten auf der Halbinsel nivellierte, rührte nicht an die Griechenstädte Tarent, Rhegion, Neapolis, Lokri. Ebenso blieb Massalia, obwohl jetzt umschlossen von römischem Gebiet, fortwährend eine griechische Stadt und eben als solche fest verbunden mit Rom. Mit der vollständigen Latinisierung Italiens ging die steigende Hellenisierung Hand in Hand. In den höheren Schichten der italischen Gesellschaft wurde die griechische Bildung zum integrierenden Bestandteil der eigenen. Der Konsul des Jahres 623 (131), der Oberpontifex Publius Crassus, erregte des Staunen selbst der geborenen Griechen, da er als Statthalter von Asia seine gerichtlichen Entscheidungen, wie der Fall es erforderte, bald in gewöhnlichem Griechisch abgab, bald in einem der vier zu Schriftsprachen gewordenen Dialekte. Und wenn die italische Literatur und Kunst längst unverwandt nach Osten blickten, so begann jetzt auch die hellenische das Antlitz nach Westen zu wenden. Nicht bloß die griechischen Städte in Italien blieben fortwährend zu regem geistigen Verkehr mit Griechenland, Kleinasien, Ägypten und gönnten den dort gefeierten griechischen Poeten und Schauspielern auch bei sich den gleichen Verdienst und die gleichen Ehren; auch in Rom kamen, nach dem von dem Zerstörer Korinths bei seinem Triumph 608 (146) gegebenen Beispiel, die gymnastischen und musischen Spiele der Griechen: Wettkämpfe im Ringen sowie im Musizieren, Spielen, Rezitieren und Deklamieren in Aufnahme114. Die griechischen Literaten schlugen schon ihre Fäden bis in die vornehme römische Gesellschaft, vor allem in den Scipionischen Kreis, dessen hervorragende griechische Mitglieder, der Geschichtschreiber Polybios, der Philosoph Panätios, bereits mehr der römischen als der griechischen Entwicklungsgeschichte angehören. Aber auch in anderen, minderhochstehenden Zirkeln begegnen ähnliche Beziehungen. Wir gedenken eines anderen Zeitgenossen Scipios, des Philosophen Kleitomachos, weil in seinem Leben zugleich die gewaltige Völkermischung dieser Zeit sinnlich vor das Auge tritt: ein geborener Karthager, sodann in Athen Zuhörer des Karneades und später dessen Nachfolger in seiner Professur, verkehrte er von Athen aus mit den gebildetsten Männern Italiens, dem Historiker Aulus Albinus und dem Dichter Lucilius, und widmete teils dem römischen Konsul, der die Belagerung Karthagos eröffnete, Lucius Censorinus, ein wissenschaftliches Werk, teils seinen als Sklaven nach Italien geführten Mitbürgern eine philosophische Trostschrift. Hatten namhafte griechische Literaten bisher wohl vorübergehend als Gesandte, Verbannte oder sonstwie ihren Aufenthalt in Rom genommen, so fingen sie jetzt schon an, dort sich niederzulassen; wie zum Beispiel der schon genannte Panätios in Scipios Hause lebte, und der Hexametermacher Archias von Antiocheia im Jahre 652 (102) sich in Rom niederließ und von der Improvisierkunst und von Heldengedichten auf römische Konsulare sich anständig ernährte. Sogar Gaius Marius, der schwerlich von seinem Carmen eine Zeile verstand und überhaupt zum Mäzen möglichst übel sich schickte, konnte nicht umhin, den Verskünstler zu patronisieren. Während also das geistige und literarische Leben wenn nicht die reineren, doch die vornehmeren Elemente der beiden Nationen miteinander in Verbindung brachte, flossen andererseits durch das massenhafte Eindringen der kleinasiatischen und syrischen Sklavenscharen und durch die kaufmännische Einwanderung aus dem griechischen und halbgriechischen Osten die rohesten und stark mit orientalischen und überhaupt barbarischen Bestandteilen versetzten Schichten des Hellenismus zusammen mit dem italischen Proletariat und gaben auch diesem eine hellenische Färbung. Die Bemerkung Ciceros, daß neue Sprache und neue Weise zuerst in den Seestädten aufkommt, dürfte zunächst auf das halbhellenische Wesen in Ostia, Puteoli und Brundisium sich beziehen, wo mit der fremden Ware auch die fremde Sitte zuerst Eingang und von da aus weiteren Vertrieb fand.

Das unmittelbare Resultat dieser vollständigen Revolution in den Nationalitätsverhältnissen war allerdings nichts weniger als erfreulich. Italien wimmelte von Griechen, Syrern, Phönikern, Juden, Ägyptern, die Provinzen von Römern; die scharf ausgeprägten Volkstümlichkeiten rieben sich überall aneinander und verschliffen sich zusehends; es schien nichts übrigbleiben zu sollen als der allgemeine Charakter der Vernutzung. Was das lateinische Wesen an Ausdehnung gewann, verlor es an Frische; vor allem in Rom selbst, wo der Mittelstand am frühesten und vollständigsten verschwand und nichts übrig blieb als die großen Herren und die Bettler, beide in gleichem Maße Kosmopoliten. Cicero versichert, daß um 660 (190) die allgemeine Bildung in den launischen Städten höher gestanden habe als in Rom; dies bestätigt die Literatur dieser Zeit, deren erfreulichste, gesundeste und eigentümlichste Erzeugnisse, wie die nationale Komödie und die Lucilische Satire, mit größerem Recht latinisch heißen als römisch. Daß der italische Hellenismus der unteren Schichten in der Tat nichts war als ein zugleich mit allen Auswüchsen der Kultur und mit oberflächlich übertünchter Barbarei behafteter widerwärtiger Kosmopolitismus, versteht sich von selbst; aber auch für die bessere Gesellschaft blieb der feine Sinn des Scipionischen Kreises nicht auf die Dauer maßgebend. Je mehr die Masse der Gesellschaft anfing, sich für das griechische Wesen zu interessieren, desto entschiedener griff sie statt zu der klassischen Literatur vielmehr zu den modernsten und frivolsten Erzeugnissen des griechischen Geistes; statt im hellenischen Sinn das römische Wesen zu gestalten, begnügte man sich mit Entlehnung desjenigen Zeitvertreibs, der den eigenen Geist möglichst wenig in Tätigkeit setzte. In diesem Sinn äußerte der arpinatische Gutsbesitzer Marcus Cicero, der Vater des Redners, daß der Römer, wie der syrische Sklave, immer um so weniger tauge, je mehr er griechisch verstehe.

Diese nationale Dekomposition ist unerquicklich wie die ganze Zeit, aber auch wie diese bedeutsam und folgenreich. Der Völkerkreis, den wir die alte Welt zu nennen gewohnt sind, schreitet fort von der äußerlichen Einigung unter der Machtgewalt Roms zu der inneren unter der Herrschaft der modernen, wesentlich auf hellenischen Elementen ruhenden Bildung. Über den Trümmern der Völkerschaften zweiten Ranges vollzieht sich zwischen den beiden herrschenden Nationen stillschweigend der große geschichtliche Kompromiß; die griechische und die lateinische Nationalität schließen miteinander Frieden. Auf dem Gebiete der Bildung verzichten die Griechen, auf dem politischen die Römer auf ihre exklusive Sprachherrschaft; im Unterricht wird dem Latein eine freilich beschränkte und unvollständige Gleichstellung mit dem Griechischen eingeräumt; andererseits gestattet zuerst Sulla den fremden Gesandten, vor dem römischen Senat ohne Dolmetscher griechisch zu reden. Die Zeit kündigt sich an, wo das römische Gemeinwesen in einen zwiesprachigen Staat übergehen und der rechte Erbe des Thrones und der Gedanken Alexanders des Großen im Westen aufstehen wird, zugleich ein Römer und ein Grieche.

Was schon der Überblick der nationalen Verhältnisse also zeigt, die Unterdrückung der sekundären und die gegenseitige Durchdringung der beiden primären Nationalitäten, das ist im Gebiete der Religion, der Volkserziehung, der Literatur und der Kunst noch im einzelnen genauer darzulegen.

Die römische Religion war mit dem römischen Gemeinwesen und dem römischen Haushalt so innig verwachsen, so gar nichts anderes als die fromme Widerspiegelung der römischen Bürgerwelt, daß die politische und soziale Revolution notwendigerweise auch das Religionsgebäude über den Haufen warf. Der alte italische Volksglaube stürzt zusammen; über seinen Trümmern erheben sich, wie über den Trümmern des politischen Gemeinwesens Oligarchie und Tyrannis, so auf der einen Seite der Unglaube, die Staatsreligion, der Hellenismus, auf der anderen der Aberglaube, das Sektenwesen, die Religion der Orientalen. Allerdings gehen die Anfänge von beiden, wie ja auch die Anfänge der politisch-sozialen Revolution, bereits in die vorige Epoche zurück. Schon damals rüttelte die hellenische Bildung der höheren Kreise im stillen an dem Glauben der Väter; schon Ennius bürgerte die Allegorisierung und Historisierung der hellenischen Religion in Italien ein; schon der Senat, der Hannibal bezwang, mußte die Übersiedlung des kleinasiatischen Kybelekults nach Rom gutheißen und gegen anderen noch schlimmeren Aberglauben, namentlich das bakchische Muckertum, aufs ernstlichste einschreiten. Indes wie überhaupt in der vorhergehenden Periode die Revolution mehr in den Gemütern sich vorbereitete als äußerlich sich vollzog, so ist auch die religiöse Umwälzung im wesentlichen dort erst das Werk der gracchischen und sullanischen Zeit.

Versuchen wir zunächst die an den Hellenismus sich anlehnende Richtung zu verfolgen. Die hellenische Nation, weit früher als die italische erblüht und abgeblüht, hatte längst die Epoche des Glaubens durchmessen und seitdem sich ausschließlich bewegt auf dem Gebiet der Spekulation und Reflexion; seit langem gab es dort keine Religion mehr, sondern nur noch Philosophie. Aber auch die philosophische Tätigkeit des hellenischen Geistes hatte, als sie auf Rom zu wirken begann, die Epoche der produktiven Spekulation bereits weit hinter sich und war in dem Stadium angekommen, wo nicht bloß keine wahrhaft neuen Systeme mehr entstehen, sondern wo auch die Fassungskraft für die vollkommensten der älteren zu schwinden beginnt und man auf die schulmäßige und bald scholastische Überlieferung der unvollkommneren Philosopheme der Vorfahren sich beschränkt; in dem Stadium also, wo die Philosophie, statt den Geist zu vertiefen und zu befreien, vielmehr ihn verflacht und ihn in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten, schlägt. Der Zaubertrank der Spekulation, immer gefährlich, ist, verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und verwässert reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern, und diese verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den lebenden Schulmeistern auf die toten Meister zurückzugehen. Platon und Aristoteles, um von den vorsokratischen Weisen zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluß auf die römische Bildung geblieben, wenngleich die erlauchten Namen gern genannt, ihre faßlicheren Schriften auch wohl gelesen und übersetzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Außer der historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die Mythen auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer Vorzeit lebender Wohltäter des Menschengeschlechtes, aus denen der Aberglaube Götter gemacht habe, oder dem sogenannten Euhemerismus, sind hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros († 484 270) und des Zenon († 491 263) und die skeptische des Arkesilas († 513 241) und Karneades (541-625 231-129) oder mit den Schulnamen der Epikureismus, die Stoa und die Neuere Akademie. Die letzte dieser Richtungen, welche von der Unmöglichkeit des überzeugten Wissens ausging und an dessen Stelle nur ein für das praktische Bedürfnis ausreichendes vorläufiges Meinen als möglich zugab, bewegte sich hauptsächlich polemisch, indem sie jeden Satz des positiven Glaubens wie des philosophischen Dogmatismus in den Schlingen ihrer Dilemmen fing. Sie steht insofern ungefähr auf einer Linie mit der älteren Sophistik, nur daß begreiflicherweise die Sophisten mehr gegen den Volksglauben, Karneades und die Seinen mehr gegen ihre philosophischen Kollegen ankämpften. Dagegen trafen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer rationellen Erklärung des Wesens der Dinge als auch in der physiologischen, von dem Begriff der Materie ausgehenden Methode. Auseinander gingen sie, insofern Epikuros, der Atomenlehre Demokrits folgend, das Urwesen als starre Materie faßt und diese nur durch mechanische Verschiedenheiten in die Mannigfaltigkeit der Dinge überführt, Zenon dagegen, sich anlehnend an den Ephesier Herakleitos, schon in den Urstoff eine dynamische Gegensätzlichkeit und eine auf- und niederwogende Bewegung hineinlegt; woraus denn die weiteren Unterschiede sich ableiten: daß im epikureischen System die Götter gleichsam nicht vorhanden und höchstens der Traum der Träume sind, die stoischen Götter die ewig rege Seele der Welt und als Geist, als Sonne, als Gott mächtig über den Körper, die Erde, die Natur; daß Epikuros nicht, wohl aber Zenon eine Weltregierung und eine persönliche Unsterblichkeit der Seele anerkennt; daß das Ziel des menschlichen Strebens nach Epikuros ist das unbedingte, weder von körperlichem Begehren noch von geistigem Streiten aufgeregte Gleichgewicht, dagegen nach Zenon die durch das stetige Gegeneinanderstreben des Geistes und Körpers immer gesteigerte und zu dem Einklang mit der ewig streitenden und ewig friedlichen Natur aufstrebende menschliche Tätigkeit. In einem Punkte aber stimmten der Religion gegenüber alle diese Schulen zusammen: daß der Glaube als solcher nichts sei und notwendig ersetzt werden müsse durch die Reflexion, mochte diese übrigens mit Bewußtsein darauf verzichten, zu einem Resultat zu gelangen, wie die Akademie, oder die Vorstellungen des Volksglaubens verwerfen, wie die Schule Epikurs, oder dieselben teils motiviert festhalten, teils modifizieren, wie die Stoiker taten.

Es war danach nur folgerichtig, daß die erste Berührung der hellenischen Philosophie mit der römischen, ebenso glaubensfesten als antispekulativen Nation durchaus feindlicher Art war. Die römische Religion hatte vollkommen recht, von diesen philosophischen Systemen sowohl die Befehdung wie die Begründung sich zu verbitten, die beide ihr eigentliches Wesen aufhoben. Der römische Staat, der in der Religion instinktmäßig sich selber angegriffen fühlte, verhielt sich billig gegen die Philosophen wie die Festung gegen die Eclaireurs der anrückenden Belagerungsarmee und wies schon 593 (161) mit den Rhetoren auch die griechischen Philosophen aus Rom aus. In der Tat war auch gleich das erste größere Debüt der Philosophie in Rom eine förmliche Kriegserklärung gegen Glaube und Sitte. Es ward veranlaßt durch die Okkupation von Oropos durch die Athener, mit deren Rechtfertigung vor dem Senat diese drei der angesehensten Professoren der Philosophie, darunter den Meister der modernen Sophistik, Karneades, beauftragten (599 155). Die Wahl war insofern zweckmäßig, als der ganz schandbare Handel jeder Rechtfertigung im gewöhnlichen Verstand spottete; dagegen paßte es vollkommen für den Fall, wenn Karneades durch Rede und Gegenrede bewies, daß sich gerade ebenso viele und ebenso nachdrückliche Gründe zum Lobe der Ungerechtigkeit vorbringen ließen wie zum Lobe der Gerechtigkeit, und wenn er in bester logischer Form dartat, daß man mit gleichem Recht von den Athenern verlangen könne, Oropos herauszugeben und von den Römern, sich wieder zu beschränken auf ihre alten Strohhütten am Palatin. Die der griechischen Sprache mächtige Jugend ward durch den Skandal wie durch den raschen und emphatischen Vortrag des gefeierten Mannes scharenweise herbeigezogen; aber diesmal wenigstens konnte man Cato nicht unrecht geben, wenn er nicht bloß die dialektischen Gedankenreihen der Philosophen unhöflich genug mit den langweiligen Psalmodien der Klageweiber verglich, sondern auch im Senat darauf drang, einen Menschen auszuweisen, der die Kunst verstand, Recht zu Unrecht und Unrecht zu Recht zu machen, und dessen Verteidigung in der Tat nichts war als ein schamloses und fast höhnisches Eingeständnis des Unrechts. Indes dergleichen Ausweisungen reichten nicht weit, um so weniger, da es doch der römischen Jugend nicht verwehrt werden konnte, in Rhodos oder Athen philosophische Vorträge zu hören. Man gewöhnte sich, die Philosophie zuerst wenigstens als notwendiges Übel zu dulden, bald auch für die in ihrer Naivität nicht mehr haltbare römische Religion in der fremden Weisheitslehre eine Stütze zu suchen, die als Glauben zwar sie ruinierte, aber dafür doch dem gebildeten Mann gestattete, die Namen und Formen des Volksglaubens anständigerweise einigermaßen festzuhalten. Indes diese Stütze konnte weder der Euhemerismus sein noch das System des Karneades oder des Epikuros. Die Mythenhistorisierung trat dem Volksglauben allzu schroff entgegen, indem sie die Götter geradezu für Menschen erklärte; Karneades zog gar ihre Existenz in Zweifel, und Epikuros sprach ihnen wenigstens jeden Einfluß auf die Geschicke der Menschen ab. Zwischen diesen Systemen und der römischen Religion war ein Bündnis unmöglich; sie waren und blieben verfemt. Noch in Ciceros Schriften wird es für Bürgerpflicht erklärt, dem Euhemerismus Widerstand zu leisten, der dem Gottesdienst zu nahe trete; und von den in seinen Gesprächen auftretenden Akademikern und Epikureern muß jener sich entschuldigen, daß er als Philosoph zwar ein Jünger des Karneades, aber als Bürger und Pontifex ein rechtgläubiger Bekenner des Kapitolinischen Jupiter sei, der Epikureer sogar schließlich sich gefangen geben und sich bekehren. Keines dieser drei Systeme ward eigentlich populär. Die platte Begreiflichkeit des Euhemerismus hat wohl eine gewisse Anziehungskraft auf die Römer geübt, namentlich auf die konventionelle Geschichte Roms nur zu tief eingewirkt mit ihrer zugleich kindischen und altersschwachen Historisierung der Fabel; auf die römische Religion aber blieb er deshalb ohne wesentlichen Einfluß, weil diese von Haus aus nur allegorisierte, nicht fabulierte und es dort nicht wie in Hellas möglich war, Biographien Zeus des ersten, zweiten und dritten zu schreiben. Die moderne Sophistik konnte nur gedeihen, wo, wie in Athen, die geistreiche Maulfertigkeit zu Hause war und überdies die langen Reihen gekommener und gegangener philosophischer Systeme hohe Schuttlagen geistiger Brandstätten aufgeschichtet hatten. Gegen den Epikurischen Quietismus endlich lehnte alles sich auf, was in dem römischen, so durchaus auf Tätigkeit gerichteten Wesen tüchtig und brav war. Dennoch fand er mehr sein Publikum als der Euhemerismus und die Sophistik, und es ist wahrscheinlich dies die Ursache, weshalb die Polizei fortgefahren hat, ihm am längsten und ernstlichsten den Krieg zu machen. Indes dieser römische Epikureismus war nicht so sehr ein philosophisches System als eine Art philosophischen Dominos, unter dem – sehr gegen die Absicht seines streng sittlichen Urhebers – der gedankenlose Sinnesgenuß für die gute Gesellschaft sich maskierte; wie denn einer der frühesten Bekenner dieser Sekte, Titus Albucius, in Lucilius‘ Gedichten figuriert als der Prototyp des übel hellenisierenden Römers.

Gar anders stand und wirkte in Italien die stoische Philosophie. Im geraden Gegensatz gegen jene Richtungen schloß sie an die Landesreligion so eng sich an, wie das Wissen sich dem Glauben zu akkommodieren überhaupt nur vermag. An dem Volksglauben mit seinen Göttern und Orakeln hielt der Stoiker insofern grundsätzlich fest, als er darin eine instinktive Erkenntnis sah, auf welche die wissenschaftliche Rücksicht zu nehmen, ja in zweifelhaften Fällen sich ihr unterzuordnen verpflichtet sei. Er glaubte mehr anders als das Volk als eigentlich anderes: der wesentlich wahre und höchste Gott zwar war ihm die Weltseele, aber auch jede Manifestation des Urgottes war wiederum Gott, die Gestirne vor allem, aber auch die Erde, der Weinstock, die Seele des hohen Sterblichen, den das Volk als Heros ehrte, ja überhaupt jeder abgeschiedene Geist eines gewordenen Menschen. Diese Philosophie paßte in der Tat besser nach Rom als in die eigene Heimat. Der Tadel des frommen Gläubigen, daß der Gott des Stoikers weder Geschlecht noch Alter noch Körperlichkeit habe und aus einer Person in einen Begriff verwandelt sei, hatte in Griechenland einen Sinn, nicht aber in Rom. Die grobe Allegorisierung und sittliche Purifizierung, wie sie der stoischen Götterlehre eigen war, verdarb den besten Kern der hellenischen Mythologie; aber die auch in ihrer naiven Zeit dürftige plastische Kraft der Römer hatte nicht mehr erzeugt als eine leichte, ohne sonderlichen Schaden abzustreifende Umhüllung der ursprünglichen Anschauung oder des ursprünglichen Begriffes, woraus die Gottheit hervorgegangen war. Pallas Athene mochte zürnen, wenn sie sich plötzlich in den Begriff des Gedächtnisses verwandelt fand; Minerva war auch bisher eben nicht viel mehr gewesen. Die supranaturalische stoische und die allegorische römische Theologie fielen in ihrem Ergebnis im ganzen zusammen. Selbst aber wenn der Philosoph einzelne Sätze der Priesterlehre als zweifelhaft oder als falsch bezeichnen mußte, wie denn zum Beispiel die Stoiker, die Vergötterungslehre verwerfend, in Hercules, Kastor, Pollux nichts als die Geister ausgezeichneter Menschen sahen, und ebenso das Götterbild nicht als Repräsentanten der Gottheit gelten lassen konnten, so war es wenigstens nicht die Art der Anhänger Zenons, gegen diese Irrlehren anzukämpfen und die falschen Götter zu stürzen; vielmehr bewiesen sie überall der Landesreligion Rücksicht und Ehrfurcht, auch in ihren Schwächen. Auch die Richtung der Stoa auf eine kasuistische Moral und auf die rationelle Behandlung der Fachwissenschaften war ganz im Sinne der Römer, zumal der Römer dieser Zeit, welche nicht mehr wie die Väter in unbefangener Weise Zucht und gute Sitte übten, sondern deren naive Sittlichkeit auflösten in einen Katechismus erlaubter und unerlaubter Handlungen; deren Grammatik und Jurisprudenz überdies dringend eine methodische Behandlung erheischten, ohne jedoch die Fähigkeit zu besitzen, diese aus sich selber zu entwickeln. So inkorporierte diese Philosophie als ein zwar dem Ausland entlehntes, aber auf italischem Boden akklimatisiertes Gewächs sich durchaus dem römischen Volkshaushalt, und wir begegnen ihren Spuren auf den verschiedenartigsten Gebieten. Ihre Anfänge reichen ohne Zweifel weiter zurück; aber zur vollen Geltung in den höheren Schichten der römischen Gesellschaft gelangte die Stoa zuerst durch den Kreis, der sich um Scipio Aemilianus gruppierte. Panätios von Rhodos, der Lehrmeister Scipios und aller ihm nahestehender Männer in der stoischen Philosophie und beständig in seinem Gefolge, sogar auf Reisen sein gewöhnlicher Begleiter, verstand es, das System geistreichen Männern nahe zu bringen, dessen spekulative Seite zurücktreten zu lassen und die Dürre der Terminologie, die Flachheit des Moralkatechismus einigermaßen zu mildern, namentlich auch durch Herbeiziehung der älteren Philosophen, unter denen Scipio selbst den Xenophonteischen Sokrates vorzugsweise liebte. Seitdem bekannten zur Stoa sich die namhaftesten Staatsmänner und Gelehrten, unter anderen die Begründer der wissenschaftlichen Philologie und der wissenschaftlichen Jurisprudenz, Stilo und Quintus Scaevola. Der schulmäßige Schematismus, der in diesen Fachwissenschaften seitdem wenigstens äußerlich herrscht und namentlich anknüpft an eine wunderliche, scharadenhaft geistlose Etymologisiermethode, stammt aus der Stoa. Aber unendlich wichtiger ist die aus der Verschmelzung der stoischen Philosophie und der römischen Religion hervorgehende neue Staatsphilosophie und Staatsreligion. Das spekulative Element, von Haus aus in dem Zenonischen System wenig energisch ausgeprägt und schon weiter abgeschwächt, als dasselbe in Rom Eingang fand, nachdem bereits ein Jahrhundert hindurch die griechischen Schulmeister sich beflissen hatten, diese Philosophie in die Knabenköpfe hinein und damit den Geist aus ihr hinauszutreiben, trat völlig zurück in Rom, wo niemand spekulierte als der Wechsler; es war wenig mehr die Rede von der idealen Entwicklung des in der Seele des Menschen waltenden Gottes oder göttlichen Weltgesetzes. Die stoischen Philosophen zeigten sich nicht unempfänglich für die recht einträgliche Auszeichnung, ihr System zur halboffiziellen römischen Staatsphilosophie erhoben zu sehen, und erwiesen sich überhaupt geschmeidiger, als man es nach ihren rigorosen Prinzipien hätte erwarten sollen. Ihre Lehre von den Göttern und vom Staat zeigte bald eine seltsame Familienähnlichkeit mit den realen Institutionen ihrer Brotherren; statt über den kosmopolitischen Philosophenstaat stellten sie Betrachtungen an über die weise Ordnung des römischen Beamtenwesens; und wenn die feineren Stoiker, wie Panätios, die göttliche Offenbarung durch Wunder und Zeichen als denkbar, aber ungewiß dahingestellt, die Sterndeuterei nun gar entschieden verworfen hatten, so verfochten schon seine nächsten Nachfolger jene Offenbarungslehre, das heißt die römische Auguraldisziplin, so steif und fest wie jeden anderen Schulsatz und machten sogar der Astrologie höchst unphilosophische Zugeständnisse. Das Hauptstück des Systems ward immer mehr die kasuistische Pflichtenlehre. Sie kam dem hohlen Tugendstolz entgegen, bei welchem die Römer dieser Zeit in der vielfach demütigenden Berührung mit den Griechen Entschädigung suchten, und formulierte den angemessenen Dogmatismus der Sittlichkeit, der, wie jede wohlerzogene Moral, mit herzerstarrender Rigorosität im ganzen die höflichste Nachsicht im einzelnen verbindet115. Ihre praktischen Resultate werden kaum viel höher anzuschlagen sein als daß, wie gesagt, in zwei oder drei vornehmen Häusern der Stoa zuliebe schlecht gegessen ward.

Dieser neuen Staatsphilosophie eng verwandt oder eigentlich ihre andere Seite ist die neue Staatsreligion, deren wesentliches Kennzeichen das bewußte Festhalten der als irrationell erkannten Sätze des Volksglaubens aus äußeren Zweckmäßigkeitsgründen ist. Schon einer der hervorragendsten Männer des Scipionischen Kreises, der Grieche Polybios, spricht es unverhohlen aus, daß das wunderliche und schwerfällige römische Religionszeremoniell einzig der Menge wegen erfunden sei, die, da die Vernunft nichts über sie vermöge, mit Zeichen und Wundern beherrscht werden müsse, während verständige Leute allerdings der Religion nicht bedürften. Ohne Zweifel teilten Polybios‘ römische Freunde im wesentlichen diese Gesinnung, wenn sie auch nicht in so kruder und so platter Weise Wissenschaft und Religion sich entgegensetzten. Weder Laelius noch Scipio Aemilianus können in der Auguraldisziplin, an die auch Polybios zunächst denkt, etwas anderes gesehen haben als eine politische Institution; doch war der Nationalsinn in ihnen zu mächtig und das Anstandsgefühl zu fein, als daß sie mit solchen bedenklichen Erörterungen öffentlich hätten auftreten mögen. Aber schon in der folgenden Generation trug der Oberpontifex Quintus Scaevola (Konsul 659 95; 3, 221; 336) wenigstens in seiner mündlichen Rechtsunterweisung unbedenklich die Sätze vor, daß es eine zweifache Religion gebe, eine verstandesmäßige philosophische und eine nichtverstandesmäßige traditionelle, daß jene sich nicht eigne zur Staatsreligion, da sie mancherlei enthalte, was dem Volk zu wissen unnütz oder sogar schädlich sei, daß demnach die überlieferte Staatsreligion bleiben müsse, wie sie sei. Nur eine weitere Entwicklung desselben Grundgedankens ist die Varronische Theologie, in der die römische Religion durchaus behandelt wird als ein Staatsinstitut. Der Staat, wird hier gelehrt, sei älter als die Götter des Staats, wie der Maler älter als das Gemälde; wenn es sich darum handelte, die Götter neu zu machen, würde man allerdings wohltun, sie zweckdienlicher und den Teilen der Weltseele prinzipmäßig entsprechender zu machen und zu benennen, auch die nur irrige Vorstellungen erweckenden Götterbilder116 und das verkehrte Opferwesen zu beseitigen; allein da diese Einrichtungen einmal beständen, so müsse jeder gute Bürger sie kennen und befolgen und dazu tun, daß der „gemeine Mann“ die Götter vielmehr höher achten als geringschätzen lerne. Daß der gemeine Mann, zu dessen Besten die Herren ihren Verstand gefangen gaben, diesen Glauben jetzt verschmähte und sein Heil anderswo suchte, versteht sich von selbst und wird weiterhin sich zeigen. So war denn die römische Hochkirche fertig, eine scheinheilige Priester- und Levitenschaft und eine glaubenslose Gemeinde. Je unverhohlener man die Landesreligion für eine politische Institution erklärte, desto entschiedener betrachteten die politischen Parteien das Gebiet der Staatskirche als Tummelplatz für Angriff und Verteidigung; was namentlich in immer steigendem Maße der Fall war mit der Auguralwissenschaft und mit den Wahlen zu den Priesterkollegien. Die alte und natürliche Übung, die Bürgerversammlung zu entlassen, wenn ein Gewitter heraufzog, hatte unter den Händen der römischen Augurn sich zu einem weitläufigen System verschiedener Himmelszeichen und daran sich knüpfender Verhaltungsregeln entwickelt; in den ersten Dezennien dieser Epoche ward sogar durch das Älische und das Fufische Gesetz geradezu verordnet, daß jede Volksversammlung auseinanderzugehen genötigt sei, wenn es einem höheren Beamten einfalle, nach Gewitterzeichen am Himmel zu schauen; und die römische Oligarchie war stolz auf den schlauen Gedanken, fortan durch eine einzige fromme Lüge jedem Volksbeschluß den Stempel der Nichtigkeit aufdrücken zu können. Umgekehrt lehnte die römische Opposition sich auf gegen die alte Übung, daß die vier höchsten Priesterkollegien bei entstehenden Vakanzen sich selber ergänzten, und forderte die Erstreckung der Volkswahl auch auf die Stellen selbst, wie sie für die Vorstandschaften dieser Kollegien schon früher eingeführt war. Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht, darüber sich zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Kassationsgründen politischer Akte auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angelegenheit ward ein Zankapfel der Parteien. Den ersten Sturm im Jahre 609 (145) schlug der Senat ab, wobei namentlich der Scipionische Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab. Aber im Jahre 650 (104) ging sodann der Vorschlag durch mit der früher schon bei der Wahl der Vorstände gemachten Beschränkungen zum Besten bedenklicher Gewissen, daß nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der kleinere Teil der Bezirke zu wählen habe. Dagegen stellte Sulla das Kooptationsrecht in vollem Umfang wieder her. Mit dieser Fürsorge der Konservativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich aufs beste, daß eben in den vornehmsten Kreisen mit derselben offen Spott getrieben ward. Die praktische Seite des römischen Priestertums war die priesterliche Küche; die Augural- und Pontifikalschmäuse waren gleichsam die offiziellen Silberblicke eines römischen Feinschmeckerlebens und manche derselben machten Epoche in der Geschichte der Gastronomie, wie zum Beispiel die Antrittsmahlzeit des Augurs Quintus Hortensius die Pfauenbraten aufgebracht hat. Sehr brauchbar ward auch die Religion befunden, um den Skandal pikanter zu machen. Es war ein Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren, zur Nachtzeit auf den Straßen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln. Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und Verhältnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein Verhältnis zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer. Bekannt ist der arge Handel des Jahres 640 (114), in welchem drei Vestalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Liebhaber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst vor dem Pontifikalkollegium und, da dies die Sache zu vertuschen suchte, vor einem durch eigenen Volksschluß eingesetzten außerordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen und sämtlich zum Tode verurteilt wurden. Solchen Skandal nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen war nichts einzuwenden, daß man die positive Religion im vertrauten Kreise albern fand: die Augurn konnten, wenn einer den andern fungieren sah, sich einander ins Gesicht lachen, unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb, wenn man die krasse Unverschämtheit der römischen Priester und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die offizielle Religion behandelt als ein hohles, nur für die politischen Maschinisten noch brauchbares Gerüste; in dieser Eigenschaft konnte es mit seinen zahllosen Winkeln und Falltüren, wie es fiel, jeder Partei dienen und hat einer jeden gedient. Zumeist sah allerdings die Oligarchie ihr Palladium in der Staatsreligion, vornehmlich in der Auguraldisziplin; aber auch die Gegenpartei machte keine prinzipielle Opposition gegen ein Institut, das nur noch ein Scheinleben hatte, sondern betrachtete dasselbe im ganzen als eine Schanze, die aus dem Besitz des Feindes in den eigenen übergehen könne.

Im scharfen Gegensatz gegen dies eben geschilderte Religionsgespenst stehen die verschiedenen fremden Kulte, welche diese Epoche hegte und pflegte und denen wenigstens eine sehr entschiedene Lebenskraft nicht abgesprochen werden kann. Sie begegnen überall, bei den vornehmen Damen und Herren wie in den Sklavenkreisen, bei dem General wie bei dem Lanzknecht, in Italien wie in den Provinzen. Es ist unglaublich, wie hoch hinauf dieser Aberglaube bereits reicht. Als im Kimbrischen Krieg eine syrische Prophetin Martha sich erbot, die Wege und Mittel zur Überwindung der Deutschen dem Senat an die Hand zu geben, wies dieser zwar sie mit Verachtung zurück; aber die römischen Damen und namentlich Marius‘ eigene Gemahlin expedierten sie dennoch nach dem Hauptquartier, wo der Gemahl sie bereitwillig aufnahm und mit sich herumführte, bis die Teutonen geschlagen waren. Die Führer der verschiedensten Parteien im Bürgerkrieg, Marias, Octavius, Sulla, trafen zusammen in dem Glauben an Zeichen und Orakel. Selbst der Senat maßte während desselben in den Wirren des Jahres 667 (87) sich dazu verstehen, den Faseleien einer verrückten Prophetin gemäß Anordnungen zu treffen. Für das Erstarren der römisch-hellenischen Religion, wie für das im Steigen begriffene Bedürfnis der Menge nach stärkeren religiösen Stimulantien ist es bezeichnend, daß der Aberglaube nicht mehr, wie in den Bakchenmysterien, anknüpft an die nationale Religion; selbst die etruskische Mystik ist bereits überflügelt; durchaus in erster Linie erscheinen die in den heißen Landschaften des Orients gezeitigten Kulte. Sehr viel hat dazu beigetragen das massenhafte Eindringen kleinasiatischer und syrischer Elemente in die Bevölkerung, teils durch die Sklaveneinfuhr, teils durch den gesteigerten Verkehr Italiens mit dem Osten. Die Macht dieser fremdländischen Religion tritt sehr scharf hervor in den Aufständen der sizilischen, größtenteils aus Syrien herstammenden Sklaven. Eunus spie Feuer, Athenion las in den Sternen; die von den Sklaven in diesen Kriegen geschleuderten Bleikugeln tragen großenteils Götternamen, neben Zeus und Artetuis besonders den der geheimnisvollen von Kreta nach Sizilien gewanderten und daselbst eifrig verehrten Mütter. Ähnlich wirkte der Handelsverkehr, namentlich seitdem die Waren von Berytos und Alexandreia direkt nach den italischen Häfen gingen: Ostia und Puteoli wurden die großen Stapelplätze wie für die syrischen Salben und die ägyptische Leinwand so auch für den Glauben des Ostens. Überall ist mit der Völker- auch die Religionsmengung beständig im Steigen. Von allen erlaubten Kulten war der populärste der der pessinuntischen Göttermutter, der mit seinem Eunuchenzölibat, mit den Schmäusen, der Musik, den Bettelprozessionen und dem ganzen sinnlichen Gepränge der Menge imponierte; die Hauskollekten wurden bereits als eine ökonomische Last empfunden. In der gefährlichsten Zeit des Kimbrischen Krieges erschien der Hohepriester Battakes von Pessinus in eigener Person in Rom, um die Interessen des dortigen, angeblich entweihten Tempels seiner Göttin zu vertreten, redete im besonderen Auftrag der Göttermutter zum römischen Volk und tat auch verschiedene Wunder. Die verständigen Leute ärgerten sich, aber die Weiber und die große Menge ließen es sich nicht nehmen, dem Propheten beim Abzug in hellen Haufen das Geleit zu geben. Gelübde, nach dem Osten zu wallfahrten, waren bereits nichts Seltenes mehr, wie denn selbst Marius also seine Pilgerfahrt nach Pessinus unternahm; ja es gaben schon (zuerst 653 101) römische Bürger sich zu dem Eunuchenpriestertum her. Aber weit populärer noch waren natürlich die unerlaubten und Geheimkulte. Schon zu Catos Zeit hatte der chaldäische Horoskopensteller angefangen, dem etruskischen Eingeweide-, dem marsischen Vogelschauer Konkurrenz zu machen; bald war die Sternguckerei und Sterndeuterei in Italien ebenso zu Hause wie in ihrem traumseligen Heimatland. Schon 615 (139) wies der römische Fremdenprätor die sämtlichen „Chaldäer“ an, binnen zehn Tagen Rom und Italien zu räumen. Dasselbe Schicksal traf gleichzeitig die Juden, welche zu ihrem Sabbat italische Proselyten zugelassen hatten. Ebenso hatte Scipio das Lager von Numantia von Wahrsagern und frommen Industrierittern jeder Art zu reinigen. Einige Jahrzehnte später (657 97) sah man sogar sich genötigt, die Menschenopfer zu verbieten. Der wilde Kult der kappadokischen Ma oder, wie die Römer sie nannten, der Bellona, welcher bei den festlichen Aufzügen die Priester das eigene Blut zum Opfer verspritzten, und die düstere ägyptische Götterverehrung beginnen sich zu melden; schon Sulla erschien jene Kappadokierin im Traume, und von den späteren römischen Isis- und Osirisgemeinden führten die ältesten ihre Entstehung bis in die sullanische Zeit zurück. Man war irre geworden, nicht bloß an dem alten Glauben, sondern auch an sich selbst; die entsetzlichsten Krisen einer fünfzigjährigen Revolution, das instinktmäßige Gefühl, daß der Bürgerkrieg noch keineswegs am Ende sei, steigerten die angstvolle Spannung, die trübe Beklommenheit der Menge. Unruhig erklomm der irrende Gedanke jede Höhe und versenkte sich in jeden Abgrund, wo er neue Aus- und Einsichten in die drohenden Verhängnisse, neue Hoffnungen in dem verzweifelten Kampfe gegen das Geschick oder vielleicht auch nur neue Angst zu finden wähnte. Der ungeheuerliche Mystizismus fand in der allgemeinen politischen, ökonomischen, sittlichen, religiösen Zerfahrenheit den ihm genehmen Boden und gedieh mit erschreckender Schnelle: es war, als wären Riesenbäume über Nacht aus der Erde gewachsen, niemand wußte woher und wozu, und ebendieses wunderbar rasche Emporkommen wirkte neue Wunder und ergriff epidemisch alle nicht ganz befestigten Gemüter.

In ähnlicher Weise wie auf dem religiösen Gebiet vollendete sich die in der vorigen Epoche begonnene Revolution auf dem der Erziehung und Bildung. Wie der Grundgedanke des römischen Wesens, die bürgerliche Gleichheit, bereits im Laufe des sechsten Jahrhunderts auch auf diesem Gebiet ins Schwanken gekommen war, ist früher dargestellt worden. Schon zu Pictors und Catos Zeit war die griechische Bildung in Rom weit verbreitet und gab es eine eigene römische Bildung; allein man war doch mit beiden nicht über die Anfänge hinausgelangt. Was man unter römisch-griechischer Musterbildung in dieser Zeit ungefähr verstand, zeigt Catos ‚Encyklopädie‘; es ist wenig mehr als die Formulierung des alten römischen Hausvatertums und wahrlich, mit der damaligen hellenischen Bildung verglichen, dürftig genug. Auf wie niedriger Stufe noch im Anfang des siebenten Jahrhunderts der Jugendunterricht in Rom durchgängig stand, läßt aus den Äußerungen bei Polybios sich abnehmen, welcher in dieser einen Hinsicht gegenüber der verständigen privaten und öffentlichen Fürsorge seiner Landsleute die sträfliche Gleichgültigkeit der Römer tadelnd hervorhebt – in den dieser Gleichgültigkeit zu Grunde liegenden tieferen Gedanken der bürgerlichen Gleichheit hat kein Hellene, auch Polybios nicht sich zu finden vermocht.

Jetzt ward dies anders. Wie zu dem naiven Volksglauben der aufgeklärte stoische Supranaturalismus hinzutrat, so formulierte auch in der Erziehung neben dem einfachen Volksunterricht sich eine besondere Bildung, eine exklusive Humanitas und vertilgte die letzten Überreste der alten geselligen Gleichheit. Es wird nicht überflüssig sein, auf die Gestaltung des neuen Jugendunterrichts, sowohl des griechischen wie des höheren lateinischen, einen Blick zu werfen.

Es ist eine wundersame Fügung, daß derselbe Mann, der politisch die hellenische Nation definitiv überwand, Lucius Aemilius Paullus, zugleich zuerst oder als einer der ersten die hellenische Zivilisation vollständig anerkannte als das, was sie seitdem unwidersprochen geblieben ist, die Zivilisation der antiken Welt. Er selber zwar war ein Greis, bevor es ihm gestattet wurde, die Homerischen Lieder im Sinn, hinzutreten vor den Zeus des Pheidias; aber sein Herz war jung genug, um den vollen Sonnenglanz hellenischer Schönheit und die unbezwingliche Sehnsucht nach den goldenen Äpfeln der Hesperiden in seiner Seele heimzubringen; Dichter und Künstler hatten an dem fremden Mann einen ernsteren und innigeren Gläubigen gefunden, als irgendeiner war von den klugen Leuten des damaligen Griechenland. Er machte kein Epigramm auf Homeros oder Pheidias, aber er ließ seine Kinder einführen in die Reiche des Geistes. Ohne die nationale Erziehung zu vernachlässigen, soweit es eine solche gab, sorgte er wie die Griechen für die physische Entwicklung seiner Knaben, zwar nicht durch die nach römischen Begriffen unzulässigen Turnübungen, aber durch Unterweisung in der bei den Griechen fast kunstmäßig entwickelten Jagd, und steigerte den griechischen Unterricht in der Art, daß nicht mehr bloß die Sprache um des Sprechens willen gelernt und geübt, sondern nach griechischer Art der Gesamtstoff allgemeiner höherer Bildung an die Sprache geknüpft und aus ihr entwickelt ward – also vor allem die Kenntnis der griechischen Literatur mit der zu deren Verständnis nötigen mythologischen und historischen Kunde, sodann Rhetorik und Philosophie. Die Bibliothek des Königs Perseus war das einzige Stück, das Paullus aus der makedonischen Kriegsbeute für sich nahm, um sie seinen Söhnen zu schenken. Sogar griechische Maler und Bildner befanden sich in seinem Gefolge und vollendeten die musische Bildung seiner Kinder. Daß die Zeit vorüber war, wo man auf diesem Gebiet sich dem Hellenismus gegenüber bloß ablehnend verhalten konnte, hatte schon Cato empfunden; die Besseren mochten jetzt ahnen, daß der edle Kern römischer Art durch den ganzen Hellenismus weniger gefährdet werde als durch dessen Verstümmelung und Mißbildung: die Masse der höheren Gesellschaft Roms und Italiens machte die neue Weise mit. An griechischen Schulmeistern war seit langem in Rom kein Mangel; jetzt strömten sie scharenweise, und nicht bloß als Sprach-, sondern als Lehrer der Literatur und Bildung überhaupt, nach dem neu eröffneten ergiebigen Absatzmarkt ihrer Weisheit. Griechische Hofmeister und Lehrer der Philosophie, die freilich, auch wenn sie nicht Sklaven waren, regelmäßig wie Bediente117

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Aber ihm zur Seite entwickelte sich ein höherer lateinischer Unterricht. Es ist in der vorigen Epoche dargestellt worden, wie der lateinische Elementarunterricht sich innerlich gesteigert hatte; wie an die Stelle der Zwölf Tafeln gleichsam als verbesserte Fibel die lateinische Odyssee getreten war und nun der römische Knabe an dieser Übersetzung, wie der griechische an dem Original, die Kunde und den Vortrag der Muttersprache ausbildete; wie namhafte griechische Sprach- und Literaturlehrer, Andronicus, Ennius und andere mehr, die doch wahrscheinlich schon nicht eigentlich Kinder, sondern heranreifende Knaben und Jünglinge lehrten, es nicht verschmähten, neben der griechischen auch in der Muttersprache zu unterrichten. Es waren das die Anfänge eines höheren lateinischen Unterrichts, aber doch noch ein solcher nicht. Der Sprachunterricht kann den elementaren Kreis nicht überschreiten, solange es an einer Literatur mangelt. Erst als es nicht bloß lateinische Schulbücher, sondern eine lateinische Literatur gab und diese in den Werken der Klassiker des sechsten Jahrhunderts in einer gewissen Abgeschlossenheit vorlag, traten die Muttersprache und die einheimische Literatur wahrhaft ein in den Kreis der höheren Bildungselemente; und die Emanzipation von den griechischen Sprachmeistern ließ nun auch nicht lange auf sich warten. Angeregt durch die Homerischen Vorlesungen des Krates begannen gebildete Römer die rezitativen Werke auch ihrer Literatur, Naevius‘ ‚Punischen Krieg‘, Ennius‘ ‚Chronik‘, späterhin auch Lucilius‘ Gedichte zuerst einem erlesenen Kreis, dann öffentlich an fest bestimmten Tagen und unter großem Zulauf vorzutragen, auch wohl nach dem Vorgang der homerischen Grammatiker sie kritisch zu bearbeiten. Diese literarischen Vorträge, die gebildete Dilettanten (litterati) unentgeltlich hielten, waren zwar kein förmlicher Jugendunterricht, aber doch ein wesentliches Mittel, die Jugend in das Verständnis und den Vortrag der klassischen lateinischen Literatur einzuführen.

Ähnlich ging es mit der Bildung der lateinischen Rede. Die vornehme römische Jugend, die schon in frühem Alter mit Lob- und gerichtlichen Reden öffentlich aufzutreten angehalten ward, wird es an Redeübungen nie haben fehlen lassen; indes erst in dieser Epoche und infolge der neuen exklusiven Bildung entstand eine eigentliche Redekunst. Als der erste römische Sachwalter, der Sprache und Stoff kunstmäßig behandelte, wird Marcus Lepidus Porcina (Konsul 617 137) genannt; die beiden berühmten Advokaten der marianischen Zeit, der männliche und lebhafte Marcus Antonius (611-667143-87) und der feine, gehaltene Redner Lucius Crassus (614-663 140-91), waren schon vollständig Kunstredner. Die Übungen der Jugend im Sprechen stiegen natürlich an Umfang und Bedeutung, aber blieben doch, eben wie die lateinischen Literaturübungen, wesentlich darauf beschränkt, daß der Anfänger an den Meister der Kunst persönlich sich anschloß und durch sein Beispiel und seine Lehre sich ausbildete.

Förmliche Unterweisung sowohl in lateinischer Literatur als in lateinischer Redekunst gab zuerst um 650 (100) Lucius Aelius Praeconinus von Lanuvium, der „Griffelmann“ (Stilo) genannt, ein angesehener, streng konservativ gesinnter römischer Ritter, der mit einem auserlesenen Kreise jüngerer Männer – darunter Varro und Cicero – den Plautus und ähnliches las, auch wohl Entwürfe zu Reden mit den Verfassern durchging oder dergleichen seinen Freunden an die Hand gab. Dies war ein Unterricht; aber ein gewerbmäßiger Schulmeister war Stilo nicht, sondern er lehrte Literatur und Redekunst, wie in Rom die Rechtswissenschaft gelehrt ward, als ein älterer Freund der aufstrebenden jungen Leute, nicht als ein gedungener, jedem zu Gebote stehender Mann. Aber um seine Zeit begann auch der schulmäßige höhere Unterricht im Lateinischen, getrennt sowohl von dem elementaren lateinischen als von dem griechischen Unterricht, und von bezahlten Lehrmeistern, in der Regel freigelassenen Sklaven, in besonderen Anstalten erteilt. Daß Geist und Methode durchaus den griechischen Literatur- und Sprachübungen abgeborgt wurden, versteht sich von selbst; und auch die Schüler bestanden wie bei diesen aus Jünglingen, nicht aus Knaben. Bald schied sich dieser lateinische Unterricht, wie der griechische, in einen zwiefachen Kursus, indem erstlich die lateinische Literatur wissenschaftlich vorgetragen, sodann zu Lob-, Staats- und Gerichtsreden kunstmäßige Anleitung gegeben ward. Die erste römische Literaturschule eröffnete um Stilos Zeit Marcus Saevius Nicanor Postumus, die erste besondere Schule für lateinische Rhetorik um 660 (90) Lucius Plotius Gallus; doch ward in der Regel auch in den lateinischen Literaturschulen Anleitung zur Redekunst gegeben. Dieser neue lateinische Schulunterricht war von der tiefgreifendsten Bedeutung. Die Anleitung zur Kunde lateinischer Literatur und lateinischer Rede, wie sie früher von hochgestellten Kennern und Meistern erteilt worden war, hatte den Griechen gegenüber eine gewisse Selbständigkeit sich bewahrt. Die Kenner der Sprache und die Meister der Rede standen wohl unter dem Einfluß des Hellenismus, aber nicht unbedingt unter dem der griechischen Schulgrammatik und Schulrhetorik; namentlich die letztere wurde entschieden perhorresziert. Der Stolz wie der gesunde Menschenverstand der Römer empörte sich gegen die griechische Behauptung, daß die Fähigkeit, über Dinge, die der Redner verstand und empfand, verständig und anregend in der Muttersprache zu seinesgleichen zu reden, in der Schule nach Schulregeln gelernt werden könne. Dem tüchtigen praktischen Advokaten mußte das gänzlich dem Leben entfremdete Treiben der griechischen Rhetoren für den Anfänger schlimmer als gar keine Vorbereitung erscheinen; dem durchgebildeten und durch das Leben gereiften Manne dünkte die griechische Rhetorik schal und widerlich; dem ernstlich konservativ gesinnten entging die Wahlverwandtschaft nicht zwischen der gewerbmäßig entwickelten Redekunst und dem demagogischen Handwerk. So hatte denn namentlich der Scipionische Kreis den Rhetoren die bitterste Feindschaft geschworen, und wenn die griechischen Deklamationen bei bezahlten Meistern, zunächst wohl als Übungen im Griechischsprechen, geduldet wurden, so war doch die griechische Rhetorik damit weder in die lateinische Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, daß sie paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffengefährten anklagten und dagegen ihn verteidigten; daß sie den Orestes wegen Muttermordes belangten oder in Schutz nahmen; daß sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem guten Rat darüber aushalfen, ob er besser tue, der Vorladung nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, daß gegen diese widerwärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die catonische Opposition sich regte. Die Zensoren des Jahres 662 (92) erließen eine Warnung an Lehrer und Eltern, die jungen Menschen nicht den ganzen Tag mit Übungen hinbringen zu lassen, von denen die Vorfahren nichts gewußt hätten; und der Mann, von dem diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichtsredner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die Kassandra vergebens; lateinische Deklamierübungen über die gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Bestandteil des römischen Jugendunterrichts und taten das Ihrige, um schon die Knaben zu advokatischen und politischen Schauspielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im Keime zu ersticken.

Als Gesamtergebnis aber dieser modernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff der sogenannten „Menschlichkeit“, der Humanität, welche bestand teils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten musischen Bildung der Hellenen, teils in einer dieser nachgebildeten oder nachgestümperten privilegierten lateinischen. Diese neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los von dem spezifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Opposition und vereinigte in sich, ebenwie unsere eng verwandte „allgemeine Bildung“, einen national kosmopolitischen und sozial exklusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die Stände schied und die Völker verschmolz.

  1. Daß vor 608 (146) keine „griechischen Spiele“ in Rom gegeben seien (Tac. ann. 14, 21), ist nicht genau; schon 568 (186) traten griechische „Künstler“ (τεχνίται) und Athleten (Liv. 39, 22), 587 (167) griechische Flötenspieler, Tragöden und Faustkämpfer auf (Polyb. 30, 13).
  2. Ein ergötzliches Exempel kann man bei Cicero (off. 3, 12. 13) nachlesen.
  3. Auch in Varros Satire ‚Die Aboriginer‘ wurde in spöttischer Weise dargestellt, wie die Urmenschen sich nicht hätten genügen lassen mit dem Gott, den nur der Gedanke erkennt, sondern sich gesehnt hätten nach Götterpuppen und Götterbilderchen.
  4. Cicero sagt, daß er seinen gelehrten Sklaven Dionysios rücksichtsvoller behandelt habe als Scipio den Panätios; und in gleichem Sinne hieß es bei Lucilius:
  5. Nützlicher ist mir mein Gaul, mein Reitknecht, Mantel und Zeltdach
    Als der Philosoph.