Im Joch

Auf dem Gravesender Hafenboot, das von dem nach Bombay bestimmten Dampfer der P&O.-Linie zurückkehrte, um den Anschluß an den Londoner Zug nicht zu versäumen, waren viele, die weinten. Aber niemand weinte so heftig und unverhohlen wie Miß Agnes Laiter. Sie hatte Grund zu weinen, denn der Mann, den sie einzig liebte und, – wie sie sagte, – stets einzig lieben würde, ging nach Indien. Und Indien, das weiß jeder, gehört zu gleichen Teilen dem Dschungel, Tigern, giftigen Schlangen, der Cholera und den indischen Soldaten.

Phil Garron lehnte sich im Regen über Bord und fühlte sich auch sehr unglücklich. Aber er weinte nicht. Man schickte ihn auf eine Teeplantage. Was das bedeutete, war ihm nicht im geringsten klar, er glaubte nur, daß er auf stolzem Roß über Plantagenhöhen reiten würde, um dafür ein fürstliches Gehalt zu beziehen. Deshalb war er seinem Onkel, der ihm diese Stellung verschafft hatte, sehr dankbar. Er wollte jetzt im Ernst sein träges, nutz- und zielloses Leben ändern, jährlich einen großen Teil seines großartigen Gehaltes zurücklegen, in sehr kurzer Zeit wieder heimkehren und Agnes Laiter heiraten. Phil Garron hatte drei Jahre lang seinen Freunden auf der Tasche gelegen, und da er nichts zu tun gehabt hatte, sich natürlich verliebt. Er war ein netter Mensch, aber nicht gerade stark in seinen Ansichten, Meinungen und Grundsätzen. Und wenn er auch nie zu Fall gekommen war, freuten sich seine Freunde doch, als er Abschied nahm, um sich in die geheimnisvolle Teegegend bei Darjiling zu begeben. Sie sagten: »Gott befohlen, lieber Junge. Laß dich hier so bald nicht wieder sehen.« Oder sie gaben es ihm wenigstens zu verstehen.

Bei der Ausfahrt war er erfüllt von dem großen Vorsatz, zu beweisen, daß er hundertmal besser sei, als man von ihm geglaubt hatte. Er wollte wie ein Pferd arbeiten und Agnes Laiter im Triumph heimführen. Es war viel Gutes an ihm, auch abgesehen von seinem guten Äußern. Sein einziger Fehler war eine Schwäche, eine ganz, ganz kleine, wirklich ganz kleine Schwäche. Er sparte so wenig, wie eine Morgenzeitung an Papier spart. Und doch konnte man nirgends auf etwas hinweisen, von dem man hätte sagen können: »Hier ist Phil Garron verschwenderisch oder leichtsinnig gewesen.« Und ebenso vermochte man in seinem Charakter keine bestimmten Untugenden zu entdecken. Aber er war »unerfreulich« und so schmiegsam wie Ton.

Agnes Laiter ging zu Hause ihren Pflichten nach, mit roten Augen, – denn ihre Familie war gegen die Verlobung, – während Phil nach Darjiling fuhr. Seine Mutter sagte zu ihren Freunden: »nach einem Hafen am bengalischen Meerbusen«. Phil war an Bord recht beliebt, hatte viele Bekanntschaften und eine ganz anständige Weinrechnung und schrieb von jedem Hafen aus unendlich lange Briefe an Agnes Laiter. Er begann seine Tätigkeit auf der Plantage, irgendwo zwischen Darjiling und Kangra, und obwohl Gehalt, Pferd und Arbeit nicht ganz seinen Vorstellungen entsprachen, kam er ganz gut vorwärts und bildete sich auf seine Ausdauer unnötig viel ein.

Als er sich mit der Zeit an das Joch der Arbeit und ihre starre Regelmäßigkeit gewöhnt hatte, verlor sich das Bild Agnes Laiters aus seinem Gedächtnis. Nur in Mußestunden, die nicht häufig waren, kam es ihm zurück. Er könnte sie vierzehn Tage lang ganz vergessen, bis er sich wie ein Schuljunge, der seine Aufgaben nicht gemacht hat, mit einem Ruck ihrer erinnerte. Sie vergaß Phil nicht, denn sie gehörte zu denen, die nie vergessen. Es erschien nur ein anderer, – ein wirklich begehrenswerter junger Mann, – im Haus von Mrs. Laiter. Die Möglichkeit einer Heirat mit Phil lag in unverminderter Ferne, und seine Briefe waren so unbefriedigend, und ein häuslicher Druck wurde auf das Mädchen ausgeübt, und der junge Mann war wirklich begehrenswert, was sein Einkommen betraf, und so war das Ende vom Lied, daß Agnes ihn heiratete und einen stürmischen Brief an Phil in die Wüste von Darjiling sandte. Sie schrieb, daß sie in ihrem Leben keine glückliche Stunde mehr haben würde. Und diese Prophezeiung bewahrheitete sich.

Phil empfing den Brief und fühlte sich schlecht behandelt. Das geschah zwei Jahre nach seiner Abreise. Und jetzt dachte er wieder dauernd an Agnes Laiter. Er betrachtete ihr Bild und warf sich in die Brust in dem Glauben, daß er der treueste Liebhaber der Weltgeschichte gewesen sei. Er wärmte sich an der Glut der Überzeugung, daß er wahrhaft schlecht behandelt würde. Dann setzte er sich hin und schrieb einen letzten Brief, eine höchst rührselige Predigtepistel im Stil des »Vereint bis in den Tod. Amen!« Er setzte auseinander, daß er in alle Ewigkeit treu bleiben würde, daß alle Frauen gleich wären, daß er sein gebrochenes Herz verbergen wolle usw., aber wenn im Lauf der Zeit usw. usw., er könne warten usw. usw., Rückkehr zur alten Liebe usw. usw., und das alles auf acht eng beschriebenen Seiten. Vom künstlerischen Standpunkt aus war es eine saubere Arbeit; aber ein gemeiner Philister, der Phils wahre Gefühle kannte, – nicht die, zu denen er sich beim Schreiben aufschwang, – hätte in dem Brief das durch und durch kleinliche und selbstische Werk eines durch und durch kleinlichen, selbstischen und schwachen Menschen erkannt. Aber auch dies Urteil wäre nicht ganz gerecht gewesen. Phil zahlte das Porto und fühlte jedes Wort, das er geschrieben, wenigstens zweieinhalb Tage lang. Es war das letzte Aufflackern, ehe die Flamme erlosch.

Das Schreiben machte Agnes Laiter sehr unglücklich. Sie schloß es weinend in ihren Schreibtisch und wurde zum Besten ihrer Familie Frau Soundso. Und das ist auch die Pflicht jeder christlichen Jungfrau.

Phil ging seiner Wege und gedachte seines Briefes nur noch so, wie ein Künstler an eine fein nuancierte Skizze denkt. Sein Wandel war nicht schlecht, aber auch nicht gut, bis er Dunmaya, der Tochter eines ehemaligen Radschput-Majors der englisch-indischen Armee, begegnete.

Das Mädchen hatte einen Tropfen fremden Blutes in den Adern. Dieser Tropfen stammte aus den Bergen, und sie gehörte deshalb nicht zu einer hohen Kaste. Wo Phil sie kennen lernte, oder wie er von ihr erfuhr, gehört nicht zur Sache. Sie war ein gutes Mädchen und schön; in ihrer Art sehr klug und schlau, aber selbstverständlich auch etwas herb. Man darf nicht vergessen, daß Phil sehr behaglich lebte, sich keinen kleinen Genuß mißgönnte, keinen Heller zurücklegte, seine englische Korrespondenz aufgab und das Land, in dem er lebte, allmählich als seine Heimat zu betrachten anfing. Viele Männer gehen diesen Weg und werden unbrauchbar. Das Klima seines Ortes war gut, und es schien wirklich nichts zu geben, um dessentwillen er hätte wieder nach Hause gehen sollen.

Er tat, was mancher Pflanzer schon vor ihm getan hatte: er entschloß sich, ein Mädchen aus den Bergen zu heiraten und einen Hausstand zu gründen. Er war damals siebenundzwanzig Jahre alt und hatte noch ein langes Leben vor sich, aber nicht die nötige Energie. Also heiratete er Dunmaya nach dem Brauch der englischen Kirche. Einige Pflanzer sagten, er sei ein Narr, und manch andere wieder, er sei ein weiser Mann. Dunmaya war ein durchaus ehrlicher Mensch und sah trotz ihrer Hochachtung vor den Engländern ziemlich klar die Schwächen ihres Mannes. Sie lenkte ihn mit Vorsicht und unterschied sich nach kaum einem Jahre in Kleidung und Haltung fast nicht mehr von einer Engländerin. (Es ist erstaunlich, daß ein Hindu aus den Bergen trotz lebenslänglicher Schulung immer doch ein Hindu bleibt, während eine Hindufrau in sechs Monaten sich die meisten Lebensgewohnheiten ihrer englischen Schwestern zu eigen macht. Es war einmal eine Kulifrau. Aber das ist eine andere Geschichte.) Dunmaya kleidete sich mit Vorliebe in Schwarz und Gelb, und es stand ihr gut. Inzwischen lag der Brief in Agnes‘ Schreibtisch. Sie dachte dann und wann an den armen, entschlossenen Phil, der unter den Schlangen und Tigern von Darjiling schwer arbeiten mußte, und an seine immer noch vergebliche Hoffnung, daß sie einmal zu ihm zurückkehren würde. Ihr Mann war zehn Phils wert, nur war sein Herz rheumatisch. Drei Jahre nach ihrer Heirat, nachdem er in Nizza und Algier vergebens Heilung gesucht hatte, ging er nach Bombay, wo er starb. Agnes war frei. Da sie eine fromme Frau war, sah sie in seinem Tode und dem Ort seines Todes den ausgesprochenen Willen der Vorsehung. Und als sie sich etwas von dem Schlag erholt hatte, zog sie Phils Brief hervor. Sie las ihn von neuem mit den usw., den langen Gedankenstrichen und den kurzen Gedankenstrichen und küßte ihn wieder und wieder. Niemand kannte sie in Bombay. Sie hatte das große Einkommen ihres Mannes, und Phil konnte nicht weit sein. Es war nicht recht und vielleicht unpassend, aber sie beschloß wie eine Romanheldin, ihren alten Geliebten aufzusuchen, ihm Hand und Vermögen anzutragen und den Rest ihres Lebens mit ihm irgendwo, fern von fühllosen Seelen zu verbringen. Zwei Monate saß sie einsam in Watsons Hotel und malte sich ihren Plan aus. Und es entstand ein hübsches Bild. Dann machte sie sich auf die Suche von Phil Garron, Angestellten einer Teeplantage mit einem mehr als gewöhnlich unaussprechlichen Namen.

Sie fand ihn. Ihr Suchen hatte einen Monat gedauert. Denn die Plantage lag gar nicht im Darjiling-Distrikt, sondern mehr nach Kangra zu. Phil hatte sich sehr wenig verändert, und Dunmaya war sehr nett zu ihr.

Die größte Sünde und Schande an der ganzen Geschichte aber ist, daß Phil, der wirklich kaum einer Erinnerung wert war, von Dunmaya geliebt wurde und noch geliebt wird. Und daß Agnes, deren ganzes Leben er vernichtet hatte, ihn noch heißer liebt.

Und noch schlimmer als all das ist es, daß Dunmaya jetzt aus ihm einen anständigen Menschen macht, und daß ihr Einfluß ihn zuguterletzt vor der ewigen Verdammnis bewahren wird.

Offenbar ist das durchaus ungerecht.