Am Ende der Fahrt

Absatz fehlt in dieser Ausgabe

Vier Männer mit berechtigten Ansprüchen auf »Leben, Freiheit und des Glückes Segen« saßen bei Tisch und spielten Whist. Das Thermometer zeigte – nach ihrer Messung – 101 Grad Hitze, trotzdem das Zimmer so stark verdunkelt war, daß sie kaum mehr die Figuren auf den Kartenblättern und ihre eigenen bleichen Gesichter unterscheiden konnten. Eine zerlumpte Punkah, mit verblichenem Kattun bezogen, bewegte die heiße Luft und knarrte mißtönend bei jedem Schlag. Draußen Düsternis, wie ein Londoner Novembertag; weder Himmel zu sehen, noch Sonne oder Horizont – nichts als braunroter Hitzenebel. Die Erde schien an Schlagfluß sterben zu wollen.

Von Zeit zu Zeit stiegen Wolken gelbbraunen Staubes ohne erkennbaren Grund vom Erdboden auf, schwebten, wie Tafeltücher groß, zwischen die verdorrten Baumwipfel empor und fielen wieder hernieder. Dann plötzlich brauste ein wirbelnder Staubteufel einige Meilen weit über die Ebene hin, brach seitwärts aus, die Richtung ändernd, obgleich kein Hindernis im Wege stand als eine lange Reihe weißbeaschter Bahnschwellen, ein Haufen Lehmbaracken, hergestellt aus Holzbalken schlechtester Art und altem Segeltuch, und der niedrige, vierzimmrige Bungalow des Unteringenieurs, der mit der Führung einer Abteilung der im Bau begriffenen Ghandhari-Eisenbahnlinie betraut war.

Die vier bis fast aufs Hemd entkleideten Männer spielten mißgelaunt ihren Whist und stritten sich dabei. Es machte ihnen kein sonderliches Vergnügen, trotzdem die Partie nicht leicht zustande gekommen war. Mottram, z.B., vom indischen Vermessungsamt, hatte in der Nacht vorher von seinem einsamen Posten in der Wüste nicht weniger als dreißig Meilen zu Pferd und hundert mit der Bahn zurücklegen müssen, um hierherzugelangen. Und Lowndes von der Zivilverwaltung hatte die lange Reise gemacht, um für ein paar Stunden den Intrigen eines verarmten einheimischen Staatskörpers fern zu sein, dessen König unentwegt, im Guten oder Bösen, Geld erpreßte von den armen Bauern oder den händeringenden Kamelzüchtern. Spurstow, der Regimentsarzt, hatte einen von Cholera heimgesuchten Lagerplatz von Kulis für achtundvierzig Stunden sich selbst überlassen, um wieder einmal mit Landsleuten beisammen zu sein; Hummil, der Unteringenieur, war der Gastgeber der drei. Er befand sich dauernd auf seinem Posten und empfing seine Freunde jeden Sonntag, wenn sie abkommen konnten. War einer von ihnen verhindert oder kam nicht, so erhielt er noch am selben Tage eine Depesche von Hummil mit der Anfrage, ob er tot oder noch am Leben sei. Es gibt Orte genug im Osten, wo es sehr angezeigt ist, seine Bekannten auch nicht eine Woche lang aus dem Auge zu verlieren.

Dennoch benahmen sich die vier Spieler keineswegs rücksichtsvoll zu einander. Sie zankten sich immer, wenn sie beisammen waren, aber trotzdem sehnten sie sich stets nach solchen Gesellschaften, wie Leute bei Wassermangel nach einem Trunk. Es waren Menschen, die die Qual der Einsamkeit nur zu gut kannten; keiner von ihnen zählte mehr als dreißig Jahre, und das ist wenig in einem solchen Fall.

»Pilsener?« fragte Spurstow nach dem zweiten Robber und trocknete sich die Stirn.

»Tut mir leid: Bier ist nicht mehr da, kaum Sodawasser genug für heute abend«, erwiderte Hummil.

»Eine schäbige Wirtschaft!« brummte Spurstow.

»Kann nichts dafür. Hab geschrieben und telegraphiert; aber die Züge gehen nicht mehr regelmäßig. In der letzten Woche ist sogar das Eis ausgeflossen! Lowndes weiß es.«

»Gut, daß ich damals nicht hier war. Hab’s nicht gewußt, sonst hätte ich dir etwas schicken können. Pfui Teufel, die Hitze! Man kann das dumme Zeug gar nicht mehr weiter spielen!« Spurstow warf einen gereizten Blick auf Lowndes; aber der lachte nur, er war abgehärtet gegen Beleidigungen.

Mottram stand auf, lugte durch eine Spalte der Fensterläden:

»Welch ein entzückender Tag heute!«

Dann gähnte die ganze Gesellschaft und begann nach einer Weile eine planlose Durchstöberung der Schätze ihres Gastgebers: Flinten, zerrissene Novellenbände, Sattelzeug, Sporen und dergleichen. Sie hatten alles schon unzählige Male in Händen gehabt, aber was hätten sie sonst anfangen sollen?

»Gibt’s was Neues?« fragte Lowndes.

»Die letzte Wochennummer der Indian Gazette und ein Zeitungsausschnitt aus der Heimat. Mein Vater hat ihn mir geschickt. Ziemlich unterhaltsam.«

»Wahrscheinlich wieder aus der Feder eines der gewissen Verwaltungsräte, die sich selbst Parlamentsmitglied nennen?« fragte Spurstow, der gern Zeitungen las, wenn er solche erwischen konnte.

»Ja, hört mal zu! Es ist Wasser auf deine Mühle, Lowndes. Also: der Bursche hielt vor seinen Wählern eine Rede und ließ sie dann veröffentlichen. Hier eine Probe: ›Ich zögere nicht, festzustellen, daß der Zivildienst in Indien geradezu eine Sinecure der englischen Aristokratie ist: Was gewinnen die Demokraten – was die große Masse – von dem Lande, das wir unter dem Deckmantel der Uneigennützigkeit Schritt für Schritt annektiert haben? Ich sage: nichts! Indien ist, wie jeder auf den ersten Blick sehen kann, nur eine Einnahmequelle für die Brut des Adels. Sie sind darauf bedacht, die überreichlichen Einkünfte, die sie so schon haben, noch zu vermehren; jeder Frage weichen sie aus, die ein Licht auf ihre Verwaltung werfen könnte. Sie zwingen die armen Bauern, im Schweiße des Angesichts für den Luxus aufzukommen, mit dem sie sich selbst umgeben.‹« Hummil schwenkte das Blatt über dem Kopf. »Hört! Hört!« riefen seine Gäste.

»Ich würde drei Monate Gehalt dafür geben«, sagte Lowndes nachdenklich, »wenn ich diesen Ehrenmann einen Monat hier haben könnte, um ihn zu überzeugen, wie die freien, unabhängigen, eingeborenen Fürsten des Landes über diese Frage denken. Der ›Alte Schöps‹ (so nannte man allgemein einen hochgeehrten, dekorierten Feudalfürsten) hat mich diese Woche wegen Geld fast zu Tode behelligt. Was soll ich sagen? Schließlich hat er mir sogar, um mich zu bestechen, eins seiner Weiber geschickt.«

»Du Glücklicher! Hast du sie angenommen?« fragte Mottram.

»Nein. Hätte es eigentlich tun sollen. Sie war eine nette kleine Person und schwätzte mir uferlos vor von den Entbehrungen der Weibsbilder im königlichen Harem. Diese Herzensschätze hätten im verflossenen Monat nicht einmal neue Kleider bekommen, weil der alte Herr, in Kalkutta, eine Wagenladung silberner Gitter, silberner Lampen und ähnliche Kleinigkeiten kaufen muß. Ich hab ihm vergebens vorgehalten, daß er die Einkünfte von zwanzig Jahren ganz zwecklos vergeudet hat und endlich einmal anfangen müsse, zu sparen. Aber er will es nicht einsehen.«

»Warum greift er sein Ahnen-Schatzgewölbe nicht an? Es müssen doch mindestens drei Millionen unter seinem Palast liegen in Münzen und Juwelen?« fragte Hummil.

»Nenn mir den eingeborenen König, der seinen Familienschatz angreift! Die Priester erlauben es nur im äußersten Notfall. Der ›Alte Schöps‹ hat sogar noch eine Viertelmillion dazugefügt, seit er regiert.«

»Woher kommen denn nur alle diese Übelstände?« fragte Mottram.

»Das Land! Wenn man die Zustände sieht, die im Volke herrschen, wird man krank! Ich war Zeuge, wie die Steuereintreiber bei einem kreißenden Kamel warteten, bis das Füllen geboren wurde, und dann die Mutter forttrieben als Ersatz für rückständige Abgaben. Die Gerichtsschreiber verweigern mir die Abrechnungen, und der Höchstkommandierende lächelt nur fett, wenn ich ihm sage, daß die Truppen seit drei Monaten keinen Gehalt bekommen haben. Und der ›Alte Schöps‹ flennt, wenn ich ihn nur anrede. Aber er säuft Liköre statt Whisky und Heidsieck statt Sodawasser.«

»Genau wie der Rao von Jubela«, rief Spurstow. »Nicht einmal ein Eingeborener hält sowas lange aus. Er wird ins Gras beißen.«

»Das wäre zu wünschen. Dann könnten wir einen Regentschaftsrat einsetzen, dem jungen Prinzen einen Erzieher stellen und ihm selbst später ein zehnmal reicheres Königreich übergeben.«

»Worauf dann der junge Prinz, nachdem er alle Laster der Engländer kennengelernt haben wird«, fiel Spurstow ein, »das ganze Geld und die Ersparnisse von zehn Jahren in achtzehn Monaten vor den Kopp haut. Ich kenne das. An deiner Stelle, Lowndes, würde ich den König einmal in aller Höflichkeit beim Ohr nehmen. Verhaßt bist du ja sowieso.«

»Du hast gut reden! Fern vom Schuß läßt sich’s leicht sagen: höflich beim Ohr nehmen! Einen Saustall kann man nicht mit einem Pinsel und Rosenwasser reine machen. Ich weiß schon, was ich riskiere; bisher ist mir nichts passiert. Mein Diener ist ein alter Afghane und kocht für mich; so leicht ist der nicht zu bestechen, und von meinen ›treuen Freunden‹, wie sie sich selber nennen, nehme ich grundsätzlich keine Speisen an. Aber es ist eine zermürbende Arbeit. Ich wäre, weiß Gott, lieber bei dir, Spurstow. In der Nähe deines Lagers wird wenigstens geschossen.«

»So? Bei mir möchtest du sein?! Glaub doch das nicht! Fünfzehn Todesfälle im Tag, da vergeht einem das Schießen. Höchstens schießt man auf sich selber. Das schlimmste ist, wenn mich die armen Teufel immer so angucken, als könnte ich ihnen in Wirklichkeit helfen. Gott weiß: ich habe schon alles mögliche versucht. Mein letztes Experiment war ein Wagestück, aber es ist mir geglückt: ich hab einen alten Mann dem Tod entrissen – er war so gut wie erledigt, da hab ich ihm Branntwein mit Worcestershire-Sauce und Cayennepfeffer eingegeben, und er ist durchgekommen. Natürlich empfehle ich niemand dieses Mittel.«

»Wie verlaufen die Fälle gewöhnlich?« fragte Hummil.

»Sehr einfach, Chlorodin, Opiumpillen, Chlorodin, Kräfteverfall, Nitrate, heiße Steine auf die Fußsohlen, und dann – das Leichenverbrennungs-Ghaut [Ghauts sind die Ufertreppen an den Flüssen, wo die Leichen verbrannt werden.]. Letzteres scheint noch das einzige zu sein, das eine gründliche Wirkung äußert. Es ist eben die schwarze Cholera. Arme Teufel! Aber ich muß sagen: mein Apotheker, der kleine Bunsee Lal, arbeitet wie ein Dämon. Ich hab ihn zur Beförderung empfohlen für den Fall, daß er am Leben bleibt.«

»Und wie stehen deine Chancen, alter Bursche?« fragte Mottram.

»Weiß nicht. Kümmert mich wenig. Und was treibst du für gewöhnlich?«

»Sitze im Zelt unterm Tisch und spucke auf den Sextanten, damit er kühl bleibt«, sagte der Vermessungsbeamte, »wasche mir die Augen, damit ich keine Entzündung kriege, was mir sicher noch einmal blüht, und versuche meinem Angestellten klarzumachen, daß ein Irrtum von fünf Winkelgraden keineswegs so geringfügig ist, wie es aussieht. Ich bin, wie ihr wißt, ganz allein und werde es bis zu Ende des heißen Wetters auch bleiben.«

»Also ist Hummil der Glückspilz unter uns«, sagte Lowndes und warf sich in einen Liegestuhl, »er hat ein wirkliches Dach, zwar abgenutzt bis auf die Zimmerdecke, aber immerhin ein Dach überm Kopf, sieht jeden Tag einen Zug vorbeikommen – hat sogar Bier, Sodawasser und Eis, wenn der liebe Gott huldreich aufgelegt ist. Er besitzt Bücher, Gemälde (sie waren aus der Zeitung »The Graphic« herausgeschnitten) und erfreut sich der Gesellschaft des ausgezeichneten Unterassistenten Jevins, und außerdem genießt er uns jede Woche.«

Hummil lächelte bitter. »Jawohl, ich bin ein Glückspilz! Aber Jevins ist noch weit glücklicher.«

»Wieso? Ist er vielleicht– — –?«

»Allerdings. Er hat sich auf die Große Reise begeben. Am verflossenen Montag.«

»Aus eigenem Antrieb?« fragte Spurstow rasch und gab damit dem Verdacht Ausdruck, der alle sofort ergriffen hatte. Es herrschte ja keine Cholera in Hummils Gegend und auch das Fieber läßt dem Menschen eine Woche zum Sterben Zeit. Plötzlicher Tod wird daher stets als Selbstmord angesehen.

»Bei einem solchen Wetter kann man dergleichen niemand verübeln«, sagte Hummil, »vielleicht war es nur Sonnenstich. Vorige Woche, als ihr mich eben verlassen hattet, kam er zu mir in die Veranda und sagte, er wolle heim zu seiner Gattin – nach Liverpool in der Market Street – gleich jetzt abends!

Ich schickte sofort nach dem Apotheker, damit er nach ihm sähe, und wir brachten ihn zu Bett. Nach ein paar Stunden rieb er sich die Augen und meinte, er wäre wahrscheinlich ohnmächtig gewesen, und hoffe, sich nicht ungebührlich benommen zu haben. Er hielt von jeher auf gute Umgangsformen; er drückte sich damals so gewählt aus wie Chudcs.«

»Nun, und?«

»Dann ging er in seinen Bungalow und reinigte sein Gewehr. Sagte seinem Diener, er wolle am nächsten Tag auf die Jagd. Dabei spielte er mit dem Drücker und der Schuß ging ihm durch den Kopf. Reiner Zufall, natürlich! Der Apotheker berichtete den Vorfall dem Chef, und Jevins wurde begraben. Irgendwo draußen. Ich wollte dir zuerst telegraphieren, Spurstow, aber was hättest du tun können?«

»Du bist wirklich ein seltsamer Kerl«, meinte Mottram, »wenn du ihn selber umgebracht hättest, würdest du über die Sache nicht sorgsamer geschwiegen haben.«

»Gott, wozu viel Aufhebens davon machen!« sagte Hummil gelassen. »Ich hab noch einen großen Teil seiner Arbeit auf meine Schultern nehmen müssen, bin also der eigentliche Leidtragende. Jevins ist aus dem Wasser – reiner Zufall wie gesagt, aber aus dem Wasser ist er. Der Apotheker hat ein langes Gefasel von Selbstmord vom Stapel lassen wollen. Hindere einmal einer einen Babu am Schmieren, wenn er Gelegenheit dazu gefunden hat!«

»Warum wolltest du denn einen Selbstmord nicht zugeben?« fragte Lowndes.

»Weil kein direkter Beweis vorlag. Viel Vorrechte hat ja ein Mensch hier zu Lande nicht, aber ein Gewehr verkehrt in die Hand zu nehmen, wird ihm schließlich wohl noch erlaubt sein! Überdies: vielleicht werde ich selbst nochmal jemand dankbar sein, daß er bei mir Zufall als Todesursache angibt. Leben und leben lassen. Sterben und sterben lassen!«

»Da! Nimm eine Pille!« sagte Spurstow, der Hummils. bleiches Gesicht beobachtet hatte, »nimm eine Pille und sei kein Esel. Das alles ist dummes Geschwätz. Jedenfalls hemmen Selbstmordgedanken deine Arbeit. Wenn ich zehnmal der Hiob wäre, das Interesse am Fortschritt meiner Arbeit ließe ich mir nie rauben.«

»Ach was! Mir ist sie vollkommen gleichgültig geworden«, sagte Hummil.

»Vielleicht die Leber nicht in Ordnung?« meinte Lowndes teilnahmsvoll.

»Nein. Etwas viel Schlimmeres. Ich kann nicht schlafen.«

»O, das kenne ich«, rief Mottram. »Geht mir bisweilen auch so. Sind Anfälle, die sich austoben wollen. Was tust du dagegen?«

»Nichts. Es ist alles vergebens. Seit Freitagmorgen hab ich keine zehn Minuten geschlafen.«

»Armer Kerl! Spurstow, du solltest ihn in Behandlung nehmen. Schau nur, seine Augen sind trüb und seine Lider dick geschwollen.«

Spurstow lachte leicht auf, beobachtete aber Hummil noch immer scharf. »Später! Werde ihn schon auf die Beine bringen. Übrigens, was meint ihr, ist’s zu heiß für einen Spazierritt?«

»Wohin denn?« brummte Lowndes müde. »Um acht müssen wir sowieso fort, da werden wir genug zu reiten haben. Ich hasse das Pferd, wenn ich es nur als Transportmittel gebrauchen muß. O Gott, was fängt man nur an?«

»Spielen wir halt wieder Whist, acht Schilling den Point und einen Goldmohur den Robber!« schlug Spurstow vor.

»Bist wohl verrückt? Einen Monatsgehalt als Einsatz! Einer von uns wäre ruiniert, wenn wir aufstehen!« sagte Lowndes.

»Könnte nicht behaupten, daß ich gerne ›derjenige, welcher‹ wär’«, sagte Mottram, »auch möchte ich nicht schuld sein, wenn einen von uns dieses Los träfe. Als Reizmittel langt es nicht hin und außerdem ist es töricht.« Und er ging hinüber zu einem alten Klavier, dem Wrack eines Familienhaushaltes aus früheren Tagen des Bungalows, und öffnete den Deckel.

»Rettungslos verstimmt«, sagte Hummil, »meine Diener haben darauf herumgehackt.«

Allerdings befand sich das Instrument in einem kläglichen Zustand, aber immerhin gelang es Mottram, die rebellischen Töne nach und nach ein wenig in Einklang zu bringen; dann stieg aus der abgegriffenen Tastatur etwas auf, wie das Gespenst eines Liedes aus einem Volksvarieté. Die Herren in ihren Liegestühlen wandten sich mit sichtlichem Interesse Mottram zu, der immer munterer drauflosspielte.

»Ausgezeichnet«, rief Lowndes. »Ich glaube, ich habe dieses Lied zum letzten Mal im Jahre 79 gehört, damals als ich fort mußte von zu Haus.«

»Oh, ich habe erst um 80 herum fort müssen«, sagte Spurstow selbstbewußt, und er nannte einen Gassenhauer, der damals in aller Mund gewesen war.

Mottram schlug die Melodie an, aber mangelhaft. Lowndes kritisierte und verlangte Änderungen. Mottram ging in ein anderes Volkslied über und wollte dann aufhören.

»Sitzen geblieben!« befahl Hummil. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du soviel Musik im Leib hast. Spiel so lang, bis dir nichts mehr einfällt. Ich werde das Klavier stimmen lassen, bis ihr wiederkommt. Bitte, etwas Festliches jetzt!«

Sehr einfach, freilich, waren die Melodien, denen Mottrams Kunst und der Zustand des Klaviers Ausdruck geben konnten, aber die Herren hörten mit Vergnügen zu und sprachen in den Pausen von den Erlebnissen, die sie gehabt, als sie noch in ihrer Heimat gewesen waren. Ein dichter Staubsturm erhob sich draußen und heulte über das Haus hinweg, hüllte alles in mitternächtliches Dunkel, doch Mottram spielte unentwegt fort; die anderen hörten es kaum mehr, so wild und laut flatterte das Segeltuch an der Zimmerdecke.

In dem tiefen Schweigen nach dem Tosen des Sturmes ging Mottram von den ausgesprochen schottischen Liedern, leise die Melodie mitsummend, in die Abendhymne über.

»Sonntag!« sagte er zur Erklärung und nickte den anderen zu.

»Nur weiter!« rief Spurstow, »brauchst dich nicht entschuldigen!«

Hummil lachte laut und wild auf. »Ja, ja, spiel sie nur! Du bringst uns heute eine Überraschung nach der ändern; hab gar nicht gewußt, daß so viel Sarkasmus in dir steckt! Wie geht das Zeug weiter?«

Mottram nahm die Melodie wieder auf.

»Viel zu langsam! Nicht das richtige Tempo für ein Dankgebet«, spöttelte Hummil, »es muß so schnell sein wie die Grasshopper-Polka; so etwa.« Und er sang prestissimo:

»Ruhm Dir mein Gott in dieser Nacht,
Für den Segen, den Dein Licht gebracht.«

»Das drückt aus, wie sehr wir den Segen fühlen! – Wie geht’s weiter?«

»Wenn in der Nacht ich schlaflos bin,
Gib frommes Denken meinem Sinn«,

»Schneller, Mottram!«

»Für mich im Traum zu Deinem Land,
Scheuch fort der dunkeln Mächte Hand!«

»O Mottram, was für ein alter Heuchler du doch bist!«

»Sei kein Esel, Hummil!« warnte Lowndes. »Mach Witze, über was du willst, aber laß diese Hymne in Ruh! Wenn ich sie höre, steigen in mir die heiligsten Erinnerungen auf.«

»Jawohl!« stimmte Mottram bei. »Sommerabend auf dem Land; bunte Glasfenster; Dämmerlicht; und du und ›sie‹ sitzen eng beisammen, die Köpfe über ein gemeinsames Gesangbuch gebeugt.«

»Und dann«, fügte Lowndes hinzu, »fliegt dir nachts, wenn du heimgehst, ein fetter alter Maikäfer ins Auge, Heugeruch, ein Mond auf einem Grashaufen, groß wie eine Hutschachtel – Fledermäuse, Rosen, Milch und Mücken.«

»Aber auch: – Mütter! Ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie meine Mutter mich, als ich noch ein kleiner Knirps war, mit der Hymne in den Schlaf gesungen hat«, sagte Spurstow.

Tiefe Dunkelheit lag im Zimmer; Hummil bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her und sagte mürrisch:

»Folglich wirst du sie singen, wenn du bereits sieben Klafter tief in der Hölle steckst. Es ist eine Beleidigung der Weisheit Gottes, zu tun als sei man mehr als ein gequälter Rebell.«

»Nimm zwei Pillen!« riet Spurstow. »Die Leber ist schuld.«

»Hummil scheint heute miserabel gelaunt«, sagte Lowndes, als die Diener Licht brachten und den Tisch fürs Abendessen deckten, »merkwürdig, sonst ist er doch so ruhig.«

Während die Herren sich niedersetzten zu den elenden Ziegenfleisch-Koteletten und dem angebrannten Sagopudding, raunte Spurstow Mottram zu: »Gut hast du’s gemacht.«

»Behalt ihn im Auge!« war die leise Antwort.

»Was habt ihr da zu flüstern?« fragte Hummil argwöhnisch.

»Wir haben nur gesagt«, erwiderte Spurstow mit dem liebenswürdigsten Lächeln von der Welt, »daß du ein verdammt schäbiger Wirt bist. Das >Geflügel< ist zäh wie Holz. Und das nennst du ein Dinner?«

»Kann’s nicht ändern. Habt ihr vielleicht ein Bankett erwartet?«

Während des Essens war Hummil ununterbrochen darauf aus, seine Gäste – einen nach dem ändern – zu reizen und zu beleidigen. Jedesmal gab Spurstow dem Betreffenden ein Zeichen mit dem Fuß unterm Tisch; er wagte nicht, sie mit Blicken zu warnen. Hummils Züge waren blaß und verfallen und seine Augen weit aufgerissen. Keiner der Herren dachte auch nur eine Sekunde daran, seine bösartigen Beleidigungen als Kränkung aufzufassen, aber nachdem die Mahlzeit vorüber war, brachen sie eilig auf, um fortzugehen. »Aber bleibt doch noch! Ihr seid ja kaum erst richtig aufgetaut. Hab ich euch irgendwie beleidigt?« fragte Hummil. »Ihr seid gar so empfindliche Teufel.« Und gleich darauf flehentlich in fast unterwürfigem Ton: »Nicht wahr, ihr geht doch noch nicht?«

»Um die Worte des berühmten Jorrick zu gebrauchen: ›Wo ich gefressen hab, dort schlaf ich auch‹«, sagte Spurstow. »Wenn du nichts dagegen hast, möcht ich morgen sowieso mal deine Kulis auf ihren Gesundheitszustand hin ansehen. Einen Platz wirst du wohl haben, wo ich mich hinlegen kann?«

Die beiden ändern Gäste schützten die dringenden Geschäfte des nächsten Tages vor, sattelten ihre Pferde und ritten fort, von Hummil wiederholt gebeten, Sonntag bestimmt wieder zu kommen. Unterwegs machte Lowndes zu Mottram gewendet seinem Ärger Luft:

»Am liebsten hätte ich ihm an seinem eigenen Tisch eine heruntergehauen. Sagt der Mensch, ich hätte beim Whist betrogen, und erinnert mich an meine Schulden! Dir wirft er vor, du seiest ein Lügner, und du bist nicht einmal empört darüber.«

»Bin’s auch nicht«, sagte Mottram, »armer Teufel, das! Erinnerst du dich, den alten Hummy jemals so von Sinnen gesehen zu haben?«

»Das ist doch wahrhaftig keine Entschuldigung! Spurstow hat mich die ganze Zeit über auf den Fuß getreten, deshalb schwieg ich. Aber sonst hätte ich –«

»Gar nichts hättest du! Du hättest gehandelt wie Hummil in dem Falle Jevins! Man verurteilt niemand bei einem solchen Wetter. Die Schnalle meines Zügels glüht förmlich, so heiß ist’s. Trab ein bissel schneller, aber gib acht auf die Rattenlöcher.«

Ein Trab von zehn Minuten, dann hielt Lowndes an – der Schweiß troff ihm aus allen Poren – und machte die weise Bemerkung:

»Gut, daß Spurstow die Nacht über bei ihm bleibt!«

»Ja! Guter Kerl, der Spurstow. Unsere Wege trennen sich hier. Sehen uns also nächsten Sonntag, wenn die Sonne mich inzwischen nicht umgebracht hat.«

»Hoffentlich kommt’s zustande. Wenn nur nicht der Finanzminister des ›Alten Schöpsen‹ mir unterdessen das Futter versalzen hat. Gute Nacht! Und – Gott behüte dich!«

»Wieso? Was meinst du damit?«

»Ach, gar nichts.« Und Lowndes versetzte Mottrams Stute einen leichten Gertenhieb in die Flanke, so daß sie gleich darauf pfeilschnell über den Sand dahinflog, »wollte nur sagen, daß du gar kein so übler Bursche bist.«

Unterdessen saßen Hummil und Spurstow im Bungalow, rauchten schweigend ihre Pfeifen und beobachteten einander scharf. Die Einrichtung des Junggesellenhaushalts war ebenso leicht wie einfach; ein Diener schob den Speisetisch hinaus, brachte zwei landesübliche rohe Bettstellen (Hanfgurten über einen dünnen Holzrahmen gespannt) herein, warf eine Decke aus kühlem Kalkuttageflecht darüber, schob sie nebeneinander, befestigte mit Stecknadeln zwei Handtücher, so daß sie sich über Nase und Mund leicht bewegen konnten, an der Punkah und meldete, die Betten stünden bereit.

Die Herren legten sich nieder und befahlen den Kulis bei allen Schrecken der Hölle, an den Fächerstricken aus Leibeskräften zu ziehen. Alle Türen und Fenster waren dicht verschlossen, denn draußen herrschte eine Hitze wie im Backofen. Die Luft im Zimmer betrug, wie das Thermometer zeigte, nur 104 Grad, war aber stickig von dem schwelenden Geruch schlecht gereinigter Öllampen, einheimischen Tabaks und dem Dunst glühheißer Ziegel und ausgedörrter Erde: die Atmosphäre des großen indischen Kaiserreichs, wenn es sich für sechs Monate in ein Reich der Qualen verwandelt, die schon so manchem starken Mann das Herz in die Schuhe hat fallen machen. Spurstow türmte alle Kopfkissen aufeinander, so daß er mehr lehnte als lag: es ist nicht gut, niedrig zu schlafen, besonders wenn man kurzhalsig gebaut ist; oft geht beim Schnarchen ein tiefer Schlummer in Hitzschlag über!

»Pack deine Polster hoch!« sagte der Arzt scharf, als er bemerkte, daß Hummil sich flach ausgestreckt hatte.

Das Nachtlicht wurde zurechtgeschraubt, der Schatten der Punkah schwankte im Raum, und gleich darauf folgte das Flappen des Fächertuchs, begleitet von dem leisen Quietschen der Stricke in den Zugösen. Dann, einen Augenblick nur, stand die Maschinerie fast still, aber schon brach der Schweiß aus Spurstows Stirn. Sollte er hinausgehen, den Kulis eine Strafpredigt halten? Ein Ruck: die Punkah bewegte sich wieder. Eine Stecknadel fiel heraus. Dann, als der Schaden behoben war, begann das Flapp-Flapp wieder auf der ganzen Linie, regelmäßig wie das Pulsieren einer Arterie in einem von Nervenfieber gemarterten Gehirn. Spurstow wälzte sich auf die Seite und fluchte leise. Hummil rührte sich nicht; unbeweglich wie eine Leiche lag er da, die Hände an die Seiten gepreßt. Die Atemzüge gingen zu schnell, als daß anzunehmen gewesen wäre, er schliefe. Spurstow blickte auf das regungslose Gesicht: die Lippen waren zusammengepreßt, und ein Zucken lief um die bebenden Augenlider.

»Er beherrscht sich, so gut er kann«, dachte er bei sich, »was in aller Welt mag ihm nur fehlen? – He! Hummil!«

»Ja!« kam’s gequält zurück.

»Kannst wohl nicht einschlafen?«

»Nein.«

»Kopf heiß? Würgen in der Kehle?«

»Nein. Danke. Schlafe nicht viel, wie du weißt.«

»Ist dir sehr schlecht?«

»Ziemlich. Danke. Draußen klopft was, nicht wahr? Hab zuerst geglaubt, ’s war in meinem Kopf. – Spurstow, ich bitte dich, hab Mitleid mit mir! Gib mir was, daß ich schlafen kann – fest schlafen – und wenn’s nur vier Stunden sind!« Und Hummil sprang auf, zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. »Seit Tagen hab ich nicht natürlich geschlafen; ich hält’s nicht mehr aus! hält’s nicht – mehr – aus!«

»Armer Kerl!«

»Mit Worten ist mir nicht geholfen. Gib mir was zum Schlafen! Ich sag dir, ich bin schon fast wahnsinnig. Weiß kaum mehr, was ich sage. Seit drei Wochen muß ich mir jedes Wort vorbuchstabieren, ehe ich’s ausspreche. Ist das nicht genug, einen Menschen zum Wahnsinn zu treiben? Ich kann die Gegenstände nicht mehr recht unterscheiden und hab den Tastsinn fast ganz verloren. Die Haut schmerzt mich – die Haut. Gib mir ein Mittel, daß ich endlich schlafen kann! Spurstow, um Gottes Barmherzigkeit willen, gib mir zu schlafen ein! Etwas, das mich tief schlafen läßt. Nicht bloß träumen! Schlafen! Schlafen!«

»Weiß schon, alter Bursche, weiß schon. Bleib ruhig! Du bist nicht halb so krank, wie du glaubst.«

Die Schleusen der Selbstbeherrschung waren durchbrochen: Hummil klammerte sich furchtsam wie ein Kind an Spurstow. »Mensch! Hummil! Du brichst mir ja den Arm!«

»Ich werde dir das Genick brechen, wenn du mir nicht hilfst, Spurstow! Nein, nein! Verzeih, alter Freund! Ich hab’s ja nicht so gemeint!« Hummil wischte sich den Schweiß von der Stirn, rang nach Selbstbeherrschung. »Ich hab die Besinnung verloren, verzeih! Aber vielleicht könntest du mir doch ein Schlafmittel geben? Bromkali oder sowas?«

»Brom? Dummes Zeug. Warum hast du dich mir nicht längst anvertraut? Laß meinen Arm los! Will mal nachsehen, ob ich nicht in meiner Zigarettendose etwas habe, was dir helfen kann.« Und Spurstow schraubte die Lampe hoch und begann in den Taschen seines Anzugs zu suchen; dann näherte er sich mit einem silbernen Etui, dem er eine winzige schimmernde Spritze entnahm, dem gespannt wartenden Freunde.

»Die letzte Zuflucht der Zivilisation«, sagte er, »ein Zeug, das ich höchst ungern gebrauche. Gib mal deinen Arm her! Na, die Schlaflosigkeit hat deine Muskulatur noch nicht ruiniert. Verdammt dickes Fell. Geradesogut könnte man einem Büffel eine Einspritzung geben. So! In ein paar Minuten wird das Morphium wirken. Leg dich nieder und wart’s ab.«

Ein Lächeln unaussprechlichen, fast blödsinnigen Entzückens verbreitete sich über Hummils Gesicht. »Ich glaube«, flüsterte er, »jetzt werde ich einschlafen können. Gott, wie himmlisch! Spurstow, du mußt mir das Etui hierlassen; du -« Seine Stimme erlosch und sein Kopf fiel zurück.

»Freilich, das könnte dir so passen«, sagte Spurstow zu dem Bewußtlosen, »aber jetzt, mein Freund, werde ich mir gestatten, mal deine Schußwaffen zu vernageln! Schlaflosigkeit deiner Art lockert gern den dünnen moralischen Faden, der die kleinen Nebensächlichkeiten ›Leben und Tod‹ auseinanderhält.«

Mit bloßen Füßen schlich er in Hummils Sattelkammer und zog ein Zwölfkaliber-Gewehr, einen Expreß und einen Revolver aus den Futteralen. Von einem schraubte er die Zündnadel heraus und warf sie in den Schrank, vom ändern entfernte er die Feder und warf sie hinter einen großen Kleiderkasten; den Revolver spannte er nur und schlug den Zapfen des Hahns mit einem Reitstiefelabsatz heraus.

»So, das wäre in Ordnung«, brummte er und schüttelte die Schweißtropfen von den Händen, »diese kleinen Vorsichtsmaßnahmen werden dir wenigstens Zeit zum Nachdenken geben, wenn du den Kopf verlieren solltest. Du neigst mir ein wenig zu viel zu Unfällen beim Gewehrputzen.«

Als er sich aufrichtete, hörte er die heisere Stimme Hummils auf der Türschwelle sagen: »Narr, du!«

Solche Töne finden nur Menschen in lichten Momenten zwischen Delirien, wenn sie einem Freund etwas sagen, bevor sie sterben.

Spurstow sprang zurück und ließ die Waffe fallen; Hummil stand an der Tür und schüttelte sich in hilflosem Lachen.

»War riesig nett von dir, gewiß« – er sprach ganz langsam wie jemand, der Wort für Wort ertastet. »Habe gar nicht die Absicht, mir was anzutun. Spurstow, das Zeug wirkt nicht! Was soll ich tun? Was soll ich nur anfangen?« Panischer Schrecken trat in seine Augen.

»Leg dich nieder und wart ab, bis es wirkt. Leg dich sofort nieder!«

»Ich trau mich nicht. Es wird mich wieder nur halb betäuben. Ein zweitesmal werde ich’s nicht mehr abschütteln können. Du weißt nicht, was es mich für eine Anstrengung gekostet hat, aufzustehen. Sonst bin ich so schnell wie ein Blitz, aber du hast mir einen Stein an die Füße gebunden! Ich war wie gefesselt.«

»Ich versteh schon. Aber leg dich jetzt nieder.«

»Nein, nein, ich deliriere nicht! Es war eine Niederträchtigkeit von dir, Versuche mit mir anzustellen. Weißt du, daß ich beinahe gestorben wäre?«

Wie ein Schwamm eine Schiefertafel abwäscht, so streifte jetzt plötzlich – wollte es Spurstow scheinen – eine unbekannte Macht alles aus Hummils Gesicht fort, das es bisher zum Antlitz eines Mannes gemacht; er stand auf der Schwelle mit dem Ausdruck naivster Unschuld: er hatte sich unter der Wirkung des Morphiums zurückgeschlafen in den Zustand verängstigter Kindheit.

»Wird er jetzt umfallen und sterben?« dachte Spurstow bei sich; setzte dann laut hinzu: »Schon recht, mein Sohn. Komm zu Bett und erzähl mir, was dich bedrückt. Gut, du hast nicht schlafen können, aber was bedeutet der übrige Unsinn?«

»Einen Platz – einen Platz da unten«, sagte Hummil schlicht. Das Mittel wirkte offensichtlich wie Ebbe und Flut; der Ausdruck in Hummils Gesicht schwankte hin und her: ging über von zitternder, kindischer Angst in das bewußte Ausweichen des Mannes vor einer drohenden Gefahr. Je nachdem sein Bewußtsein sank oder stieg.

»Gott im Himmel, Spurstow; ich habe mich schon seit Monaten davor gefürchtet. Es hat mir jede Nacht zur Hölle gemacht; und doch bin ich mir nicht bewußt, jemals etwas Böses getan zu haben.«

»Bleib ruhig! Werde dir noch eine Dosis geben. Wollen mal zuerst das Albdrücken beseitigen, du unverbesserlicher Narr.«

»Ja! Aber gib mir so viel, daß ich nicht mehr aufstehen kann. Du mußt mich in festen Schlaf versenken und nicht so halb betäuben. Man läuft dann so schwer davon!«

»Ich weiß, ich weiß. Hab’s selber erlebt. Die Symptome sind genau so, wie du sie beschreibst.«

»Lach mich doch nicht aus, du Schuft! Ehe diese entsetzliche Schlaflosigkeit über mich kam, hab ich versucht, auf die Ellenbogen gestützt, zu ruhen. Hab mir einen Sporn ins Bett gelegt, um mich zu stechen, wenn ich zurückfiel. Schau her!«

»Bei Gott, der Mensch ist zerstachelt wie ein Gaul! Von einer Nachtmahr geritten, die ihn verderben will. Und wir alle haben ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Wie soll ich mir das deuten? Der Himmel kenne sich da aus. – Sag mal, Hummil, neigst du zu Selbstgesprächen?«

»Ja. Bisweilen. Aber nicht, wenn ich mich fürchte; dann muß ich laufen; du nicht auch?«

»Natürlich. Immer. Versuch mal jetzt, mir alles genau zu schildern, was dich quält, bevor ich dir die zweite Spritze gebe.«

Hummil erzählte wohl zehn Minuten lang in gebrochenem Flüsterton, und Spurstow beobachtete dabei seine Pupillen, oder bewegte die Hand vor seinen Augen hin und her.

Als die Schilderung zu Ende war, wurde die Morphiumspritze angesetzt, und Hummils letzte Worte lauteten, als er zum zweitenmal zurücksank: »Versenk mich in tiefen Schlaf, denn wenn es mich zu packen kriegt, dann muß ich sterben -sterben.«

»Jawohl, das müssen wir alle früher oder später – dank dem Himmel, der unserer Leidenszeit hier auf Erden ein Ziel gesetzt hat«, brummte Spurstow und schob die Polster unter dem Kopf des Schlafenden zurecht. »Kann mir sogar gleich jetzt passieren, wenn ich nicht sofort etwas trinke. Ich schwitze nicht mehr und – fühl schon einen siebzehn Zoll breiten Kragen.« Schnell kochte er sich einen brühheißen Tee; das beste Mittel gegen Hitzschlag, wenn man drei bis vier Tassen hintereinander trinkt. Dann beobachtete er den Schläfer.

»Hm, ein blindes Gesicht, das immer weint und sich die Tränen nicht abwischen kann? Sonderbar! Ein blindes Gesicht, das ihn die Korridore entlang jagt? Hm! Hummil muß Urlaub kriegen! So bald wie möglich. Gleichgültig, ob er bei Sinnen ist, oder nicht. Ohne Zweifel ist er furchtbar zugerichtet. Der Himmel kenne sich da aus!«

Gegen Mittag stand Hummil auf, mit üblem Geschmack im Mund, aber die Augen klar und Freude im Herzen.

»Bin wohl recht krank gewesen in der Nacht, was?«

»Ich hab schon gesündere Leute gesehen. Du mußt einen Sonnenstich gehabt haben. Hör mal: wenn ich dir jetzt ein ausführliches ärztliches Zeugnis ausstelle, wirst du dann, und zwar sofort, um einen Urlaub einreichen?«

»Nein.«

»Warum denn nicht? Du hast’s nötig!«

»Freilich. Aber ich kann’s hier schon noch aushalten, bis das Wetter kühler wird.«

»Wozu das, wenn du doch sofort Urlaub bekommen kannst?«

»Burkett wäre der einzige, den sie mit meiner Arbeit betrauen könnten, aber der ist ein geborener Narr.«

»Mach dir deswegen doch keine Sorgen. Du bist gar nicht so wichtig hier. Telegrafiere um Urlaub!«

Hummil sah sehr besorgt drein.

»Ich kann’s aushalten bis zur Regenzeit«, sagte er ausweichend.

»Nein, du kannst es nicht. Depeschiere ins Hauptquartier um Burkett.«

»Ausgeschlossen! Wenn du’s durchaus wissen willst: Burkett ist verheiratet, und seine Frau hat vor kurzem ein Kind gekriegt; sie ist oben im Kühlen – in Simla. Er hat eine Freikarte und fährt jeden Samstag bis über den Sonntag zu ihr. Wenn er versetzt wird, geht sie mit ihm, und sie ist durchaus nicht sehr wohl, die kleine Person. Läßt sie das Baby zurück, so ängstigt sie sich zu Tod; und geht sie mit ihm, so stirbt sie hier bestimmt. Burkett wird darauf bestehen, daß sie mit ihm geht, denn er ist einer jener egoistischen Spießbürger, die immer behaupten, eine Frau müsse beständig um ihren Mann sein. Es ist geradezu Mord, eine Frau um diese Zeit herzubringen. Und auch Burkett hat kein so zähes Leben wie eine Ratte. Wird er herversetzt, ist’s aus mit ihm; und sie hat kein Vermögen – folglich war’s auch aus mit ihr. Ich bin einigermaßen abgebrüht und ledig. Wart bis zur Regenzeit; dann mag meinetwegen Burkett kommen und hier abmagern. Wird ihm auch nicht schaden.«

»Mit andern Worten, du willst also bis zur kühleren Jahreszeit dem ins Gesicht sehen, was du bisher bereits erlebt hast?«

»Ach, es wird nicht so schlimm werden jetzt, wo du mir gezeigt hast, wie ich ihm entrinnen kann. Ich kann dir ja täglich telegrafieren. Wenn ich mich wieder in den Schlaf flüchten kann, wird alles gut gehen. Um Urlaub suche ich unter keinen Umständen nach. Damit Schluß.«

»O du großer – Scott! Und ich hab geglaubt, dre Sache sei so gut wie abgemacht!«

»Quatsch. Du würdest auch nicht anders handeln. Ich bin jetzt ein neuer Mensch – dank deinem Zigarettenetui. Du kehrst nunmehr ins Lager zurück, was?«

»Jawohl; werde aber jeden zweiten Tag, wenn’s mir möglich ist, nach dir schauen kommen.«

»Ach was, so krank bin ich doch gar nicht. Ich möchte dich nicht behelligen. Gib lieber deinen Kulis regelmäßig ihren Branntwein mit Pfeffersauce.«

»Du fühlst dich also wirklich ganz wohl?«

»Hinreichend, um fest im Leben, wenn auch nicht noch länger mit dir hier in der Sonne stehen zu können. Geh jetzt, altes Haus, und Gott behüte dich!«

Und Hummil kehrte sich auf dem Absatz um und wollte zurückgehen in die echoreiche Einsamkeit seines Bungalows. Das erste, was er erblickte – in der Veranda -, war sein Doppelgänger. Er hatte eine gleiche Erscheinung schon früher gehabt, als er erschöpft von Überarbeitung und Hitze beinahe zusammengebrochen wäre.

»Schon wieder – das ist bös«, murmelte er und rieb sich die Augen, »wenn das Ding plötzlich vor mir verschwindet wie ein Geist, dann weiß ich: Augen und Magen sind krank; aber, wenn es anfängt zu wandern, dann – verlier ich den Verstand«, und er näherte sich der Gestalt, die, wie alle Phantome, die einem überarbeiteten Gehirn entspringen, in immer gleichbleibender Entfernung vor ihm zurückwich. Sie glitt durchs Haus und löste sich vor seinen Augen in verschwimmende Flecke auf, sobald er in das blendende Licht des Gartens trat. Als er zum Essen ins Zimmer ging, fand er sich bereits bei Tisch sitzend. Dann erhob sich die Gestalt und eilte hinaus. Sie schien in jeder Hinsicht wirklich zu sein, nur warf sie keinen Schatten.

Niemand weiß, was Hummil in dieser Woche wohl gelitten haben mag! Die beständig zunehmenden Choleraerkrankungen unter den Kulis hielten Spurstow im Lager fest, und er depeschierte deshalb Mottram, er möge zu Hummil fahren und dort schlafen. Mottram aber war vierzig Meilen weit entfernt von der nächsten Telegrafenstation und erfuhr nichts als dienstliche Angelegenheiten, bis er Sonntag früh mit Lowndes und Spurstow zusammentraf, um sich gemeinsam mit ihnen in den Bungalow zu begeben.

»Hoffentlich treffen wir den armen Kerl diesmal in besserer Verfassung!« meinte Lowndes und schwang sich vor der Eingangstür aus dem Sattel. »Vermutlich ist er noch nicht aufgestanden.«

»Will mal hineinschauen«, sagte der Arzt, »wenn er schläft, wollen wir ihn nicht wecken.«

Einen Augenblick später errieten die beiden am Klang der Stimme Spurstows, die sie hereinrief, bereits, was geschehen war. Nutzlos, Hummil wecken zu wollen!

Die Punkah bewegte sich noch, aber er selbst mußte dieses Leben schon seit drei Stunden verlassen haben.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Hände fest an die Seiten gepreßt, genau, wie ihn Spurstow vor sieben Nächten hatte liegen sehen. In den starren Augen den Ausdruck eines unbeschreiblichen Entsetzens.

Mottram, der hinter Lowndes eingetreten war, beugte sich über den Leichnam, berührte dessen Stirn leicht mit den Lippen und flüsterte: »O du glücklicher, glücklicher Bursche.«

Lowndes aber, der die starren Augen gesehen hatte, wandte sich schaudernd ab und ging an die andere Seite des Zimmers:

»Armer Kerl! Armer Kerl! Spurstow, wir hätten bei ihm wachen sollen. Hat er -?«

Schweigend setzte der Arzt seine Untersuchung fort und nahm dann die Umgebung in Augenschein; »nein«, sagte er entschieden, »er hat nicht -. Nirgends eine Spur, die darauf hinweisen würde. Ruft die Dienerschaft herein!«

Die Leute kamen, acht oder zehn; einer blickte dem ändern über die Schulter. Sie flüsterten sich etwas zu.

»Wann ist euer Sahib schlafen gegangen?« fragte Spurstow.

»Um elf oder um zehn«, berichtete Hummils Privatdiener.

»War er da noch wohl? Aber wie könnt ihr das wissen!«

»Krank war er nicht, soweit wir das beurteilen können, aber geschlafen hat er seit drei Nächten nur sehr wenig. Ich weiß es, denn ich hab ihn viel herumgehen sehen – besonders in der Tiefe der Nacht.«

Als Spurstow die Kopfpolster zurechtrückte, fiel ein langer Jagdsporn auf den Boden. Spurstow stöhnte laut auf. Der Diener blickte verstohlen auf den Toten.

»Woran denkst du, Chuma?« fragte Spurstow rasch, da er den Blick in dem dunklen Gesicht des Mannes gar wohl bemerkt hatte.

»Himmelsentsprossener, nach meiner armseligen Meinung ist der, der mein Herr war, hinabgestiegen in die Stätten der Finsternis; er wurde gepackt, da er nicht schnell genug hat fliehen können. Der Sporn ist der Beweis, daß er mit Furcht gekämpft hat. Männer meiner eigenen Rasse hab ich es so machen sehen mit Dornen, wenn ein Zauber auf ihnen lag, der sie im Schlaf überwältigen wollte, und sie sich fürchteten, einzuschlafen.«

»Chuma, du bist ein Mostschädel! Geh hinaus und richte die Siegel vor, die an deines Sahibs Eigentum angelegt werden müssen.«

»Gott hat den Himmelsentsprossenen erschaffen. Gott hat mich erschaffen. Wer sind wir, daß wir dem Ratschluß Gottes nachforschen dürften? Ich werde den ändern Dienern befehlen, sich zu entfernen, während du den Besitz des Sahibs aufschreibst. Sie sind alle Diebe und würden stehlen.«

»Soviel ich beurteilen kann«, erklärte Spurstow seinen Freunden, »ist er an – irgend etwas gestorben: Herzlähmung, Hitzschlag oder sonst irgendeiner – Heimsuchung. Wir müssen ein Inventar seiner Habseligkeiten aufnehmen und so.«

»In den Tod gehetzt ist er worden!« behauptete Lowndes. »Sieh dir nur die Augen an! Um Gotteswillen, laß ihn nicht mit offenen Augen begraben werden.«

»Was es auch immer gewesen sein mag, jetzt ist er erlöst von aller Qual!« sagte Mottram mild.

Spurstow blickte scharf in die Augen des Toten:

»Komm mal her! Siehst du etwas drin?«

»Ich kann nicht hinschauen«, schluchzte Lowndes. »Deck sein Gesicht zu. Gibt es wirklich ein Furchtgefühl auf Erden, das einen Mann so verwandeln kann?! Es ist grauenhaft. Spurstow, deck seine Augen zu!«

»Auf Erden? Nein!« sagte Spurstow; Mottram lehnte sich an ihn und blickte forschend hin:

»Ich sehe nichts. Nur ein paar graue Flecken in der Pupille. Etwas anderes kann es nicht gut sein.«

»Meine ich auch. Denken wir mal nach, was zu geschehen hat. Ich brauche einen halben Tag, um eine Art Sarg zurechtzuzimmern, Lowndes, altes Haus, geh hinaus und befiehl den Kulis, sie sollen die Erde neben Jevins‘ Grab aufschaufeln. Und du, Mottram, geh mit Chuma durch den Bungalow und laß die Siegel anlegen. Schickt mir zwei Leute herein, damit ich anfangen kann.«

Als die beiden starkarmigen Diener zu ihren Genossen zurückkehrten, wußten sie eine sonderbare Geschichte zu erzählen: der Doktor Sahib hätte sich vergebens bemüht, ihren Herrn durch magische Künste ins Leben zurückzurufen. Zum Beispiel habe er eine kleine grüne, bisweilen leise knackende Schachtel vor die Augen des Toten gehalten und dabei erschrocken gemurmelt, dann habe er sie mit sich genommen.

Das dröhnende Hämmern auf einen Sarg ist kein angenehmes Geräusch, aber die, die dergleichen kennen, behaupten, viel schrecklicher sei noch das leise Rascheln der Bettücher und das Hin- und Herschieben der Lagerstätte, wenn der Abgeschiedene zum Begräbnis angekleidet und die verhüllte Gestalt langsam herabgelassen wird, bis sie den Boden berührt, und alles ruhig mit sich geschehen läßt.

Noch im letzten Augenblick wurde Lowndes von Gewissensmahnungen ergriffen. »Was meinst du, sollen wir die Gebete verrichten?« fragte er Spurstow.

»Ich glaube: ja! Du bist der Ältere im Zivildienst. Tue du’s!«

»Ich? An diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber vielleicht kann ich irgendwo einen Geistlichen auftreiben. Wenn ich noch so weit reiten müßte, ich tat’s gern, um dem armen Hummil eine Chance zu geben.«

»Unsinn«, sagte Spurstow, und gleich darauf ertönten von seinen Lippen die gewaltigen Worte, mit denen der Gottesdienst bei einem Begräbnis beginnt.

Nach dem Frühstück rauchten die drei stumm ihre Pfeifen zum Gedächtnis des Toten. Plötzlich sagte Spurstow nachdenklich:

»In der medizinischen Wissenschaft ist es nicht bekannt.«

»Was?«

»Bilder in den Augen von Leichen.«

»Um Himmelswillen, sprich nicht mehr von all dem Entsetzlichen!« rief Lowndes. »Ich hab einmal einen Eingeborenen vor Schrecken sterben sehen, als ein Tiger hinter ihm her war; ich weiß, was Hummil getötet hat.«

»Einen Schmarren weißt du! Ich will mich jetzt überzeugen, was es war«, und Spurstow zog sich mit einer Kodakkamera in das Badezimmer zurück. Nach ein paar Minuten hörte man drin ein Geräusch, als ob etwas in Stücke geschlagen würde. Gleich darauf trat der Arzt, totenblaß, wieder ein.

»Hast du ein Bild bekommen?« fragte Mottram. »Ist etwas auf der Platte?«

»Nein. Nichts. Natürlich. Kann dir nichts zeigen, Mottram. Hab die Filmspule herausgenommen. War nichts drauf. Wie sollte es auch!«

»Das«, sagte Lowndes gedehnt, mit einem ausdrucksvollen Blick auf die heftig zitternde Hand des Arztes, die sich vergeblich bemühte, die Pfeife wieder in Brand zu setzen, »das – ist – eine – verdammte Lüge!«

Mottram versuchte zu lächeln. »Spurstow hat recht«, sagte er. »In einem Zustand wie dem, in dem wir uns jetzt befinden, würden wir auch das Unmöglichste glauben. Zwingen wir uns zur Besonnenheit.«

Lange sprach keiner von ihnen auch nur ein Wort. Der heiße Wind draußen pfiff ums Haus, und die ausgedörrten Bäume ächzten. Gleich darauf, in blinkendem Kupfer, Stahlglanz und zischendem Dampf, kam der Tageszug angebraust durch die sengende Hitze. »Am besten, wir fahren gleich mit!« meinte Spurstow. »Kehren wir zu unserer Arbeit zurück. Der Totenschein ist ausgefüllt. Hier haben wir nichts mehr zu suchen, und Arbeit wird uns helfen, unsere fünf Sinne beisammen zu halten. Vorwärts.«

Aber keiner rührte sich: eine Eisenbahnfahrt zu Mittag im Juni hat nicht viel Verlockendes. – Entschlossen griff Spurstow nach Hut und Reitpeitsche, wandte sich in der Türe noch einmal um und sagte:

»Wir hier auf Erden, wir haben das Leben;
Ob’s einen Himmel gibt? Ob eine Hölle?
Wer wüßte Antwort auf die bange Frage?«

Weder Mottram noch Lowndes konnten etwas darauf erwidern.

Naboth

Diese Geschichte könnte eine Allegorie des indischen Kaiserreiches sein, aber abgespielt hat sie sich nichtsdestoweniger und zwar folgendermaßen:

Ich begegnete Naboth am Rande meines Gartens. Er trug einen leeren Korb auf dem Kopf und ein schmutziges Tuch um die Lenden. Das war anscheinend seine ganze Habe – damals, als ich ihn zum ersten Male sah. Er eröffnete unsere Bekanntschaft mit Betteln, war sehr mager und trug fast ebensoviel Rippen zur Schau wie sein Korb. Er erzählte mir eine endlose Geschichte von Fieber und einem Prozeß und einem eisernen Kessel, den ihm das Gericht nach vorheriger Pfändung beschlagnahmt hätte. Ich griff in die Tasche, um Naboth zu helfen; haben doch auch bekanntlich orientalische Herrscher fremden Abenteurern bis zur Neige ihrer königlichen Schatzkammern geholfen! Ich fand eine Rupie in den Futterfalten meiner Westentasche – wußte gar nicht, daß sich eine solche dort verkrochen hatte – und reichte sie Naboth, gewissermaßen als ein direktes Geschenk des Himmels. Er versicherte mir, ich sei der einzig berufene Beschirmer der Armen, den er jemals im Leben gesehen hätte.

Am nächsten Morgen erschien er wieder, ein wenig gerundeter an Körperfülle, ballte sich zu einem Knäuel auf meiner Veranda zusammen und beteuerte, ich sei sein Vater, seine Mutter und der direkte Abkömmling des indischen Götterpantheons – außerdem lenke ich fraglos die Geschicke des Universums. Er selbst hingegen sei nur ein geringer Zuckerwarenverkäufer und viel weniger, als der Staub zu meinen Füßen. Ich hatte derlei Hymnen schon oft gehört und fragte ihn daher, was sein Begehr sei. Meine Rupie, sagte Naboth, habe ihm die dauernden Wonnen des Paradieses erschlossen, nur ein Wunsch bliebe ihm noch, nämlich, in der Nähe des Hauses seines Wohltäters einen Zuckerstand errichten zu dürfen, um beständig sein – das heißt mein – erhabenes Antlitz vor Augen zu haben und zu sehen, wie ich komme und gehe und die Welt erleuchte. Ich gewährte ihm gnädigst die Bitte und er ging von hinnen, den Kopf zwischen den Knien.

Vom untersten Ende meines Gartens senkte sich, gekrönt von dichtem Gestrüpp, ein Abhang zur Straße hinab. Ein kurzer Fahrweg führt an dem Gebüsch vorbei von meinem Hause zum Korso. Am nächsten Tag sah ich, daß Naboth sich am Fuße des Abhanges hingesetzt hatte – mitten hinein in den Staub der Straße und in die volle Glut der Sonne, mit einem schmächtigen Korb schmieriger Süßigkeiten vor sich; er hatte offensichtlich mit meiner großmütigen Gabe als Betriebskapital wieder ein Geschäft angefangen. Ich war gewissermaßen der Schöpfer dieses Paradieses. Bei Anbeginn war die Erde ringsum wüst und leer gewesen, dann zeigten sich die Uranfänge in schwachen Umrissen: Naboth, ein Körbchen, grauer Staub und Sonnenschein, das war, ehe die Anzapfung meines Reiches anhub.

Am nächsten Tage bereits hatte sich Naboth näher an mein Gestrüpp herangepürscht, nannte ein Palmenblatt sein eigen und wedelte damit die Fliegen von seinen Süßigkeiten weg, woraus ich schloß, daß er ein gutes Geschäft gemacht haben mußte.

Vier Tage später bemerkte ich, daß er sich und seinen Korb bis in den Schatten des Gebüsches hinaufgezogen und ein isabellfarbenes Tuch als Baldachin zwischen den Ästen befestigt hatte, um von der Sonnenhitze nicht belästigt zu werden. Sein Korb enthielt eine große Auswahl Zuckerwerk. Der Handel scheint zu blühen, dachte ich bei mir.

Sieben Wochen später erwarb die Regierung ein Stück Land ganz in der Nähe, um ein Gerichtsgebäude darauf errichten zu lassen. Etwa vierhundert Kulis wurden zur Aushebung des Grundes eingestellt. Naboth kaufte sich ein blau- und weißgestreiftes Tuch, einen messingnen Lampenständer und einen kleinen Jungen, um der geschäftlichen Flutwelle, die stündlich wuchs, begegnen zu können.

Wieder fünf Tage später hatte er sich ein riesiges, dickbäuchiges, rotrückiges Buch angeschafft und dazu ein gläsernes Tintenfaß – was mir verriet, daß die Kulis auf dem besten Wege waren, seine Schuldner zu werden, und daß sich das Geschäft bereits dem legitimen Bankfach zubewegte. Auch sah ich, daß sich der eine Korb in drei verwandelt hatte, Naboth in das Gestrüpp eingedrungen war und dort eine niedliche Lichtung behufs gebührender Entfaltung des Warenvorrats, des Jungen und der Buchhaltung ausgehauen hatte.

Nach zwölf weiteren Tagen stand eine Art Feldküche aus Lehm in der Lichtung und das rotrückige Hauptbuch machte einen hochträchtigen Eindruck. Er versicherte mir, Gott habe nur wenige Engländer meiner Art erschaffen und ich sei fraglos eine Verkörperung aller menschlichen Tugenden. Als Opfergabe spendete er mir ein wenig von seinem Zuckerzeug, und durch dessen Annahme setzte ich ihn sozusagen zum Vasallen im Bereich meines Schutzgebietes ein.

Abermals drei Wochen und ich bemerkte, daß der Junge täglich für seinen Herrn ein warmes Mittagessen bereitete und Naboth selbst sich einen Spitzbauch anzulegen gedachte. Er hatte ein weiteres Stück meines Gebüsches »urbar« gemacht und sich ein zweites, noch dickeres Kontobuch angeschafft.

Elf Wochen darauf hatte er sich beinahe durch das ganze Buschwerk durchgehauen, und eine Schilfrohrhütte mit einem Bett davor verschönte die Ansiedlung. Zwei Hunde und ein Baby schliefen auf dem Bett, woraus ich schloß, daß Naboth eine Gattin heimgeführt hatte. Er gab es ohne weiteres zu und sagte, er habe den Schritt getan in der Voraussetzung, daß es meine Gnade noch gestatten würde, zumal ich unendlich edler sei, als Krischna selbst. Nach Verlauf von sechs Wochen und zwei Tagen war eine Lehmmauer hinter der Hütte entstanden; Hühner liefen davor umher und es stank ein wenig. Der Munizipalsekretär stellte fest, daß sich infolge dieser Bautätigkeit bereits eine Senkgrube von Abwässern auf der Straße vor meinem Besitztum zu bilden begänne, die ich unbedingt beseitigen lassen müßte. Ich sprach mit Naboth. Er sagte, ich sei unumschränkter Gebieter über alle seine irdischen Güter und der Garten mein ausschließliches Eigentum. Als Huldigung und Opfergabe sandte er mir wieder einiges Zuckerwerk, eingewickelt in einen gebrauchten Wischlappen.

Zwei Monate später begab es sich, daß ein Kuli bei einer Rauferei, die gegenüber Naboths Paradies und Weinberg stattgefunden haben mußte, erschlagen worden war. Der Polizeiinspektor sagte, es sei das ein ernster Fall, drang in meine Gesindewohnungen ein, beschimpfte die Hausmeisterin und wollte den Hausmeister verhaften. Das Bedenkliche bei der Mordaffäre war, daß es allgemein hieß, die meisten der an der Rauferei beteiligten Kulis seien schwer betrunken gewesen. Naboth stellte mir aufs eindringlichste vor, nur mein Name, als glänzender Schild zwischen ihn und seine Feinde gestellt, könne ihn schützen, was um so wünschenswerter sei, als er in Bälde die Ankunft eines zweiten Babys erwarte.

Vier Monate waren wieder vorbei, da bestand die Hütte ganz und gar aus soliden Lehmmauern, und Naboth hatte den größten Teil meines Gebüsches für fünf Ziegen abgeholzt. Eine silberne Uhr an einer Aluminiumkette zierte seinen stattlichen Bauch. Nun waren meine Diener wiederholt unglaublich betrunken und pflegten auch sonst die Tage in geheimnisvollen Orgien in Naboths Paradies zu verbringen. Ich sprach mit Naboth. Er sagte, meine strahlende und erhabene Gnade vorausgesetzt, werde er alle seine Weiber in unnahbare Damen verwandeln, und, falls jemand ihn verdächtigen sollte, er triebe etwa einen verbotenen Handel mit Schnaps im Schatten der Tamariskensträucher, so solle ich, sein Gebieter und Herr, den Ruchlosen unerbittlich zur Rechenschaft ziehen.

Eine Woche darauf bestellte er einen Mann, damit er ihm einige Dutzend Quadratmeter Gitterzaun um die Rückseite der Hütte zöge, auf daß seine Damen vor den zudringlichen Blicken des Publikums geschützt seien. Der Mann fing mit der Arbeit zwar an, ließ sie aber bald stehen und pflasterte lieber statt dessen ein Stück der kurzen Verbindungsstraße, die zu meinem Hause läuft. Nun fuhr ich in der Dämmerung an jenem Tage heim und bog scharf um die Ecke an Naboths Weinberg. Im nächsten Augenblick hatten die beiden Pferde meines Phaethons sich mit den Füßen in einem Haufen umherliegenden Gitterwerks verfangen und stürzten. Das eine schürfte sich nur das Knie auf, aber das andere mußte ich auf der Stelle erschießen, so war es zugerichtet.

Naboth ist jetzt fort, seine Hütte ist der Erde, der sie entstammte, gleichgemacht, und der Boden mit Salz bestreut, statt mit Zucker, zum Zeichen, daß der Platz verflucht sein möge. An die Grenze meines Gartens habe ich mir eine Sommerlaube bauen lassen, die die Aussicht beherrscht. Sie dient mir als Sperrfort, von dem aus ich mein Reich vor Einfall beschirme.

Ich kann mir heute genau vergegenwärtigen, wie dem gottseligen Ahab in der Bibel zumute gewesen sein muß. Man hat ihn in der Schrift schmählich falsch beurteilt!

Moti Guj, der Meuterer

Es war einmal ein Pflanzer in Indien, der wollte einen Wald ausholzen, um eine Kaffeeplantage anzulegen. Als der letzte Baum gefällt und das Unterholz verbrannt war, blieb nur noch, die Stümpfe auszuroden. Dynamit kostet viel, und Feuer ist zu langweilig. Die beste Art, Stümpfe zu entfernen, ist, sich des Königs der Tiere, des Elefanten, zu bedienen. Er gräbt sie entweder mit seinen Stoßzähnen aus der Erde, oder er reißt sie vermittelst eines Taues aus. Der Pflanzer mietete also Elefanten und schickte sie einzeln, paarweise oder zu dreien an die Arbeit. Der beste der Elefanten gehörte dem schlechtesten der Treiber, und der Name dieses unvergleichlichsten aller Tiere war: Moti Guj. Er war der unbeschränkte Besitz seines Mahout, was unter einer Eingeborenenregierung nicht möglich gewesen wäre, denn Moti Guj war ein Geschöpf, das den Neid jedes Königs erweckt hätte; wie denn auch sein Name soviel wie: »Perle der Elefanten« bedeutete. Da das Land aber unter britischer Botmäßigkeit stand, durfte Deesa, der Mahout, im unbestrittenen Besitz seines Schatzes bleiben. Deesa, der Mahout, war ein Schlemmer. Hatte er durch die Kraft seines Elefanten genug Geld verdient, so pflegte er sich maßlos zu betrinken und dann Moti Guj eine Tracht Prügel mit einer Zeltstange zu verabfolgen, indem er auf die empfindlichen Zehennägel seiner Vorderfüße losdrosch. Moti Guj trampelte ihn bei solchen Gelegenheiten nicht etwa tot, wußte er doch ganz genau, wenn die Prügel zu Ende sein würden, würde Deesa seinen Rüssel umarmen und laut weinen und ihn »mein Herzblättchen, mein Leben und Leber meiner Seele« nennen und ihm Schnaps zu trinken geben. – Moti Guj war nämlich ein großer Freund des Alkohols, insbesondere des Arraks, aber er verschmähte auch Palmsaft – Toddy nicht, wenn er nichts Besseres bekam. – Nach solchen Gefühlsausbrüchen legte sich Deesa gewöhnlich zwischen Moti Gujs Vorderfüße schlafen und, da er sich dazu gewöhnlich die Mitte der Landstraße auserkor, Moti Guj über ihm Wache hielt und weder Pferd noch Fußgänger, noch Wagen passieren ließ, so stockte jedesmal der Verkehr, bis es Deesa beliebte, aufzuwachen.

Tagsüber war Schlafen auf der Ausholzung streng verboten, denn dazu waren die Löhne zu hoch. Deesa saß also auf Moti Gujs Nacken und kommandierte, während Moti Guj machtvoll Baumstümpfe ausrodete, denn er besaß ein paar prachtvolle Stoßzähne, oder sie mit einem Strick ausriß, – denn er besaß ein paar ebenso prachtvolle Schultern; Deesa trat ihm dabei hinter die Ohren und nannte ihn den König der Elefanten. Am Abend spülte Moti Guj 500 Pfund Grünfutter mit einem Quart Arrak hinunter, und auch Deesa nahm einen Imbiß zu sich und sang dann zwischen Moti Gujs Vorderbeinen Lieder, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen. Wöchentlich einmal führte Deesa Moti Guj hinunter ans Flußufer; Moti Guj legte sich dann in dem seichten Wasser wollüstig auf die Seite und ließ sich von Deesa mit einem Kokosschrubber und einem Ziegelstein bearbeiten, bis ihm ein Klatschen mit dem Stein das Zeichen gab, sich umzudrehen. War die Prozedur vorbei, sah Deesa ihm Augen und Füße nach und hob ihm die Lappen seiner langen Ohren auf, um nachzuschauen, ob sich dort nicht wunde Stellen oder Entzündungsherde gebildet hätten. Fiel der Befund zufriedenstellend aus, so kehrten beide – Moti Guj schwarz und glänzend, einen abgerissenen 12 Fuß langen Ast mit dem Rüssel schwenkend, und Deesa, sein nasses langes Haar zum Knoten schürzend und eine Hymne auf das Meer singend, – nach Hause zurück.

So floß ein friedliches und gut bezahltes Leben dahin, bis Deesa eines Tages die Lust in sich fühlte, sich wieder einmal gründlich zu besaufen. Er sehnte sich aus Herzensgrund nach einer Orgie. Die kleinen Gelegenheitsschnapsereien führten zu nichts Rechtem und zehrten nur an seinem Männlichkeitsbewußtsein!

Er ging deshalb zu dem Pflanzer und rief unter heißen Tränen: »Meine Mutter ist tot!«

»Ich weiß«, sagte der Pflanzer, »sie ist vor zwei Monaten auf der andern Plantage gestorben. Aber auch früher ist sie schon einmal gestorben, damals hast du – vor einem Jahr – bei mir gearbeitet.«

»Dann ist’s meine Tante!« heulte Deesa. »Sie war so gut zu mir wie meine Mutter. Sie hat achtzehn kleine Kinder zurückgelassen, deren hungrige Mägen ich füllen muß«, und er schlug seine Stirne auf den Boden.

»Wer hat dir die Nachricht gebracht?« forschte der Pflanzer.

»Die Post.«

»Die ganze letzte Woche ist doch gar keine Post gekommen! Scher dich an deine Arbeit!«

»Eine verheerende Krankheit ist in meinem Dorf ausgebrochen und meine sämtlichen Weiber liegen im Sterben!« jammerte Deesa, und echte Tränen füllten seine Augen.

»Chihun soll herkommen!« befahl der Pflanzer. »Er ist aus demselben Dorf wie Deesa. Chihun, hat dieser Mann ein Weib?«

»Der?!« sagte Chihun. »I wo! Kein Weib aus unserm Dorf würde ihn anschauen! Eher würde sie noch seinen Elefanten heiraten.«

Und Chihun lachte laut; Deesa aber weinte und brüllte.

»Du wirst gleich was erwischen! Marsch jetzt an deine Arbeit!« rief der Pflanzer.

»So will ich denn die himmlische Wahrheit sprechen!« stieß Deesa, von plötzlichem Offenherzigkeitsdrang ergriffen, hervor. »Seit zwei Monaten habe ich mich nicht mehr betrunken. Ich will weit fortgehen von dieser Himmelsplantage, um kein Ärgernis zu geben.«

Ein Lächeln flackerte über das Gesicht des Pflanzers. »Deesa«, sagte er, »jetzt hast du die Wahrheit gesprochen, und ich würde dir auf der Stelle einen Urlaub bewilligen, wenn ich nur wüßte, was ich mit Moti Guj anfangen soll, während du fort bist. Du weißt, er gehorcht nur dir allein.«

»Mögest du, o Licht des Himmels, vierzigtausend Jahre leben!« rief Deesa. »Ich werde nur zehn Tage fort sein, dann kehre ich zurück, das schwöre ich bei meinem Glauben, bei meiner Ehre und meiner Seele. Habe ich jetzt die allergnädigste Erlaubnis des Himmelsentsprossenen, Moti Guj herzubringen?«

Die Erlaubnis wurde erteilt und auf Deesas schrillen Pfiff hin kam das majestätische Tier aus dem Schatten einer Baumgruppe herangeschaukelt, wo es sich die Zeit damit vertrieben hatte, sich mit Staub zu duschen.

»Licht meines Herzens, Beschützer der Betrunkenen, Berg der Macht, leihe mir dein Ohr!« begann Deesa und pflanzte sich vor dem Elefanten auf.

Moti Guj lieh es ihm und salutierte mit dem Rüssel. »Ich gehe fort«, erklärte Deesa.

Moti Guj zwinkerte verständnisvoll; er liebte ebenso wie sein Herr das Herumstrolchen: man konnte da allerlei nette Sachen auf der Landstraße aufschnappen.

»Aber du, du altes dickes Schwein, bleibst hier und arbeitest!« setzte Deesa schnell hinzu.

Moti Guj heuchelte Entzücken, aber der Glanz in seinem Auge erlosch. Er haßte aus tiefster Seele das Stümpfeausroden. Es bereitete ihm Zahnschmerzen.

»Zehn Tage bleibe ich fort, o Lieblicher! Heb mal jetzt den linken Vorderfuß, damit ich dir die Zahl einhämmern kann, du Warzenkröte aus einer vertrockneten Dreckpfütze!« – und Deesa nahm die Zeltstange und schlug Moti Guj, der dabei grunzte und von einem Fuß auf den ändern trat, zehnmal auf die Nägel.

»Zehn Tage«, wiederholte Deesa, »mußt du arbeiten. Stümpfe ausroden und ausreißen, wie Chihun dir befehlen wird. Heb jetzt Chihun auf und setze ihn auf deinen Nacken!« Moti Guj rollte das Ende seines Rüssels zusammen, Chihun stellte seinen Fuß hinein und befand sich im nächsten Augenblick auf dem Nacken des Elefanten.

Deesa reichte ihm den Ankus hinauf, den eisernen Elefantenstachel; Chihun hämmerte damit auf Moti Gujs Glatze los wie ein Grobschmied auf den Amboß.

Moti Guj trompetete.

»Keine Widerrede, du Schwein aus dem Urwald!« ermahnte ihn Deesa. »Chihun ist jetzt dein Mahout für zehn Tage. Und nun, Tier meines Herzens, sag mir Lebewohl! O du mein Herr, mein König! Perle aller erschaffenen Elefanten! Du Lilie der Herde, bleib gesund und sei tugendhaft! Gott befohlen!«

Moti Guj schlang als Antwort seinen Rüssel um Deesa und schwenkte ihn zweimal durch die Luft.

»Jetzt wird er arbeiten«, sagte Deesa zu dem Pflanzer. »Darf ich gehen?«

Der Pflanzer nickte, und Deesa verschwand im Gehölz. Moti Guj ging zurück an seine Arbeit. –

Chihun behandelte ihn gut, aber er fühlte sich dennoch unglücklich und verlassen – Chihun gab ihm klumpenweise Gewürze, kitzelte ihn unter dem Kinn, Chihuns Baby umschmeichelte ihn nach der Arbeit, Chihuns Weib nannte ihn »Herzenskind«, aber Moti Guj war der geborene Hagestolz, genau wie Deesa, und Familienzärtlichkeiten lagen ihm nicht. Er sehnte sich nach dem Licht seiner Welt, nach einem Labetrunk, nach dem Schlummer der Trunkenheit, nach den wilden Hieben und den wilden Liebkosungen.

Dennoch arbeitete er zu des Pflanzers größter Verwunderung. Deesa war indessen auf den Landstraßen umhergestrolcht, bis er einer Hochzeitsprozession von Leuten seiner eigenen Kaste begegnet war und über Trinken, Tanzen und Schwelgen die Zeit vergaß.

Der Morgen des elften Tages brach an, und noch immer ließ er sich in der Plantage nicht sehen. Man löste die Stricke von Moti Guj, damit er an seine Arbeit gehe; er schüttelte sie ab, blickte umher, zuckte die Achseln und ging fort, wie jemand, der anderswo zu tun hat.

»Hü Ho! Komm zurück, du!« schrie Chihun. »Hierher, du ungestalter Berg, und heb mich auf deinen Nacken! Hier komm her, o Glanz des Hügelgeländes, Zierde von ganz Indien, kehre um, oder ich hau dir jede Zehe ab von deinen fetten Vorderfüßen!«

Moti Guj gurgelte höflich, dachte aber nicht im entferntesten daran, zu gehorchen. Chihun lief ihm nach und fing ihn mit einem Strick ein. Moti Guj breitete die Ohren aus wie Schirme. Chihun erkannte daraus, wieviel die Glocke geschlagen hatte, und versuchte es deshalb mit hochtrabenden Worten: »Erlaub dir keine frechen Spaße mit mir! Marsch jetzt in deine Abteilung, du Teufelssohn!«

»Hrrump!« entgegnete Moti Guj. Das war die ganze Antwort. Das und das Ausbreiten der Ohren!

Dann steckte Moti Guj die Hände in die Taschen, kaute einen Baumzweig als Zahnstocher, schlenderte auf der Plantage umher und verhöhnte die andern Elefanten, die bereits an ihre Arbeit gegangen waren.

Chihun meldete dem Pflanzer den Stand der Dinge, worauf dieser sich sofort auf den Schauplatz begab und wütend mit der Hundepeitsche knallte. Moti Guj erwies dem weißen Mann sogleich die Ehre, ihn eine Viertelmeile weit auf der Ausholzung in den Lüften umherzuschwenken und ihn dann in seine Veranda zu »hrrumpen«. Sodann stellte er sich vors Haus, wiegte sich erheitert hin und her und gluckste spaßhaft in sich hinein, wie das nun einmal Elefantenart ist.

»Wir werden ihn verhauen, wie noch nie ein Elefant verhauen worden ist!« schimpfte der Pflanzer. »Man gebe Kala Nag und Nazim jedem eine zwölf Fuß lange Kette; sie sollen ihm damit zwanzig Schläge geben.«

Kala Nag, was soviel heißt wie »Schwarze Schlange«, und Nazim waren zwei der größten Elefanten aus der Herde, und eine ihrer Obliegenheiten bestand darin, die schwereren Strafen auszuteilen, denn ein Mann ist nicht imstande, einen Elefanten zweckentsprechend zu verprügeln.

Sie traten pflichtgemäß an, nahmen die Peitschketten, rasselten sie in ihre Rüssel hinein und schritten auf Moti Guj zu, um ihn in die Mitte zu nehmen. Nun war Moti Guj während seines neununddreißigjährigen Lebens noch nie geprügelt worden und neuen Erfahrungen abhold. Er wartete kalten Blutes, wiegte den Kopf von rechts nach links und erwog genau, an welcher Stelle in Kala Nags fetter Flanke wohl ein Stoßzahn am tiefsten eindringen könnte. Kala Nag selbst besaß keine Zähne mehr; nur die Kette war das Abzeichen seiner Amtswürde, – er zog es deshalb vor, noch im letzten Augenblick möglichst weit von Moti Guj abzurücken und so zu tun, als habe er die Kette lediglich zu seinem Vergnügen mitgebracht. Auch Nazim drehte sich auf dem Absatz um und strebte nach Hause; – zum Prügeln fühlte er sich an diesem Morgen nicht aufgelegt. Und so blieb Moti Guj allein auf dem Platz zurück, die Ohren wie Schirme ausgebreitet.

Das bestimmte den Pflanzer, klein beizugeben, denn mit einem Elefanten, der nicht arbeiten mag und überdies nicht angebunden ist, kann man nicht so leicht fertig werden. Moti Guj trollte sich, um die Pflanzung in Augenschein zu nehmen, klatschte seinen alten Kameraden leutselig auf den Rücken und fragte sie spöttisch, ob das Baumstümpfeausreißen auch gut vonstatten gehe, redete dann allerhand Unsinn über die Arbeit an sich und über das Recht der Elefanten auf eine lange Mittagspause, kurz, er demoralisierte, von einem zum andern gehend und bis zum Sonnenuntergang aufrührerische Ansprachen haltend, die ganze Plantage, worauf er sich zu den Futtertrögen verfügte.

»Wenn du nicht arbeiten willst, dann sollst du auch nicht essen«, sagte Chihun ärgerlich. »Du bist ein wilder Elefant, schäm dich! Du bist überhaupt kein gebildetes Tier. Geh in dein Dschungel zurück!«

Da kroch Chihuns kleines, braunes Baby aus der Hütte heraus und reckte die fetten Ärmchen nach dem ungeheuren Elefantenschatten vor der Türe. Moti Guj wußte ganz genau, daß es Chihun das Liebste auf der Welt war; deshalb machte er mit dem Rüssel einen einladenden Haken, und sofort stürzte sich das Kleine mit einem Jauchzen darauf. Moti Guj hob es sofort zwölf Fuß hoch in die Luft über den Kopf seines Vaters, wo es laut zu krähen begann.

»Großer Häuptling!« schrie Chihun entsetzt, »die allerbesten Mehlkuchen, zwölf an der Zahl, und zwei Fuß breit und in Rum eingeweicht will ich dir auf der Stelle geben und zweihundert Pfund frischgeschnittenes Zuckerrohr dazu, nur geruhe in Gnaden, diesen wertlosen Knirps, der mein Herz und mein Leben ist, wieder sicher niederzusetzen!«

Moti Guj senkte das braune Baby behutsam zwischen seine riesigen Vorderfüße hinab, mit denen er Chihuns ganze Hütte spielend in Brei hätte verwandeln können, und wartete auf das versprochene Futter. Fraß es. Das braune Baby krabbelte von hinnen. Dann überließ sich Moti Guj dem Schlummer und träumte von Deesa. Eins der vielen Rätsel, die den Elefanten umgeben, ist, daß sein ungeheurer Körper fast keines Schlafes bedarf. Vier oder fünf Stunden genügen – zwei vor Mitternacht liegt er auf der einen Seite und zwei nach ein Uhr auf der andern. Der Rest der stillen Stunden wird mit Fressen, mit Hin- und Hertreten von einem Fuß auf den andern und mit langen gebrummten Selbstgesprächen verbracht.

Um Mitternacht nun schritt Moti Guj aus seinem Abteil heraus, denn es war ihm der Gedanke gekommen, Deesa könne möglicherweise irgendwo im dunkeln Walde herum liegen ohne Schutz und Bewachung. Deshalb jagte er die ganze Nacht schnaubend und trompetend und die Ohren schüttelnd durch das Unterholz. Ging hinunter an den Fluß und gab Trompetensignale über die Furt hinüber, wo ihn Deesa zu waschen pflegte; aber keine Antwort kam zurück. Er konnte Deesa nirgends erblicken, hingegen wachten alle Elefanten der Herde auf, und eine Zigeunerbande floh in wildem Entsetzen.

In der Morgendämmerung erschien endlich Deesa auf der Plantage. Er war schwer bezecht und sah seiner Bestrafung mit Fassung entgegen; er wußte gar wohl, daß er seinen Urlaub überschritten hatte, und atmete befreit auf, als er sah, daß das Bungalow und die Pflanzung noch unbeschädigt dastanden, denn er hatte, im Hinblick auf Moti Gujs Temperament, bereits das Schlimmste befürchtet. Mit vielen Salaams und noch mehr Lügen meldete er sich. Moti Guj weste ab. Er hatte sich zum Frühstück begeben, Die nächtliche Forschungsreise hatte ihn hungrig gemacht.

»Ruf dein Vieh her!« befahl der Pflanzer ärgerlich. Deesa schrie etwas in der geheimnisvollen Elefantensprache, die, wie viele Mahouts glauben, aus China herübergekommen ist, – bei Erschaffung der Welt – als noch Elefanten und nicht Menschen die Herren der Erde waren. Moti Guj horchte auf und kam sogleich. Elefanten laufen nie im Galopp; sie bewegen sich fort mit wechselnder Geschwindigkeit. Wenn ein Elefant einen Expreßzug einholen wollte, würde er auch nicht galoppieren, aber einholen würde er ihn bestimmt. So langte Moti Guj vor der Tür des Pflanzers an, ehe noch Chihun bemerkt hatte, daß er im Stalle fehlte. Er fiel Deesa um den Hals, trompetete entzückt und beide betasteten sich dann gegenseitig von Kopf bis zu Fuß, ob auch keiner von ihnen Schaden genommen hätte.

»Jetzt wollen wir an die Arbeit gehen!« sagte Deesa. »Heb mich auf, mein Sohn und meine Freude!«

Moti Guj schwang ihn auf seinen Nacken, und dahin ging’s zu der Kaffeeplantage, die lästigen Stümpfe ausreißen.

Dem Pflanzer aber verging der Zorn vor Staunen.

»Ohne priesterlichen Segen«

Ich erntete vor Frühling meinen Herbst.
Wie du verfrüht, mein Kornfeld, dich verfärbst!
Wie schmerzlich mich dein Rätsel überkommt,
Erwürgte und verdorrte Jahreszeit,
In Wachsens und in Sterbens Heimlichkeit!
Eh andre sahn den Tag, sah ich das Leid
Des Sonnenuntergangs, der Dunkelheit,
Ich, der ich weiß, was nicht zu wissen frommt!

I

»Was aber, wenn es ein Mädchen wird?«

»Herr meines Lebens, das kann nicht sein! Ich habe so viele Nächte hindurch gebetet und so oft Opfergaben zum Heiligenschrein Sheikh Badls geschickt, daß ich bestimmt weiß: Gott schenkt uns einen Sohn – einen Knaben, der zum Manne heranreifen wird. Denk daran und freue dich. Meine Mutter wird seine Mutter sein, bis ich wieder soweit bin, ihn zu mir zu nehmen, und der Mullah der Pattan-Moschee soll ihm sein Horoskop stellen. Gott gebe, daß er in einer günstigen Stunde geboren wird! Und – und dann wirst du meiner nie überdrüssig werden – meiner, deiner Sklavin.«

»Bist du denn je meine Sklavin gewesen?«

»Ja, seit jeher – von Anbeginn an – seit ich der Gnade teilhaftig geworden bin. Wie könnte ich deiner Liebe gewiß sein, wo ich doch weiß, du hast mich gekauft. Mit Silber!«

»O nein, es war ein Brautgeschenk; nur habe ich es deiner Mutter gegeben.«

»Und sie hat es verscharrt und sitzt darauf den ganzen Tag wie eine Henne. Was redest du da von einem Brautgeschenk! Gekauft bin ich worden wie ein Tanzmädchen.«

»Bereust du den Handel?«

»Ich habe ihn einst bereut, aber heute bin ich glücklich. Wirst du niemals aufhören, mich zu lieben? Sag, mein König!«

»Nein. Niemals – niemals.«

»Auch nicht, wenn die mem-log – die weißen Frauen dei ner Rasse dich mit ihrer Liebe verfolgen? Oh, ich habe gut gesehen, wie sie des Abends ihre Blicke auf dich werfen. Sie sind so schön!«

»So? Ich habe nur Hunderte von Leuchtkugeln gesehen! Aber dann habe ich den Mond gesehen, und vor seinem Glanz verblaßten die Leuchtkugeln!«

Ameera klatschte in die Hände und lachte. »Das ist lieb von dir«, sagte sie, spielte dann die Würdevolle: »Es ist genug. Ich gestatte dir, zu gehen, wenn du willst.«

Der Mann rührte sich nicht. Er saß auf einem niedrigen, rotlackierten Schemel in einer Stube, deren gesamte Ausstattung aus einem blau- und weiß-geblümten Teppich, ein paar Wolldecken und einer reichhaltigen Sammlung von Eingeborenenkissen bestand. Zu seinen Füßen saß eine Frau von sechzehn Jahren; sie bedeutete für ihn die ganze Welt. Nach wohl jedem Gesetz war sein Verhältnis zu ihr nicht einwandfrei, denn er war Engländer, sie die Tochter eines Muselmans, und er hatte sie ihrer Mutter abgekauft vor zwei Jahren. Die Alte war eine gänzlich mittellose Witwe und hätte gegen einen entsprechenden Preis Ameera auch an den Fürsten der Unterwelt verschachert.

John Holden hatte den Handel leichtfertig abgeschlossen, als Ameera fast noch ein Kind gewesen, aber seitdem hatte sie ihn immer mehr und mehr ausgefüllt. Um ihretwillen – und auch der Mutter zuliebe, einer runzeligen Hexe, hatte er ein kleines Haus gemietet, von dem aus man über die ganze große Stadt mit ihren roten Wällen blicken konnte. Als die Butterblumen am Brunnen im Hof zu blühen begannen, Ameera alles nach ihrem eigenen Geschmack wohnlich gemacht und die Alte endlich aufgehört hatte, über den weiten Weg zum Markt und die Unbrauchbarkeit der Küche zu maulen, sowie über Hauswirtschaft im allgemeinen, fühlte er sich geradezu heimisch, denn seine Junggesellenwohnung, wo jeder aus- und einging Tag und Nacht, wie es ihm gerade paßte, war ein unbehaglicher Aufenthalt. Zwar mußte er hier durch die Zimmer der Frauen gehen, wenn er über den Hof nach Hause kam, aber hatte sich das schwere Holztor einmal hinter ihm geschlossen, dann war er unbeschränkter König in seinem Reich – mit Ameera, seiner Königin. Doch jetzt drohte ein Drittes sich einzudrängen, dessen Kommen John Holden mit gemischten Gefühlen entgegensah. Es schien sein Glück trüben zu wollen. Es zerriß den Frieden des Hauses, das doch sein eigen war. Nur Ameera geriet außer sich vor Freude bei dem Gedanken an das kommende Kind, und ihre Mutter desgleichen. Die Liebe eines Mannes – und gar eines weißen Mannes – war im besten Falle eine Ungewisse Sache, aber – so schlossen die beiden Frauen – eines kleinen Kindes Hand würde sie befestigen. »Dann«, so pflegte Ameera zu sagen, »wird er sich nie mehr um die weißen mem-log kümmern. Ich hasse sie alle – ich hasse sie alle.«

»Er wird auch dann zu seiner Rasse zurückkehren«, meinte die Alte, »aber Gott gebe, daß diese Stunde ferne sei.«

Holden saß stumm auf dem Schemel und dachte über die Zukunft nach, die er sich trübe genug ausmalte. Die Nachteile eines doppelten Haushalts sind gar mannigfaltig! Überdies hatte ihn gerade jetzt das Gouvernement in väterlicher Besorgnis für eine zweiwöchentliche Reise in eine entfernte Station auserkoren – um einen Mann zu vertreten, der Tag und Nacht am Bett seiner kranken Frau wachte – und seinen Befehl mit der Bemerkung versüßt, wie gut es für ihn jetzt wäre, sich als Junggeselle frei und ungebunden zu wissen. Holden überbrachte die Hiobsbotschaft Ameera.

»Angenehm ist es wohl nicht«, sagte sie zögernd, »aber schließlich auch nichts Schlimmes. Meine Mutter ist ja bei mir, und es wird mir auch nichts Böses zustoßen – höchstens sterbe ich vor Freude. Geh nur ruhig an deine Arbeit und verscheuche alle bösen Gedanken. Wenn die Tage vorbei sind, glaube ich – nein, ich weiß es bestimmt – Und dann werde ich ›ihn‹ in deine Arme legen, und du wirst mich für immer lieben. Der Zug geht heute nacht, um Mitternacht, nicht wahr? Geh jetzt und laß dir das Herz nicht schwer sein um meinetwillen. Wirst du aber auch bald zurückkommen? Und nicht unterwegs mit den zudringlichen weißen mem-logs reden? Komm bald zu mir zurück, mein Leben!«

Als Holden aus dem Hof trat, um sein Pferd zu besteigen, das am Torpfosten angebunden war, sprach er den weißhaarigen, alten Mann an, der das Haus bewachte, gab ihm ein ausgefülltes Depeschenformular mit seiner Adresse und bat ihn, es sofort befördern zu lassen, falls die Umstände es erfordern sollten. Das war alles, was er tun konnte, und mit den Gefühlen eines Menschen, der sich selbst sein Begräbnis bestellt hat, reiste er mit dem Nachtzug ab. Jede Stunde am Tage fürchtete er, man könne ihm ein Telegramm überreichen, und des Nachts quälte er sich ab mit beständigen Ahnungen, Ameera läge im Sterben, Kein Wunder, daß seine Arbeit für den Staat sehr minderwertig und sein Verhalten den Kollegen im Amt gegenüber nichts weniger als freundlich war. Die zwei Wochen vergingen und keinerlei Nachricht von der Heimat war eingetroffen. Vor Angst fast zerrissen, mußte er die paar letzten Stunden sich noch zermürben lassen bei einem Abschiedsdiner im Klub, wobei er wie ein Halbbetäubter anhören mußte, wie abscheulich er seine Pflichten erfüllt und wie unliebenswürdig er sich den Herren gegenüber benommen hätte. Dann floh er zu Pferd in die Nacht hinaus und das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Er hämmerte an das Tor. Lange keine Antwort. Schon wollte er sein Pferd wenden, damit es mit den Hufen an das Holz donnere, da endlich erschien Pir Khan, der Hausmeister, mit einer Laterne und hielt ihm den Steigbügel.

»Ist etwas geschehen?« fragte Holden schnell.

»Die Nachricht soll nicht aus meinem Munde kommen, o Beschirmer der Armen, aber«, – der Alte hielt die Hand hin, wie einer, der für eine erfreuliche Botschaft ein Trinkgeld erwartet.

Holden eilte über den Hof. Ein Licht brannte im oberen Zimmer. Das Pferd wieherte im Torweg, und ein dünner, schriller Schrei trieb Holden das Blut in die Kehle. Dann eine Stimme, aber noch immer kein Zeichen, daß Ameera am Leben sei.

»Wer ist drin?« rief er die schmale Ziegelsteintreppe hinauf.

Da! Ein Schrei des Entzückens aus Ameeras Mund, und dann die zitterige Stimme der Mutter, bebend vor Stolz: »Wir die zwei Frauen sind hier und ein – Mann – dein Sohn!«

Auf der Zimmerschwelle trat Holden auf einen Dolch, sie hatten ihn hingelegt, um böses Geschick abzuwehren; die Klinge zerbrach unter der Wucht seines Fußes.

»Gott ist groß!« gurrte Ameera in der schwacherleuchteten Stube, »es ist ein Vorzeichen! Du hast alles Unheil von seinem Haupt auf das deinige genommen!«

»Gut. Aber wie geht es dir, mein Leben? Alte, sag, wie geht es ihr?«

»In ihrer Freude hat sie alle Schmerzen vergessen«, sagte die Greisin. »Alles ist gut abgelaufen; aber sprich leise!«

»Nur deine Gegenwart fehlte mir noch, um mich vollkommen glücklich zu machen«, sagte Ameera. »Mein König, so lange warst du fort! Und was bringst du mir mit? Ah, Ah! Diesmal bin ich es, die ein Geschenk hat. Schau her, mein Leben, schau her. Hat es schon je ein solches Baby gegeben? Ach, ich bin noch zu schwach, um auch nur den Arm von ihm zu lösen.«

»Bleib ganz ruhig und sprich nicht. Ich bin doch bei dir, bachari!«

»So lieb von dir! Aber jetzt ist noch ein viel festeres Band da, das uns verknüpft: schau, kannst du es sehen hier im Licht? Ohne Fehl und Tadel ist es. Noch nie hat es so einen Knaben gegeben. Ya illah! Ein Pundit – ein Gelehrter – soll er werden – nein, ein Soldat der Königin. Aber du, mein Leben, liebst du mich auch noch so wie früher? Trotzdem ich blaß bin und krank und verbraucht?«

»Oh, wie sehr! Ich hab dich lieb, wie je zuvor, aus ganzer Seele, mein Perlchen. Aber, lieg still und ruh dich aus.«

»Geh nicht! Setz dich neben mich – so. Mutter, der Herr des Hauses braucht ein Kissen! Bring’s.« Eine fast unmerkliche Bewegung des kleinen Lebens, das da im Arm Ameeras ruhte: »Aho!« sagte Ameera und ihre Stimme schlug über vor Freude. »Jetzt schon ist das Baby ein Fußballchampion. Wie es mich in die Seite kickt! Hat es jemals schon ein solches Kind gegeben! Und unser ist es – dein und mein. Leg deine Hand auf seinen Kopf, aber vorsichtig, es ist noch so jung, und Männer sind ungeschickt in solchen Dingen.«

Behutsam berührte Holden mit den Fingerspitzen das flaumige Köpfchen.

»Er ist ein Gläubiger bereits«, sagte Ameera; »als ich hier lag in den langen Nachtwachen, habe ich das Gebet und das Bekenntnis des Glaubens ihm ins Ohr geflüstert. Und wie wunderbar: er wurde an einem Freitag geboren, wie ich. Sei vorsichtig, mein Leben, aber er kann schon mit den Händchen greifen.«

Holden fühlte, wie eine winzige Hand sich schwach um seinen Finger schloß, aber die Berührung lief durch seinen ganzen Körper und sammelte sich rings um sein Herz. Bisher hatte all sein Sinnen und Sein Ameera gegolten; jetzt erwachte etwas in ihm, als gebe es außer ihr noch etwas anderes in der Welt; nur fühlte er noch nicht, daß es ein Sohn war mit einer lebendigen Seele. Er setzte sich und sann nach, und Ameera versank in Halbschlaf.

»Geh jetzt, Sahib«, flüsterte die Alte mit verhaltenem Atem. »Es ist nicht gut, wenn sie dich wieder hier sieht beim Erwachen. Sie braucht Ruhe.«

»Ich gehe schon«, sagte Holden gehorsam. »Hier hast du Geld. Sieh zu, daß mein Baby gedeiht und alles bekommt, was es braucht.«

Das Klingen der Silbermünzen erweckte Ameera. »Ich bin seine Mutter und keine feile Dirne«, hauchte sie. »Soll ich besser für ihn sorgen nur des Geldes wegen? Mutter, gib’s zurück! Ich habe meinem Herrn einen Sohn geboren.«

Tiefer Schlaf überfiel sie, noch während sie sprach. Holden ging leise hinunter – mit erleichtertem Herzen – in den Hofraum. Pir Khan, der alte Hausmeister, gluckste vor Entzücken. »Jetzt hat das Haus alles«, sagte er, und ohne weitere Erklärung drückte er Holden den Griff eines Säbels in die Hand, den er – Pir Khan selbst! – viele Jahre getragen hatte, als er noch der Königin gedient hatte bei der Polizei. Das Meckern einer Ziege tönte vom Brunnenrand herüber.

»Zwei sind’s«, sagte der Alte, »zwei der besten Sorte. Ich habe sie für teures Geld gekauft, und da keine Gäste zum Geburtsfest kommen, wird das Fleisch mir gehören. Schlag kräftig zu, Sahib! Es ist nur ein schlechtgewichtiger Säbel. Wart, bis sie die Köpfe erheben vom Abweiden der Butterblumen.«

»Warum das?« fragte Holden erstaunt.

»Als Erstgeburtsopfer. Wozu sonst? Das Kind bleibt unbeschirmt gegen das Schicksal, wenn man es unterläßt, und könnte sterben. Du wirst, Beschützer der Armen, die Worte schon finden, die man dazu sagen muß.«

Holden hatte sie einmal auswendig gelernt; er hatte damals natürlich nie daran gedacht, daß er sie jemals gebrauchen würde. – Die Berührung des Säbelknaufs in seiner Hand fühlte sich plötzlich an wie der Griff der winzigen Hand – vorhin, dort oben im Zimmer – des Kindes, das sein Sohn war -, und eine wilde Furcht, es könne ihm entrissen werden, überfiel Holden.

»Schlag zu!« rief Pir Khan. »Noch nie ist Leben in die Welt gekommen, es sei denn Leben dafür gegeben worden. Da: die Ziegen erheben ihre Köpfe! Jetzt! Und beim Schlag die Klinge ziehen!«

Holden begriff kaum, was er tat, als er zweimal zuschlug und dabei das mohammedanische Gebet hermurmelte, das da lautet: »Allmächtiger! An Statt meines Sohnes bring ich dir dar: Leben für Leben, Blut für Blut, Haupt für Haupt, Bein für Bein, Haar für Haar, Haut für Haut.« Das Pferd draußen schnaubte und bäumte sich am Halfter beim Geruch des rauchenden Blutes, das Holdens Reitstiefel von oben bis unten bespritzt hatte.

»Gut getroffen«, lobte Pir Khan und wischte die Klinge ab. »Ein Mann des Schwertes ist an dir verlorengegangen. Ziehe hin mit befreitem Gemüt, Himmelsentsprossener. Ich bin dein Diener und der Diener deines Sohnes. Möget ihr leben tausend Jahr und – gehört das ganze Fleisch der Ziegen mir?« Pir Khan zog sich zurück, um einen Monatslohn reicher. Holden schwang sich in den Sattel und ritt dahin durch den Holzrauch des Abends. Ein schwärmerisches Frohlocken erfüllte ihn, gemischt mit einer vagen Zärtlichkeit, die zwar niemand galt, ihn aber fast jauchzen machte, wie er sich so über den Hals seines aufgeregten Pferdes beugte. »Niemals im Leben habe ich ähnliches gefühlt«, dachte er bei sich, »ich werde in den Klub gehen und ausgelassen sein.«

Man hatte sich soeben zum Billardspiel begeben, und das Zimmer war voll Herren. Holden trat ein, um endlich helles Licht zu sehen und Freunde, und sang aus vollem Halse:

»In Baltimore am Korso – eine Lady traf ich dort!«

»So? Haben Sie das?« sagte der Sekretär des Klubs aus seiner Rauchecke heraus. »Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, daß Ihre Stiefel patschnaß sind? Meine Güte, Mensch! Es ist ja Blut!«

»Ach was!« sagte Holden und nahm sein Queue vom Ständer, »darf man mitspielen? Tau ist’s. Ich bin durch hohes Gras geritten. Oder meinetwegen: wahrscheinlich haben meine Stiefel Blutwurst zu Mittag gegessen.« Er trällerte:

»Ist’s ein Mädel, kriegt’s nen Trauring;
Wird’s ein Bub, wird er Soldat,
Oder geht auf Deck spazieren
Als Matrose oder Maat –«

»Gelb auf Blau, Grün kommt dran«, sagte der Markeur mit monotoner Stimme.

»Geht auf Deck spazieren. – So? Ich habe Grün? – Als Matrose oder – pfui Teufel, ein Gickser – als Matrose oder Maat.«

»Sie haben, weiß Gott, keinen Grund, zu krächzen«, meinte ein junger Streber von Zivilbeamten giftig, »die Regierung soll nicht besonders erbaut gewesen sein von Ihrer Tätigkeit bei Sanders drüben!«

»Oh! Eine Nase aus dem Hauptquartier?« sagte Holden mit einem geistesabwesenden Lächeln, »nun, ich werde mich zu trösten wissen.«

Das Gespräch wurde allgemein; es drehte sich immer um dasselbe Thema: Beruf und Amt, und hielt Holden fest, bis es Zeit zum Aufbruch wurde. Dann ging er in seinen dunkeln, leeren Junggesellen-Bungalow, wo ihn sein Diener mit dem Gesicht eines Menschen empfing, der alles weiß. Holden blieb fast die ganze Nacht wach und baute Luftschlösser.

II

>

»Wie alt ist er jetzt?«

»Ya illah! So kann auch nur ein Mann fragen! Rund sechs Wochen ist er alt, und heut nacht noch gehe ich aufs Dach hinauf mit dir, mein Leben, um die Sterne zu zählen, denn das bringt Glück. Er ist an einem Freitag geboren und im Zeichen der Sonne. Man hat mir gesagt, er wird uns beide überleben und zu großem Reichtum gelangen. Können wir uns Besseres wünschen, Geliebter?«

»Nein, etwas Besseres gibt es nicht! Komm, gehen wir auf das Dach hinauf, und du sollst die Sterne zählen. Aber viel werden es nicht sein: der Himmel ist voller Wolken.«

»Die Winterregen sind heuer spät dran, fast schon nach der Saison. Also komm, ehe die Sterne ganz verschwinden! Ich habe meine besten Juwelen angelegt.«

»Das Beste von allem hast du aber vergessen!«

»Ai! Richtig! Unser Juwel! Er kommt mit. Er hat noch nie den Himmel gesehen.«

Ameera klomm die schmale Leiter hinauf, die empor zum flachen Dache führte, und in ihrem Arm lag, still und mit weit offenen Augen, das Kind, eingehüllt in silberdurchwirkten Musselin, auf dem Köpfchen eine kleine Haube. Ameera trug allen Schmuck, den sie besaß: den diamantenen Nasenknopf, der wie das europäische Schönheitspflästerchen den Zweck hat, die feine Schweifung der Nüstern zu betonen, den goldenen Zierat mitten auf der Stirn, besetzt mit Smaragd- und Rubintropfen, die schwere Halskette aus gehämmertem Gold, die sich weich an ihren Nacken schmiegte, und die klirrenden, getriebenen Silberreifen um die zarten, schlanken Fußknöchel. Sie war gekleidet in jadegrünen Musselin, wie es sich geziemt für eine Tochter aus dem Stamme der Gläubigen. Von Schulter zu Ellbogen und vom Ellbogen zum Gelenk liefen Braceletts aus Florettseide, mit Silberfäden durchzogen, und zarte Glasarmbänder fielen auf die Hand herab, um ihre Schmäle zu zeigen. Dazwischen schwere goldene Armreifen, die zwar keine Ornamente nach dem Geschmack der Asiaten zeigten, aber ein Geschenk Holdens waren und – versehen mit schönen europäischen Schlössern – Ameeras besondere Freude bildeten.

Sie setzten sich beide auf das weiße, niedrige Ruhebett auf dem Dache und blickten hinab auf die Stadt mit den vielen Lichtern.

»Sicher sind sie glücklich, die da unten«, sagte Ameera, »aber so glücklich wie wir können sie nicht sein. Ich glaube auch nicht, daß die weißen mem-log glücklich sind. Was, meinst du?«

»Sie sind es gewiß nicht.«

»Woher weißt du das?«

»Sie überlassen ihre Kinder den Ammen.«

»Ich habe das noch nie gesehen«, sagte Ameera mit einem tiefen Seufzer, »ich möchte es auch nie sehen. Ahi!« Sie ließ ihren Kopf auf Holdens Schulter sinken, »ich habe vierzig Sterne gezählt und bin so müde jetzt. Schau: das Kind! Es zählt auch, du Licht meines Lebens!«

Mit runden Augen starrte das Baby in die Dunkelheit des Firmamentes hinein. Ameera legte es Holden in den Arm; es blieb dort ruhig liegen, ohne zu schreien, oder zu weinen.

»Wie werden wir ihn nennen?« fragte sie. »Schau ihn an! Könntest du jemals müde werden, ihn anzusehen?! Er hat ganz deine Augen. Nur der Mund -«

»Ist von dir, Liebling. Wer wüßte das besser als ich?«

»So ein kleines Mündchen! Und doch hält es mein Herz zwischen den Lippen. Gib ihn mir wieder jetzt! So lange schon hab ich ihn nicht gehabt.«

»Nein, laß ihn noch; er hat noch nicht angefangen zu weinen.«

»Freilich, wenn er weint, dann gibst du ihn zurück – eh? Was ihr Männer doch für ein Volk seid! Je mehr er schreit, desto lieber hab ich ihn. Also: mein Leben, wie sollen wir ihn nennen?«

Hilflos und fest angeschmiegt lag der kleine Körper an seines Vaters Herzen; Holden wagte kaum zu atmen, um ihm nicht wehe zu tun. Der grüne Papagei im Käfig – der gute Geist des Hauses nach der Meinung der Eingeborenen – bewegte sich auf der Stange und schüttelte schlaftrunken sein Gefieder.

»Da haben wir die Antwort«, rief Holden. »Mian Mittu hat gesprochen! Mian Mittu, so heißt doch der Papagei in deiner – in der Sprache der Moslim – nicht wahr? – So soll auch der Namen des Kleinen sein! Wenn er soweit ist, wird er schwätzen und herumlaufen wie ein Papagei.«

»Und mich fragst du gar nicht?« schmollte Ameera. »Wählen wir doch einen Namen, der englisch klingt, wenn auch nicht ganz. Ich bin ja seine Mutter!«

»Dann nenn ihn Tota; das klingt noch am meisten englisch.«

»Ay, Tota, und das heißt fast soviel wie: Papagei! Verzeih mir, mein Herr und Gebieter, das, was ich soeben vor einer Sekunde gesagt habe, aber ich dachte, er ist noch viel zu klein, um ein so schweres Gewicht wie den Namen Mian Mittu tragen zu können. Ja: Tota soll es sein – unser Tota soll er sein! Hörst du mich, Kleines? Kindchen, du bist der Tota!« Sie drückte seine Wange an die ihrige, und das Baby erwachte und begann zu weinen; die Mutter nahm es in ihren Arm, wiegte es und sang den schönen Kinderreim, der da heißt: »Are koko, Jare kokó – – –

Krähe du! Fort mit dir, Krähe du! Baby schläft gesund.
Wilde Pflaumen wachsen im Busch, nur ein Penny das Pfund,
Nur ein Penny das Pfund, husch, husch – nur ein Penny das Pfund.«

Vielemal versichert, daß Zwetschgen so überaus billig seien, kuschelte sich Tota in Schlaf. Die beiden sanften weißen Ochsen beim Brunnen wiederkäuten rastlos ihre Abendmahlzeit und der alte Pir Khan kauerte zu Häupten des Pferdes seines Herrn, seinen Polizeisäbel auf den Knien und schlaftrunken an seiner Wasserpfeife saugend, die schnurgelte und quakte wie ein Riesenfrosch im Sumpf. Das schwere Holztor war verriegelt, und Ameeras Mutter spann unten in der Veranda. Die Musik eines Hochzeitszuges tönte aus dem Summen der Stadt bis herauf auf das Dach und ein paar fliegende Hunde huschten über das schimmernde Antlitz des Mondes.

»Ich habe gebetet«, sagte Ameera nach einer langen stillen Pause, »ich habe um zwei Dinge gebetet: zuerst, daß ich an deiner Statt sterben möge, wenn dich der Tod ruft – und daß man mich von der Erde nähme an Stelle des Kindes. Ich habe zum Propheten gebetet und zu Bibi Mirjam, der Jungfrau. Glaubst du, sie haben meine Bitte gehört?«

»Wer würde von deinen Lippen nicht auch das leiseste Wort hören?!«

»Ich habe dich um ein kaltes, klares Wort gebeten, statt dessen antwortest du mir lieb und sanft. Wird mein Gebet erhört werden?«

»Wie kann ich das wissen! Gott ist allgütig.«

»Dessen bin ich nicht so sicher! Hör mich an: wenn ich stürbe, oder das Kind stirbt, was wird dann dein Schicksal sein? Lebst du, dann wirst du zurückkehren zu den frechen, weißen mem-log, denn Art schreit nach Art.«

»Nicht immer.«

»Bei einer Frau, nein; aber bei Männern ist es anders. Du wirst in deinem Leben – später – zurückkehren zu deinem Volk. Ich werde es tragen können, denn dann bin ich nicht mehr. Aber wenn du stirbst, dann gehst du fort in ein mir fremdes Land und in ein Paradies, das ich nicht kenne.«

»Ob es wohl das Paradies sein wird?«

»Sicher, denn wer könnte dir Böses wünschen? Aber wir zwei – ich und das Kind – werden anderswo sein, und nicht zu dir kommen können – so wenig, wie du zu uns kommen kannst. In früheren Tagen, bevor das Kind geboren wurde, habe ich an solche Dinge nie gedacht; aber jetzt verläßt mich der Gedanke nicht. Es liegt mir schwer auf dem Herzen.«

»Es wird kommen, wie es bestimmt ist. Das ›Morgen‹ kennen wir nicht, aber das ›Heute‹ und die Liebe, die kennen wir. Und heute sind wir glücklich.«

»So glücklich, daß es gut wäre, wir schmiedeten unser Glück für immer fest. Deine Bibi Mirjam wird meine Bitte hören, denn sie ist ein Weib wie ich, aber sie wird mich beneiden! Es soll nicht sein, daß ein Mann ein Weib anbetet.«

Holden lachte laut auf bei diesem seltsamen Eifersuchtsausbruch Ameeras.

»Du glaubst, es ist nicht recht? Warum erlaubst du mir dann, daß ich dich anbete, Arneera?«

»Du? Mich anbeten? Du mein König: trotz deiner süßen, lieben Worte weiß ich doch immer, daß ich nur deine Sklavin bin und Staub zu deinen Füßen. Ich möchte auch nicht, daß es je anders sei. Schau!«

Und ehe Holden sie daran hindern konnte, beugte sie sich vor und berührte seine Füße – stand dann leise lachend auf und drückte Tota an die Brust. Dann fuhr sie fort, fast wild:

»Ist es wahr, daß die frechen weißen mem-log dreimal länger leben als wir anderen Frauen? Ist es wahr, daß sie nicht früher heiraten, als bis sie alte Weiber geworden sind?«

»Sie heiraten, wie andere auch, wenn sie erwachsene Frauen geworden sind.«

»Das weiß ich, aber sie sollen sich mit fünfundzwanzig Jahren vermählen. Ist das wahr!«

»Ja, das ist wahr.«

»Ya illah! Mit fünfundzwanzig! Wer heiratet freiwillig ein Weib, wenn es schon achtzehn ist? Ein Weib – es altert doch von Stunde zu Stunde! Fünfundzwanzig! Ich werde in dem Alter eine alte Frau sein – und diese mem-log bleiben ewig jung. Oh, wie ich sie hasse!« »Was hat das mit uns zu tun?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur: heute schon kann das Weib auf Erden leben, das zehn Jahre älter ist als ich und zu dir kommen wird und mir deine Liebe rauben, wenn ich eine grauhaarige Greisin sein werde und die Dienerin Totas. Das ist ungerecht und schlimm. Oh, wenn sie doch stürbe.«

»Nun, trotz deiner Jahre bist du doch noch ein Kind, das man nehmen und die Leiter hinuntertragen muß.«

»Tota! Gib acht auf Tota, mein Herr und Gebieter! Du bist wirklich noch so närrisch wie ein Baby!« Und Ameera barg sorgsam Tota an ihrer Brust, damit ihm nichts geschehe, und wurde lachend von Holden auf den Armen hinuntergetragen, wobei das Kindchen, die Augen weit offen, lächelte, wie Engel lächeln.

Es war ein stilles Kind, und ehe Holden noch richtig begriffen hatte, daß es wirklich und wahrhaftig auf der Welt war, hatte es sich bereits in einen kleinen goldfarbenen Gott verwandelt und sich zum unbestrittenen Despoten in dem Hause, das da hinab sah auf die Stadt, aufgeschwungen. Es waren Monate ungetrübten Glückes für Ameera und Holden – des Glückes in einer Welt, die abgeschlossen war durch das Holztor und bewacht wurde von Pir Khan. Tagsüber erfüllte Holden seine Amtspflichten, tiefes Bedauern für alle im Herzen, die nicht so glücklich waren wie er, und voll Sympathie für kleine Kinder, die auf den engen Spielplätzen ihre Mütter in Entzücken und Staunen versetzten. Brach der Abend an, kehrte er zu Ameera zurück, die immer von neuen Wundertaten Totas zu berichten wußte: wie er bereits zielbewußt die Finger zu bewegen verstünde – was offenbar ein Mirakel bedeutete – und später, daß er aus eigenem Antrieb sein niedriges Bettchen verlassen habe und auf dem Boden herumgekrochen sei – einmal sogar drei Atemzüge lang aufrecht auf zwei Beinen.

»Und es waren sogar lange Atemzüge«, erklärte Ameera; »ich weiß es bestimmt, denn mir stand, das Herz still vor Wonne.«

Später nahm Tota das Getier des Hauses in Augenschein: die Brunnenochsen, die kleinen grauen Eichhörnchen, die Schnattergans, die in einem nassen Loch beim Brunnen wohnte, und insbesondere Mian Mittu, den Papagei, der immer furchtbar schrie, wenn ihn der Kleine bei den Schwanzfedern zauste – bis Ameera oder Holden zu Hilfe eilten.

»Du Bösewicht! Du gewalttätiges Kind!« pflegte Ameera bei solchen Gelegenheiten zu schelten. »So etwas deinem Bruder oben auf dem Hausdach?! Tobah, Tobah! Pfui! Pfui! Aber wart, ich weiß einen Zauberspruch, der macht dich weise wie Suleiman und Aflatoun. Da schau« – und sie reichte dem Kind eine Handvoll Mandeln hin – »schau! Wir zählen jetzt bis sieben. Im Namen Gottes!«

Dabei hebt sie den wütenden und schlimm zerzausten Papagei auf seinen Käfig hinauf, setzt sich zwischen ihn und das Kind, knackt und schält eine Mandel und hält sie mit ihren weißen Zähnen fest: »Lach nicht, mein Leben, es ist ein wirklicher Zauber. Schau, ich gebe Mian Mittu die eine Hälfte und Tota die andere!« Behutsam holte sich der Vogel mit dem Schnabel seinen Teil, und die andere Hälfte küßte sie in den Mund des Kindchens hinein, das langsam die Mandel aß mit verwunderten Augen. »Das werden wir sieben Tage hindurch tun; dann wird unser kleiner Sohn ein kühner Redner und ein Weiser werden. Sag, Tota, was wird sein, bis du ein Mann bist und ich eine alte grauhaarige Frau?« Tota verschlang seine fetten Beinchen als Antwort zu den erstaunlichsten Verknotungen. Kriechen? Ja, das ging noch an, aber seine Jugend mit eitlen Gesprächen verbringen? Nein! Wonach es ihn gelüstete, war: Mian Mittu wieder in den Schweif zu zwicken.

Als er soweit war, die Würde eines kleinen silbernen Halsbandes schätzen zu können, das ihm, mit einem magischen Plättchen versehen, umhing als größter Teil seiner Bekleidung, kletterte er nach langer gefahrvoller Reise hinab in den Garten zu Pir Khan und bot ihm seinen ganzen Schmuck dar, – denn er hatte einst die Großmutter belauscht, wie sie mit Hausierern schacherte – für einen Ritt auf Holdens Pferd. Pir Khan vergoß Tränen und setzte zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit die kleinen ungeübten Füßchen auf sein graues Haupt; dann trug er den Abenteurer in die Arme der Mutter zurück und schwur, Tota würde, noch ehe ihm ein Bart wüchse, ein Führer der Menschheit werden.

An einem heißen Abend, als Tota zwischen Vater und Mutter auf dem Dache saß und beobachtete, wie die Gassenjungen Papierdrachen steigen ließen, verlangte er plötzlich, selbst ein solches Ding zu besitzen, das aber Pir Khan steigen lassen müsse – denn er selbst fühlte sich Sachen gegenüber, die größer waren als er selbst, nicht recht geheuer. Als Holden dazu lachte und meinte: er sei doch noch ein »winziges Fünkchen«, stellte er sich auf die Füße und verteidigte seine kürzlich erst erworbene Individualität mit den gravitätischen Worten: »Hum park nahin hai. Hum admi hai.«[Ich bin kein Fünkchen; ich bin ein Mann]

Dieser Ausspruch erschreckte Holden förmlich und zwang ihn direkt, über Totas Zukunft nachzudenken. Die Gedanken wollten nicht mehr aus seinem Kopf: dieses Leben ist fast zu schön, als daß es ewig dauern könnte! – Und bald zerschellte auch das Glück, wie so vieles einem entrissen wird in Indien – plötzlich, wie durch einen Blitz aus heiterm Himmel. Der kleine Herr des Hauses, wie ihn Pir Khan zu nennen pflegte, wurde eines Tages traurig und klagte über Schmerzen, deren Ursache nicht zu ermitteln war. Ameera, außer sich vor Entsetzen, wachte die ganze Nacht bei ihm, aber in der Dämmerung des zweiten Tages schüttelte das Fieber – das gefürchtete Herbstfieber – das Leben aus dem kleinen Körper. Es kam so plötzlich, und es war so unwahrscheinlich, Tota könne sterben, daß weder Ameera noch Holden ihren Augen trauten, auf dem Bettchen läge eine kleine Leiche. Dann schlug Ameera den Kopf gegen die Mauer und hätte sich in den Brunnen gestürzt, wenn nicht Holden sie mit aller Kraft davon abgehalten hätte.

Nur eine Gunst gewährte ihm das Schicksal: als er im Sonnenschein ins Amt geritten war, fand er eine schwere Postarbeit vor, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Aber er hatte für diese Gnade der Götter nur ein totes Herz.

III

Wird ein Mensch von einer Kugel getroffen, so fühlt er zuerst nur einen starken Schlag; zehn bis fünfzehn Sekunden vergehen, ehe der Körper die Verstümmelung der Seele meldet. Auch Holden wurde seines Schmerzes nur allmählich gewahr – so, wie er sich einst auch nur langsam seines Glückes bewußt geworden. Zuerst hatte er nur die Empfindung eines erlittenen Verlustes und fühlte, daß Ameera des Trostes bedurfte, wie sie so dasaß, den Kopf auf den Knien, und jedesmal zusammenschauderte, wenn Mian Mittu auf dem Dach oben rief: »Tota! Tota! Tota!« Später aber war es, als stünde die ganze Welt und das tägliche Leben selbst gegen ihn auf, um ihn zu verwunden. Klang es nicht fast wie Hohn, daß am Abend die Knaben draußen jubelten und tobten, wo doch sein eigenes Kind gestorben war! Es peitschte ihn fort, wenn ihn ein Junge ansprach und ihm erzählen wollte, wie sich sein Vater gefreut habe über diese oder jene kleine kindliche Tat. Er mußte seinen Schmerz herunterwürgen, hatte er doch nirgends Sympathien, nirgends Trost oder Zuspruch; Ameera selbst, wenn er müde heim kam von der Arbeit, trieb ihn durch die Hölle der Selbstvorwürfe: vielleicht hätte ein wenig mehr Sorgfalt dem Kinde das Leben gerettet – nur ein ganz klein wenig mehr Umsicht, wie es Eltern zu tun pflegen, denen ein Kind entrissen worden.

»Vielleicht«, so sagte Ameera immer und immer, »habe ich nicht auf alles geachtet. Meinst du nicht auch? Damals, als er so lang auf dem Dach gespielt hat, schien die Sonne so heiß, – und – ich habe mir das Haar geflochten! Ahi! Vielleicht hat die Sonne das Fieber in ihm ausgebrütet. Hätte ich ihn vor ihr gewarnt, er wäre jetzt noch am Leben. Oh, sag mir doch, daß ich schuldlos bin! Du weißt, ich habe ihn geliebt, wie ich dich liebe. Sag, daß keine Schuld auf mir ruht, oder ich muß sterben – ich muß sterben!«

»Du hast keine Schuld, bei Gott, – keine. Es hat im Buche des Schicksals geschrieben gestanden; was hätten wir da tun können, ihn zu retten? Was geschehen ist, ist geschehen. Laß Vergangenheit Vergangenheit sein.«

»Für mich war er mein ganzes Herz. Wie kann ich den Gedanken verscheuchen, wo doch die lange Nacht hindurch mein Arm mich beständig mahnt: wo ist er? Ahi! Ahi! Oh, Tota, komm zurück zu mir – zurück zu mir, damit alles wieder so ist, wie es war!«

»Still! Still! Um deinetwillen – und – auch um meinetwillen: schweig!«

»Daran sehe ich, daß du nicht Kummer im Herzen trägst; und wie könnte es auch sein? Die weißen Männer haben steinerne Herzen und Seelen aus Eisen. Oh, hätte ich doch einen Mann aus meinem Stamme geheiratet – ich weiß, er hätte mich geschlagen, aber ich hätte nie das Brot eines Fremden gegessen!«

»Ich, ein Fremder? Der Mutter meines Sohnes?«

»Was sonst, Sahib? Oh, verzeih mir – verzeih mir! Der Tod hat mich wahnsinnig gemacht. Du, du bist das Leben meines Herzens und das Licht meiner Augen und der Atem meines Lebens, und – und ich hab dich von mir gestoßen, wenn auch nur einen Augenblick. Wenn du von mir gehst, bei wem soll ich Hilfe suchen? Sei nicht zornig! Wirklich, es war nur der Schmerz, der aus mir gesprochen hat, und nicht ich, deine Sklavin.«

»Ich weiß, ich weiß. Wir sind zwei – und sind drei gewesen. Um so größer die Notwendigkeit, daß wir jetzt eins sein sollen.«

Sie saßen beisammen auf dem Dach des Hauses nach alter Gewohnheit. Es war eine warme Vorfrühlingsnacht und Blitze tanzten am Horizont zum Trommelton des fernen Donners. Ameera hatte sich in Holdens Arm geschmiegt.

»Die trockene Erde lechzt wie eine verdurstende Kuh nach Wasser und – und ich fürchte mich. Ist’s nicht wie damals, als wir die Sterne zählten? Aber liebst du mich noch wie früher, als – als das Band uns noch zusammenhielt? Sag!«

»Ich liebe dich noch mehr, denn der Schmerz, den wir beide aus dem Becher des Leides schlürfen mußten, hat ein neues Band geschaffen; das weißt du.«

»Ja, ich weiß«, flüsterte Ameera, »aber es ist so gut, es immer wieder aus deinem Mund zu hören, mein Leben. Du bist so stark. Aber auch ich will kein Kind mehr sein und dir helfen! Gib mir meine Sitar und ich will tapfer sein und singen.«

Und sie nahm die leichte silberbeschlagene Sitar und be gann ein Lied zu singen von dem großen Helden Radscha Rasalu; doch bald irrten ihre Finger über die Saiten – ein tiefer Akkord, und das arme, kleine Ammenliedchen von der bösen Krähe erklang:

»Und wilde Pflaumen wachsen im Busch, nur ein Penny das Pfund,
Nur ein Penny das Pfund, husch, husch, – nur ein Penny das Pfund.«

Dann ein Tränenstrom und herzzerbrechende Anklagen gegen das Schicksal, bis sie in Schlaf sank, im Traum noch schluchzend und den Arm gebeugt, als behüte sie etwas, das nicht da war. Seit jener Nacht wurde das Leben leichter für Holden. Die ewige Gegenwart des Schmerzes um den erlittenen Verlust trieb ihn zur Arbeit, und die Arbeit lohnte es ihm, indem sie sein Gemüt für neun oder zehn Stunden täglich gefangennahm. Unterdessen saß Ameera allein zu Hause und brütete vor sich hin; aber allmählich fühlte sie sich glücklicher, da sie sah, daß es Holden besser ging, – wie es so Frauenart ist. Wiederum kosteten sie das Glück, aber diesmal behutsamer:

»Tota mußte sterben, weil wir ihn so lieb hatten; die Eifersucht Gottes lastete auf uns«, sagte sie. »Ich habe einen großen, schwarzen Krug vors Fenster gestellt, um den bösen Blick von uns abzuwenden; und wir dürfen unser Entzücken nicht merken lassen, sondern ganz still unter den Sternen dahinwandeln, sonst findet uns Gott. Hab ich nicht recht, du – Elender?« – sie sagte: »Elender« statt »Geliebter«, um ihrer Theorie Ausdruck zu geben, man solle sein Glück verstecken. Aber der Kuß, den sie gleich darauf Holden gab, war so heiß, daß er wohl den Neid jeder Gottheit erregt hätte. In Hinkunft beschränkten sie sich darauf, bei jeder Gelegenheit zu sagen: »Es ist nichts, gar nichts« – hoffend, daß die Hohen Mächte es hören würden.

Aber die Hohen Mächte waren anderweitig beschäftigt. Sie hatten einem Dreißig-Millionen-Volk vier Jahre Wohlstand geschenkt: die Menschen gediehen und nahmen an Rundung sichtlich zu; die Ernte kam gut herein, die Geburtsziffern stiegen von Jahr zu Jahr und die Ackerbauberichte erhöhten sich von der Zahl neunhundert auf zweitau send pro Quadratmeile bepflanzten Bodens. Der Abgeordnete von Klein-Tooting durchwanderte Indien in Zylinder und Gehrock, schwätzte ein langes und breites über die Wohltat der englischen Regierungsmaßnahmen, schlug, als dringend wichtig, eine allgemeine Wahlreform vor und eine Generalbeschenkung der Gerechtsamen. Seine leidensgewohnten Gastgeber lächelten dazu und hießen ihn willkommen und, wenn er gelegentlich eine Pause in seinem Geschwätz eintreten ließ, um auf irgendeinen frühzeitig in Blüte stehenden Dhak-Baum als auf ein günstiges Vorzeichen kommender froher Begebnisse hinzuweisen, lächelten sie noch mehr.

Der Distriktskommissar von Kot-Kumharsen war es, der anläßlich eines Tagesaufenthaltes im Klub eine Nachricht brachte, die Holden derart das Blut in den Adern erstarren machte, daß er das Ende der Erzählung nicht mehr verstand. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie Satz sich an Satz reihte, bisweilen unterbrochen von Fragen der Zuhörer:

»- und da war Schluß mit dem Gequassel. Hab noch nie einen Menschen so erstaunt gesehen. Bei Gott, ich glaubte schon, er wolle eine Frage an ein leeres Parlament stellen. Mitpassagier auf seinem Schiff gewesen – schwätzte was über Cholera – dann war er tot in achtzehn Stunden – jawohl. Da gibt’s nichts zu lachen, meine Herren. Der Abgeordnete von Klein-Tooting rast – besser gesagt: das Herz hat er in den Hosen – gedenkt, seine werte Person aus Indien fluchtartig zu entfernen.«

»Ich möchte es mich etwas kosten lassen, wenn ihn der Teufel holte. Würde gern ein paar Küster seines Gelichters auf ihr eigenes Kirchspielbegräbnis schicken. Aber was ist’s mit der Cholera? Man hört da neuerdings wieder allerhand Gerüchte«, sagte der Vorstand einer dividendenlosen Salzlecke.

»Weiß nichts Genaues«, entgegnete der Deputatskommissar nachdenklich. »Es schwirrt durch die Luft wie Heuschrecken. Sporadisches Auftreten der Cholera oben im Norden – wir nennen’s nämlich ›sporadisch‹ des Anstands halber. Die Frühlingssaat steht niedrig in fünf Distrikten, und die Leute haben schon fast vergessen, wie Regen aussieht. Dabei ist beinahe März. Ich will niemand verknobeln, aber mir scheint, die Natur wird heuer den Rotstift zur Hand nehmen. Noch im Sommer.«

»Natürlich, gerade jetzt, wo ich mir Urlaub zu nehmen gedenke!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Viel Urlaub wird’s dies Jahr nicht geben, wohl aber desto mehr Avancement! Ich bin hergereist, um der Regierung nahezulegen, daß mein Bewässerungskanalprojekt auf die Liste der Hungersnotstandsarbeiten gesetzt wird. Es weht ein böser Wind, der nichts Gutes verheißt. Der Kanal muß endlich fertig werden.«

»Immer das gleiche, alte Programm also«, sagte Holden, »Hungersnot, Fieber, Cholera?«

»Ach nein. Nur die übliche Schlamperei und ein besonders zahlreiches Auftreten der Saisonkrankheiten. Sie werden es nächstes Jahr in den Statistiken lesen, wenn Sie noch am Leben sind! Aber was denn Sie! Sie sind ein glücklicher Bursche: Sie haben kein Weib daheim, dessentwegen Sie sich sorgen müßten. Die Bergstationen werden heuer voll von Frauen sein!«

»Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig das Bazargeschwätz«, fiel ein junger Zivilbeamter des Sekretariats ein. »Ich habe beobachtet -«

»So? Sie haben?« unterbrach der Kommissar. »Sie werden sehr bald noch viel mehr zu beobachten haben, mein Sohn. Inzwischen möchte ich Ihnen aber -« und er nahm den jungen Herrn beiseite, um mit ihm über das Kanalprojekt zu diskutieren, das ihm so am Herzen lag. Holden ging in seinen Junggesellen-Bungalow und es kam ihm mit aller Deutlichkeit zu Bewußtsein, daß er nicht allein auf der Welt war und der Furcht um ein anderes Wesen preisgegeben – die einzige Furcht des Menschen, die seiner Seele nützt.

Zwei Monate später traf ein, was der Kommissar vorausgesagt hatte: die Natur nahm den »Rotstift« zur Hand. Der Frühlingsmißernte auf dem Fuß folgte der Schrei nach Brot, und, da die Regierung beschlossen hatte, niemand dürfe an Mangel sterben, schickte sie Weizen. Aber da kam die Cholera aus allen vier Richtungen der Windrose. Im Nu war eine halbe Million Menschen auf den Beinen und pilgerte zu irgendeinem heiligen Schrein. Viele starben zu den Füßen ihres Gottes; andere packte es »nur« und sie eilten durch das Land, die Pestilenz mit sich herumschleppend und von Dorf zu Dorf tragend. Das Volk belagerte die Eisenbahnzüge, hing auf den Trittbrettern und quetschte sich auf den Dächern der Waggons, aber – die Cholera folgte ihnen: auf jeder Station lud man Tote und Sterbende aus. Sie starben am Wegesrand und die Pferde der Engländer scheuten vor den Leichen im Gras. Kein Tropfen Regen wollte fallen und die Erde verwandelte sich in Eisen, damit die Menschen dem Tod nicht entrannen, indem sie sich eingruben. Die Engländer schickten ihre Frauen in die Berge und gingen an ihre gewohnte Arbeit, einander ersetzend, wenn der Vordermann erledigt war. Holden, fast krank vor Furcht, er könne sein Liebstes auf Erden verlieren, tat sein Bestes, Ameera zu überreden, mit ihrer Mutter ins Himalajagebiet zu fliehen.

»Warum soll ich gehen?« fragte sie, als sie eines Abends wieder auf dem Dach saßen.

»Überall wütet die Krankheit und das Volk stirbt dahin. Alle weißen mem-log sind bereits fort.«

»Alle?«

»Alle – höchstens ist noch hie und da ein Dickschädel zurückgeblieben und macht dem Gatten das Herz schwer, indem sie sich der Todesgefahr aussetzt.«

»Oh, die dableibt, die ist meine Schwester, und du darfst sie nicht beschimpfen, denn ich will auch so ein Dickschädel sein. Ich bin froh, daß die Frechen der weißen mem-log alle fortgegangen sind.«

»Spreche ich mit einer Frau, oder mit einem Kind? Geh in die Berge und ich werde dafür sorgen, daß du wie eine Königstochter reist. Denk nur, Kind: in einem rotlackierten Ochsengefährt, verschleiert und hinter Vorhängen, Messingpfauen auf dem Verdeck und rote Tuchbehänge! Zwei Ordonnanzen gebe ich dir mit zum Schutz, und -«

»Still! Jetzt sprichst du wie ein Kind! Was soll mir dieser Tand? Tota hätte die Ochsen getätschelt und mit dem Zierat gespielt – vielleicht seinetwegen hätte ich mich zur Engländerin machen lassen und wäre gereist. Aber so? Ich will nicht. Sollen die mem-log davonlaufen!«

»Aber ihre Gatten schicken sie doch fort, Geliebte!«

»Eine treffliche Ausrede. Seit wann bist du mein Gatte gewesen, um mir zu sagen, was ich tun soll? Ich habe dir lediglich einen Sohn geboren. Du allein bist das Um-und-Auf meiner Seele. Wie könnte ich abreisen mit der Furcht im Herzen: was, wenn dich ein Unheil befällt? Und wenn es auch nur gering wäre wie der Nagel meines kleinen Fingers – und der ist doch gewiß klein, nicht wahr? – ich würde es merken, und wäre ich selbst im Paradies! Und wenn ich denke, du könntest hier sterben im Sommer – ai, jani, – sterben! Ans Sterbebett würden sie dir ein weißes Weib schicken! Sie würde mir deine Liebe rauben!«

»Liebe entsteht nicht in einem Augenblick und auch nicht auf dem Totenbett.«

»Was verstehst du von Liebe, du steinernes Herz? Sie würde deinen Dank mit sich nehmen, und das, bei Gott und dem Propheten und bei Bibi Mirjam, der Mutter des Propheten, – das könnte ich nicht ertragen. Mein Herr und Geliebter, sprich nicht mehr so närrisch zu mir von Weggehen! Wo du bist, da bin auch ich. Es ist genug.« Und sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und verschloß ihm den Mund mit der Hand.

Kein Glück ist so überwältigend, wie das unter dem Damoklesschwert! Sie saßen beisammen und lachten – gaben einander Kosenamen, offen und ohne Scheu vor der Eifersucht der Götter. Unten die Stadt wand sich in Qual und Angst; Schwefelfeuer schwelten in den Straßen, die Tritonmuscheln in den Hindutempeln heulten und bellten, denn die Götter waren unaufmerksam in jenen Tagen. Ein Gottesdienst wurde abgehalten vor dem großen mohammedanischen Heiligenschrein, und unaufhörlich tönten die Gebete von den Minaretten. Aus den Häusern erscholl Totenklage und da und dort der Schrei einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte und verzweiflungsvoll jammerte, es möge wieder zum Leben erwachen. Sie sahen, wie man die Leichen hinaustrug durch die Stadt, ein kleines klagendes Gefolge hinterdrein, sahen es, küßten sich und schauderten.

Der Tod hielt eine furchtbare Ernte, denn das Land war krank und brauchte eine Atempause, ehe das ärmliche Leben wieder anfangen konnte, auch nur schwach zu pulsieren. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten der Epidemie gar keinen Widerstand; es überfiel sie und sie saßen still, bis das Schwert des Novembers sie hinraffte, wenn das Schicksal es wollte. Auch in die Reihen der Engländer wurden Breschen gerissen, aber immer wieder von neuen Menschen ausgefüllt. Die Hungersnotbehörde trat in Tätigkeit, Cholerabaracken erstanden, Medizinen wurden verteilt, – kurz alle die kleinen, fast wirkungslosen Sanitätsmaßnahmen wurden getroffen, die die Regierung befohlen hatte.

Holden mußte sich bereit halten, jeden Augenblick seinen Vormann zu ersetzen, falls dieser weggerafft werden sollte. Oft vergingen zwölf Tagesstunden, ehe er Ameera wiedersehen durfte, – sie konnte inzwischen gestorben sein! Er malte sich den namenlosen Schmerz aus, wenn ihn das Los träfe, drei Monate fern von ihr sein zu müssen; oder wenn sie stürbe in seiner Abwesenheit. So gewiß wußte er in seinem Innern, daß sie ihm entrissen werden würde, so unfehlbar gewiß, daß er nur krampfhaft auflachte, als eines Tages Pir Khan atemlos vor ihm stand im Torweg. »Und?« fragte er kurz —

»Wenn in der Nacht sich ein Schrei aus der Brust ringt und der Geist die Kehle drosselt, wer hätte da noch einen helfenden Zauberspruch? Komm schnell, Hirnmelsentsprossener! Es ist die schwarze Cholera.«

Holden raste auf seinem Pferd in gestrecktem Galopp nach Hause. Der Himmel war schwer von Wolken, denn der lang ersehnte Regen hing in der Luft; die Hitze brütete zum Ersticken. Ameeras Mutter kam ihm entgegen in den Hof und winselte: »Sie stirbt. Sie huschelt sich selbst in den Tod hinein. Sie ist fast schon gestorben. Was soll ich tun, Sahib?«

Ameera lag in dem Zimmer, in dem sie Tota geboren hatte. Sie erkannte Holden nicht mehr, als er eintrat; die menschliche Seele ist ein einsames Wesen: wenn sie sich rüstet zum Aufbruch, schweift sie hinüber in das dunkle Grenzland, in das ihr die Lebenden nicht folgen können. Die schwarze Cholera vollbringt ihr Werk, stumm – erbarmungslos, aber ohne Kampf. Ameera schied aus dem Leben, als hätte der Engel des Todes selbst sie bei der Hand genommen. Die schnellen Atemzüge bewiesen, daß sie weder litt noch sich fürchtete, aber weder Lippen noch Augen gaben eine Antwort auf Holdens Küsse. Da war kein Rat mehr und keine Hilfe. Holden konnte nur schweigen, warten und leiden. Draußen fielen die ersten Regentropfen auf die Dächer, und er konnte die Freudenschreie hören, die durch die Straßen der entvölkerten Stadt liefen.

Da kam die Seele Ameeras für einen Augenblick zurück und die Lippen bewegten sich. Holden beugte sich über sie. »Nimm nichts von meinen Sachen«, flüsterte sie, »nimm nicht ein Haar von meinem Haupte. ›Sie‹ – die Andere -, würde später alles verbrennen. Die Flamme würde auch mich verzehren! Tiefer! Beug dich tiefer zu mir herab! Nur an das eine denke immer: daß ich dein war und dir einen Sohn geboren habe. Und wenn du morgen ein weißes Weib freiest und hältst in den Armen deinen Sohn, – einen Sohn, der vor allen Menschen deinen Namen tragen wird, – so denke an mich. Alles Unheil, das ihn treffen könnte, falle auf mein Haupt. Zeuge bin -« Ihre Lippen hauchten die Worte des mohammedanischen Glaubensbekenntnisses in sein Ohr: »Zeuge bin ich: es gibt nur einen Gott – aber das bist du, Geliebter!«

Dann verschied sie. Holden saß regungslos, und alles Denken war von ihm gewichen, bis er hörte, daß Ameeras Mutter den Vorhang hob.

»Ist sie tot, Sahib?«

»Tot.«

»Dann will ich die Totenklage anstimmen und nachher ein Verzeichnis der Möbel aufnehmen. Denn es gehört mir. Der Sahib wird sie doch nicht beanspruchen? Es ist wenig, Sahib, sehr, sehr wenig, und ich bin ein altes Weib. Ich möchte es gern behaglich haben.«

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, schweig! Geh hinaus und stimm die Totenklage an, wo ich es nicht höre.«

»Sahib, sie muß in vier Stunden bestattet werden!«

»Ich weiß, es ist so Sitte. Ich werde gehen, ehe sie sie holen. Ich lege es in deine Hand. Sieh zu, daß das Bett, auf dem – auf dem sie liegt -«

»Aha! Das schöne rotlackierte Bett. Ich hab’s schon lang gewünscht.«

»Daß das Bett unberührt bleibt und zu meiner Verfügung. Alles übrige im Haus ist dein. Miete einen Karren, nimm alles, geh fort; noch vor Sonnenuntergang darf nichts mehr hier sein, außer das, was du zu respektieren hast, wie ich dir gesagt habe.«

»Ich bin ein altes Weib. Wenn ich wenigstens bleiben könnte über die Tage der Totenklage, und bis der Regen nachläßt. Wohin soll ich denn gehen?«

»Was kümmert das mich? Mein Befehl lautet: Du hast zu gehen. Das Hausgerät ist tausend Rupien wert, und meine Ordonnanz wird dir heute nacht hundert Rupien bringen.«

»Das ist sehr wenig. Bedenke, was die Karrenmiete kostet.«

»Es wird zu nichts zusammenschrumpfen, wenn du nicht gehst, und zwar sofort. Weib, geh hinaus und laß mich allein mit meiner Toten!«

Die Alte schlurfte die Treppe hinunter und vor lauter Gier nach den Sachen im Haus vergaß sie die Totenklage. Holden stand an Ameeras Lager und die Regenschauer prasselten auf das Dach hernieder -; er konnte infolge des lauten Geräusches keinen klaren Gedanken fassen, sosehr er sich auch bemühte. Dann kamen vier verhüllte Gespenster hereingetrippelt und starrten ihn an durch ihre Schleier: Leichenwäscherinnen. Holden verließ das Zimmer und ging hinaus zu seinem Pferd. Gekommen war er in totem, erstickendem Dunst und durch fußtiefen Staub, jetzt schien der ganze Hofraum eine einzige Regenpfütze zu sein, belebt von Fröschen; ein gelber Wasserstrom lief unter dem Tor durch und ein heulender Wind jagte Güsse wie Flintensalven gegen die Lehmmauern. Pir Khan schauderte in seiner kleinen Hütte neben dem Eingang und das Pferd stampfte mit den Hufen in die Nässe.

»Ich habe die Befehle des Sahibs erhalten«, sagte Pir Khan. »Es ist gut. Das Haus ist jetzt verödet. Auch ich gehe, denn mein Affengesicht könnte Erinnerungen in dir wecken an das, was dahin ist. Was das Bett betrifft, so werde ich es in der Frühe in dein Haus hinüberbringen; aber bedenke, Sahib, es wird dir wie ein Messer sein, das in einer frischen Wunde wühlt. Ich gehe auf die Pilgerschaft, und ich nehme kein Geld von dir. Ich bin dick und fett geworden unter dem Schutz der Gegenwart dessen, dessen Leid auch mein Leid ist. Zum letztenmal halte ich jetzt seinen Steigbügel.«

Er berührte Holdens Fuß mit beiden Händen und das Pferd jagte hinaus auf die Landstraße, wo der hohe Bambus den Himmel peitschte und die Frösche quakten. Holden konnte wegen des Regens in seinem Gesicht kaum sehen. Er preßte die Hand vor die Augen und murmelte:

»O du Scheusal! O du grauenhaftes Scheusal!«

Die Nachricht von seinem Schicksalsschlag war ihm bereits vorausgeeilt in seinen Bungalow. Er las es in den Augen seines Dieners, Achmed Khan, als dieser ihm das Essen brachte; zum ersten- und letztenmal im Leben legte ihm der Mann die Hand auf die Schulter. »Iß, Sahib! Iß!« sagte er. »Essen ist das beste gegen Kummer. Ich hab’s einst auch an mir erfahren. Die Schatten kommen und gehen, Sahib! Die Schatten kommen und gehen. Hier hast du Eier mit Pfeffer.«

Holden konnte weder essen, noch schlafen. Acht Zoll Regen schüttete der Himmel in dieser Nacht herab und wusch die Erde rein. Die Fluten rissen Mauern nieder, zerstörten die Straßen und wuschen die seichten Gräber der mohammedanischen Begräbnisstätten auf. Den ganzen folgenden Tag regnete es, und Holden saß regungslos in seinem Haus und wühlte in seinem Gram. Am Morgen des dritten Tages erhielt er ein lakonisches Telegramm des Inhalts: »Ricketts, Myndonie, im Sterben. Holden antreten. Sogleich.« Ehe er abreiste, wollte er noch einen Blick tun in das Haus, wo er einst König und Gebieter gewesen. Das Wetter hatte sich aufgehellt; die nasse Erde dampfte.

Die Regengüsse hatten die Lehmpfeiler beim Tor eingerissen, und das Tor selbst, das einst sein Alles hienieden behütet, hing lose in den Angeln. Drei Zoll hoch war Gras im Hof aufgeschossen; Pir Khans Hütte stand leer und der aufgeweichte Fußboden hatte sich zwischen die Balken hinabgesenkt. Ein graues Eichhörnchen hatte Besitz ergriffen von der Veranda, als sei das Haus unbewohnt gewesen seit dreißig Jahren, statt drei Tagen. Ameeras Mutter hatte alles mit fortgenommen mit Ausnahme einer mottenzerfressenen Decke. Das Ticktick der kleinen Skorpione, wie sie über den Boden liefen, war das einzige Geräusch im Haus. Ameeras Zimmer und das, worin Tota gelebt, waren von Schimmel überzogen, und die Sprossen der Leiter hinauf auf das Dach besudelt mit Wasserschlamm. Holden sah es und ging hin aus auf die Straße; dort kam ihm sein Hausherr, Durga Daß, entgegen, – sauber und stattlich gekleidet in weißem Musselin, ein Ce-Feder-Buggy kutschierend: er wollte seinen Besitz in Augenschein nehmen und nach dem Schaden sehen, den der Regen angerichtet hatte.

»Ich habe vernommen, Sahib«, begann er, »Sie wollen das Haus verlassen?«

»Was haben Sie mit ihm vor?«

»Vielleicht vermiete ich es wieder.«

»Dann behalte ich es, auch wenn ich nicht hier bin.«

Durga Daß schwieg eine Weile. »Sie sollten das nicht tun«, sagte er dann. »Als ich noch jung war, hatte ich auch so –. Aber heute bin ich Mitglied der Stadtbehörde. Ho! Ho! Nein. Wenn die Vögel fortgeflogen sind, wozu ist das Nest noch gut? Ich möchte es niederreißen lassen: mit dem Bauholz kann man noch mancherlei kaufen. Es soll eingerissen werden und die Stadt wird eine Straße drüberlegen, wie sie es schon lange will, vom Verbrennungs-Ghaut bis hinüber zur Schanze. Kein Mensch wird später wissen, wo es gestanden hat!«

Durchs Feuer

Der Polizeimann ritt durch den Himalaja-Wald unter den moosbewachsenen Eichen dahin, und ihm nach trottete die Ordonnanz.

»Es ist eine scheußliche Sache, Bhere Singh«, sagte der Polizeimann. »Wo sind die beiden!«

»Es ist eine scheußliche Sache«, wiederholte Bhere Singh; »und was die beiden betrifft, so schmoren sie jetzt ohne Zweifel in einem heißeren Feuer, als je eines mit Ästen angezündet wurde.«

»Das wollen wir nicht hoffen«, meinte der Polizeimann, »denn wenn wir absehen von dem Unterschied der Rassen, so ist es die Geschichte der Francesca da Rimini, Bhere Singh!«

Da Bhere Singh keine Ahnung hatte, wer Francesca da Rimini gewesen war, hielt er den Mund, bis sie zu der Kohlenbrenner-Lichtung kamen, wo die erlöschenden Flammen ihr »hwit, hwit, hwit« sagten, wie sie über der weißen Asche flüsternd hin und her zuckten. Es mußte ein riesiges Feuer gewesen sein, als es noch lichterloh brannte! Die Leute in Donga Pa hatten es in der Nacht weithin über das Tal scheinen und flackern sehen und gesagt, die Kohlenbrenner in Kodru müßten offenbar schwer betrunken sein. In Wirklichkeit waren es nur Suket Singh, ein Sepoy des 102ten Punjab-Infanterieregiments, und Athira, ein Weib, gewesen, die da verbrannt – zu Asche verbrannt – waren.

Wie die Sache vor sich ging, habe ich aus dem Tagebuch des Polizeimanns erfahren:

Athira war die Frau des Madu, eines einäugigen Kohlenbrenners von boshafter Gemütsart. Schon eine Woche nach der Hochzeit prügelte er sie mit einem dicken Stock. Einen Monat später kam Suket Singh, der Sepoy, des Weges, um seinen Regimentsurlaub in den kühlen Bergen zu verbringen. Er elektrisierte die Dorfbewohner von Kodru mit Erzählungen von allerlei Geschichten aus dem Militärdienst, verherrlichte die Ruhmestaten des Gouvernements und schilderte anschaulich, in welchen hohen Ehren er beim Obersten, dem Sahib Bahadur, stünde. Die braune Desdemona hörte dem Othello zu, und wie alle Desdemonas der Welt verliebte sie sich dabei in ihn.

»Ich hab zwar selber eine Frau zu Hause«, sagte Suket Singh, »aber es soll dich nicht bedrücken, wenn es dir im Kopf herumgeht. Ich muß auch nach einiger Zeit wieder zum Regiment zurück, denn ich kann doch nicht gut zum Deserteur werden, gar, wo ich den Rang eines Havildars anstrebe.«

»Schadet nichts«, sagte Athira, »bleib jetzt bei mir, und wenn Madu mich schlagen will, dann verprügle ihn!«

»Famos!« sagte Suket Singh und verabreichte dem Madu eine gehörige Tracht zum Entzücken sämtlicher Kohlenbrenner in Kodru.

»So, das genügt«, sagte er und gab dem Madu einen Stoß, daß er den Abhang hinunterrollte, »jetzt werden wir Ruhe haben.« Aber Madu krallte den Grashügel wieder hinauf und hinkte mit wütenden Blicken um seine Hütte herum.

»Er wird mich ermorden«, sagte Athira zu Suket Singh, »du mußt mich mit fortnehmen.«

»Es wird einen Skandal geben in der Truppe, und mein Weib wird mir den Bart ausreißen!« meinte Suket Singh, »aber was liegt daran! Ich nehme dich mit.«

Es gab auch wirklich einen Skandal im Regiment, der Bart wurde Suket Singh ausgerissen, und seine Gattin ging zu ihrer Mutter zurück und nahm die Kinder mit. »Jetzt ist alles gut«, sagte Athira, und Suket Singh pflichtete ihr bei: »Jetzt ist alles gut.«

Madu hauste nunmehr allein in seiner Hütte, von der er weit hinüber ins Tal nach Donga Pa blicken konnte; von Anbeginn waren die Sympathien der Leute nicht auf seiner Seite gewesen: das Volk hat nichts übrig für betrogene Ehemänner.

Eines Tages ging er zu Juseen Dazé, dem Zauberer, der den redenden Affenkopf besitzt.

»Verschaff mir mein Weib wieder!« sagte er.

»Das kann ich nicht«, sagte Juseen Dazé, »erst mußt du den Sutlej das Tal hinauffließen machen bis Donga Pa.«

»Mach keine Flausen! Gib mir gefälligst keine Rätsel zu lösen auf«, schrie Mach und schüttelte seine Hacke drohend gegen den weißhaarigen Juseen Dazé.

»Gib all dein Geld den Oberhäuptern des Dorfes«, riet Juseen Dazé; »sie sollen eine Versammlung einberufen und einen Boten abschicken mit der Weisung, dein Weib müsse zurückkommen.«

Madu verzichtete auf seine irdischen Güter, die aus siebenundzwanzig Rupien, acht Annas und drei Pies nebst einer silbernen Kette bestanden, und überreichte sie den Stadträten von Kodru. Dann geschah es, wie Juseen Dazé vorhergesagt: man schickte Athiras Bruder zu dem Regiment Suket Singhs, um Athira auszurichten, sie möchte heimkehren. Suket Singh benützte ihn als Fußball und kickte ihn um die Front herum; dann überlieferte er ihn dem Hamildar, der ihn mit einem Treibriemen bearbeitete.

»Komm heim!« schrie Athiras Bruder unentwegt bei dieser Prozedur.

»Wohin denn?« fragte Athira.

»Zum Madu!«

»Ich denk nicht dran!« war die Antwort.

»Dann wird dir Juseen Dazé seinen Fluch schicken!« drohte der Bruder, »und du wirst verdorren wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühling!« Das ging Athira im Kopf herum.

Am nächsten Morgen schon hatte sie Rheumatismus. »Ich beginne bereits zu verdorren wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühjahr«, sagte sie. »Das ist der Fluch Juseen Dazés.«

Und tatsächlich begann sie hinzusiechen, denn in ihr Herz war die Furcht eingezogen. Wer an Flüche glaubt, der stirbt an ihnen. Auch Suket Singh war voll Angst, denn er liebte Athira mehr als sein Leben. Zwei Monate vergingen, da stand Athiras Bruder wieder da, aber ein wenig weiter weg von der Schützenlinie, und höhnte: »Aha, du verdorrst schon! Komm heim!«

»Ja, ich will kommen!« sagte Athira.

»Sag lieber: ›Wir‹ werden kommen!« rief Suket Singh.

»Ai! Gut, aber wann?« fragte Athiras Bruder.

»Eines Tages, sehr früh am Morgen«, versprach Suket Singh und marschierte im Paradeschritt zum Oberst Sahib Bahadur, um sich einen Urlaub zu erbitten.

»Ich verdorre wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühjahr«, jammerte Athira.

»Es wird dir bald besser gehen«, tröstete sie Suket Singh; und er gestand ihr heimlich, was er vorhatte, und sie lachten und kosten miteinander, denn sie liebten sich beide heiß. Von Stund an ging es besser mit Athira.

Dann reisten sie zusammen fort – fuhren dritter Klasse mit der Bahn, solange es Schienen gab, später in einem Karren die niedrigeren Vorberge hinauf und wanderten zu Fuß auf die höheren. Athira sog den Tannenduft ihrer heimatlichen Berge ein – der feuchten Himalajaberge. »Wie schön ist es doch, zu leben!« sagte sie.

»Heda! Du!« fragte Suket Singh einen Mann, »wo liegt die Straße nach Kodru und wie kommt man zu dem Haus des Waldhüters?«

»Hat vor zwölf Jahren vierzig Rupien gekostet«, sagte der Waldhüter und reichte dem Sepoy eine Flinte hin.

»Hier hast du zwanzig«, sagte Suket Singh, »aber du mußt mir die besten Kugeln geben!«

»Es ist unendlich schön, zu leben«, sagte Athira sehnsüchtig und sog den Harzduft eines Tannengehölzes ein; und dann warteten sie, bis sich die Nacht herabsenkte auf Kodru und Donga Pa. Madu hatte, um am nächsten Tag Kohle zu brennen, auf der Anhöhe über seinem Haus dürres Holz aufgetürmt. »Es ist hübsch von ihm, daß er uns die Mühe erspart hat«, sagte Suket Singh, als er in der Dunkelheit gegen den zwölf Fuß breiten und vier Fuß hohen Scheiterhaufen anrannte. »Wir müssen warten, bis der Mond aufgeht.«

Als der Mond aufgegangen war, bestieg Athira den Holzstoß und kniete nieder. »Wenn es nur wenigstens ein Regiments-Snidergewehr wäre«, sagte Suket Singh bekümmert mit einem Scheelblick auf den mit Draht umwickelten Lauf der Flinte des Waldhüters.

»Beeile dich«, sagte Athira. Und Suket Singh beeilte sich. Athira beeilte sich in diesem Leben nicht mehr!

Dann zündete er den Scheiterhaufen an den vier Ecken an, da, wo dürre Zweige herausragten. »Man sollte im Regiment lernen, wie man ein Gewehr mit den Zehen abschießt!« sagte er grimmig zum Mond hinauf. Das war die letzte Bemerkung des Sepoys Suket Singh.

Eines Tages, früh am Morgen, kam Madu zu dem Feuerbrand, erschrak sehr und lief fort, um den Polizeimann zu holen, der gerade in der Umgebung die Runde machte.

»Dieser Auswurf von einem Menschen hat mir für vier Rupien Kohlenholz verbrannt«, schimpfte er, »und meine Frau getötet. Und einen Brief hat er an eine Tanne gebunden. Ich kann nicht lesen.«

In der steifen, pedantischen Schrift, die in den Regimentern gelehrt wird, hatte der Sepoy Suket Singh folgendes geschrieben:

»Man verbrenne uns zusammen, falls noch Reste von uns übrig sein sollten; wir haben die vorgeschriebenen Gebete verrichtet. Madu und Malak, den Bruder Athiras, haben wir verflucht; sie sind beide böse Menschen. Dem Oberst Sahib Bahadur sende man meine Empfehlung.«

Lang und versonnen blickte der Polizeimann auf das Ehebett aus roter und weißer Asche, auf dem, schwarzgebrannt, der Gewehrlauf des Waldhüters lag. Geistesabwesend stieß er mit seiner bespornten Ferse in einen halbverkohlten Balken und prasselnde Flammen züngelten hoch. »Ein ganz sonderbares Volk!« murmelte er.

»Hju, ju, oui, oui«, sagten die kleinen Flammen.

Dann notierte der Polizeimann mit dürren Worten die Tatsachen in sein Dienstbuch, denn die Regierung liebt romantische Phrasen nicht.

»Und wer wird mir meine vier Rupien bezahlen?« fragte Madu.