Die Stadt der furchtbaren Nächte

Die Stadt der furchtbaren Nächte

Die erstickende feuchte Hitze, die auf dem Land liegt wie ein Tuch, macht jede Hoffnung auf Schlaf zuschanden; dazu das unablässige Zirpen der Zikaden und das gellende Geheul der Schakale! Unmöglich, es noch länger auszuhalten in dem leeren, dunkeln, echoreichen Haus und immer und ewig sehen zu müssen, wie der Punkahfächer in die tote Luft schlägt! So ging ich hinaus um zehn Uhr nachts in den Garten und steckte meinen Spazierstock in ein lockeres Beet, um zu sehen, nach welcher Richtung er fallen würde. Er deutete hinüber zur mondlichtbeschienenen Straße, die zur Stadt der furchtbaren Nächte führt. Das Geräusch seines Falles scheuchte einen Hasen auf. Der hoppelte von seinem Lager auf und lief hinüber zu einer aufgelassenen mohammedanischen Begräbnisstätte, auf der die zahnlosen Schädel und blanken Schenkelknochen, erbarmungslos bloßgelegt durch die Juli-Wolkenbrüche, wie Perlmutter schimmerten auf dem von Regengüssen zerwühlten Grund. Es war, als hätte die schwere Erde und die heiße Luft sogar die Toten emporgetrieben, Kühlung zu suchen. Der Hase hoppelte weiter, beschnupperte seltsam einen rauchgeschwärzten Lampenscherben und verschwand im Schatten eines Tamariskengebüsches.

Die offene Hütte des Mattenwebers beim Hindutempel war erfüllt von schlafenden Menschen, die umherlagen wie eingewickelte Leichen. Hoch oben am Himmel brannte das starre Auge des Mondes. Dunkelheit täuscht Kühle nur vor; beständig mußte ich mir vorsagen, das grelle Licht trüge keine Schuld an der Hitze ringsum. Eine krankhafte Wärme ging vom Mond aus und strahlte in die Luft. Wie ein gerader Streifen aus poliertem Stahl lief die Straße hinüber zur Stadt der furchtbaren Nächte; an den Wegrändern hingestreckt in phantastischen Stellungen, leichenhaft schlafend, die Leiber von hundertsiebzig Menschen auf Lagerstätten. Einige ganz in Weiß gehüllt und die Münder fest geschlossen, einige nackt und schwarz wie Ebenholz in dem gleißenden Licht, und einer, weit weg von ihnen, das Gesicht aufwärts gekehrt, den Kiefer herabgesunken, silberig schimmernd und aschig fahl: ein Aussätziger.

Die übrigen: erschöpfte Kulis, Diener, Kleinladenbesitzer und Kutscher von dem nahen Wagenstand. Szene: das Land vor den Toren der Stadt Lahore und eine heiße Augustnacht. Das war alles, was ich sah, aber nicht alles, was ich hätte sehen können. Der Hexenspuk des Mondlichts hatte die Welt in ein grausiges Bild verwandelt: die lange Reihe der nackten »Toten« bot einen schauerlichen Anblick – und als letzter darin der statuenhafte Leprakranke. Eine Straße aus Menschenleibern gebildet! Lauter Männer. Mußten denn die Frauen in den stickigen Höhlen der Lehmhütten die Nacht verbringen, so gut es ging? Das klägliche Greinen eines Kindes gab mir Antwort auf meine stumme Frage. Wo Kinder sind, da sind auch die Mütter nicht weit, die sie behüten. Sie halten Wache bei ihnen in diesen zermürbenden sengenden Nächten. Ein schwarzer kleiner Kugelkopf lugte vom Giebel eines niedrigen Lehmhüttendaches herab und ein dünnes – jämmerlich dünnes Beinchen streckte sich über die Regenrinne. Dann das scharfe Klicken eines Glasarmbandes; ein Frauenarm wird sichtbar einen Augenblick lang über der Brustwehr, schlingt sich um den Nacken des Kindes und zieht es zurück – das Zappelnde, Widerstrebende – in die schwüle Bettstatt. Schnell und kurz, wie es ertönte, ist das Piepsen des Kleinen verstummt; sogar die Kinder der Gosse sind zum Weinen zu erschöpft.

Wieder: leichenhaft schlafende Leiber, eine Koppel bewegungslos ruhender Kamele am Wegesrand, Mondlichtstreifen, eine weiße Straße, eine Vision dahineilender Schakale, Ekka-Ponys in tiefem Schlummer, das Zuggeschirr noch auf dem Rücken, und – wieder Leichen, Leichen. Messingbeschlagene Landkarren blitzen im Mondlicht – wieder Leichen, Leichen. Wo immer ein Heuwagendach, ein Baumstumpf, ein zersägter Stamm, ein Büschel Bambus, oder ein Strohhaufen Schatten wirft, da ist der Boden bedeckt mit diesen Schlafleichen. Einige mit dem Gesicht nach abwärts, die Arme verschränkt, im Staub; einige mit über den Köpfen gefalteten Händen; andere, zusammengekrümmt wie Hunde, oder wie die Geschützrohre steif an den Seiten der Kornwagen liegend. Andere wieder im grellen Mondesglanz und die Stirnen an die Knie gepreßt. Ich empfände es wie eine Erlösung, wenn sie schnarchen würden, aber alles bleibt still wie auf einem Totenfeld. Bisweilen beschnuppert den oder jenen ein Hund und trabt dann weiter. Hie und da liegt ein mageres Kindchen neben seinem Vater auf der Erde und gelegentlich schlingt sich ein Arm um seinen Körper; aber zumeist schlafen die Kleinen bei ihren Müttern auf den Dächern. – Gelbhäutige, blank-zähnige Parias weiß man nicht gern in der Nähe brauner Kinderleiber. Ein erstickend heißer Hauch aus dem Munde des Delhi-Tores ertötet fast meinen Entschluß, um diese Stunde die Stadt der furchtbaren Nächte zu betreten.

Es ist ein Gemisch aller üblen Gerüche tierischen und pflanzlichen Ursprungs, die eine mauerumgürtete Stadt ausbrüten kann in einem Tag und in einer Nacht; die Hitze, die in den Gruppen der Platanen und Orangenbäume außerhalb der Wälle herrscht, ist wie Eiseskälte, gemessen an der Temperatur, die einem entgegendringt. Gott sei allen Kranken und Säuglingen gnädig, die innerhalb dieser Stadt die Nacht verbringen müssen! Die hohen Häusermauern strahlen noch immer Glutwellen aus, und aus den Gossengruben dampfen faulige Miasmen, die einen Büffel betäuben könnten. Aber die Büffel schenken dem keine Beachtung. Ein halbes Dutzend lustwandelt in der menschenleeren Hauptstraße, und von Zeit zu Zeit drücken sie ihre massigen Nüstern an die Verschalungen der Kornhändlerläden und beschnauben sie dann wie die Walfische.

Wieder Stille. Aber jene gewisse Stille, die erfüllt ist von den Nachtgeräuschen einer großen Stadt: einen Augenblick erklingt ein Saiteninstrument, aber nur einen Augenblick. Hoch oben reißt einer ein Fenster auf und das Klappern des Rahmens ruft das Echo wach in den verödeten Straßen. Von einem Dach herab dringt das rhythmische Schlagen einer Punkah und Leute reden miteinander, – es klingt wie das sanfte Glucksen der Wasserpfeife. Ein wenig weiter und das Geräusch einer Unterhaltung wird deutlich. Ein schmaler Lichtstreifen zwischen den Ritzen des Rollverschlusses eines Ladens: drinnen ein stoppelbärtiger, müdäugiger Händler mitten unter Baumwollballen schreibt Zahlen in sein Hauptbuch. Drei verhüllte Gestalten leisten ihm Gesellschaft und machen von Zeit zu Zeit eine Notiz. Der Händler macht eine Eintragung, dann eine Bemerkung, dann fährt er sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Die Hitze in der eng verbauten Straße ist furchtbar; drin im Laden muß sie unerträglich sein. Aber die Arbeit geht ihren Gang: Eintragung, ein Kehllaut, ein Zucken der Hand nach der Stirn, so folgt eins auf das andere mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks.

Ein Polizeimann – ohne Turban und tief im Schlaf – liegt quer über dem Weg auf der Straße zur Moschee des Wazir Khan. Ein Streifen Mondlicht glänzt auf seinem Gesicht, aber es stört ihn nicht. Es ist dicht vor Mitternacht und noch immer nimmt die Hitze zu. Der offene viereckige Platz vor der Moschee ist bedeckt mit »Leichen«; vorsichtig muß man sich den Weg ertasten, um nicht auf sie zu treten. Das Mondlicht fällt quer auf die hohe Front der mit bunten Diagonalstreifen aus Email geschmückten Moschee und jede der in den Nischen und Winkeln des Mauerwerks träumenden Tauben wirft ihren kugelförmigen Schatten. Verhüllte Gestalten taumeln schlaftrunken auf von ihren Pritschen und verschwinden geisterhaft in den dunkeln Tiefen des Gebäudes. Ob es wohl möglich ist, bis zum Giebel des Minaretts emporzuklimmen, um von dort in die Stadt hinabzuschauen? Auf alle Fälle lohnt es den Versuch, vorausgesetzt, daß die Tür zur Treppe nicht verschlossen ist! Sie ist offen, aber ein tiefschlafender Türhüter liegt auf der Schwelle, das Angesicht dem Monde zugekehrt. Eine Ratte huscht aus seinem Turban beim Geräusch der sich nähernden Schritte. Der Mann grunzt, öffnet die Augen für eine Minute, dreht sich um und schläft wieder ein. Die ganze Hitze eines Jahrzehnts glühender indischer Sommer ist aufgespeichert in den pechschwarzen glatten Wänden der Wendeltreppe. Auf halber Höhe des Minaretts regt sich etwas Lebendiges, Warmes und Fedriges, und schnarcht. Von Stufe zu Stufe emporgetrieben, flattert es hinauf und entpuppt sich als gelbäugiger, wutfauchender Raubvogel. Zu Dutzenden schlafen sie in den Minaretten und der Kuppel darunter. – Jetzt, auf der Spitze des Turmes, ein Schatten von Kühle, oder wenigstens ein geringerer Gluthauch, als unten. Erfrischt davon, bleibe ich stehen und blicke hinab auf die Stadt der furchtbaren Nächte.

Doré hätte sie zeichnen, Zola sie beschreiben können: diese Tausende, die da schliefen im Mondlicht und seinen Schlagschatten. Die Dächer erfüllt mit Männern, Frauen und Kindern! Die Luft ist voll undefinierbarer Geräusche. Alles ruhelos in dieser Stadt der furchtbaren Nächte. Kein Wunder! Ein Wunder nur ist’s, daß diese Menschen noch atmen können! Sieht man genau hin, so bemerkt man, daß sie unruhig sind wie Menschen am hellen Tage, nur ist keine Eile in ihnen, – das Leben scheint unterdrückt. Überall, wohin man blickt, sieht man Schläfer sich unruhig wälzen, ihre Lagerbetten hin und her zerren und sich wieder ausstrecken. Auch unten in den Höfen der Häuser dasselbe Bild.

Erbarmungslos scheint der Mond auf sie hernieder. Scheint auf die Flächen außerhalb der Stadt und hie und da auf das handbreite Rinnsal des Ravee-Flusses hinter den Wällen. Dann reißt er einen glitzernden Silberblitz auf einem Hausdach auf, genau unter dem Moscheeminarett: irgendeine arme Seele gießt sich einen Kübel Wasser über den fiebernden Leib. Das Plätschern der fallenden Tropfen dringt leise an mein Ohr. Zwei oder drei andere folgen dem Beispiel; die Wassergüsse leuchten auf wie heliographische Signale. Eine kleine Wolke zieht über den Mond: und die Stadt und ihre Einwohner – soeben noch in weißes Licht und schwere Schlagschatten getaucht, – verschwimmen in einen Klumpen von Dunkel und immer tieferwerdendem Schwarz. Aber das unstete Geräusch dauert fort: das Seufzen einer großen Stadt, gewürgt von Hitze, und eines Volkes, das vergeblich nach Ruhe ächzt. Nur die Frauen der niedrigeren Kaste schlafen – versuchen zu schlafen – auf den Häusern der Dächer. Welche Qual muß erst herrschen in den vergitterten Zenanas – den Frauenhäusern? Hie und da sieht man durch die kleinen Fenster noch immer Lampen funkeln. Da! Schritte im Hofe unten! Es ist der Muezzin – der gläubige Diener der Moschee; eine Stunde früher hätte er hier sein sollen, um den Rechtgläubigen zu sagen, daß Gebet besser ist als Schlaf – Schlaf, der doch nicht kommt in die Stadt der furchtbaren Nächte!

Einen Augenblick tastet der Muezzin an der Tür eines Minaretts herum, verschwindet für eine Weile – dann verkündet ein furchtbarer Ruf – ein donnernder Baß, dröhnend wie das Brüllen eines Stieres, daß er auf der Spitze des Turmes angekommen ist. Sie müssen ihn hören – alle – bis hinüber zu den trockenen Sandbänken des Ravee. Bis hinab auf den Hofraum fällt die Gewalt des Rufes. Die Wolke zieht vorbei und der Mondglanz zeigt den Muezzin, wie er sich abhebt als schwarze Silhouette gegen den Himmel, wie er seine Hände an die Ohren preßt und seine breite Brust sich gehoben hat unter dem Atemstoß seiner Lungen bei dem hallenden Schrei: » Allah ho Akbar.« Dann eine Pause und: ein anderer Muezzin, aus der Richtung vom Goldenen Tempel her, nimmt den Ruf auf: » Allah ho Akbar.« Und wieder und wieder dröhnt es. Im ganzen viermal. Ein Dutzend Männer sind bereits aufgestanden von ihren Strohsäcken.: »Zeuge bin ich, es gibt keinen Gott außer Gott!« – was für ein herrlicher Ruf das ist, dieses Bekenntnis der Gläubigen, der die Menschen scharenweise von den Lagern scheucht um Mitternacht! Wieder dröhnt die Donnerstimme denselben Satz, und der Muezzin taumelt unter der Wucht seines eigenen Rufes; und dann nah und fern erbebt die Nachtluft mit dem Wort: »Mohammed ist Gottes Prophet.« Es ist, als fliege der Schrei bis hin zum fernen Horizont und fordere den Sommerblitz heraus, der da zuckt und aufgrellt wie ein aus der Scheide gerissenes Schwert. Bald, und alle Muezzin der Stadt rufen es herab von den Moscheezinnen; – schon haben sich viele auf den Dächern in die Knie geworfen. Eine lange Pause geht dem Schlußruf voran: » La ilaha Illallah!« Dann Totenstille. Wie ein Sack schließt sich das nächtliche Schweigen über allem.

Der Muezzin stolpert die dunkle Treppe hinunter, brummt etwas in den Bart, schreitet durch den Eingangsbogen und verschwindet. Erstickende Hitze brütet wieder stumm über der Stadt der furchtbaren Nächte. Wieder schlafen die Raubvögel in den Minaretten und schnarchen noch lauter als vorher; Gluthauch steigt in langsamen Wellen auf und der Mond gleitet unmerklich zum Horizont hinab. Bis zur Morgendämmerung kann man da an der Brustwehr lehnen, die Ellenbogen aufgestützt, und hinunterschauen auf den von Hitze gequälten, summenden menschlichen Bienenschwarm. Wie sie wohl ihr Leben verbringen? Woran sie denken? Wann sie wohl erwachen werden? Wieder das Plätschern von Wassereimern; leises Scharren von hölzernen Bettstellen, die in und aus dem Schatten gerückt werden; mißtönende Musik von Saiteninstrumenten, die, durch die große Entfernung gemildert, wie ein wehmütiger Klageruf klingt, dann das tiefe Grollen eines Donners weit drüben im Land. Der Türhüter unten im Hofraum der Moschee, derselbe, der quer über der Schwelle lag, als ich das Minarett betrat, fährt plötzlich wild auf im Schlaf, wirft die Arme in die Höhe, murmelt etwas und fällt wieder zurück in seine alte Stellung. Eingelullt von dem Schnarchen der Turmkäuze – sie röcheln wie Menschen, die erdrosselt werden, – versinke ich in quälenden Halbschlaf; nur dunkel kommt mir zu Bewußtsein, daß es drei Uhr geschlagen hat und eine leise, kaum merkliche Kühle in der Luft liegt. In der Stadt unten herrscht vollkommene Ruhe, nur bisweilen unterbrochen vom Liebesgesang streunender Hunde. Sonst schwerer Schlaf überall.

Wochenlang, so will mir scheinen, dauert die Finsternis: der Mond ist untergegangen. Sogar die Hunde schweigen. Ich warte, bis die Dämmerung kommt, ehe ich heimgehen will. Abermals ein Geräusch schlurfender Füße. Der Morgenruf hebt an und meine Nachtwache ist vorüber. » Allah ho Akbar! Allah ho Akbar!« Der Osten färbt sich grau und gleich darauf safrangelb; der Morgenwind erhebt sich, als hätte ihn der Muezzin beschworen, und wie ein Mann steht die Stadt der furchtbaren Nächte auf von der Lagerstatt auf den Dächern der Häuser. Die Lider schwer vom Entbehren des Schlummers, schleiche ich mich aus dem Minarett über den Hofraum der Moschee auf den breiten Platz hinaus, wo die erwachten Schläfer aufgestanden sind, ihre Bettstätten aufzuräumen, und von der Morgenwasserpfeife reden. Die kurze Minute der Kühle ist vorbei und es ist wieder so heiß, wie zuvor.

»Möchte der Sahib die Freundlichkeit haben, ein wenig zur Seite zu treten?« »Weshalb? Was ist geschehen?« Auf Männerschultern wird ein Etwas herangetragen im Zwielicht, und ich weiche einen Schritt zurück. Die Leiche einer Frau wird zum Verbrennungsghaut hinabgeführt. Einer der Herumstehenden sagt: »Sie ist heute um Mitternacht an der Hitze gestorben.« Nicht nur eine Stadt der furchtbaren Nächte ist Lahore, auch eine Stadt des Todes.

Der Ausgelöschte

»Das Grab spie seinen Toten aus,
Im Lager er erschien
Und sprach sein Wort, ging wieder fort,
Ließ unsre Herzen glühn.

Seid Männer! Nehmt’s Gewehr zur Hand!
Die Rache ruft zur Tat!
Bald findest du, so Gott will, Ruh,
Mein toter Kamerad!«
Ballade

Man muß sich darüber im klaren sein, daß der Russe ein ganz entzückender Mensch ist, solange man sein Hemd nicht sieht. Als Orientale genommen, ist er einfach hinreißend; – wenn er aber verlangt, als östlichster der Westlichen behandelt und angesehen zu werden, statt als Westlichster der östlichen, dann hat man eine Kategorie Mensch vor sich, von dem man beim besten Willen nicht weiß, wie man mit ihm umspringen soll. Hat man ihn zu Gast, so weiß man nie, welche Seite seiner Natur er im nächsten Augenblick herauskehren wird …

Dirkowitsch war ein Russe – der russischste aller Russen, und es hatte den Anschein, als erwerbe er seinen Lebensunterhalt als Kosakenoffizier im Dienste des Zaren – und nebenbei als Korrespondent einer russischen Zeitung unter einem Namen, der sich nie zweimal wiederholte. Er war ein hübscher junger Asiat und liebte es, unerforschte Teile der Erde zu durchreisen. Er kam nach Indien, kein Mensch wußte, woher. Ob er auf dem Weg über Balkh, Badakshan, Chitral, Beludschistan, Nepal oder sonst ein Paßgebiet gekommen war? Niemand hatte die leiseste Ahnung. Die indische Regierung, die gerade guter Laune gewesen sein mochte, hatte den Befehl gegeben, ihn höflich aufzunehmen und ihm alles zu zeigen, was er zu sehen wünschte; und so trieb er sich denn umher mit einem schlechten Englisch und einem noch schlechteren Französisch, bis er eines Tages in Peshawur landete, wo damals die Weißen Husaren Ihrer Majestät der Königin lagen – an der Mündung des engen Einschnitts in die Berge, der Khyber-Paß heißt. Zweifellos Offizier, war er nach russischer Art mit kleinen emaillierten Kreuzen dekoriert und konnte uferlos schwätzen, wie nicht so bald einer. (Dekoriert war er deshalb wohl kaum worden.) Beim Black-Tyrone-Regiment ging die Sage um, er sei nicht zu schlagen – im Saufen nämlich. Man hätte sich vergeblich bemüht, so hieß es, ihn mit heißem Whisky und Honig, mit glühendem Branntwein und Schnapsgemischen aller Art unter den Tisch zu kriegen, aber nichts hätte gefruchtet. Und wenn die Black Tyrones so etwas eingestehen, die doch alle Irländer sind, so stand außer Zweifel, daß dieser Fremde fraglos ein Übermensch auf diesem Gebiete war.

Die Weißen Husaren sind bei der Wahl ihrer Weine ebenso gewissenhaft wie bei sonstigen Angriffen auf den Feind; sie stellten also ihre sämtlichen Getränke, einschließlich eines märchenhaften Branntweins, zu Dirkowitschs freier Verfügung, und er trank denn auch ganz unglaubliche Mengen davon – mehr noch als bei den Black Tyrones.

Dennoch blieb er geradezu unerträglich europäisch, nannte die Weißen Husaren: »Ljiebe rummbedäckte Gampfesgenossen und Härzänsbridder«. Stundenlang konnte er seinem Herzen Luft machen mit Reden über die glorreiche Zukunft, der die verbündeten englischen und russischen Armeen entgegengingen, wenn sie erst einmal wie ihre Länder unauflöslich ein Herz und eine Seele sein würden, um die Zivilisation Asiens in Angriff zu nehmen. Das klang zwar nicht sehr wahrscheinlich, denn Asien wird sich schwerlich nach europäischem Muster zivilisieren lassen; es ist zu alt dazu! Eine Frau, die viele Liebhaber gehabt hat, kann man nicht bessern, und Asien war in früheren Zeiten unersättlich als galante Dame. In die Sonntagsschule wird sich Asien nicht schicken lassen, wird auch nicht lernen, Wahlzettel zur Hand zu nehmen statt Schwerter.

Dirkowitsch wußte das natürlich ganz genau, aber es paßte ihm besser, den Spezialkorrespondenten herauszukehren als den Offizier einer fremden Macht, und sich so beliebt wie möglich zu machen. Gelegentlich ließ er auch ein paar nebensächliche Brocken über seine eigene Kosakensotnja fallen, die offenbar irgendwo im Hinterland ohne ihn herumgaloppierte. Er hatte in Zentralasien schwere Arbeit geleistet und war auf den Selbsterhaltungskampf besser dressiert als so mancher in seinem Alter, hütete sich jedoch wohlweislich, es merken zu lassen. Noch mehr ließ er es sich angelegen sein, die Disziplin, die Uniformen und die Organisation der Weißen Husaren Ihrer Majestät zu bewundern. Und die Weißen Husaren sind auch wirklich ein bewundernswertes Regiment. Als Lady Durgan, die Witwe des verstorbenen Sir John Durgan, einst in der Garnisonsstadt eingetroffen war und ihr bald darauf jeder einzelne des Regiments einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte sie es verstanden, die öffentliche Meinung durch die feine Erklärung für sich einzunehmen, sämtliche Herren wären so entzückend, den Colonel und ein paar bereits verheiratete Majore mit einbegriffen, daß sie sich mit einem einzigen Offizier unmöglich begnügen könne. Aus diesem Grunde und sicherlich nur aus Widerspruchsgeist heiratete sie dann einen kleinen Niemand aus einem Schützenregiment. Zuerst wollten die Weißen Husaren daraufhin Mann für Mann einen Trauerflor an ihre Ärmel legen, aber bald besannen sie sich eines Besseren und erfüllten am Hochzeitstag die Kirche durch ihre Anwesenheit mit stummem Vorwurf. In Wirklichkeit hatte sie alle verschmäht, vom Seniorkapitän Basset-Holmer angefangen bis herab zu Mildred, dem jüngsten Fähnrich, der ihr jährlich 4000 Pfund und einen Titel zu Füßen hätte legen können.

Die einzigen, die die allgemeine Hochachtung für die Weißen Husaren nicht teilten, waren ein paar tausend Herren jüdischer Abkunft, die jenseits der Grenze wohnten und auf den Namen »Pathans« oder Afghanen hörten. Sie waren einmal mit dem Regiment in offiziellen Angelegenheiten kaum zwanzig Minuten lang beisammen gewesen, aber schon diese kurze Zusammenkunft, die durch verschiedene kleine, aber um so lebhaftere Kontroversen gewürzt war, hatte sie mit Vorurteilen aller Art erfüllt, so daß sie die Weißen Husaren als Teufelskinder bezeichneten und als Söhne von Leuten, mit denen man unmöglich in guter Gesellschaft verkehren könne. Trotz dieser Abneigung ließen sie sich jedoch nicht abhalten, sich auf Kosten der Weißen Husaren gelegentlich zu bereichern. Das Regiment besaß nämlich Karabiner – schöne Martini-Henry-Gewehre, die nicht nur eine Kugel 1000 Meter weit ins feindliche Lager zu schleudern vermochten, sondern auch viel leichter zu handhaben waren als lange Büchsen. Sie waren deshalb die ganze Grenze entlang sehr begehrt und, da bekanntlich die Nachfrage das Angebot zu regeln pflegt, wurden sie unter Gefahr für Leib und Leben mit Silber aufgewogen, das heißt: mit 16 Pfund Sterling das Stück bezahlt. Sie wurden des Nachts von schlangenhurtigen Dieben, die unter den Nasen der Wachen herangekrochen kamen, gestohlen, verschwanden auf geheimnisvolle Weise aus verschlossenen Waffenschränken und, bei heißem Wetter, wenn alle Barackentüren und Fenster offenstanden, verdunsteten sie wie ihre eigenen Rauchwolken. Die Grenzbewohner bedurften ihrer dringend zu Zwecken der Blutrache und anderer Erfordernisse. In den langen kalten Nächten des nordischen indischen Winters wurden sie besonders gern gestohlen, denn um diese Zeit blüht das Mordgeschäft ganz besonders, und die Gewehrpreise stiegen dann beträchtlich. Man verdoppelte deshalb die Regimentswachen und schließlich verdreifachte man sie. Der gemeine Soldat macht sich nicht viel daraus, wenn er sein Gewehr verliert, denn die Regierung muß es ja ersetzen, aber beraubt ihn jemand seines Schlafes, dann wird er fuchsteufelswild; kein Wunder daher, daß so mancher Flintendieb, der auf der Tat erwischt wurde, bis zur heutigen Stunde das sichtbare Zeichen des Regimentszornes am Leibe trägt. Dergleichen Maßnahmen geboten den Räubereien für längere Zeit Einhalt, so daß man die Zahl der Wachen herabmindern und das Regiment sich wieder dem Polospiel zuwenden konnte. Und dies mit unerwartetem Erfolg; es gelang ihm nämlich, mit zwei Goals gegen eins das furchtbare Polo-Team des Lushkar Light Horse-Regiments zu schlagen, trotzdem dieses vier Ponys für den nur einstündigen Kampf zur Verfügung hatte – und außerdem einen eingeborenen Offizier, der wie eine züngelnde Flamme auf dem Spielplatz herumhuschte.

Die Weißen Husaren gaben ein Fest, um das Ereignis zu feiern. Das ganze Lushkar-Team kam, und auch Dirkowitsch erschien. In der Galauniform eines Kosakenoffiziers. Er wurde den Lushkars vorgestellt und machte große Augen, als er sie erblickte. Es waren noch schlankere Männer als die Husaren, und sie bewegten sich mit einem Schwung, der alle Punjab-Grenztruppen und irregulären Reiter auszeichnet. Wie alles im Dienst muß er gelernt werden, wird aber nie mehr vergessen, wie so manches andere, und haftet dem Körper an bis zum Tode.

Der große, mit einem Balkendach gedeckte Speisesaal der Weißen Husaren bot einen imposanten Anblick. Das ganze Silber der Offiziersmesse war auf dem langen Tisch aufgedeckt – demselben Tisch, auf dem die Leichen von fünf Offizieren, die in einem längst vergessenen Kampfe gefallen waren, einst aufgebahrt gewesen waren. Zerfetzte Standarten schmückten den Eingang, Sträuße von Winterrosen lagen zwischen den silbernen Leuchtern, die Porträts hervorragender verstorbener Offiziere blickten herab auf ihre Nachfolger zwischen den Köpfen und Geweihen von Sambhur, Nilghai und Markhor (*Indischer Hirsch, Blau-Antilope und indische Bergziege.*) und dem Stolz der Tafelrunde: zwei grinsenden Schneeleoparden, deren Erbeutung Basset-Holmer vier Monate Urlaub gekostet, den er statt auf der Straße nach Tibet, und täglich bedroht von Lawinen, Schneestürmen und Steinfall, ganz gut in England hätte zubringen können.

Die Diener, in fleckenlosen weißen Musselin gekleidet, das Regimentswappen am Turban, warteten hinter ihren Herren, die im Scharlach und Gold der Weißen Husaren und im Milchweiß und Silber der Lushkar Light Horses prangten. Dirkowitschs stumpfgrüne Uniform war der einzige dunkle Punkt an der Tafel, aber seine großen Onyxaugen entschädigten dafür. Er fraternisierte überströmend mit dem Kapitän des Lushkar-Regimentes, der dabei vermutlich überlegte, mit wieviel von Dirkowitschs Kosaken es wohl jeder einzelne seiner eigenen dunkelhäutigen zähen Reiter aufnehmen könnte; er ließ sich natürlich nicht die Spur anmerken. Wer täte das!

Die Unterhaltung wurde immer lebhafter. Die Regimentskapelle spielte zwischen den Gängen, wie das seit undenklichen Zeiten Sitte war, bis ein allgemeines Schweigen beim Abräumen der Speisen eintrat und ein Offizier sich erhob und den ersten pflichtgemäßen Toast mit den Worten einleitete: »Herr Stellvertreter! Die Königin!« Worauf der kleine Mildred am ändern Ende des Tisches ausrief: »Die Königin! Gott segne sie!« und die großen Sporen aneinanderklirrten, die hochgewachsenen Männer aufsprangen und auf das Wohl der Königin tranken, aus deren Kasse, wie sie irrtümlicherweise annahmen, ihr Lebensunterhalt bestritten wurde. Dieses Tafelritual bleibt immer jung; niemals verfehlt es, dem, der es hört, die Brust zu schwellen, sei es zu Wasser oder zu Lande. Dirkowitsch erhob sich mit seinen »rummvol-län Briddern«, aber das Verständnis fehlte ihm; nur ein Offizier kennt die Bedeutung des Toastes, die Menge bringt es bloß bis zum Gefühl. Kurz nach der Stille, die der Zeremonie folgte, trat der eingeborene Offizier ein, der für das Lushkar-Regiment Polo gespielt hatte. Er durfte natürlich nicht mit an der Tafel speisen, aber zum Dessert kam er herein, in seiner ganzen Länge von sechs Fuß, mit dem blau und silbernen Turban oben und den hohen schwarzen Lackstiefeln unten. Die ganze Tafelrunde erhob sich fröhlich, als er zum Zeichen der Huldigung dem Obersten der Weißen Husaren seinen Säbelgriff zur Berührung hinhielt und sich dann in einen Sessel fallen ließ, während alle durcheinander jubelten: »Rung ho (was soviel heißt, wie: komm und siege), Rung ho, Hira Singh!« – »Hab ich dir eins übers Knie gegeben, Alter?« – »Ressaidar Sahib, was zum Teufel hast du auch das kleine hintenausschlagende Schwein von einem Pony in den letzten zehn Minuten noch mitspielen lassen müssen?« – »Shabash, Ressaidar Sahib!« Und mitten hinein ertönte die Stimme des Obersten: »Auf das Wohl des Ressaidar Hira Singh!«

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, erhob sich Hira Singh, um zu antworten, denn er war der Sprößling eines Fürstenhauses, der Sohn eines Königssohnes, und wußte, was sich bei solchen Gelegenheiten gehörte. Er bediente sich seiner Muttersprache, als er rief: »Oberst Sahib und Offiziere des Regimentes! Ihr habt mir eine große Ehre erwiesen. Ich werde dessen eingedenk bleiben. – Wir sind hergekommen, um mit den Weißen Husaren zu spielen. Wir sind geschlagen worden.« (»Es war Ihre Schuld nicht, Ressaidar Sahib! Wir waren auf unserm Spielplatz besser zu Hause, vergessen Sie das nicht! Und dann waren eure Ponys noch steif von der Eisenbahnfahrt. Entschuldigen Sie sich nicht!«) – »Deshalb werden wir vielleicht wiederkommen, so Gott es will.« (»Hört, hört! Bravo! Pst -«) – »Um nochmals mit euch zu spielen.« (»Auf Wiedersehen!«) – »Bis unsere Ponys sich die Beine vom Leib abgelaufen haben werden. So will es der Sport.« Seine Hand faßte nach dem Säbelgriff und sein Blick glitt hinüber zu Dirkowitsch, der zurückgelehnt in seinem Sessel saß -»Aber sollte nach Gottes Ratschluß dann nicht Polo, sondern – ein anderes Spiel gespielt werden, so seid versichert, Colonel Sahib und ihr Herren Offiziere, daß wir Seite an Seite bis ans Ende spielen werden, und wenn sie auch«, wieder heftete er den Blick auf Dirkowitsch, »fünfzig Ponys hätten und wir nur eins.« Und mit einem tief aus der Kehle kommenden »Rung ho«, das dumpf dröhnte, wie wenn ein Gewehrkolben auf Steinfliesen fallen gelassen wird, setzte er sich wieder nieder beim Gläserklang.

Dirkowitsch, unentwegt schwelgend im Genüsse des erwähnten märchenhaften Branntweins, hatte kein Wort verstanden; auch die lauwarm-milden Übersetzungen, die man ihm beibrachte, konnten ihm den Sinn nicht klarmachen. Hira Singhs Rede bildete das Ereignis des Tages, und es wollte scheinen, als solle das Getöse bis zum Morgen dauern – da fiel plötzlich draußen ein Schuß, der alle nach der linken, unbewaffneten Seite greifen ließ. Gleich darauf ein wildes Getümmel vor der Tür und ein Schmerzensschrei.

»Wieder mal ein Karabinerdiebstahl!« sagte der Adjutant gelassen und fiel wieder in seinen Sessel zurück. »Das kommt davon, wenn man die Wachen reduziert. Hoffentlich haben ihn die Posten erschossen!«

Die Schritte von Soldaten dröhnten über den Steinboden der Veranda, und es schien, als schleifte man etwas herbei.

»Warum stecken sie den Kerl nicht bis morgen früh in eine Zelle!« meinte der Oberst ärgerlich. »Sehen Sie nach, Sergeant, ob er verwundet ist.«

Der Mann eilte hinaus in die Dunkelheit und kam gleich darauf mit zwei Gemeinen und einem Korporal zurück -alle höchlichst bestürzt.

»Indifidium gefaßt beim Karabinerstehlen«, meldete der Korporal. »Is er wenigstens an die Baracken hin gekrochen, Herr Oberst, und an die Schildwachen vorbei. Und die Schild-wach, die sagt, Herr Oberst—-«

Das zusammengekauerte Lumpenbündel, das die drei hereingebracht hatten und am Hals in die Höhe hielten, stöhnte laut. Noch nie hatte man einen so elenden und herabgekommen Afghanen gesehen: ohne Turban, ohne Schuhe, mit Schmutzfladen bedeckt und anscheinend halbtot mißhandelt. Hira Singh schauderte leicht zusammen bei dem Schmerzenslaut des Mannes. Dirkowitsch schenkte sich noch einen Schnaps ein.

»Also, was sagt der Wachtposten?« fragte der Oberst.

»Sagt, er sprich englisch«, meldete der Korporal.

»Also deshalb hast du ihn hereingebracht, statt ihn dem Sergeanten zu übergeben! Merk dir: und wenn er mit Pfingstzungen geredet hätte, hereinbringen durftest du ihn nicht!«

Wieder stöhnte und jammerte das Lumpenbündel. Der kleine Mildred stand auf, um den Fall zu untersuchen. Er sprang zurück wie von einer Schlange gebissen.

»Es wäre gut, die Leute hinauszuschicken«, sagte er halblaut zu dem Obersten. Dann legte er seinen Arm um das in Lumpen gehüllte Jammerbild und setzte es in einen Stuhl. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß Mildred deswegen der »kleine« Mildred hieß, weil er die ungeheure Größe von sechs Fuß vier Zoll hatte. Als der Korporal sah, daß ein Offizier sich des Gefangenen annahm und das Auge des Obersten zu funkeln begann, drückte er sich schnell mit seinen Leuten. – Die Tafelrunde war nunmehr allein mit dem Karabinerdieb, der seinen Kopf auf den Tisch sinken ließ und bitterlich, hoffnungslos, trostlos zu weinen und zu schluchzen begann.

Hira Singh sprang auf: »Oberst Sahib, das ist kein Afghane! Afghanen weinen: Ai, Ai. Er ist auch kein Hindustani; die weinen: Oh! Ho! Er weint nach Art der Weißen: Au! Au!«

»Woher, zum Kuckuck, Hira Singh, haben Sie denn diese Kenntnis?« fragte der Kapitän des Lushkar-Regiments.

»Hören Sie ihn?« fragte Hira Singh ruhig.

»Er hat soeben ‚Mein Gott‘ gesagt«, bestätigte der kleine Mildred, »ich habe es genau gehört.«

Schweigend betrachteten der Oberst und die ändern Offiziere den Unglücklichen. Es ist etwas Furchtbares, einen Mann weinen zu hören. Eine Frau kann mit dem Gaumen schluchzen, oder mit den Lippen, oder sonstwie, aber ein Mann schluchzt aus dem Zwerchfell herauf – es zerreißt ihn.

»Armer Teufel!« brummte der Oberst und hustete. »Wir müssen ihn ins Spital schicken, er ist mißhandelt worden.«

Der Adjutant hingegen liebte seine Karabiner zu sehr, als daß er hätte gerührt sein können; Karabiner galten ihm soviel wie Enkelkinder und kamen gleich nach der Mannschaft im Rang. Darum brummte er rebellisch: »Daß ein Afghane stiehlt, kann ich noch begreifen, denn es liegt in seiner Natur; aber daß er weint, kann ich nicht begreifen. Das macht die Sache noch schlimmer.«

Der Märchenbranntwein schien Dirkowitsch endlich besiegt zu haben, denn Dirkowitsch lag in seinem Sessel und starrte zur Decke empor. Dort war nichts Besonderes zu sehen, bis auf einen Schatten, der die Form eines kolossalen schwarzen Sarges hatte. Wahrscheinlich infolge irgendeiner Eigentümlichkeit in der Konstruktion des Speisesaals erschien er immer, wenn die Lichter angezündet wurden. Die Verdauung der Weißen Husaren störte sein Anblick nicht im geringsten. Im Gegenteil: Sie waren stolz auf ihn.

»Ob er wohl die ganze Nacht so weinen wird?« meinte der Oberst. »Oder sollen wir mit dem kleinen Mildred als Gast aufbleiben, bis es ihm wieder besser geht?«

Der Mann im Sessel erhob mit einemmal den Kopf und starrte die Versammlung an. »Oh, mein Gott!« sagte er. Sogleich sprang alles auf. Der Lushkar-Kapitän aber tat etwas, wofür ihm das Viktoriakreuz gebührt hätte als Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf gegen überwältigende Neugier: Er gab seinen Leuten ein Zeichen mit den Augen, wie eine Hauswirtin es ihren Damen gegenüber in schicklichen Momenten zu geben pflegt, und führte sie nach den wenigen an den Obersten gerichteten Worten: »Dies ist nicht unsere Angelegenheit, Sir!« hinaus auf die Veranda und in die Gärten. -Hira Singh war der letzte, der den Saal verließ; er warf nur noch einen Blick auf den Russen. Dirkowitsch bemerkte es nicht; er war ins Schnapsparadies eingegangen und studierte noch immer den Sarg an der Decke, lautlos dabei die Lippen bewegend.

»Ein Weißer bis in die Knochen«, sagte Basset-Holmer, der Adjutant. »Was für ein heilloser Renegat das sein muß! Möchte gern wissen, wo er herkommt.«

Der Oberst schüttelte den Mann leicht am Arm und fragte: »Wer sind Sie?«

Keine Antwort. Der Mann starrte im Saal umher und lächelte dann dem Obersten ins Gesicht. Der kleine Mildred, der stets mehr Weib als Mann war, solange nicht der Ruf erscholl: »Mannschaft! Aufgesessen!« wiederholte die Frage in einem Ton, der einen Geyser zu Vertraulichkeiten hätte verleiten müssen, aber das Lumpenbündel lächelte nur.

Dirkowitsch benützte die Gelegenheit, sanft von seinem Sessel herab auf den Fußboden zu gleiten; kein Adamsohn kann auf dieser unvollkommenen Welt den Champagner der Weißen Husaren flaschenweise mit ihrem Märchenbranntwein gemischt durcheinander trinken, ohne an die Grube gemahnt zu werden, der er einst entstiegen und in die er wieder zurückkehren wird! Die Musikkapelle stimmte in diesem Augenblick die Melodie an, mit der die Weißen Husaren seit Gründung des Regimentes alle ihre Festlichkeiten zu beschließen pflegten; lieber hätten sie sich pensionieren lassen, als auf sie verzichtet. Als die Weise ertönte, erhob der Mann den Kopf und begann im Takt mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.

»Eigentlich sehe ich nicht ein, warum wir Wahnsinnige unterhalten sollen«, meinte der Oberst. »Rufen Sie eine Wache, damit er in eine Zelle gesteckt wird. Wir wollen die Angelegenheit morgen untersuchen. Aber geben Sie ihm vorher noch ein Glas Wein.«

Der kleine Mildred füllte ein Sherryglas mit Brandy und schob es dem Manne hin. Er trank. Die Musik spielte lauter. Er richtete sich stramm auf. Dann streckte er seine krallenartigen Finger nach einem silbernen Tafelgerät aus und streichelte es zärtlich. Darin war eine Feder verborgen, gewissermaßen ein Geheimnis. Wenn man darauf drückte, wurde aus dem Ding eine Art speicherförmiger Kandelaber. Der Mann fand die Feder, drückte darauf und lachte leise. Dann stand er auf, betrachtete ein Bild an der Wand, dann das nächste, während die Offiziere ihn schweigend beobachteten. Als er beim Kaminsims angekommen war, schüttelte er den Kopf und schien enttäuscht. Ein Aufsatz aus Silber, einen Husaren in voller Uniform zu Pferd darstellend, fesselte seine Aufmerksamkeit; er deutete mit fragender Miene darauf und dann wieder auf das Kaminsims.

»Was er wohl damit meinen mag?« sagte der kleine Mildred und erklärte ihm gleich darauf mit einem Ton, so herzensgut, wie etwa eine Mutter zu ihrem Kinde sprechen würde: »Ein Pferd ist es, schau nur: ein Pferd!«

Und langsam kam die Antwort zurück – in halbersticktem, leidenschaftslosem Gurgelton: »Ja – ich – hab’s gesehen. – Aber – wo – ist dieses Pferd?«

Man hätte die Herzen schlagen hören können, so lautlos machten die Offiziere dem Manne Platz, wie er langsam im Speisesaal umherwanderte. Keinem fiel es mehr ein, den Wachposten zu rufen.

Wieder sprach da der Mann – mit zögernden Worten: »Wo – wo ist – unser Pferd?«

Es gab nur ein Bild eines Pferdes bei den Weißen Husaren und es hing an der Tür draußen vor dem Speisesaal. Es stellte den Schecken des Trommlers dar, des Königs der Regimentsmusik, und hatte siebenunddreißig Jahre lang treu gedient, bis es wegen Altersschwäche erschossen werden mußte. Sofort rissen einige der Herren das Bild von seiner Stelle und reichten es dem Manne hin. Er nahm es und stellte es – auf das Kaminsims. Dann taumelte er an das Ende der Tafel und sank in Mildreds Stuhl. Ein Stimmengewirr erhob sich: »Seit dem Jahre 67 hat das Trommlerpferd nicht mehr über dem Kaminsims gehangen!« – »Wie kann er das wissen!?« – »Mildred, geh, sprich doch noch mal mit ihm!« – »Oberst, was gedenken Sie zu tun?« -»So schweigt doch! Laßt dem armen Teufel Zeit, zu sich zu kommen.« – »Das wird er nie, er ist doch wahnsinnig!«

Der kleine Mildred trat zu dem Obersten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann wandte er sich an die Gesellschaft und sagte laut: »Ich bitte die Herren, wieder alle ihre Plätze einzunehmen!« Es geschah. Nur Dirkowitschs Sessel blieb leer. Der kleine Mildred setzte sich in Hira Singhs Stuhl. Unter allgemeiner Totenstille füllte der diensthabende Sergeant, die Augen weit aufgerissen, die Gläser. Wieder, wie vorher am Schlusse des Banketts, erhob sich der Oberst, faßte sein Glas, aber seine Hand zitterte, so daß der Wein auf den Tisch floß, und rief mit heiserer Stimme, den am Ende der Tafel in seinem Sessel zusammengesunkenen Mann anstarrend: »Herr Stellvertreter! Die Königin!« Eine bange Pause folgte, dann sprang der Mann auf und antwortete ohne zu stocken: »Die Königin! Gott segne sie!« Und als er das Glas geleert hatte, brach er mit den Fingern den Stiel ab.

Vor langer, langer Zeit, als die Kaiserin und Königin noch eine junge Frau war und es noch keine falschen Ideale im Lande gab, war es bei gewissen militärischen Liebesmahlen Sitte gewesen, nach solchen Toasten die Stiele der Trinkgläser abzubrechen zum Entzücken aller Heereslieferanten, aber diese Sitte besteht jetzt nicht mehr; weswegen sollte man auch etwas zerbrechen! Höchstens – brechen, und das besorgt die Regierung selber, besonders wenn es das Brechen eines gegebenen Wortes anbelangt.

»Das löst das Rätsel«, sagte der Oberst aufatmend, »er ist kein Sergeant. Aber was, in aller Welt, ist er denn?«

»Ja, was ist er?« rief alles wie aus einem Munde und eine Flut von Fragen erhob sich. Kein Wunder, daß der zerlumpte, schmutzbedeckte Eindringling es nur zu einem verständnislosen Lächeln und Kopfschütteln brachte.

Da kroch Dirkowitsch, wahrscheinlich aus gesundem Schlummer erweckt durch Füße, die unabsichtlich auf seinem Körper herumgetrampelt hatten, unter dem Tisch hervor. Auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln. Er tauchte dicht neben dem Manne auf, aber kaum hatte ihn dieser erblickt, so schrie er laut auf und krümmte sich unter seinen Lumpen in wildem Entsetzen. Es war ein grausiger Anblick nach dem erhebenden und feierlichen Trinkspruch, der die verwirrten Sinne so schnell beruhigt hatte.

Dirkowitsch rührte keinen Finger, um dem Unglücklichen zu helfen, dafür sprang Mildred auf und stützte ihn. Es schickt sich nicht, daß ein Gentleman, der einen Toast auf die Königin auszubringen imstande ist, einem subalternen Kosakenoffizier zu Füßen liegt!

Durch das hastige Zugreifen Mildreds war dem Manne der obere Teil seiner Bekleidung fast bis zum Gürtel aufgerissen worden. Sein Körper war über und über bedeckt mit schwarzen trockenen Narben! Es gibt nur ein Instrument in der Welt, das solche parallel laufende Striemen reißt. Weder Dornen noch Katzenkrallen bringen dergleichen hervor! Dirkowitsch erblickte sie, und seine Augen erweiterten sich. Auch in seinen Mienen ging eine merkwürdige Veränderung vor. Er sagte etwas, das klang wie: »Shto ve takete?« und sofort hauchte das Lumpenbündel unterwürfig: »Chetyre.«

»Was heißt das?« schrien alle durcheinander.

»Das ist seine Nummer. Nummer vier, wjissen Sie«, erklärte Dirkowitsch mit schwerer Zunge.

»Was hat ein Offizier Ihrer Majestät der Königin mit einer Nummer zu tun?« fragte der Oberst in schneidendem Ton; ein drohendes Murmeln lief um den Tisch.

»Wjie kann jich das wissen?« sagte der geschmeidige Asiat mit einem süßen Lächeln. »Er ist – wjie sagt man? – eine Desertörr – eine Flüchtling von drüben –« Er deutete in das Dunkel der Nacht hinaus.

»Sprechen Sie mit ihm! Vielleicht antwortet er Ihnen. Aber, bitte, sanft!« sagte der kleine Mildred und drückte den Mann wieder freundlich in den Stuhl zurück. Es erregte allgemeine Entrüstung, daß Dirkowitsch Brandy schlürfte, während er mit dem Geschöpf, das ihm so zaghaft und von offensichtlicher Furcht ergriffen antwortete, russisch zischte und knurrte. Da aber Dirkowitsch den Mann zu verstehen schien, unterbrach man ihn nicht. Alle lauschten gespannt und vorgebeugt, und man konnte ihren schweren Atem hören während der langen Pausen, die bisweilen in dem Verhör eintraten. Wenn die Weißen Husaren einmal keinen Dienst haben werden, wollen sie nach Petersburg fahren, um Russisch zu lernen!

»Er weiß nicht, wie lange es her ist«, berichtete Dirkowitsch mit einem Blick auf das Offizierskorps, »aberr er sagt, es müsse sein gewesen vor serr Ijange Zeit, wärrend eines Krieges. Ich gljaube, es warr eine Zufall. Err sagt, er hat mitgemacht den Krieg mit Ihrem rummbedeckten und ausgezeichneten Regiment.«

»Die Listen! Die Listen! Holmer, bring die Listen her!« schrie der kleine Mildred, und der Adjutant stürzte ohne Mütze hinaus ins Ordonnanzzimmer, wo die Musterungslisten des Regiments aufbewahrt wurden. Als er zurückkam, hörte er, wie Dirkowitsch seine Rede mit den Worten schloß: »Deshalb meine teurren Freunde, bin ich iber die Maaßen betrübt, daß ein Zufall die Veranlassung war, der wieder hätte gut gemacht werden können, wenn er sich hätte entschuldigt bei unsenn Oberst, der von ihm ist belj eidigt worden.«

Abermals entstand ein lautes Murren, das der Oberst nur mit Mühe ersticken konnte, die Offiziere schienen nicht in der Laune zu sein, Beleidigungen gegen einen russischen Obersten abzuwägen.

»Err sagt, er erinnert sich nicht mehr«, fuhr Dirkowitsch fort, »aber ich glaube, es war eine Zufall. Deshalb wurde er nicht, wie die andern Gefangenen ausgetauscht, sondern an einen ändern Ort – verschickt; nach – wjie soll ich sagen? – Nun: aufs Land! Auf diese Weise kam er dann schließlich hierher, er weiß nicht, wie. Nicht? Err war in Chepany.« Der Mann hörte den Namen, nickte und schauderte. »Err war in Zhigansk und Irkutsk. Ich begreife nicht, wie err hat können entfliehen! Er sagt auch, daß er sich hat herumgetrieben viele Jahre in den Wäldern, aber wie viele, hat er vergessen wie so vieles andere. Es war eine Zufall. Weiler sich nicht hat entschuldigt bei unserm Oberst. Ach!«

Anstatt in Dirkowitschs Bedauern mit einzustimmen, schienen die Weißen Husaren im Gegenteil das damalige Verhalten ihres Kameraden nur zu billigen, wie aus ihren höchst unchristlichen Freudebezeigungen hervorging, nebst anderen Gefühlsäußerungen, die kaum durch das Gebot der Gastfreundschaft im Zaume gehalten wurden.

»Ruhig jetzt!« erwähnte Holmer. »Da haben wir’s: 56-55-54: Leutnant Austin Limmason. Vermißt. Das war bei Sebastopol. Was für eine höllische Schande!: hat einen russischen Offizier beleidigt und wird deshalb einfach verschickt. Dreißig Jahre seines Lebens einfach ausgelöscht!« Und Holmer warf die vergilbten und verstaubten Listen auf den Tisch. Die Offiziere fielen darüber her. »Aber entschuldigt hat er sich doch nicht!« riefen alle wie aus einem Munde. »Hat wahrscheinlich gesagt, er wolle lieber verdammt sein!«

»Armer Kerl! Später hatte er wohl keine Gelegenheit dazu«, sagte der Oberst. »Wie hat er sich nur hierher durchgeschlagen?«

Das Lumpenbündel auf dem Sessel konnte keine Antwort geben.

»Wissen Sie, wer Sie sind?«

Das Lumpenbündel lächelte unsicher.

»Wissen Sie nicht, daß Sie der Leutnant Limmason sind? – Leutnant Limmason von den Weißen Husaren?«

Schnell wie ein Schuß kam die Antwort: »Ja. Ich bin Limmason. Natürlich.« Sofort jedoch erlosch das Licht in den Augen des Mannes wieder; er brach zusammen und beobachtete schreckerfüllt jede Bewegung Dirkowitschs. Eine Flucht aus Sibirien kann wohl einige einfache Tatsachen im Gedächtnis zurücklassen, aber zusammenhängende Gedankengänge scheint sie zu zerstören. Wie eine verirrte Taube hatte Limmason den Weg zu seinem Regiment zurückgefunden, aber wie ihm das möglich gewesen, vermochte er nicht zu erklären. Was er gelitten und gesehen – er wußte es nicht mehr. Er krümmte und wand sich vor Dirkowitsch so instinktiv, wie er die Feder des Leuchters gedrückt, das Bild des Trommlerpferdes gesucht und in den Toast auf die Königin eingestimmt hatte; alles andere war eine ausgelöschte Tafel, die die russische Sprache nur mangelhaft ausfüllen konnte. Er hielt den Kopf auf die Brust gesenkt und kicherte abwechselnd in sich hinein oder schauderte.

Vom Teufel, der im Branntwein steckt, angestachelt, hielt Dirkowitsch es für nötig, in diesem höchst unpassenden Augenblick eine Rede zu halten. Er stand auf, schwankte ein wenig, erwischte die Tischkante aber noch rechtzeitig und begann, wobei seine Augen schimmerten wie Opale:

»Rummbedeckte Waffenkameraden – treue Freunde und Gastgeberr! Es warr eine unglückliche Zufall! Ieberraus beklagänswert. Höchst beklagänswert!« – hier lächelte er den Anwesenden honigsüß zu; »aber Sie werden an ihn denken – an den kleinen, kleinen Fall! Soo klein, njicht wahrr? Der Zar, pscha, ich schnappe mit den Fingern auf ihn! Gljaube ich an ihn? Nein. Aber an uns Slawen, die noch nichts getan haben, an die glaube ich. Siebzig – was sage ich? – nein, nein viel viel mehr Millionen, die haben noch nichts getan – nicht eine Sache! Napoleon? – Eine Episode! Pah!« – hier schlug er mit der Hand auf den Tisch – »hört genau, ihr alten Völker! Wir haben noch njichts getan in der Welt – hier zum Beispiel! Alle unsere Arbeit ist noch zu tun! Aberr, sie wirrd getan werden, ihr alten Völker! Forrt mit euch!« -gebieterisch streckte er den Arm aus; deutete dann auf das Lumpenbündel. »Seht ihr ihn da? Err ist nicht lieblich anzuschauen! Er ist nur ein kleiner – oh, so ganz kleiner Zufall, den man vergessen hatte. Jetzt ist er das da! So wird’s auch mit euch gehen, Waffenbrüder liebe! Aber ihr werdet nicht zurückkommen, wie der da! Ihr werdet dahin gehen, wohin err gegangen ist, oder dorthin -« Er deutete auf den großen Sargschatten an der Decke und stammelte: »- siebzig Millionen – fort mit euch, ihr alten Völker!« Dann fiel er in Schlaf wie vom Blitz gefällt.

»Schön und zutreffend«, sagte der kleine Mildred. »Aber wozu wütend werden? Machen wir es lieber diesem armen Teufel bequem!«

Das wurde denn auch schnell und liebevoll von den Weißen Husaren besorgt. Leutnant Limmason war nur zurückgekehrt, um drei Tage später wieder fortzugehen, wobei die Klänge eines Trauermarsches und der schütternde Schritt der Schwadronen der erstaunten Mannschaft, die trotzdem keine Lücke in der Tafelrunde bemerkte, Kunde gaben, daß ein Offizier des Regimentes seine neuerlangte Charge wieder niedergelegt hatte.

Auch Dirkowitsch, liebenswürdig, freundlich, geschmeidig, wie immer, reiste ab. Mit dem Nachtzug. Der kleine Mildred und noch ein anderer Offizier gaben ihm das Geleit, denn er war nun einmal Gast des Regimentes, und hätte er den Obersten selbst mit der flachen Hand geschlagen, der Offizierscomment erlaubte keine Verletzung des Gastrechts.

»Leben Sie wohl, Dirkowitsch, und: glückliche Reise!« sagte der kleine Mildred.

»Au revoir!« rief der Russe zurück.

»Wirklich? Auf Wiedersehen? Wir dachten, Sie wollten heimreisen?«

»Ja! Aberr ich komme wieder! Ist denn dieser Weg verschlossen, meine Ijieben Freunde?« Dirkowitsch deutete auf den Horizont des Nachthimmels, wo der Polarstern über dem Khyber-Paß glänzte.

»Wahrhaftig, das habe ich ganz vergessen! Natürlich, ja!« sagte Mildred freundlich. »Aber haben Sie auch alles, was Sie brauchen? Zigarren? Eis? Bettzeug? Alles in Ordnung? Gut, au revoir, Dirkowitsch!«

»Hm«, brummte der Begleitoffizier, als die letzten Lichter des Zuges verschwanden, »von allen – diesen – hemmungslosen – –«

Der kleine Mildred antwortete nicht, richtete seinen Blick auf den Polarstern und summte das Liedchen einer neuen Simla-Posse, die es damals den Weißen Husaren ganz besonders angetan hatte, vor sich hin:

»Er tut mir leid, der Ritter Blaubart,
Leid tat mir’s, tat ich ihm weh!
Doch kehrt er zurück: das gäbe ein Stück
Spektakel, soviel ich seh.«

Georgie Porgie

»Georgie Porgie, Wurm im Speck,
Küßt die Mädchen froh und keck;
Nimmt ihn eins jedoch beim Wort,
Läuft Georgie Porgie schleunigst fort.«

Wer es für selbstverständlich hält, früh am Morgen sein Besuchszimmer nicht zu betreten, solange das Stubenmädchen aufräumt und Staub abwischt, der sollte sich auch darüber im klaren sein, daß es nicht angeht, als zivilisierter Mensch, der aus Porzellan speist und eine Visitenkartentasche bei sich trägt, in einem Land mit fremder Kultur die eigenen Sitten und Gebräuche und Ansichten über Recht und Unrecht durchsetzen zu wollen. Wenn das Gebiet einmal umgestaltet und vorbereitet ist – von solchen, die dazu berufen sind, – dann mag er kommen mit seinem Gepäck von Gesellschaftsordnung, seinen zehn Geboten und der übrigen Maschinerie. Wo das Gesetz der Königin noch nicht feststeht, – dort eine strenge Beobachtung anderer und lässiger Vorschriften zu erwarten, ist unvernünftig. Männer, die vorne an der Deichsel des Wagens ziehen, der zu Wohlstand und Besitz führt und die Wege durchs Dschungel ebnet, darf man nicht beurteilen, als seien sie eingesessene Bürger oder Mitglieder der guten Gesellschaft.

Erst vor wenigen Monaten hatte das Gesetz der Königin wenige Meilen nördlich von Thayetmyo am Irrawaddy halt gemacht. Dort herrschten zwar auch noch keine strengen Gesetze, aber immerhin reichten sie aus, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn die Regierung es für zeitgemäß erachtete, das Gesetz der Königin vorwärts zu tragen bis Bhamo und zur chinesischen Grenze, dann wurde der Befehl dazu gegeben, und es fanden sich auch immer Männer genug, beseelt von dem Wunsche, ändern voranzugehen zur Hebung und Verbreitung des nationalen Ansehens, die sich den vorstoßenden Truppen anschlossen. Es waren das zumeist Leute, die ein regelrechtes Examen kaum bestanden hätten und auch viel zu selbständig dachten, als daß sie sich für den regulären Bürodienst in den Provinzen geeignet hätten. Wenn später alles soweit war, trat die Regierung mit Vorschriften und Umänderungen dazwischen und drückte Neu-Burma auf das tote Niveau Indiens herab; aber in der kurzen Zwischenzeit brauchte man starke Männer, die nach eigenem Gutdünken die Vorarbeit leisteten.

Unter diesen Pionieren der Zivilisation befand sich Georgie Porgie, ein, wie alle wußten, die ihn kannten, höchst zielbewußter Mann. Er hatte eine Stellung inne in Ober-Burma, als der Befehl kam, zur Grenze vorzurücken; seine Freunde nannten ihn Georgie Porgie, weil er es liebte, ein burmesisches Lied zu singen, dessen erste Zeile so ähnlich klingt, wie »Georgie Porgie«. Wohl jeder, der einmal in Burma gewesen ist, kennt das Lied; übersetzt heißt es: »Puff, puff, puff, puff, großes Dampfschiff.« Georgie Porgie sang es zum Banjo und seine Zuhörer waren immer entzückt davon und brüllten jedesmal so laut dazu, daß man es bis weit hinein in die Teak-Wälder hören konnte.

Als er hinauf nach Ober-Burma zog, scherte er sich einen Quark um Gott oder Mitmensch, aber er verstand es, sich Respekt zu verschaffen und die verzwickten Militär-Zivil-Pflichten zu erfüllen, die in jenen Monaten auf jedermanns Haupt ruhten. Er arbeitete im Amt und, wie es gerade kam, brachte er Detachements von fieberdurchschüttelten Soldaten wieder in Ordnung, die, auf der Suche nach fliehenden Dakoits begriffen, durch seine kleine Welt gestolpert kamen. Bisweilen zog er selbst los, um die Dakoits zur Vernunft zu bringen, denn im Gebiet rauchte es an allen Orten, und ehe man es sich versah, konnte die Flamme wieder auflodern. Er liebte derlei kleine Abwechslungen, aber die Dakoits fanden sie wenig ergötzlich. Alle Beamten, die mit ihm in Berührung kamen, reisten mit der festen Überzeugung wieder ab, er sei ein wirklich sehr wertvoller Mensch, und diesem Umstand verdankte er es auch, daß man ihn schalten und walten ließ, wie er es für gut fand.

Nach ein paar Monaten bekam er seine Einsamkeit satt und sehnte sich nach Ansprache und ein wenig Luxus. Das Bürgerliche Gesetzbuch machte sich in der Gegend vorerst nur schwach fühlbar und die öffentliche Meinung, die noch viel strenger ist, lag erst in weiter Ferne. Damals war es allgemein Sitte, daß ein weißer Mann sich ein Weib aus den Töchtern des Landes wählen durfte gegen entsprechende Bezahlung. Die Ehe war dann zwar nicht so bindend, wie die Nikkah-Zeremonie der Mohammedaner, aber die Gattin war vergnüglich.

Wenn alle unsere Truppen aus Burma zurück sein werden, wird das Sprichwort in aller Mund kommen: »so gedeihlich wie eine Burmesin« – und dann werden sich die hübschen englischen Damen den Kopf zerbrechen, was der Sinn dieses Satzes in aller Welt wohl bedeuten mag.

Der Bürgermeister des Dorfes nächst Georgie Porgies Posten besaß eine schöne Tochter, die Georgie Porgie erblickt und sich von weitem in ihn verliebt hatte. Als das Gerücht in Umlauf kam, der Engländer mit der strengen Hand im Blockhaus drüben denke an einen regelrechten Haushalt, machte sich der Bürgermeister auf und erklärte, er sei bereit, seine Tochter gegen eine Abfindung von fünfhundert Rupien Georgie Porgie anzuvertrauen, vorausgesetzt die Verpflichtung, sie in Ehren zu halten, rücksichtsvoll zu behandeln, hübsch zu kleiden und mit Wohlstand zu umgeben, wie es die Landessitte verlangte. Der Handel kam zustande und Georgie Porgie hatte keine Ursache, es zu bereuen.

Sehr bald zog Behaglichkeit in sein rohgezimmertes Haus ein und alles blitzte vor Sauberkeit; seine bis dahin ungeordneten Ausgaben schrumpften auf die Hälfte zusammen und er selbst wurde verhätschelt und herausgeputzt von seiner neuen Akquisition, die bei Tisch präsidierte, ihm Lieder vorsang, die Madrassi-Diener in Zucht hielt und in jeder Hinsicht ein so süßes, fröhliches, treues und gewinnendes kleines Frauchen war, wie es sich auch der verbissenste Hagestolz besser nicht hätte wünschen können. Keine Rasse, so sagen die, die es wissen müssen, bringt so gute Gattinnen und Hausfrauen hervor, wie die burmesische. Als das nächste Detachement, auf dem Kriegspfad wandelnd, anmarschiert kam, fand der kommandierende Subalternoffizier an Georgie Porgies Tafel eine Hausfrau, der man in jeder Hinsicht wie einer Dame von Rang mit Ehrerbietung begegnen mußte; und als er am nächsten Tage in aller Frühe seine Leute zusammenrief, um ins Dschungel einzudringen, dachte er im Scheiden sehnsuchtsvoll an das kleine hübsche Diner zurück und an das liebliche Gesichtchen und beneidete aus tiefstem Herzen seinen Gastgeber. War er doch selber in der Heimat verlobt mit einem Mädchen – und das stimmt ein Männerherz gar weich.

Der Name der kleinen Burmesin klang nicht besonders hübsch; Georgie Porgie christianisierte ihn deshalb bald in: Georgina. Ihr zärtliches Wesen und die Behaglichkeit im Hause paßten ihm und er sagte sich, daß er seine fünfhundert Rupien gar nicht besser hätte anlegen können.

Nach drei Monaten eines erfreulichen Zusammenlebens kam ihm eines Tages die Idee, eine wirkliche Ehe – eine englische nämlich – müsse eigentlich etwas sehr Hübsches sein. Wenn er sich hier, im Hinterlande der Welt, schon behaglich fühlte mit diesem Burmesenmädchen, das ostindische Zigarren rauchte, wie erst mit einem süßen englischen Girl, das keine Knüppel rauchte, und Piano spielte statt Banjo! Er sehnte sich ein wenig zurück nach Menschen seiner Rasse, wollte wieder einmal eine Musikkapelle hören und einen Gesellschaftsanzug tragen. Wahrhaftig ja: eine Ehe dieser Art mußte etwas Herrliches sein. Beständig dachte er daran an den langen Abenden, während Georgina ihm vorsang, ihn bisweilen fragend, warum er so schweigsam sei und ob sie ihn vielleicht verletzt oder gekränkt hätte. Beim Nachdenken rauchte er und beim Rauchen blickte er Georgina an und malte sich aus, es säße nicht sie da, sondern ein blondes, häusliches, unterhaltendes, fröhliches, kleines englisches Mädel, das Haar tief in die Stirn gekämmt und – vielleicht – eine Zigarette zwischen den Lippen. Nur, um Himmelswillen, keine von den großen, dicken Burma-Cheeruts, die Georgina rauchte! Ein Mädchen wollte er heiraten, das Georginas Augen hatte und ihr auch sonst glich. Nur nicht in jeder Hinsicht; etwas Besseres mußte es sein. Er blies dicke Rauchwolken durch die Nase und streckte die Beine aus: ja, er wollte die Ehe kosten! Dank Georginas Umsicht hatte er sich Geld zurücklegen können und außerdem hatte er sechs Monate Urlaub gut.

»Schau mal, kleine Frau«, sagte er, »wir müssen im kommenden Vierteljahr noch mehr sparen; ich brauche Geld.« Das war eine Anspielung auf Georginas Haushaltskasse, auf die sie sehr stolz war; aber, natürlich, wenn ihr Gott Geld brauchte, mußte alles herhalten.

»Du brauchst Geld?« rief sie und lachte fröhlich. »Oh, ich habe Geld! Da schau!« Und sie lief in ihr Zimmer, holte einen kleinen Beutel Rupien, schüttete die Münzen auf dem Tische aus und schob sie ihm zu mit ihren zarten, flinken, blaßgelben Fingern. »Schau! Hundert und sieben Rupien. Ich hab sie zusammengespart von dem, was du mir gegeben hast. Nimm sie. Oder brauchst du noch mehr? Es ist mir eine Freude, sie dir zu geben.«

Nie mehr ermahnte Georgie Porgie sie von da an zur Sparsamkeit.

Drei Monate später, nach einem Hin- und Herschreiben von Briefen, die Georgina haßte, weil sie ihren Inhalt nicht lesen und verstehen konnte, eröffnete ihr Georgie Porgie, daß sie in ihres Vaters Haus zurückkehren müsse, da er zu verreisen gedenke.

Georgina weinte und wollte ihren Gott begleiten von einem Ende der Welt bis zum andern. Warum sie ihn denn verlassen solle? Sie liebe ihn so sehr!

»Ich gehe nur nach Rangun«, erklärte Georgie Porgie. »In einem Monat bin ich wieder zurück, aber es ist sicherer, du bist bei deinem Vater. Ich werde dir zweihundert Rupien dalassen.«

»Wenn du nur einen Monat wegbleibst, wozu dann zweihundert? Fünfzig sind mehr als genug. Das bedeutet Unheil! Geh nicht, oder nimm mich mit!«

Georgie Porgie denkt auch heute noch ungern zurück an die Szene damals. Schließlich wurde er Georgina los, indem er ihr fünfundsiebzig Rupien aufdrängte; mehr wollte sie nicht nehmen. Dann eilte er mittelst Dampfer und Eisenbahn nach Rangun.

Der geheimnisvolle Briefwechsel hatte ihm einen Urlaub von sechs Monaten eingetragen. Seine heimliche Flucht und das Bewußtsein, sich hinterlistig benommen zu haben, vergällte ihm eine Zeitlang die Freiheit, aber als der große Dampfer hinaus in die blaue See fuhr, wurde ihm leichter zumute und die Erinnerungen an Georginas Gesicht, das kleine seltsame Blockhaus, die nächtlichen Überfälle der heulenden Dakoits, der Kampf und der Schrei des ersten Menschen, den er mit eigener Hand getötet, und hundert andere intimere Begebnisse verblaßten immer mehr und mehr in seinem Herzen, – machten der Vision der näher und näher kommenden englischen Heimat Platz. Der Dampfer war überfüllt von urlaub-genießenden, fröhlichen Seelen, die, den Staub und die Hitze Ober-Burmas hinter sich, ausgelassen tollten wie die Schulbuben; dies half Georgie Porgie vergessen.

Dann kam England mit seinem Luxus, seinen feinen Sitten und Bequemlichkeiten aller Art; Georgie Porgie wanderte wie in einem Wonnetraum durch die Straßen, wie ein Mensch, der das Ausweichen verlernt hat, und konnte sich nicht genug wundern, daß es überhaupt Menschen gab, die auch nur daran denken konnten, dein Stadtleben den Rücken zu kehren. Er empfand dies schwelgerische Auskosten des Urlaubs wie eine Belohnung für seine dem Staate geleisteten Dienste. Aber die Vorsehung hielt noch eine andere und viel schönere Überraschung für ihn bereit: all die Freuden einer geruhsamen englischen Brautwerbung, die so gänzlich verschieden ist von dem eisernen Geschäftssinn des Ostens, wo die ganze Gemeinde im Hintergrund lauert und wettet, wie die Geschichte ausfallen und was Mrs. Soundso dazu sagen wird.

Ein hübsches Mädchen, ein tadelloser Sommer und ein geräumiges Landhaus bei Petworth, wo Morgen um Morgen Land sich hinzieht, bestanden mit rotem Heidekraut, und feuchte fruchtbare Wiesen mit hohem Gras! Georgie Porgie fühlte, daß er endlich etwas gefunden hatte, was das Leben wertvoll machte, und sein erstes dementsprechend war, daß er das Mädchen fragte, ob sie das Leben mit ihm in Indien teilen wolle. In ihrer Unerfahrenheit willigte sie ein. In diesem Falle war ein Schachern mit einem Dorfbürgermeister überflüssig; es gab eine solide Mittelstandshochzeit auf dem Lande mit einem stattlichen Papa, einer weinenden Mama, einem Brautführer in Purpur und feinem Linnen und sechs stupsnasigen Mädchen aus der Sonntagsschule, die Rosen streuten auf den Weg vom Friedhof bis zur Kirche. Die Lokalzeitung beschrieb das Fest des langen und breiten bis zu den Orgelklängen der Hochzeitshymne, nicht zum wenigsten, weil das Blatt hinsichtlich Stoffmangel am Rande des Hungertodes schwebte.

Dann Flitterwochen in Arundel. Die Mama weinte vorbildlich, ehe sie einwilligte, daß ihre einzige Tochter unter dem ehelichen Schütze Georgie Porgies nach Indien davonsegle. Über allem Zweifel: er hatte das Mädchen unendlich gern, und sie schaute zu ihm auf wie zu dem besten und bedeutendsten aller Männer. Als er sich in Bombay zum Amtsantritt meldete, fühlte er sich seiner jungen Gattin wegen geradezu verpflichtet, eine möglichst gute Anstellung zu verlangen, und da er offensichtlich im Begriffe stand, seinen in Burma begangenen gesellschaftlichen Fehltritt wieder gutzumachen, bewilligte man ihm fast alles, was er forderte, und wies ihm als Posten eine Station an, die wir Sutrain nennen wollen. Sie lag auf einem Bergplateau und galt als Kurort – wahrscheinlich, weil eine Wasserleitung so gut wie nicht vorhanden war. Hier siedelte sich Georgie Porgie an und empfand gar bald die Ehe als etwas überaus Natürliches. Es kam ihm weder seltsam vor, noch als Gipfelpunkt der Wonne, – wie es bei einem jung verheirateten Mann bisweilen der Fall ist – wenn sich jeden Morgen sein Herzblatt mit ihm zum Frühstück setzte, sondern wie die selbstverständlichste Sache von der Welt.

»Es war ihm nichts Neues«, wie die Amerikaner sagen, und wenn er die Vorzüge seiner neuen Hulda mit denen Georginas verglich, so neigte er zu der Ansicht, er hätte keinen schlechten Tausch gemacht.

Jenseits der Bai von Bengalen hingegen, unter den Teak-Bäumen, wo Georgina bei ihrem Vater wohnte und auf Georgie Porgies Heimkehr wartete, herrschte weder Glück noch Seelenfrieden. Der Bürgermeister war ein alter Mann – erinnerte er sich doch noch des Krieges von 1851! Er war einst eine Zeit lang in Rangun gewesen und dort mit der Lebensanschauung der Kullahs bekannt geworden: die trockene Philosophie, die er Georgina beizubringen versuchte, wenn er abends mit ihr vor der Tür seines Hauses saß, konnte sie nicht im geringsten trösten.

Ihr Unheil war, daß sie Georgie Porgie in einer Weise liebte, wie man es nur in englischen Geschichtsbüchern von französischen Mädchen liest, die einen unglücklichen Märtyrer wie einen Heiligen verehren. Eines Tages verschwand sie aus dem Dorf; als Reisezehrung nahm sie außer dem Schatz an Rupien, die ihr Georgie Porgie zurückgelassen, nur die paar Brocken englischer Worte mit, die sie ebenfalls ihm verdankte.

Der Herr Bürgermeister war anfänglich ergrimmt, aber dann zündete er sich eine frische Cheerut an und machte sich Luft mit ein paar abfälligen Bemerkungen über das weibliche Geschlecht im allgemeinen. Georgina war ausgezogen, um Georgie Porgie zu suchen, gleichgültig, ob er in Rangun weilte oder jenseits des großen schwarzen Wassers, ob er tot war, noch am Leben, oder sonst in einer Lage, von der sie sich kein klares Bild machte. Der Zufall kam ihr zu Hilfe: ein alter Sikh-Polizist erzählte ihr, Georgie Porgie sei hinübergereist über das Große Wasser. Sie löste eine Zwischendeckkarte und fuhr nach Kalkutta, – das Geheimnis, wen sie suche, tief im Herzen verschlossen.

In Indien verschwand jede Spur von ihr durch volle sechs Wochen; kein Mensch weiß, welchen Herzenskummer sie mit sich herumgetragen haben muß.

Dann tauchte sie wieder auf vierhundert Meilen nördlich von Kalkutta, in zerrissenen Kleidern, gramdurchfurcht, ruhelos nach Norden wandernd, aber ungebrochen in ihrem Entschluß, Georgie Porgie zu finden. Sie verstand die Sprache der Bevölkerung nicht, aber Indien ist unendlich gastfreundlich und die Frauen der Stämme entlang der großen Schienenstrecke versorgten sie mit Nahrung. Ein inneres Gefühl sagte ihr, sie werde Georgie Porgie am Ende dieses furchtbaren Weges finden. Vielleicht – ja, vielleicht – würde sie einen Sepoy treffen, der ihn von Burma her kannte! Schließlich begegnete sie auch wirklich einem auf dem Marsch begriffenen Regiment und fand unter den vielen Subalternen einen, den Georgie Porgie einst in den Tagen der Menschenjagd auf die Dakoits zu sich zu Tisch geladen hatte. Ein allgemeines Schmunzeln trat ein, als Georgina sich dem Mann zu Füßen warf und zu klagen begann; aber bald verstummten sie alle, als ihre Leidensgeschichte erzählt wurde; man leitete eine Kollekte ein, und das war das richtige. Einer der Subalternen hatte von Georgie Porgies neuer Stellung, nicht aber von seiner Verheiratung gehört; er erzählte Georgina, was er wußte, und, Freude im Herzen, reiste sie weiter nach Norden – diesmal in einem Eisenbahnkupee, wo ihre müden Füße ausruhen konnten und es ein wenig Schatten gab für ihr kleines bestaubtes Köpfchen. Die Wanderung von der Endstation der Bahn durch die Berge war anstrengend über alle Begriffe, aber Georgina hatte ja jetzt Geld und die auf Ochsenkarren reisenden Familien standen ihr bei. Es war eine Reise voller Wunder und Georgina fühlte es wie Gewißheit, daß die guten Geister Burmas über ihr wachten. Die Bergstraße nach Sutrain ist ein eisiger Weg und Georgina zog sich eine schwere Erkältung zu, aber die Hoffnung hielt sie aufrecht: am Ende aller ihrer Leiden stand ja Georgie Porgie, um sie in die Arme zu schließen und zu streicheln wie einst in alten Tagen, wenn das Tor der Blockhütte verschlossen wurde und er sich mit ihr zum Abendessen setzte. Sie eilte vorwärts, so schnell sie konnte, und noch einmal erwiesen die guten Geister ihr eine – letzte – Gunst:

Ein Engländer hielt sie an – in der Dämmerung – an der Straßenbiegung nach Sutrain – mit den erstaunten Worten: »Um Himmelswillen! Was machst du hier?«

Es war Gillis, Georgie Porgies ehemaliger Assistent aus Ober-Burma, der den zweiten Stationsposten vor dem Dschungel innegehabt. Georgie Porgie hatte ihn nach Sutrain kommen lassen, da er seine Tüchtigkeit zu schätzen wußte.

»Ich bin hergekommen«, sagte Georgina schlicht. »Der Weg war so lang und ich mußte Monate hindurch reisen und wandern. Wo ist sein Haus?«

Gillis rang nach Atem.. Er kannte Georgina zu lang und zu gut, um nicht zu wissen, daß Erklärungen vergeblich sein würden. Man kann Asiaten Dinge nicht erklären, man muß sie ihnen vor Augen führen.

»Ich werde dich hinführen«, sagte Gillis, nahm Georgina bei der Hand und geleitete sie auf einem Seitenweg einen Hügel hinauf zur Rückseite des Hauses, das auf einer Plattform, tief eingeschnitten in die Berglehne, lag.

Die Lampen waren soeben erst angezündet worden und die Vorhänge noch nicht zugezogen, »Dort! Schau hin!« sagte Gillis und blieb vor dem Fenster des Empfangszimmers stehen. Georgina blickte hinein, sah die junge Frau – und fuhr sich mit der Hand in das Haar, das, zum Scheitelknoten geschürzt gewesen, sich unter ihrem Griff löste und sofort in Strähnen über ihr Gesicht fiel. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihr zerlumptes Kleid in Ordnung bringen, aber was gab es da noch viel glatt zu streichen! Gillis starrte unverwandt die junge Frau – drin im Zimmer – an; Georgina streifte sie nur einmal mit den Augen, dann hielt sie den Blick fest auf Georgie Porgie gerichtet.

»Was gedenkst du zu tun?« fragte Gillis und hielt Georgina am Handgelenk fest, damit sie nicht zu dem Lichtschein hinstürze. »Willst du hineingehen und der englischen Frau sagen, daß du mit ihrem Gatten zusammengelebt hast?«

»Nein«, hauchte Georgina. »Laß mich gehen. Ich schwöre, daß ich gehen werde.« Sie riß sich los und lief hinein in die Dunkelheit.

»Armes kleines Tier!« murmelte Gillis vor sich hin, als er wieder in die Landstraße einbog. »Hätte ich ihr doch etwas gegeben, damit sie wieder nach Burma zurück kann. Knapp durchgewischt ist er! Er hätte es ihr nie verziehen, der – Engel!«

Gillis schien demnach seinem Freunde Georgie Porgie nicht allzu sehr gewogen zu sein.

Das jungvermählte Paar trat nach dem Abendessen hinaus auf die Veranda, damit der Rauch von Georgie Porgies Zigarre sich nicht an die neuen Empfangszimmervorhänge hefte.

»Was ist das für ein Lärm dort unten?« fragte die junge Frau und lauschte in die Finsternis.

»Ach«, meinte Georgie Porgie, »wahrscheinlich prügelt irgend ein Rohling von Bergbewohner seine Frau.«

»Schlagen – seine – Frau! Wie entsetzlich!« sagte die junge Gattin. »Wenn ich mir ausmale, du könntest mich schlagen!« – und sie schlang den Arm um Georgie Porgies Brust, lehnte den Kopf an seine Schulter und blickte im Gefühl tiefster Geborgenheit über das wolkenbedeckte Tal hin.

Es war nur Georgina gewesen, die da geschrien hatte, während sie die Berglehne hinabgelaufen war zwischen den Steinen des Wasserlaufs, in dem die Wäscher die Kleider waschen.

Die Juden in Shushan

Meine erst vor kurzem gekauften Möbel waren, gelinde ausgedrückt, unzuverlässig, die Sessel verloren die Beine, und bei der geringsten Belastung kippten die Tischplatten von ihren Gestellen. Aber, so oder so, sie mußten bezahlt werden, und Ephraim, der Agent und Geldeintreiber des städtischen Auktionators, wartete bereits draußen auf der Veranda mit der Quittung. Mein Diener hatte ihn als: Ephraim Yahudi – Ephraim, der Jude – gemeldet. Wer da glaubt, alle Menschen seien Brüder, der hätte hören sollen, wie mein Elahi Bukhsh das Wort »Jude« zerbiß mit seinen weißen Zähnen und soviel Ingrimm, wie er vor mir, seinem Herrn, zu zeigen wagte. Ephraim war, was das Äußere betraf, so mild und unterwürfig, daß man gar nicht verstand, wieso er auf den Beruf eines Rechnungseintreibers hatte verfallen können. Er sah aus wie ein gemästetes Schaf und seine Stimme paßte vortrefflich zu seiner Gestalt. Auf seinem Gesicht lag wie eine starre Maske der unveränderliche Ausdruck einer kindlichen Verwunderung; bezahlte man ihn ohne Widerspruch, so konnte er nicht genug staunen, wie reich man sei, und schickte man ihn fort, so blickte er verwirrt drein ob solcher Hartherzigkeit. Wohl noch nie gab es einen Juden, der so aus seiner Art geschlagen schien. Er trug eingesäumte Pantoffel und Rupfenkleider, die derart aufdringlich gemustert waren, daß selbst der abgebrühteste britische Subalterne vor ihnen lautlos die Flucht ergriffen hätte. Seine Rede war langsam und gemessen; jedes Wort wog er sorgfältig ab, bevor er es aussprach, ob es auch niemand beleidige. Nach einigen Wochen fühlte er sich gedrängt, über seine Freunde mit mir zu sprechen.

»Wir sind unser acht in Shushan«, begann er, »und wenn wir zehn sein werden, dann reichen wir in Kalkutta ein Gesuch ein, daß man uns eine Synagoge bewillige. Dann werden wir von Kalkutta Abschied nehmen. Heute besitzen wir keine Synagoge und ich bin Priester und Schächter meines Volkes in einer Person. Ich bin aus dem Stamme Judah, ich glaube es wenigstens, aber genau weiß ich es nicht. Mein Vater war aus dem Stamme Judah, und wir wünschen sehnlichst, eine Synagoge zu bekommen. Ich werde der Priester dieser Synagoge sein.«

Shushan ist eine große Stadt im Norden Indiens und ihre Einwohner zählen nach Zehntausenden; und in ihrer Mitte lebten nur diese acht des Auserwählten Volkes und warteten auf die Zeit und den günstigen Augenblick, wo sie als Religionsgemeinde anerkannt sein würden.

Miriam, das Weib Ephraims, zwei kleine Kinder, ein Waisenknabe ihres Stammes, Ephraims Onkel Jackrael Israel, ein weißhaariger Greis, Hester, seine Frau, ein Jude aus Cutch: ein gewisser Hyem Benjamin, und Ephraim, Priester und Schächter zugleich, das war die ganze Liste der Juden, die in Shushan lebten. Sie wohnten sämtlich in einem Haus am äußersten Rande der Stadt inmitten Haufen alter zerbrochener, salpetrig gewordener Ziegel und Herden von Vieh, die beständig auf ihrem Zug zur Trinkstelle am Fluß Wolken undurchdringlichen Staubes aufwirbelten. Wenn abends die Jugend der Stadt auf den freien Platz geströmt kam, um Drachen steigen zu lassen, sahen die beiden kleinen Söhne Ephraims von weitem zu vom Dache ihres Hauses aus, aber niemals gingen sie hinunter, um daran teilzunehmen. Angebaut an die Rückwand des Hauses stand ein enger aus Ziegeln errichteter Stall, in dem Ephraim das Fleisch für die Familie zu koschern pflegte nach jüdischem Ritus. Eines Tages wurde die Tür dieses Abteils heftig von innen aufgerissen, als fände ein Kampf drin statt, und da wurde der anscheinend so schwache, milde Rechnungseintreiber sichtbar bei seiner Arbeit; die Nüstern weit aufgebläht und die Lippe über die Zähne emporgezogen, hielt er ein halbrasendes Schaf mit beiden Händen fest. Er war seltsam gekleidet – in Gewänder, die gar keine Ähnlichkeit hatten mit seinem gewöhnlichen wildgemusterten Rupfenanzug, und hielt ein Messer im Mund. Wie er so rang mit dem Tier, kam sein Atem in keuchenden Stößen aus seiner Brust; die Natur des Mannes schien vollkommen verändert. Als der Ritualakt des Schächtens vorbei war, bemerkte er erst, daß die Tür offenstand, und schloß sie hastig, wobei seine Hand eine blutige Spur auf der Klinke zurückließ; entsetzt und mit weitaufgerissenen Augen standen die Kinder auf den Dächern der Nachbarhäuser und starrten herab. Ephraim bei der Ausübung seiner religiösen Pflichten zu belauschen, bot einen wenig erfreulichen Anblick, nach dem man sich ein zweites Mal nicht sehnte.

Der Sommer brach über Shushan herein, verwandelte den zertrampelten Erdboden in Eisen und brachte Epidemien in die Stadt.

»Wir werden verschont bleiben«, sagte Ephraim zuversichtlich. »Ehe noch der Winter kommt, haben wir unsere Synagoge. Mein Bruder mit seinem Weib und den Kindern kommt von Kalkutta herauf, und dann werde ich Priester der Synagoge sein.«

Jackrael Israel, der Greis, kroch aus seiner Höhle heraus an den erstickend heißen Abenden, setzte sich auf einen Schutthaufen und beobachtete, wie man die Leichen hinab zum Fluß trug.

»An uns wird es vorübergehen«, sagte er dann mit seiner schwachen zitterigen Stimme, »denn wir sind das Volk Gottes, und mein Neffe wird Priester der Synagoge sein. Mögen die andern sterben.« Und kroch zurück ins Haus und verschloß die Tür vor der Welt der Heiden.

Aber Miriam, Ephraims Weib, sah aus dem Fenster auf die Leichen in den Totenbahren hinab und sagte, sie fürchte sich; Ephraim beruhigte sie mit dem Hinweis auf die kommende Synagoge und kassierte Rechnungen ein, wie immer.

Eines Nachts starben die beiden Kinder, und Ephraim begrub sie am frühen Morgen. »Die Sorge ist meine Sorge«, sagte er, und dieser Ausspruch schien ihm zu genügen, um die sanitären Maßnahmen der Regierung eines großen, blühenden, weise beherrschten Kaiserreichs für nichts achten zu dürfen.

Der Waisenknabe, der ganz auf die Wohltaten Ephraims und seines Weibes angewiesen war, wußte wahrscheinlich nichts von Dankbarkeit und muß wohl ein Taugenichts gewesen sein, denn er bettelte sich von seinen Pflegeeltern so viel Geld heraus wie nur möglich und floh dann damit aus Angst um sein Leben in einen andern Distrikt. Eine Woche nach dem Tode der Kinder stand Miriam heimlich des Nachts aus dem Bett auf und wanderte über Land. Um die Kleinen zu finden? Hinter jedem Busch hörte sie sie weinen, sah sie ertrinken in jedem Weiher auf den Feldern, und schließlich flehte sie die Schaffner der Großen Reichseisenbahn an, ihr ihre Kinder nicht zu entführen. Am Morgen kam die Sonne und brannte auf sie nieder, wie sie barhaupt dahinwanderte; da verkroch sie sich in die kühlen, Halme des Korns und kam nie mehr zurück; Ephraim und Hyem Benjamin suchten sie vergebens zwei Nächte lang.

Der Ausdruck staunender Verwunderung, der beständig auf Ephraims Gesicht lag, vertiefte sich noch, aber er hatte eine Erklärung für das Vorgefallene: »Unser sind so wenige und des Volkes in der Stadt so viele«, sagte er; »kann sein, daß unser Gott uns vergessen hat.«

In dem Haus am Rande der Stadt murrte das greise Ehepaar, Jackrael Israel und Hester, daß sich niemand um sie kümmere und Miriam ihrem Stamme untreu geworden sei. Ephraim ging umher und kassierte Rechnungen ein und abends rauchte er zusammen mit Hyem Benjamin, bis Hyem Benjamin in einer Dämmerungsstunde starb, nachdem er alle seine Schulden an Ephraim beglichen hatte. Jackrael Israel und Hester saßen da ganz allein in dem leeren Haus den ganzen Tag und, wenn Ephraim heimkam, vergossen sie die Tränen, die so leicht in die Augen alter Leute treten, und weinten sich in den Schlaf hinein.

Eine Woche später sah ich Ephraim, unter einer Last von Lumpen und Kochgeschirr, zur Bahnstation wanken; er führte die beiden Alten durch das Getümmel, – sie wimmerten vor Angst und Verwirrung.

»Wir gehen nach Kalkutta«, suchte er Hester zu beruhigen, die sich in ihrer Furcht fest an seinen Ärmel geklammert hatte, »dort sind mehr von unserm Volk und hier steht mein Haus verödet.«

Er half der Greisin in das Kupee, wandte sich um zu mir und sagte: »Priester der Synagoge hätte ich sein können, wären unser nur zehn gewesen. Sicherlich: unser Gott hat uns vergessen.«

Der Rest der winzigen Kolonie fuhr hinaus aus der Station dem Süden zu. Der Schalterbeamte, über seine Akten im Buchungsraum gebeugt, mußte wohl die letzten Worte Ephraims gehört haben, denn er summte zerstreut den Kehrreim eines Couplets vor sich hin: »Die zehn kleinen – die zehn kleinen Niggerbuben.«

Es klang fast so feierlich wie ein Totenmarsch.

Das war der Grabgesang für die Juden in Shushan.

Vorwort

Im Norden Indiens stand einst ein Kloster, genannt die Ghubara des Dhunni Bhagat. Niemand weiß heute mehr, wer Dhunni Bhagat gewesen ist. Er hatte sein Leben gelebt, wie es eben jeder Hindu lebt, hatte ein bißchen Geld erworben und es, wie jeder gute Hindu tun soll, auf ein frommes Werk verwendet: eben jene Chubara. Diese Chubara enthielt eine Menge gemauerter Zellen, deren Wände mit Bildern von Göttern, Königen und Elefanten bunt bemalt waren. Asketisch aussehende Priester pflegten darin zu sitzen und über die Letzten Dinge nachzudenken. Die Gänge waren mit Ziegeln gepflastert; die nackten Füße Tausender hatten sie zu Rinnsteinen ausgehöhlt. Grasbüschel wuchsen in ihren Ritzen, heilige Feigenbäume breiteten ihre Blätter aus über die Brunnenwinde, die den ganzen Tag über knarrte und ächzte, Scharen von Papageien schwirrten durch das Geäst, Krähen und Eichhörnchen waren zahm wie Haustiere; wußten sie doch, daß ihnen von den Priestern keinerlei Gefahr drohte!

Die wandernden Bettler, die Amulettverkäufer und heiligen Landstreicher auf hundert Meilen in der Runde machten die Chubara zu ihrem Unterkunfts- und Ruheplatz. Mohammedaner, Sikhs, Hindus, einträchtig gesellten sie sich zueinander unter den Bäumen – Greise alle mitsammen. – Wenn der Mensch sich dem Wegkreuz der großen Nacht nähert, erscheinen ihm die vielen, verschiedenen Glaubensformen der Welt wunderbar gleich und farblos.

Gobind, der Einäugige, erzählte mir dies alles. Er war ein heiliger Mann, hatte früher auf einer Insel inmitten des Flusses gelebt und zweimal am Tage die Fische mit Brotkrumen gefüttert. Wenn zur Zeit des Hochwassers aufgedunsene Leichen an den Strand getrieben kamen, sorgte Gobind dafür, daß sie pietätvoll begraben wurden – um der Ehre der Menschheit willen und auch mit Rücksicht auf seine eigene dereinstige Abrechnung mit Gott. Als später eine Überschwemmung zwei Drittel der Insel wegspülte, kam Gobind über den Fluß hinüber in die Chubara des Dhunni Bhagat mit seinem kupfernen Trinkgefäß, das ihm am Brunnenseil befestigt um den Hals hing, mit seiner nägelbeschlagenen kurzen Armstütze, seiner Gebetrolle, seiner großen Pfeife, seinem Sonnenschirm, seiner hohen zuckerhutförmigen Kopfbedeckung mit der nickenden Pfauenfeder. – Er wickelte sich in seine, aus Flicken jeder Farbe und jedes Stoffes der Welt zusammengesetzte Decke, hockte sich in eine Ecke der friedvoll ruhigen Chubara, stützte den Arm auf seine kurze Krücke und erwartete den Tod. – Das Volk brachte ihm Nahrung und Sträußchen von Dotterblumen, und er gab ihnen seinen Segen dafür. – Er war fast blind und sein Gesicht über jede Beschreibung faltig, verrunzelt und durchfurcht, denn er hatte schon zu einer Zeit das Licht der Welt erblickt, als die Engländer noch nicht einmal auf fünfhundert Meilen an das Gebiet herangekommen waren, in der die Chubara des Dhunni Bhagat lag.

Als wir näher miteinander bekannt wurden, erzählte mir Gobind bisweilen Geschichten mit einer Stimme, dumpfrollend wie eine Holzbrücke, über die schwere Kanonen fahren. Es waren wirklich wahre Geschichten, aber unter zwanzig könnte man auch nicht eine in einem europäischen Buche drucken; die Europäer denken in anderer Weise als die Eingeborenen. Sie brüten über Dinge, die zu überdenken der Eingeborene sich Zeit läßt, bis der geeignete Moment eingetreten ist, und worauf sie nicht zwei Gedanken verwenden würden, darüber grübelt der Eingeborene stundenlang nach. – Wenn sie dann zu einer gemeinsamen Unterhaltung zusammentreffen – Eingeborene und Europäer – so starren sie einander verglast an, durch breite Klüfte des Mißverstehens getrennt.

»Und was ist dein ehrenwertes Gewerbe«, fragte mich eines Sonntagabends Gobind, »und womit erwirbst du dir dein tägliches Brot?«

»Ich bin«, sagte ich, »ein Kerani – einer, der mit der Feder auf Papier schreibt -, obgleich ich nicht im Dienste der Regierung stehe.«

»Was schreibst du also?« fragte Gobind. »Komm näher, denn ich kann dein Gesicht nicht sehen und das Tageslicht schwindet.«

»Ich schreibe von allen Dingen, die ich verstehe, aber auch von vielen Dingen, die ich nicht verstehe. Hauptsächlich schreibe ich über das Leben und über den Tod, von Männern und von Weibern und über Liebe und Schicksal, je nach dem Maß meiner Kraft, indem ich die Geschichten einer, zwei oder mehreren Personen in den Mund lege. – Dann werden die Geschichten verkauft, wenn Gott es zuläßt, und das Geld fließt mir zu, damit ich davon leben kann.«

»Ich verstehe«, sagte Gobind. »Dasselbe tut auch der Geschichtenerzähler in den Bazars, nur spricht er unmittelbar zu den Männern und Frauen und schreibt nichts auf. Wenn jedoch seine Geschichte die allgemeine Erwartung erregt hat und auf dem Punkte angelangt ist, wo dem Tugendhaften in der Schilderung Gefahr droht, dann unterbricht er sie plötzlich und verlangt Bezahlung, bevor er fortfährt. – Machst du es bei deinem Berufe ebenso, mein Sohn?«

»Ich habe gehört, daß es auch bei meinesgleichen so etwas Ähnliches gibt. Wenn eine Geschichte sehr lang ist, dann verkauft man sie in Abschnitten wie eine Melone.«

»Oh, ich war auch einmal ein berühmter Geschichtenerzähler«, sagte Gobind. »Damals, als ich auf der Landstraße zwischen Koshin und Etra bettelte, vor meiner letzten Pilgerfahrt nach Orissa. Oh, ich habe sehr viele Geschichten erzählt und noch viel mehr gehört, wenn wir des Abends nach langer Wanderung froh beisammen saßen. Ich trage die Gewißheit im Herzen, daß erwachsene Menschen so sind wie die Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt; die ältesten Geschichten sind ihnen die liebsten.«

»Bei deinen Leuten ist das so«, sagte ich, »aber die Menschen meines Volkes wollen immer neue Geschichten und, wenn sie sie gelesen haben, dann stehen sie auf und sagen, so oder so geschrieben hätten sie ihnen besser gefallen; sie bezweifeln, ob sie auch wahr seien, oder sprechen geringschätzig von ihrer Erfindung.«

»O wie töricht!« rief Gobind und erhob seine runzlige Hand. »Eine Geschichte ist wahr, solange die Erzählung dauert. Und was das Schwätzen darüber betrifft – nun, du weißt ja, was Bilas Khan, der doch der König aller Geschichtenerzähler war, zu einem gesagt hat, der ihn in einem großen Unterkunftshause an der Straße nach Jhelum unterbrach und verspottete: – ›Fahr du jetzt fort, mein Bruder‹, sagte er, ›und vollende, was ich begonnen habe!‹ – Der Spötter nahm zwar den Faden der Erzählung auf, aber da er weder die Stimme noch die nötige Gabe besaß, blieb er stecken und mußte es sich gefallen lassen, daß ihn die Pilger die halbe Nacht hindurch verhöhnten und knufften.«

»Bei uns sind die Leute aber in ihrem Recht, da sie ja ihr Geld dafür hergeben. Man darf doch auch einem Schuster Vorwürfe machen, wenn die Schuhe nicht gut sind, die man bei ihm gekauft hat. Wenn ich wieder einmal ein Buch schreibe, sollst du es zu sehen kriegen und beurteilen.«

»Ja, ja, auch der Papagei sagte zu dem fallenden Baum: Warte, Bruder, bis ich eine Stütze hole«, sagte Gobind und lachte grimmig. »Gott hat mir bereits achtzig Jahre gegeben und noch ein paar darüber. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rechnen. Jeder Tag, der mir gewährt wird, ist eine Gnade. Du müßtest dich also recht sehr beeilen.«

»In welcher Weise gehe ich wohl am besten bei meinem Berufe vor«, fragte ich, »o du Fürst aller derer, die Perlen mit der Zunge aufreihen?«

»Wie kann ich das wissen?« Gobind dachte eine kleine Weile nach. »Doch warum sollte ich es auch nicht wissen! – Gott hat viele Köpfe gemacht, aber es gibt nur ein Herz in der ganzen Welt, bei deinen Leuten und bei meinen Leuten. Alle sind sie Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt!«

»Ja, aber gerade Kinder können fürchterlich werden, wenn man ein Wort an die falsche Stelle setzt oder beim zweitenmal Erzählen auch nur um einen Deut abweicht.«

»Freilich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst solchen Kindern Geschichten erzählt; mach es so: -« Seine alten Augen ruhten versonnen auf den bunten Wandmalereien, der blauen und roten Kuppel und den flammenden Poinsettien im Hintergrund. »Erzähl ihnen zuerst von den Dingen, die du mit ihnen zusammen gesehen hast. Dann wird ihr eigenes Wissen das ergänzen, was du unvollständig läßt. Sodann erzähle ihnen, was du allein gesehen hast, dann, was du selber gehört hast, und dann – da sie ja alle Kinder sind – erzähl ihnen von Schlachten, von Königen, Pferden, Teufeln, Elefanten und Engeln; aber vergiß auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen. Die Erde ist voll von Geschichten für jemand, der hören kann und die Armen nicht von seiner Türe weist; die Armen sind die besten Geschichtenerzähler, denn sie müssen jede Nacht ihr Ohr an die Erde legen.«

Seit jenem Gespräch reifte der Stoff für mein Buch in meinem Kopf von Tag zu Tag, und Gobind erkundigte sich wiederholt und eingehend, welche Fortschritte es mache.

Nachdem wir uns Monate nicht mehr gesehen hatten, erhielt ich die Nachricht, daß ich verreisen müßte, und ging, Abschied von ihm zu nehmen.

»Ich komme heute, um dir Lebewohl zu sagen«, begann ich, »denn ich muß eine lange Reise unternehmen, Gobind.«

»Ich auch! Eine längere noch als du! Aber wie steht es mit dem Buch, mein Sohn?«

»Es wird rechtzeitig geboren werden, wenn es so sein soll.«

»Ich wollte, ich könnte es noch sehen«, sagte der alte Mann und kauerte sich unter seiner Decke zusammen. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde in drei Tagen sterben. Nachts. Kurz vor Sonnenaufgang. Die Zahl meiner Jahre ist reif.«

In neun Fällen unter zehn täuscht sich ein Eingeborener nicht über den Tag seines Todes. Er hat in dieser Hinsicht das Ahnungsvermögen eines Tieres.

»Dann wirst du in Frieden scheiden; deine Rede ist gute Rede, daß das Leben dir keine Freude ist.«

»Es ist schade, daß das Buch noch nicht geboren ist. Wie werde ich wissen, ob mein Name wirklich darin aufgezeichnet ist?«

»Ich verspreche dir, daß gleich am Anfang des Buches, allem ändern voran, stehen soll, daß Gobind, der Saddhu, von der Insel im Flusse, und in Erwartung Gottes in der Chubara des Dhunni Bhagat, mir zuerst von dem Buche gesprochen hat«, sagte ich.

»Und seinen Rat dazu gegeben hat – den Rat eines alten Mannes – den Rat Gobinds, des Sohnes Gobinds, aus dem Dorfe Chumi im Kreis Karaon, im Distrikt Mooltan. Wird auch das darin stehen?« forschte der Greis.

»Auch das wird darin stehen.«

»Und das Buch wird über das Schwarze Wasser gehen bis in die Häuser der Leute deines Volkes, und alle Sahibs werden von mir wissen, der ich jetzt älter als achtzig Jahre bin?«

»Alle, die das Buch lesen, werden von dir wissen. Für die anderen kann ich nicht gutstehen.«

»Das ist gute Rede. Ruf sie alle herbei mit lauter Stimme, die im Kloster sind, damit ich es ihnen erzählen kann!«

Und sie kamen alle herbei, die Fakire, die Saddhus, die Sunnyasis, die Bairagis, die Nihangis und Mullahs, – Priester aller Religionen und in jedem Grade der Zerlumptheit. Gobind, auf seine Krücke gestützt, sprach zu ihnen mit einer Begeisterung, daß sie sämtlich von Neid erfüllt wurden, bis ein weißhaariger Greis ihn ermahnte, an sein Ende zu denken, anstatt an den vergänglichen Ruhm im Munde der Fremden. Dann gab mir Gobind seinen Segen, und ich ging fort.

Die Geschichten, die ich in dem Buche bringe, habe ich an allen möglichen Orten gesammelt, habe sie gehört aus dem Munde so manchen Priesters in der Chubara, aus dem Munde Ala Yars, des Bildschnitzers, und Jiwun Singhs, des Schlossers – von Menschen ohne Namen, die ich auf Dampfern und in Eisenbahnzügen traf, von Weibern, die im Zwielicht vor ihren Hütten spannen, von Offizieren und Gentlemen, die längst tot und begraben sind; einige hat mir mein Vater auf den Weg mitgegeben, sie sind die besten.

Die bemerkenswertesten Geschichten kann ich hier nicht bringen – aus leichtbegreiflichen Gründen!

Am Ende der Fahrt

Am Ende der Fahrt

Absatz fehlt in dieser Ausgabe

Vier Männer mit berechtigten Ansprüchen auf »Leben, Freiheit und des Glückes Segen« saßen bei Tisch und spielten Whist. Das Thermometer zeigte – nach ihrer Messung – 101 Grad Hitze, trotzdem das Zimmer so stark verdunkelt war, daß sie kaum mehr die Figuren auf den Kartenblättern und ihre eigenen bleichen Gesichter unterscheiden konnten. Eine zerlumpte Punkah, mit verblichenem Kattun bezogen, bewegte die heiße Luft und knarrte mißtönend bei jedem Schlag. Draußen Düsternis, wie ein Londoner Novembertag; weder Himmel zu sehen, noch Sonne oder Horizont – nichts als braunroter Hitzenebel. Die Erde schien an Schlagfluß sterben zu wollen.

Von Zeit zu Zeit stiegen Wolken gelbbraunen Staubes ohne erkennbaren Grund vom Erdboden auf, schwebten, wie Tafeltücher groß, zwischen die verdorrten Baumwipfel empor und fielen wieder hernieder. Dann plötzlich brauste ein wirbelnder Staubteufel einige Meilen weit über die Ebene hin, brach seitwärts aus, die Richtung ändernd, obgleich kein Hindernis im Wege stand als eine lange Reihe weißbeaschter Bahnschwellen, ein Haufen Lehmbaracken, hergestellt aus Holzbalken schlechtester Art und altem Segeltuch, und der niedrige, vierzimmrige Bungalow des Unteringenieurs, der mit der Führung einer Abteilung der im Bau begriffenen Ghandhari-Eisenbahnlinie betraut war.

Die vier bis fast aufs Hemd entkleideten Männer spielten mißgelaunt ihren Whist und stritten sich dabei. Es machte ihnen kein sonderliches Vergnügen, trotzdem die Partie nicht leicht zustande gekommen war. Mottram, z.B., vom indischen Vermessungsamt, hatte in der Nacht vorher von seinem einsamen Posten in der Wüste nicht weniger als dreißig Meilen zu Pferd und hundert mit der Bahn zurücklegen müssen, um hierherzugelangen. Und Lowndes von der Zivilverwaltung hatte die lange Reise gemacht, um für ein paar Stunden den Intrigen eines verarmten einheimischen Staatskörpers fern zu sein, dessen König unentwegt, im Guten oder Bösen, Geld erpreßte von den armen Bauern oder den händeringenden Kamelzüchtern. Spurstow, der Regimentsarzt, hatte einen von Cholera heimgesuchten Lagerplatz von Kulis für achtundvierzig Stunden sich selbst überlassen, um wieder einmal mit Landsleuten beisammen zu sein; Hummil, der Unteringenieur, war der Gastgeber der drei. Er befand sich dauernd auf seinem Posten und empfing seine Freunde jeden Sonntag, wenn sie abkommen konnten. War einer von ihnen verhindert oder kam nicht, so erhielt er noch am selben Tage eine Depesche von Hummil mit der Anfrage, ob er tot oder noch am Leben sei. Es gibt Orte genug im Osten, wo es sehr angezeigt ist, seine Bekannten auch nicht eine Woche lang aus dem Auge zu verlieren.

Dennoch benahmen sich die vier Spieler keineswegs rücksichtsvoll zu einander. Sie zankten sich immer, wenn sie beisammen waren, aber trotzdem sehnten sie sich stets nach solchen Gesellschaften, wie Leute bei Wassermangel nach einem Trunk. Es waren Menschen, die die Qual der Einsamkeit nur zu gut kannten; keiner von ihnen zählte mehr als dreißig Jahre, und das ist wenig in einem solchen Fall.

»Pilsener?« fragte Spurstow nach dem zweiten Robber und trocknete sich die Stirn.

»Tut mir leid: Bier ist nicht mehr da, kaum Sodawasser genug für heute abend«, erwiderte Hummil.

»Eine schäbige Wirtschaft!« brummte Spurstow.

»Kann nichts dafür. Hab geschrieben und telegraphiert; aber die Züge gehen nicht mehr regelmäßig. In der letzten Woche ist sogar das Eis ausgeflossen! Lowndes weiß es.«

»Gut, daß ich damals nicht hier war. Hab’s nicht gewußt, sonst hätte ich dir etwas schicken können. Pfui Teufel, die Hitze! Man kann das dumme Zeug gar nicht mehr weiter spielen!« Spurstow warf einen gereizten Blick auf Lowndes; aber der lachte nur, er war abgehärtet gegen Beleidigungen.

Mottram stand auf, lugte durch eine Spalte der Fensterläden:

»Welch ein entzückender Tag heute!«

Dann gähnte die ganze Gesellschaft und begann nach einer Weile eine planlose Durchstöberung der Schätze ihres Gastgebers: Flinten, zerrissene Novellenbände, Sattelzeug, Sporen und dergleichen. Sie hatten alles schon unzählige Male in Händen gehabt, aber was hätten sie sonst anfangen sollen?

»Gibt’s was Neues?« fragte Lowndes.

»Die letzte Wochennummer der Indian Gazette und ein Zeitungsausschnitt aus der Heimat. Mein Vater hat ihn mir geschickt. Ziemlich unterhaltsam.«

»Wahrscheinlich wieder aus der Feder eines der gewissen Verwaltungsräte, die sich selbst Parlamentsmitglied nennen?« fragte Spurstow, der gern Zeitungen las, wenn er solche erwischen konnte.

»Ja, hört mal zu! Es ist Wasser auf deine Mühle, Lowndes. Also: der Bursche hielt vor seinen Wählern eine Rede und ließ sie dann veröffentlichen. Hier eine Probe: ›Ich zögere nicht, festzustellen, daß der Zivildienst in Indien geradezu eine Sinecure der englischen Aristokratie ist: Was gewinnen die Demokraten – was die große Masse – von dem Lande, das wir unter dem Deckmantel der Uneigennützigkeit Schritt für Schritt annektiert haben? Ich sage: nichts! Indien ist, wie jeder auf den ersten Blick sehen kann, nur eine Einnahmequelle für die Brut des Adels. Sie sind darauf bedacht, die überreichlichen Einkünfte, die sie so schon haben, noch zu vermehren; jeder Frage weichen sie aus, die ein Licht auf ihre Verwaltung werfen könnte. Sie zwingen die armen Bauern, im Schweiße des Angesichts für den Luxus aufzukommen, mit dem sie sich selbst umgeben.‹« Hummil schwenkte das Blatt über dem Kopf. »Hört! Hört!« riefen seine Gäste.

»Ich würde drei Monate Gehalt dafür geben«, sagte Lowndes nachdenklich, »wenn ich diesen Ehrenmann einen Monat hier haben könnte, um ihn zu überzeugen, wie die freien, unabhängigen, eingeborenen Fürsten des Landes über diese Frage denken. Der ›Alte Schöps‹ (so nannte man allgemein einen hochgeehrten, dekorierten Feudalfürsten) hat mich diese Woche wegen Geld fast zu Tode behelligt. Was soll ich sagen? Schließlich hat er mir sogar, um mich zu bestechen, eins seiner Weiber geschickt.«

»Du Glücklicher! Hast du sie angenommen?« fragte Mottram.

»Nein. Hätte es eigentlich tun sollen. Sie war eine nette kleine Person und schwätzte mir uferlos vor von den Entbehrungen der Weibsbilder im königlichen Harem. Diese Herzensschätze hätten im verflossenen Monat nicht einmal neue Kleider bekommen, weil der alte Herr, in Kalkutta, eine Wagenladung silberner Gitter, silberner Lampen und ähnliche Kleinigkeiten kaufen muß. Ich hab ihm vergebens vorgehalten, daß er die Einkünfte von zwanzig Jahren ganz zwecklos vergeudet hat und endlich einmal anfangen müsse, zu sparen. Aber er will es nicht einsehen.«

»Warum greift er sein Ahnen-Schatzgewölbe nicht an? Es müssen doch mindestens drei Millionen unter seinem Palast liegen in Münzen und Juwelen?« fragte Hummil.

»Nenn mir den eingeborenen König, der seinen Familienschatz angreift! Die Priester erlauben es nur im äußersten Notfall. Der ›Alte Schöps‹ hat sogar noch eine Viertelmillion dazugefügt, seit er regiert.«

»Woher kommen denn nur alle diese Übelstände?« fragte Mottram.

»Das Land! Wenn man die Zustände sieht, die im Volke herrschen, wird man krank! Ich war Zeuge, wie die Steuereintreiber bei einem kreißenden Kamel warteten, bis das Füllen geboren wurde, und dann die Mutter forttrieben als Ersatz für rückständige Abgaben. Die Gerichtsschreiber verweigern mir die Abrechnungen, und der Höchstkommandierende lächelt nur fett, wenn ich ihm sage, daß die Truppen seit drei Monaten keinen Gehalt bekommen haben. Und der ›Alte Schöps‹ flennt, wenn ich ihn nur anrede. Aber er säuft Liköre statt Whisky und Heidsieck statt Sodawasser.«

»Genau wie der Rao von Jubela«, rief Spurstow. »Nicht einmal ein Eingeborener hält sowas lange aus. Er wird ins Gras beißen.«

»Das wäre zu wünschen. Dann könnten wir einen Regentschaftsrat einsetzen, dem jungen Prinzen einen Erzieher stellen und ihm selbst später ein zehnmal reicheres Königreich übergeben.«

»Worauf dann der junge Prinz, nachdem er alle Laster der Engländer kennengelernt haben wird«, fiel Spurstow ein, »das ganze Geld und die Ersparnisse von zehn Jahren in achtzehn Monaten vor den Kopp haut. Ich kenne das. An deiner Stelle, Lowndes, würde ich den König einmal in aller Höflichkeit beim Ohr nehmen. Verhaßt bist du ja sowieso.«

»Du hast gut reden! Fern vom Schuß läßt sich’s leicht sagen: höflich beim Ohr nehmen! Einen Saustall kann man nicht mit einem Pinsel und Rosenwasser reine machen. Ich weiß schon, was ich riskiere; bisher ist mir nichts passiert. Mein Diener ist ein alter Afghane und kocht für mich; so leicht ist der nicht zu bestechen, und von meinen ›treuen Freunden‹, wie sie sich selber nennen, nehme ich grundsätzlich keine Speisen an. Aber es ist eine zermürbende Arbeit. Ich wäre, weiß Gott, lieber bei dir, Spurstow. In der Nähe deines Lagers wird wenigstens geschossen.«

»So? Bei mir möchtest du sein?! Glaub doch das nicht! Fünfzehn Todesfälle im Tag, da vergeht einem das Schießen. Höchstens schießt man auf sich selber. Das schlimmste ist, wenn mich die armen Teufel immer so angucken, als könnte ich ihnen in Wirklichkeit helfen. Gott weiß: ich habe schon alles mögliche versucht. Mein letztes Experiment war ein Wagestück, aber es ist mir geglückt: ich hab einen alten Mann dem Tod entrissen – er war so gut wie erledigt, da hab ich ihm Branntwein mit Worcestershire-Sauce und Cayennepfeffer eingegeben, und er ist durchgekommen. Natürlich empfehle ich niemand dieses Mittel.«

»Wie verlaufen die Fälle gewöhnlich?« fragte Hummil.

»Sehr einfach, Chlorodin, Opiumpillen, Chlorodin, Kräfteverfall, Nitrate, heiße Steine auf die Fußsohlen, und dann – das Leichenverbrennungs-Ghaut [Ghauts sind die Ufertreppen an den Flüssen, wo die Leichen verbrannt werden.]. Letzteres scheint noch das einzige zu sein, das eine gründliche Wirkung äußert. Es ist eben die schwarze Cholera. Arme Teufel! Aber ich muß sagen: mein Apotheker, der kleine Bunsee Lal, arbeitet wie ein Dämon. Ich hab ihn zur Beförderung empfohlen für den Fall, daß er am Leben bleibt.«

»Und wie stehen deine Chancen, alter Bursche?« fragte Mottram.

»Weiß nicht. Kümmert mich wenig. Und was treibst du für gewöhnlich?«

»Sitze im Zelt unterm Tisch und spucke auf den Sextanten, damit er kühl bleibt«, sagte der Vermessungsbeamte, »wasche mir die Augen, damit ich keine Entzündung kriege, was mir sicher noch einmal blüht, und versuche meinem Angestellten klarzumachen, daß ein Irrtum von fünf Winkelgraden keineswegs so geringfügig ist, wie es aussieht. Ich bin, wie ihr wißt, ganz allein und werde es bis zu Ende des heißen Wetters auch bleiben.«

»Also ist Hummil der Glückspilz unter uns«, sagte Lowndes und warf sich in einen Liegestuhl, »er hat ein wirkliches Dach, zwar abgenutzt bis auf die Zimmerdecke, aber immerhin ein Dach überm Kopf, sieht jeden Tag einen Zug vorbeikommen – hat sogar Bier, Sodawasser und Eis, wenn der liebe Gott huldreich aufgelegt ist. Er besitzt Bücher, Gemälde (sie waren aus der Zeitung »The Graphic« herausgeschnitten) und erfreut sich der Gesellschaft des ausgezeichneten Unterassistenten Jevins, und außerdem genießt er uns jede Woche.«

Hummil lächelte bitter. »Jawohl, ich bin ein Glückspilz! Aber Jevins ist noch weit glücklicher.«

»Wieso? Ist er vielleicht– — –?«

»Allerdings. Er hat sich auf die Große Reise begeben. Am verflossenen Montag.«

»Aus eigenem Antrieb?« fragte Spurstow rasch und gab damit dem Verdacht Ausdruck, der alle sofort ergriffen hatte. Es herrschte ja keine Cholera in Hummils Gegend und auch das Fieber läßt dem Menschen eine Woche zum Sterben Zeit. Plötzlicher Tod wird daher stets als Selbstmord angesehen.

»Bei einem solchen Wetter kann man dergleichen niemand verübeln«, sagte Hummil, »vielleicht war es nur Sonnenstich. Vorige Woche, als ihr mich eben verlassen hattet, kam er zu mir in die Veranda und sagte, er wolle heim zu seiner Gattin – nach Liverpool in der Market Street – gleich jetzt abends!

Ich schickte sofort nach dem Apotheker, damit er nach ihm sähe, und wir brachten ihn zu Bett. Nach ein paar Stunden rieb er sich die Augen und meinte, er wäre wahrscheinlich ohnmächtig gewesen, und hoffe, sich nicht ungebührlich benommen zu haben. Er hielt von jeher auf gute Umgangsformen; er drückte sich damals so gewählt aus wie Chudcs.«

»Nun, und?«

»Dann ging er in seinen Bungalow und reinigte sein Gewehr. Sagte seinem Diener, er wolle am nächsten Tag auf die Jagd. Dabei spielte er mit dem Drücker und der Schuß ging ihm durch den Kopf. Reiner Zufall, natürlich! Der Apotheker berichtete den Vorfall dem Chef, und Jevins wurde begraben. Irgendwo draußen. Ich wollte dir zuerst telegraphieren, Spurstow, aber was hättest du tun können?«

»Du bist wirklich ein seltsamer Kerl«, meinte Mottram, »wenn du ihn selber umgebracht hättest, würdest du über die Sache nicht sorgsamer geschwiegen haben.«

»Gott, wozu viel Aufhebens davon machen!« sagte Hummil gelassen. »Ich hab noch einen großen Teil seiner Arbeit auf meine Schultern nehmen müssen, bin also der eigentliche Leidtragende. Jevins ist aus dem Wasser – reiner Zufall wie gesagt, aber aus dem Wasser ist er. Der Apotheker hat ein langes Gefasel von Selbstmord vom Stapel lassen wollen. Hindere einmal einer einen Babu am Schmieren, wenn er Gelegenheit dazu gefunden hat!«

»Warum wolltest du denn einen Selbstmord nicht zugeben?« fragte Lowndes.

»Weil kein direkter Beweis vorlag. Viel Vorrechte hat ja ein Mensch hier zu Lande nicht, aber ein Gewehr verkehrt in die Hand zu nehmen, wird ihm schließlich wohl noch erlaubt sein! Überdies: vielleicht werde ich selbst nochmal jemand dankbar sein, daß er bei mir Zufall als Todesursache angibt. Leben und leben lassen. Sterben und sterben lassen!«

»Da! Nimm eine Pille!« sagte Spurstow, der Hummils. bleiches Gesicht beobachtet hatte, »nimm eine Pille und sei kein Esel. Das alles ist dummes Geschwätz. Jedenfalls hemmen Selbstmordgedanken deine Arbeit. Wenn ich zehnmal der Hiob wäre, das Interesse am Fortschritt meiner Arbeit ließe ich mir nie rauben.«

»Ach was! Mir ist sie vollkommen gleichgültig geworden«, sagte Hummil.

»Vielleicht die Leber nicht in Ordnung?« meinte Lowndes teilnahmsvoll.

»Nein. Etwas viel Schlimmeres. Ich kann nicht schlafen.«

»O, das kenne ich«, rief Mottram. »Geht mir bisweilen auch so. Sind Anfälle, die sich austoben wollen. Was tust du dagegen?«

»Nichts. Es ist alles vergebens. Seit Freitagmorgen hab ich keine zehn Minuten geschlafen.«

»Armer Kerl! Spurstow, du solltest ihn in Behandlung nehmen. Schau nur, seine Augen sind trüb und seine Lider dick geschwollen.«

Spurstow lachte leicht auf, beobachtete aber Hummil noch immer scharf. »Später! Werde ihn schon auf die Beine bringen. Übrigens, was meint ihr, ist’s zu heiß für einen Spazierritt?«

»Wohin denn?« brummte Lowndes müde. »Um acht müssen wir sowieso fort, da werden wir genug zu reiten haben. Ich hasse das Pferd, wenn ich es nur als Transportmittel gebrauchen muß. O Gott, was fängt man nur an?«

»Spielen wir halt wieder Whist, acht Schilling den Point und einen Goldmohur den Robber!« schlug Spurstow vor.

»Bist wohl verrückt? Einen Monatsgehalt als Einsatz! Einer von uns wäre ruiniert, wenn wir aufstehen!« sagte Lowndes.

»Könnte nicht behaupten, daß ich gerne ›derjenige, welcher‹ wär’«, sagte Mottram, »auch möchte ich nicht schuld sein, wenn einen von uns dieses Los träfe. Als Reizmittel langt es nicht hin und außerdem ist es töricht.« Und er ging hinüber zu einem alten Klavier, dem Wrack eines Familienhaushaltes aus früheren Tagen des Bungalows, und öffnete den Deckel.

»Rettungslos verstimmt«, sagte Hummil, »meine Diener haben darauf herumgehackt.«

Allerdings befand sich das Instrument in einem kläglichen Zustand, aber immerhin gelang es Mottram, die rebellischen Töne nach und nach ein wenig in Einklang zu bringen; dann stieg aus der abgegriffenen Tastatur etwas auf, wie das Gespenst eines Liedes aus einem Volksvarieté. Die Herren in ihren Liegestühlen wandten sich mit sichtlichem Interesse Mottram zu, der immer munterer drauflosspielte.

»Ausgezeichnet«, rief Lowndes. »Ich glaube, ich habe dieses Lied zum letzten Mal im Jahre 79 gehört, damals als ich fort mußte von zu Haus.«

»Oh, ich habe erst um 80 herum fort müssen«, sagte Spurstow selbstbewußt, und er nannte einen Gassenhauer, der damals in aller Mund gewesen war.

Mottram schlug die Melodie an, aber mangelhaft. Lowndes kritisierte und verlangte Änderungen. Mottram ging in ein anderes Volkslied über und wollte dann aufhören.

»Sitzen geblieben!« befahl Hummil. »Ich hab gar nicht gewußt, daß du soviel Musik im Leib hast. Spiel so lang, bis dir nichts mehr einfällt. Ich werde das Klavier stimmen lassen, bis ihr wiederkommt. Bitte, etwas Festliches jetzt!«

Sehr einfach, freilich, waren die Melodien, denen Mottrams Kunst und der Zustand des Klaviers Ausdruck geben konnten, aber die Herren hörten mit Vergnügen zu und sprachen in den Pausen von den Erlebnissen, die sie gehabt, als sie noch in ihrer Heimat gewesen waren. Ein dichter Staubsturm erhob sich draußen und heulte über das Haus hinweg, hüllte alles in mitternächtliches Dunkel, doch Mottram spielte unentwegt fort; die anderen hörten es kaum mehr, so wild und laut flatterte das Segeltuch an der Zimmerdecke.

In dem tiefen Schweigen nach dem Tosen des Sturmes ging Mottram von den ausgesprochen schottischen Liedern, leise die Melodie mitsummend, in die Abendhymne über.

»Sonntag!« sagte er zur Erklärung und nickte den anderen zu.

»Nur weiter!« rief Spurstow, »brauchst dich nicht entschuldigen!«

Hummil lachte laut und wild auf. »Ja, ja, spiel sie nur! Du bringst uns heute eine Überraschung nach der ändern; hab gar nicht gewußt, daß so viel Sarkasmus in dir steckt! Wie geht das Zeug weiter?«

Mottram nahm die Melodie wieder auf.

»Viel zu langsam! Nicht das richtige Tempo für ein Dankgebet«, spöttelte Hummil, »es muß so schnell sein wie die Grasshopper-Polka; so etwa.« Und er sang prestissimo:

»Ruhm Dir mein Gott in dieser Nacht,
Für den Segen, den Dein Licht gebracht.«

»Das drückt aus, wie sehr wir den Segen fühlen! – Wie geht’s weiter?«

»Wenn in der Nacht ich schlaflos bin,
Gib frommes Denken meinem Sinn«,

»Schneller, Mottram!«

»Für mich im Traum zu Deinem Land,
Scheuch fort der dunkeln Mächte Hand!«

»O Mottram, was für ein alter Heuchler du doch bist!«

»Sei kein Esel, Hummil!« warnte Lowndes. »Mach Witze, über was du willst, aber laß diese Hymne in Ruh! Wenn ich sie höre, steigen in mir die heiligsten Erinnerungen auf.«

»Jawohl!« stimmte Mottram bei. »Sommerabend auf dem Land; bunte Glasfenster; Dämmerlicht; und du und ›sie‹ sitzen eng beisammen, die Köpfe über ein gemeinsames Gesangbuch gebeugt.«

»Und dann«, fügte Lowndes hinzu, »fliegt dir nachts, wenn du heimgehst, ein fetter alter Maikäfer ins Auge, Heugeruch, ein Mond auf einem Grashaufen, groß wie eine Hutschachtel – Fledermäuse, Rosen, Milch und Mücken.«

»Aber auch: – Mütter! Ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie meine Mutter mich, als ich noch ein kleiner Knirps war, mit der Hymne in den Schlaf gesungen hat«, sagte Spurstow.

Tiefe Dunkelheit lag im Zimmer; Hummil bewegte sich unruhig in seinem Sessel hin und her und sagte mürrisch:

»Folglich wirst du sie singen, wenn du bereits sieben Klafter tief in der Hölle steckst. Es ist eine Beleidigung der Weisheit Gottes, zu tun als sei man mehr als ein gequälter Rebell.«

»Nimm zwei Pillen!« riet Spurstow. »Die Leber ist schuld.«

»Hummil scheint heute miserabel gelaunt«, sagte Lowndes, als die Diener Licht brachten und den Tisch fürs Abendessen deckten, »merkwürdig, sonst ist er doch so ruhig.«

Während die Herren sich niedersetzten zu den elenden Ziegenfleisch-Koteletten und dem angebrannten Sagopudding, raunte Spurstow Mottram zu: »Gut hast du’s gemacht.«

»Behalt ihn im Auge!« war die leise Antwort.

»Was habt ihr da zu flüstern?« fragte Hummil argwöhnisch.

»Wir haben nur gesagt«, erwiderte Spurstow mit dem liebenswürdigsten Lächeln von der Welt, »daß du ein verdammt schäbiger Wirt bist. Das >Geflügel< ist zäh wie Holz. Und das nennst du ein Dinner?«

»Kann’s nicht ändern. Habt ihr vielleicht ein Bankett erwartet?«

Während des Essens war Hummil ununterbrochen darauf aus, seine Gäste – einen nach dem ändern – zu reizen und zu beleidigen. Jedesmal gab Spurstow dem Betreffenden ein Zeichen mit dem Fuß unterm Tisch; er wagte nicht, sie mit Blicken zu warnen. Hummils Züge waren blaß und verfallen und seine Augen weit aufgerissen. Keiner der Herren dachte auch nur eine Sekunde daran, seine bösartigen Beleidigungen als Kränkung aufzufassen, aber nachdem die Mahlzeit vorüber war, brachen sie eilig auf, um fortzugehen. »Aber bleibt doch noch! Ihr seid ja kaum erst richtig aufgetaut. Hab ich euch irgendwie beleidigt?« fragte Hummil. »Ihr seid gar so empfindliche Teufel.« Und gleich darauf flehentlich in fast unterwürfigem Ton: »Nicht wahr, ihr geht doch noch nicht?«

»Um die Worte des berühmten Jorrick zu gebrauchen: ›Wo ich gefressen hab, dort schlaf ich auch‹«, sagte Spurstow. »Wenn du nichts dagegen hast, möcht ich morgen sowieso mal deine Kulis auf ihren Gesundheitszustand hin ansehen. Einen Platz wirst du wohl haben, wo ich mich hinlegen kann?«

Die beiden ändern Gäste schützten die dringenden Geschäfte des nächsten Tages vor, sattelten ihre Pferde und ritten fort, von Hummil wiederholt gebeten, Sonntag bestimmt wieder zu kommen. Unterwegs machte Lowndes zu Mottram gewendet seinem Ärger Luft:

»Am liebsten hätte ich ihm an seinem eigenen Tisch eine heruntergehauen. Sagt der Mensch, ich hätte beim Whist betrogen, und erinnert mich an meine Schulden! Dir wirft er vor, du seiest ein Lügner, und du bist nicht einmal empört darüber.«

»Bin’s auch nicht«, sagte Mottram, »armer Teufel, das! Erinnerst du dich, den alten Hummy jemals so von Sinnen gesehen zu haben?«

»Das ist doch wahrhaftig keine Entschuldigung! Spurstow hat mich die ganze Zeit über auf den Fuß getreten, deshalb schwieg ich. Aber sonst hätte ich –«

»Gar nichts hättest du! Du hättest gehandelt wie Hummil in dem Falle Jevins! Man verurteilt niemand bei einem solchen Wetter. Die Schnalle meines Zügels glüht förmlich, so heiß ist’s. Trab ein bissel schneller, aber gib acht auf die Rattenlöcher.«

Ein Trab von zehn Minuten, dann hielt Lowndes an – der Schweiß troff ihm aus allen Poren – und machte die weise Bemerkung:

»Gut, daß Spurstow die Nacht über bei ihm bleibt!«

»Ja! Guter Kerl, der Spurstow. Unsere Wege trennen sich hier. Sehen uns also nächsten Sonntag, wenn die Sonne mich inzwischen nicht umgebracht hat.«

»Hoffentlich kommt’s zustande. Wenn nur nicht der Finanzminister des ›Alten Schöpsen‹ mir unterdessen das Futter versalzen hat. Gute Nacht! Und – Gott behüte dich!«

»Wieso? Was meinst du damit?«

»Ach, gar nichts.« Und Lowndes versetzte Mottrams Stute einen leichten Gertenhieb in die Flanke, so daß sie gleich darauf pfeilschnell über den Sand dahinflog, »wollte nur sagen, daß du gar kein so übler Bursche bist.«

Unterdessen saßen Hummil und Spurstow im Bungalow, rauchten schweigend ihre Pfeifen und beobachteten einander scharf. Die Einrichtung des Junggesellenhaushalts war ebenso leicht wie einfach; ein Diener schob den Speisetisch hinaus, brachte zwei landesübliche rohe Bettstellen (Hanfgurten über einen dünnen Holzrahmen gespannt) herein, warf eine Decke aus kühlem Kalkuttageflecht darüber, schob sie nebeneinander, befestigte mit Stecknadeln zwei Handtücher, so daß sie sich über Nase und Mund leicht bewegen konnten, an der Punkah und meldete, die Betten stünden bereit.

Die Herren legten sich nieder und befahlen den Kulis bei allen Schrecken der Hölle, an den Fächerstricken aus Leibeskräften zu ziehen. Alle Türen und Fenster waren dicht verschlossen, denn draußen herrschte eine Hitze wie im Backofen. Die Luft im Zimmer betrug, wie das Thermometer zeigte, nur 104 Grad, war aber stickig von dem schwelenden Geruch schlecht gereinigter Öllampen, einheimischen Tabaks und dem Dunst glühheißer Ziegel und ausgedörrter Erde: die Atmosphäre des großen indischen Kaiserreichs, wenn es sich für sechs Monate in ein Reich der Qualen verwandelt, die schon so manchem starken Mann das Herz in die Schuhe hat fallen machen. Spurstow türmte alle Kopfkissen aufeinander, so daß er mehr lehnte als lag: es ist nicht gut, niedrig zu schlafen, besonders wenn man kurzhalsig gebaut ist; oft geht beim Schnarchen ein tiefer Schlummer in Hitzschlag über!

»Pack deine Polster hoch!« sagte der Arzt scharf, als er bemerkte, daß Hummil sich flach ausgestreckt hatte.

Das Nachtlicht wurde zurechtgeschraubt, der Schatten der Punkah schwankte im Raum, und gleich darauf folgte das Flappen des Fächertuchs, begleitet von dem leisen Quietschen der Stricke in den Zugösen. Dann, einen Augenblick nur, stand die Maschinerie fast still, aber schon brach der Schweiß aus Spurstows Stirn. Sollte er hinausgehen, den Kulis eine Strafpredigt halten? Ein Ruck: die Punkah bewegte sich wieder. Eine Stecknadel fiel heraus. Dann, als der Schaden behoben war, begann das Flapp-Flapp wieder auf der ganzen Linie, regelmäßig wie das Pulsieren einer Arterie in einem von Nervenfieber gemarterten Gehirn. Spurstow wälzte sich auf die Seite und fluchte leise. Hummil rührte sich nicht; unbeweglich wie eine Leiche lag er da, die Hände an die Seiten gepreßt. Die Atemzüge gingen zu schnell, als daß anzunehmen gewesen wäre, er schliefe. Spurstow blickte auf das regungslose Gesicht: die Lippen waren zusammengepreßt, und ein Zucken lief um die bebenden Augenlider.

»Er beherrscht sich, so gut er kann«, dachte er bei sich, »was in aller Welt mag ihm nur fehlen? – He! Hummil!«

»Ja!« kam’s gequält zurück.

»Kannst wohl nicht einschlafen?«

»Nein.«

»Kopf heiß? Würgen in der Kehle?«

»Nein. Danke. Schlafe nicht viel, wie du weißt.«

»Ist dir sehr schlecht?«

»Ziemlich. Danke. Draußen klopft was, nicht wahr? Hab zuerst geglaubt, ’s war in meinem Kopf. – Spurstow, ich bitte dich, hab Mitleid mit mir! Gib mir was, daß ich schlafen kann – fest schlafen – und wenn’s nur vier Stunden sind!« Und Hummil sprang auf, zitternd vom Kopf bis zu den Füßen. »Seit Tagen hab ich nicht natürlich geschlafen; ich hält’s nicht mehr aus! hält’s nicht – mehr – aus!«

»Armer Kerl!«

»Mit Worten ist mir nicht geholfen. Gib mir was zum Schlafen! Ich sag dir, ich bin schon fast wahnsinnig. Weiß kaum mehr, was ich sage. Seit drei Wochen muß ich mir jedes Wort vorbuchstabieren, ehe ich’s ausspreche. Ist das nicht genug, einen Menschen zum Wahnsinn zu treiben? Ich kann die Gegenstände nicht mehr recht unterscheiden und hab den Tastsinn fast ganz verloren. Die Haut schmerzt mich – die Haut. Gib mir ein Mittel, daß ich endlich schlafen kann! Spurstow, um Gottes Barmherzigkeit willen, gib mir zu schlafen ein! Etwas, das mich tief schlafen läßt. Nicht bloß träumen! Schlafen! Schlafen!«

»Weiß schon, alter Bursche, weiß schon. Bleib ruhig! Du bist nicht halb so krank, wie du glaubst.«

Die Schleusen der Selbstbeherrschung waren durchbrochen: Hummil klammerte sich furchtsam wie ein Kind an Spurstow. »Mensch! Hummil! Du brichst mir ja den Arm!«

»Ich werde dir das Genick brechen, wenn du mir nicht hilfst, Spurstow! Nein, nein! Verzeih, alter Freund! Ich hab’s ja nicht so gemeint!« Hummil wischte sich den Schweiß von der Stirn, rang nach Selbstbeherrschung. »Ich hab die Besinnung verloren, verzeih! Aber vielleicht könntest du mir doch ein Schlafmittel geben? Bromkali oder sowas?«

»Brom? Dummes Zeug. Warum hast du dich mir nicht längst anvertraut? Laß meinen Arm los! Will mal nachsehen, ob ich nicht in meiner Zigarettendose etwas habe, was dir helfen kann.« Und Spurstow schraubte die Lampe hoch und begann in den Taschen seines Anzugs zu suchen; dann näherte er sich mit einem silbernen Etui, dem er eine winzige schimmernde Spritze entnahm, dem gespannt wartenden Freunde.

»Die letzte Zuflucht der Zivilisation«, sagte er, »ein Zeug, das ich höchst ungern gebrauche. Gib mal deinen Arm her! Na, die Schlaflosigkeit hat deine Muskulatur noch nicht ruiniert. Verdammt dickes Fell. Geradesogut könnte man einem Büffel eine Einspritzung geben. So! In ein paar Minuten wird das Morphium wirken. Leg dich nieder und wart’s ab.«

Ein Lächeln unaussprechlichen, fast blödsinnigen Entzückens verbreitete sich über Hummils Gesicht. »Ich glaube«, flüsterte er, »jetzt werde ich einschlafen können. Gott, wie himmlisch! Spurstow, du mußt mir das Etui hierlassen; du -« Seine Stimme erlosch und sein Kopf fiel zurück.

»Freilich, das könnte dir so passen«, sagte Spurstow zu dem Bewußtlosen, »aber jetzt, mein Freund, werde ich mir gestatten, mal deine Schußwaffen zu vernageln! Schlaflosigkeit deiner Art lockert gern den dünnen moralischen Faden, der die kleinen Nebensächlichkeiten ›Leben und Tod‹ auseinanderhält.«

Mit bloßen Füßen schlich er in Hummils Sattelkammer und zog ein Zwölfkaliber-Gewehr, einen Expreß und einen Revolver aus den Futteralen. Von einem schraubte er die Zündnadel heraus und warf sie in den Schrank, vom ändern entfernte er die Feder und warf sie hinter einen großen Kleiderkasten; den Revolver spannte er nur und schlug den Zapfen des Hahns mit einem Reitstiefelabsatz heraus.

»So, das wäre in Ordnung«, brummte er und schüttelte die Schweißtropfen von den Händen, »diese kleinen Vorsichtsmaßnahmen werden dir wenigstens Zeit zum Nachdenken geben, wenn du den Kopf verlieren solltest. Du neigst mir ein wenig zu viel zu Unfällen beim Gewehrputzen.«

Als er sich aufrichtete, hörte er die heisere Stimme Hummils auf der Türschwelle sagen: »Narr, du!«

Solche Töne finden nur Menschen in lichten Momenten zwischen Delirien, wenn sie einem Freund etwas sagen, bevor sie sterben.

Spurstow sprang zurück und ließ die Waffe fallen; Hummil stand an der Tür und schüttelte sich in hilflosem Lachen.

»War riesig nett von dir, gewiß« – er sprach ganz langsam wie jemand, der Wort für Wort ertastet. »Habe gar nicht die Absicht, mir was anzutun. Spurstow, das Zeug wirkt nicht! Was soll ich tun? Was soll ich nur anfangen?« Panischer Schrecken trat in seine Augen.

»Leg dich nieder und wart ab, bis es wirkt. Leg dich sofort nieder!«

»Ich trau mich nicht. Es wird mich wieder nur halb betäuben. Ein zweitesmal werde ich’s nicht mehr abschütteln können. Du weißt nicht, was es mich für eine Anstrengung gekostet hat, aufzustehen. Sonst bin ich so schnell wie ein Blitz, aber du hast mir einen Stein an die Füße gebunden! Ich war wie gefesselt.«

»Ich versteh schon. Aber leg dich jetzt nieder.«

»Nein, nein, ich deliriere nicht! Es war eine Niederträchtigkeit von dir, Versuche mit mir anzustellen. Weißt du, daß ich beinahe gestorben wäre?«

Wie ein Schwamm eine Schiefertafel abwäscht, so streifte jetzt plötzlich – wollte es Spurstow scheinen – eine unbekannte Macht alles aus Hummils Gesicht fort, das es bisher zum Antlitz eines Mannes gemacht; er stand auf der Schwelle mit dem Ausdruck naivster Unschuld: er hatte sich unter der Wirkung des Morphiums zurückgeschlafen in den Zustand verängstigter Kindheit.

»Wird er jetzt umfallen und sterben?« dachte Spurstow bei sich; setzte dann laut hinzu: »Schon recht, mein Sohn. Komm zu Bett und erzähl mir, was dich bedrückt. Gut, du hast nicht schlafen können, aber was bedeutet der übrige Unsinn?«

»Einen Platz – einen Platz da unten«, sagte Hummil schlicht. Das Mittel wirkte offensichtlich wie Ebbe und Flut; der Ausdruck in Hummils Gesicht schwankte hin und her: ging über von zitternder, kindischer Angst in das bewußte Ausweichen des Mannes vor einer drohenden Gefahr. Je nachdem sein Bewußtsein sank oder stieg.

»Gott im Himmel, Spurstow; ich habe mich schon seit Monaten davor gefürchtet. Es hat mir jede Nacht zur Hölle gemacht; und doch bin ich mir nicht bewußt, jemals etwas Böses getan zu haben.«

»Bleib ruhig! Werde dir noch eine Dosis geben. Wollen mal zuerst das Albdrücken beseitigen, du unverbesserlicher Narr.«

»Ja! Aber gib mir so viel, daß ich nicht mehr aufstehen kann. Du mußt mich in festen Schlaf versenken und nicht so halb betäuben. Man läuft dann so schwer davon!«

»Ich weiß, ich weiß. Hab’s selber erlebt. Die Symptome sind genau so, wie du sie beschreibst.«

»Lach mich doch nicht aus, du Schuft! Ehe diese entsetzliche Schlaflosigkeit über mich kam, hab ich versucht, auf die Ellenbogen gestützt, zu ruhen. Hab mir einen Sporn ins Bett gelegt, um mich zu stechen, wenn ich zurückfiel. Schau her!«

»Bei Gott, der Mensch ist zerstachelt wie ein Gaul! Von einer Nachtmahr geritten, die ihn verderben will. Und wir alle haben ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Wie soll ich mir das deuten? Der Himmel kenne sich da aus. – Sag mal, Hummil, neigst du zu Selbstgesprächen?«

»Ja. Bisweilen. Aber nicht, wenn ich mich fürchte; dann muß ich laufen; du nicht auch?«

»Natürlich. Immer. Versuch mal jetzt, mir alles genau zu schildern, was dich quält, bevor ich dir die zweite Spritze gebe.«

Hummil erzählte wohl zehn Minuten lang in gebrochenem Flüsterton, und Spurstow beobachtete dabei seine Pupillen, oder bewegte die Hand vor seinen Augen hin und her.

Als die Schilderung zu Ende war, wurde die Morphiumspritze angesetzt, und Hummils letzte Worte lauteten, als er zum zweitenmal zurücksank: »Versenk mich in tiefen Schlaf, denn wenn es mich zu packen kriegt, dann muß ich sterben -sterben.«

»Jawohl, das müssen wir alle früher oder später – dank dem Himmel, der unserer Leidenszeit hier auf Erden ein Ziel gesetzt hat«, brummte Spurstow und schob die Polster unter dem Kopf des Schlafenden zurecht. »Kann mir sogar gleich jetzt passieren, wenn ich nicht sofort etwas trinke. Ich schwitze nicht mehr und – fühl schon einen siebzehn Zoll breiten Kragen.« Schnell kochte er sich einen brühheißen Tee; das beste Mittel gegen Hitzschlag, wenn man drei bis vier Tassen hintereinander trinkt. Dann beobachtete er den Schläfer.

»Hm, ein blindes Gesicht, das immer weint und sich die Tränen nicht abwischen kann? Sonderbar! Ein blindes Gesicht, das ihn die Korridore entlang jagt? Hm! Hummil muß Urlaub kriegen! So bald wie möglich. Gleichgültig, ob er bei Sinnen ist, oder nicht. Ohne Zweifel ist er furchtbar zugerichtet. Der Himmel kenne sich da aus!«

Gegen Mittag stand Hummil auf, mit üblem Geschmack im Mund, aber die Augen klar und Freude im Herzen.

»Bin wohl recht krank gewesen in der Nacht, was?«

»Ich hab schon gesündere Leute gesehen. Du mußt einen Sonnenstich gehabt haben. Hör mal: wenn ich dir jetzt ein ausführliches ärztliches Zeugnis ausstelle, wirst du dann, und zwar sofort, um einen Urlaub einreichen?«

»Nein.«

»Warum denn nicht? Du hast’s nötig!«

»Freilich. Aber ich kann’s hier schon noch aushalten, bis das Wetter kühler wird.«

»Wozu das, wenn du doch sofort Urlaub bekommen kannst?«

»Burkett wäre der einzige, den sie mit meiner Arbeit betrauen könnten, aber der ist ein geborener Narr.«

»Mach dir deswegen doch keine Sorgen. Du bist gar nicht so wichtig hier. Telegrafiere um Urlaub!«

Hummil sah sehr besorgt drein.

»Ich kann’s aushalten bis zur Regenzeit«, sagte er ausweichend.

»Nein, du kannst es nicht. Depeschiere ins Hauptquartier um Burkett.«

»Ausgeschlossen! Wenn du’s durchaus wissen willst: Burkett ist verheiratet, und seine Frau hat vor kurzem ein Kind gekriegt; sie ist oben im Kühlen – in Simla. Er hat eine Freikarte und fährt jeden Samstag bis über den Sonntag zu ihr. Wenn er versetzt wird, geht sie mit ihm, und sie ist durchaus nicht sehr wohl, die kleine Person. Läßt sie das Baby zurück, so ängstigt sie sich zu Tod; und geht sie mit ihm, so stirbt sie hier bestimmt. Burkett wird darauf bestehen, daß sie mit ihm geht, denn er ist einer jener egoistischen Spießbürger, die immer behaupten, eine Frau müsse beständig um ihren Mann sein. Es ist geradezu Mord, eine Frau um diese Zeit herzubringen. Und auch Burkett hat kein so zähes Leben wie eine Ratte. Wird er herversetzt, ist’s aus mit ihm; und sie hat kein Vermögen – folglich war’s auch aus mit ihr. Ich bin einigermaßen abgebrüht und ledig. Wart bis zur Regenzeit; dann mag meinetwegen Burkett kommen und hier abmagern. Wird ihm auch nicht schaden.«

»Mit andern Worten, du willst also bis zur kühleren Jahreszeit dem ins Gesicht sehen, was du bisher bereits erlebt hast?«

»Ach, es wird nicht so schlimm werden jetzt, wo du mir gezeigt hast, wie ich ihm entrinnen kann. Ich kann dir ja täglich telegrafieren. Wenn ich mich wieder in den Schlaf flüchten kann, wird alles gut gehen. Um Urlaub suche ich unter keinen Umständen nach. Damit Schluß.«

»O du großer – Scott! Und ich hab geglaubt, dre Sache sei so gut wie abgemacht!«

»Quatsch. Du würdest auch nicht anders handeln. Ich bin jetzt ein neuer Mensch – dank deinem Zigarettenetui. Du kehrst nunmehr ins Lager zurück, was?«

»Jawohl; werde aber jeden zweiten Tag, wenn’s mir möglich ist, nach dir schauen kommen.«

»Ach was, so krank bin ich doch gar nicht. Ich möchte dich nicht behelligen. Gib lieber deinen Kulis regelmäßig ihren Branntwein mit Pfeffersauce.«

»Du fühlst dich also wirklich ganz wohl?«

»Hinreichend, um fest im Leben, wenn auch nicht noch länger mit dir hier in der Sonne stehen zu können. Geh jetzt, altes Haus, und Gott behüte dich!«

Und Hummil kehrte sich auf dem Absatz um und wollte zurückgehen in die echoreiche Einsamkeit seines Bungalows. Das erste, was er erblickte – in der Veranda -, war sein Doppelgänger. Er hatte eine gleiche Erscheinung schon früher gehabt, als er erschöpft von Überarbeitung und Hitze beinahe zusammengebrochen wäre.

»Schon wieder – das ist bös«, murmelte er und rieb sich die Augen, »wenn das Ding plötzlich vor mir verschwindet wie ein Geist, dann weiß ich: Augen und Magen sind krank; aber, wenn es anfängt zu wandern, dann – verlier ich den Verstand«, und er näherte sich der Gestalt, die, wie alle Phantome, die einem überarbeiteten Gehirn entspringen, in immer gleichbleibender Entfernung vor ihm zurückwich. Sie glitt durchs Haus und löste sich vor seinen Augen in verschwimmende Flecke auf, sobald er in das blendende Licht des Gartens trat. Als er zum Essen ins Zimmer ging, fand er sich bereits bei Tisch sitzend. Dann erhob sich die Gestalt und eilte hinaus. Sie schien in jeder Hinsicht wirklich zu sein, nur warf sie keinen Schatten.

Niemand weiß, was Hummil in dieser Woche wohl gelitten haben mag! Die beständig zunehmenden Choleraerkrankungen unter den Kulis hielten Spurstow im Lager fest, und er depeschierte deshalb Mottram, er möge zu Hummil fahren und dort schlafen. Mottram aber war vierzig Meilen weit entfernt von der nächsten Telegrafenstation und erfuhr nichts als dienstliche Angelegenheiten, bis er Sonntag früh mit Lowndes und Spurstow zusammentraf, um sich gemeinsam mit ihnen in den Bungalow zu begeben.

»Hoffentlich treffen wir den armen Kerl diesmal in besserer Verfassung!« meinte Lowndes und schwang sich vor der Eingangstür aus dem Sattel. »Vermutlich ist er noch nicht aufgestanden.«

»Will mal hineinschauen«, sagte der Arzt, »wenn er schläft, wollen wir ihn nicht wecken.«

Einen Augenblick später errieten die beiden am Klang der Stimme Spurstows, die sie hereinrief, bereits, was geschehen war. Nutzlos, Hummil wecken zu wollen!

Die Punkah bewegte sich noch, aber er selbst mußte dieses Leben schon seit drei Stunden verlassen haben.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Hände fest an die Seiten gepreßt, genau, wie ihn Spurstow vor sieben Nächten hatte liegen sehen. In den starren Augen den Ausdruck eines unbeschreiblichen Entsetzens.

Mottram, der hinter Lowndes eingetreten war, beugte sich über den Leichnam, berührte dessen Stirn leicht mit den Lippen und flüsterte: »O du glücklicher, glücklicher Bursche.«

Lowndes aber, der die starren Augen gesehen hatte, wandte sich schaudernd ab und ging an die andere Seite des Zimmers:

»Armer Kerl! Armer Kerl! Spurstow, wir hätten bei ihm wachen sollen. Hat er -?«

Schweigend setzte der Arzt seine Untersuchung fort und nahm dann die Umgebung in Augenschein; »nein«, sagte er entschieden, »er hat nicht -. Nirgends eine Spur, die darauf hinweisen würde. Ruft die Dienerschaft herein!«

Die Leute kamen, acht oder zehn; einer blickte dem ändern über die Schulter. Sie flüsterten sich etwas zu.

»Wann ist euer Sahib schlafen gegangen?« fragte Spurstow.

»Um elf oder um zehn«, berichtete Hummils Privatdiener.

»War er da noch wohl? Aber wie könnt ihr das wissen!«

»Krank war er nicht, soweit wir das beurteilen können, aber geschlafen hat er seit drei Nächten nur sehr wenig. Ich weiß es, denn ich hab ihn viel herumgehen sehen – besonders in der Tiefe der Nacht.«

Als Spurstow die Kopfpolster zurechtrückte, fiel ein langer Jagdsporn auf den Boden. Spurstow stöhnte laut auf. Der Diener blickte verstohlen auf den Toten.

»Woran denkst du, Chuma?« fragte Spurstow rasch, da er den Blick in dem dunklen Gesicht des Mannes gar wohl bemerkt hatte.

»Himmelsentsprossener, nach meiner armseligen Meinung ist der, der mein Herr war, hinabgestiegen in die Stätten der Finsternis; er wurde gepackt, da er nicht schnell genug hat fliehen können. Der Sporn ist der Beweis, daß er mit Furcht gekämpft hat. Männer meiner eigenen Rasse hab ich es so machen sehen mit Dornen, wenn ein Zauber auf ihnen lag, der sie im Schlaf überwältigen wollte, und sie sich fürchteten, einzuschlafen.«

»Chuma, du bist ein Mostschädel! Geh hinaus und richte die Siegel vor, die an deines Sahibs Eigentum angelegt werden müssen.«

»Gott hat den Himmelsentsprossenen erschaffen. Gott hat mich erschaffen. Wer sind wir, daß wir dem Ratschluß Gottes nachforschen dürften? Ich werde den ändern Dienern befehlen, sich zu entfernen, während du den Besitz des Sahibs aufschreibst. Sie sind alle Diebe und würden stehlen.«

»Soviel ich beurteilen kann«, erklärte Spurstow seinen Freunden, »ist er an – irgend etwas gestorben: Herzlähmung, Hitzschlag oder sonst irgendeiner – Heimsuchung. Wir müssen ein Inventar seiner Habseligkeiten aufnehmen und so.«

»In den Tod gehetzt ist er worden!« behauptete Lowndes. »Sieh dir nur die Augen an! Um Gotteswillen, laß ihn nicht mit offenen Augen begraben werden.«

»Was es auch immer gewesen sein mag, jetzt ist er erlöst von aller Qual!« sagte Mottram mild.

Spurstow blickte scharf in die Augen des Toten:

»Komm mal her! Siehst du etwas drin?«

»Ich kann nicht hinschauen«, schluchzte Lowndes. »Deck sein Gesicht zu. Gibt es wirklich ein Furchtgefühl auf Erden, das einen Mann so verwandeln kann?! Es ist grauenhaft. Spurstow, deck seine Augen zu!«

»Auf Erden? Nein!« sagte Spurstow; Mottram lehnte sich an ihn und blickte forschend hin:

»Ich sehe nichts. Nur ein paar graue Flecken in der Pupille. Etwas anderes kann es nicht gut sein.«

»Meine ich auch. Denken wir mal nach, was zu geschehen hat. Ich brauche einen halben Tag, um eine Art Sarg zurechtzuzimmern, Lowndes, altes Haus, geh hinaus und befiehl den Kulis, sie sollen die Erde neben Jevins‘ Grab aufschaufeln. Und du, Mottram, geh mit Chuma durch den Bungalow und laß die Siegel anlegen. Schickt mir zwei Leute herein, damit ich anfangen kann.«

Als die beiden starkarmigen Diener zu ihren Genossen zurückkehrten, wußten sie eine sonderbare Geschichte zu erzählen: der Doktor Sahib hätte sich vergebens bemüht, ihren Herrn durch magische Künste ins Leben zurückzurufen. Zum Beispiel habe er eine kleine grüne, bisweilen leise knackende Schachtel vor die Augen des Toten gehalten und dabei erschrocken gemurmelt, dann habe er sie mit sich genommen.

Das dröhnende Hämmern auf einen Sarg ist kein angenehmes Geräusch, aber die, die dergleichen kennen, behaupten, viel schrecklicher sei noch das leise Rascheln der Bettücher und das Hin- und Herschieben der Lagerstätte, wenn der Abgeschiedene zum Begräbnis angekleidet und die verhüllte Gestalt langsam herabgelassen wird, bis sie den Boden berührt, und alles ruhig mit sich geschehen läßt.

Noch im letzten Augenblick wurde Lowndes von Gewissensmahnungen ergriffen. »Was meinst du, sollen wir die Gebete verrichten?« fragte er Spurstow.

»Ich glaube: ja! Du bist der Ältere im Zivildienst. Tue du’s!«

»Ich? An diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. Aber vielleicht kann ich irgendwo einen Geistlichen auftreiben. Wenn ich noch so weit reiten müßte, ich tat’s gern, um dem armen Hummil eine Chance zu geben.«

»Unsinn«, sagte Spurstow, und gleich darauf ertönten von seinen Lippen die gewaltigen Worte, mit denen der Gottesdienst bei einem Begräbnis beginnt.

Nach dem Frühstück rauchten die drei stumm ihre Pfeifen zum Gedächtnis des Toten. Plötzlich sagte Spurstow nachdenklich:

»In der medizinischen Wissenschaft ist es nicht bekannt.«

»Was?«

»Bilder in den Augen von Leichen.«

»Um Himmelswillen, sprich nicht mehr von all dem Entsetzlichen!« rief Lowndes. »Ich hab einmal einen Eingeborenen vor Schrecken sterben sehen, als ein Tiger hinter ihm her war; ich weiß, was Hummil getötet hat.«

»Einen Schmarren weißt du! Ich will mich jetzt überzeugen, was es war«, und Spurstow zog sich mit einer Kodakkamera in das Badezimmer zurück. Nach ein paar Minuten hörte man drin ein Geräusch, als ob etwas in Stücke geschlagen würde. Gleich darauf trat der Arzt, totenblaß, wieder ein.

»Hast du ein Bild bekommen?« fragte Mottram. »Ist etwas auf der Platte?«

»Nein. Nichts. Natürlich. Kann dir nichts zeigen, Mottram. Hab die Filmspule herausgenommen. War nichts drauf. Wie sollte es auch!«

»Das«, sagte Lowndes gedehnt, mit einem ausdrucksvollen Blick auf die heftig zitternde Hand des Arztes, die sich vergeblich bemühte, die Pfeife wieder in Brand zu setzen, »das – ist – eine – verdammte Lüge!«

Mottram versuchte zu lächeln. »Spurstow hat recht«, sagte er. »In einem Zustand wie dem, in dem wir uns jetzt befinden, würden wir auch das Unmöglichste glauben. Zwingen wir uns zur Besonnenheit.«

Lange sprach keiner von ihnen auch nur ein Wort. Der heiße Wind draußen pfiff ums Haus, und die ausgedörrten Bäume ächzten. Gleich darauf, in blinkendem Kupfer, Stahlglanz und zischendem Dampf, kam der Tageszug angebraust durch die sengende Hitze. »Am besten, wir fahren gleich mit!« meinte Spurstow. »Kehren wir zu unserer Arbeit zurück. Der Totenschein ist ausgefüllt. Hier haben wir nichts mehr zu suchen, und Arbeit wird uns helfen, unsere fünf Sinne beisammen zu halten. Vorwärts.«

Aber keiner rührte sich: eine Eisenbahnfahrt zu Mittag im Juni hat nicht viel Verlockendes. – Entschlossen griff Spurstow nach Hut und Reitpeitsche, wandte sich in der Türe noch einmal um und sagte:

»Wir hier auf Erden, wir haben das Leben;
Ob’s einen Himmel gibt? Ob eine Hölle?
Wer wüßte Antwort auf die bange Frage?«

Weder Mottram noch Lowndes konnten etwas darauf erwidern.

Naboth

Diese Geschichte könnte eine Allegorie des indischen Kaiserreiches sein, aber abgespielt hat sie sich nichtsdestoweniger und zwar folgendermaßen:

Ich begegnete Naboth am Rande meines Gartens. Er trug einen leeren Korb auf dem Kopf und ein schmutziges Tuch um die Lenden. Das war anscheinend seine ganze Habe – damals, als ich ihn zum ersten Male sah. Er eröffnete unsere Bekanntschaft mit Betteln, war sehr mager und trug fast ebensoviel Rippen zur Schau wie sein Korb. Er erzählte mir eine endlose Geschichte von Fieber und einem Prozeß und einem eisernen Kessel, den ihm das Gericht nach vorheriger Pfändung beschlagnahmt hätte. Ich griff in die Tasche, um Naboth zu helfen; haben doch auch bekanntlich orientalische Herrscher fremden Abenteurern bis zur Neige ihrer königlichen Schatzkammern geholfen! Ich fand eine Rupie in den Futterfalten meiner Westentasche – wußte gar nicht, daß sich eine solche dort verkrochen hatte – und reichte sie Naboth, gewissermaßen als ein direktes Geschenk des Himmels. Er versicherte mir, ich sei der einzig berufene Beschirmer der Armen, den er jemals im Leben gesehen hätte.

Am nächsten Morgen erschien er wieder, ein wenig gerundeter an Körperfülle, ballte sich zu einem Knäuel auf meiner Veranda zusammen und beteuerte, ich sei sein Vater, seine Mutter und der direkte Abkömmling des indischen Götterpantheons – außerdem lenke ich fraglos die Geschicke des Universums. Er selbst hingegen sei nur ein geringer Zuckerwarenverkäufer und viel weniger, als der Staub zu meinen Füßen. Ich hatte derlei Hymnen schon oft gehört und fragte ihn daher, was sein Begehr sei. Meine Rupie, sagte Naboth, habe ihm die dauernden Wonnen des Paradieses erschlossen, nur ein Wunsch bliebe ihm noch, nämlich, in der Nähe des Hauses seines Wohltäters einen Zuckerstand errichten zu dürfen, um beständig sein – das heißt mein – erhabenes Antlitz vor Augen zu haben und zu sehen, wie ich komme und gehe und die Welt erleuchte. Ich gewährte ihm gnädigst die Bitte und er ging von hinnen, den Kopf zwischen den Knien.

Vom untersten Ende meines Gartens senkte sich, gekrönt von dichtem Gestrüpp, ein Abhang zur Straße hinab. Ein kurzer Fahrweg führt an dem Gebüsch vorbei von meinem Hause zum Korso. Am nächsten Tag sah ich, daß Naboth sich am Fuße des Abhanges hingesetzt hatte – mitten hinein in den Staub der Straße und in die volle Glut der Sonne, mit einem schmächtigen Korb schmieriger Süßigkeiten vor sich; er hatte offensichtlich mit meiner großmütigen Gabe als Betriebskapital wieder ein Geschäft angefangen. Ich war gewissermaßen der Schöpfer dieses Paradieses. Bei Anbeginn war die Erde ringsum wüst und leer gewesen, dann zeigten sich die Uranfänge in schwachen Umrissen: Naboth, ein Körbchen, grauer Staub und Sonnenschein, das war, ehe die Anzapfung meines Reiches anhub.

Am nächsten Tage bereits hatte sich Naboth näher an mein Gestrüpp herangepürscht, nannte ein Palmenblatt sein eigen und wedelte damit die Fliegen von seinen Süßigkeiten weg, woraus ich schloß, daß er ein gutes Geschäft gemacht haben mußte.

Vier Tage später bemerkte ich, daß er sich und seinen Korb bis in den Schatten des Gebüsches hinaufgezogen und ein isabellfarbenes Tuch als Baldachin zwischen den Ästen befestigt hatte, um von der Sonnenhitze nicht belästigt zu werden. Sein Korb enthielt eine große Auswahl Zuckerwerk. Der Handel scheint zu blühen, dachte ich bei mir.

Sieben Wochen später erwarb die Regierung ein Stück Land ganz in der Nähe, um ein Gerichtsgebäude darauf errichten zu lassen. Etwa vierhundert Kulis wurden zur Aushebung des Grundes eingestellt. Naboth kaufte sich ein blau- und weißgestreiftes Tuch, einen messingnen Lampenständer und einen kleinen Jungen, um der geschäftlichen Flutwelle, die stündlich wuchs, begegnen zu können.

Wieder fünf Tage später hatte er sich ein riesiges, dickbäuchiges, rotrückiges Buch angeschafft und dazu ein gläsernes Tintenfaß – was mir verriet, daß die Kulis auf dem besten Wege waren, seine Schuldner zu werden, und daß sich das Geschäft bereits dem legitimen Bankfach zubewegte. Auch sah ich, daß sich der eine Korb in drei verwandelt hatte, Naboth in das Gestrüpp eingedrungen war und dort eine niedliche Lichtung behufs gebührender Entfaltung des Warenvorrats, des Jungen und der Buchhaltung ausgehauen hatte.

Nach zwölf weiteren Tagen stand eine Art Feldküche aus Lehm in der Lichtung und das rotrückige Hauptbuch machte einen hochträchtigen Eindruck. Er versicherte mir, Gott habe nur wenige Engländer meiner Art erschaffen und ich sei fraglos eine Verkörperung aller menschlichen Tugenden. Als Opfergabe spendete er mir ein wenig von seinem Zuckerzeug, und durch dessen Annahme setzte ich ihn sozusagen zum Vasallen im Bereich meines Schutzgebietes ein.

Abermals drei Wochen und ich bemerkte, daß der Junge täglich für seinen Herrn ein warmes Mittagessen bereitete und Naboth selbst sich einen Spitzbauch anzulegen gedachte. Er hatte ein weiteres Stück meines Gebüsches »urbar« gemacht und sich ein zweites, noch dickeres Kontobuch angeschafft.

Elf Wochen darauf hatte er sich beinahe durch das ganze Buschwerk durchgehauen, und eine Schilfrohrhütte mit einem Bett davor verschönte die Ansiedlung. Zwei Hunde und ein Baby schliefen auf dem Bett, woraus ich schloß, daß Naboth eine Gattin heimgeführt hatte. Er gab es ohne weiteres zu und sagte, er habe den Schritt getan in der Voraussetzung, daß es meine Gnade noch gestatten würde, zumal ich unendlich edler sei, als Krischna selbst. Nach Verlauf von sechs Wochen und zwei Tagen war eine Lehmmauer hinter der Hütte entstanden; Hühner liefen davor umher und es stank ein wenig. Der Munizipalsekretär stellte fest, daß sich infolge dieser Bautätigkeit bereits eine Senkgrube von Abwässern auf der Straße vor meinem Besitztum zu bilden begänne, die ich unbedingt beseitigen lassen müßte. Ich sprach mit Naboth. Er sagte, ich sei unumschränkter Gebieter über alle seine irdischen Güter und der Garten mein ausschließliches Eigentum. Als Huldigung und Opfergabe sandte er mir wieder einiges Zuckerwerk, eingewickelt in einen gebrauchten Wischlappen.

Zwei Monate später begab es sich, daß ein Kuli bei einer Rauferei, die gegenüber Naboths Paradies und Weinberg stattgefunden haben mußte, erschlagen worden war. Der Polizeiinspektor sagte, es sei das ein ernster Fall, drang in meine Gesindewohnungen ein, beschimpfte die Hausmeisterin und wollte den Hausmeister verhaften. Das Bedenkliche bei der Mordaffäre war, daß es allgemein hieß, die meisten der an der Rauferei beteiligten Kulis seien schwer betrunken gewesen. Naboth stellte mir aufs eindringlichste vor, nur mein Name, als glänzender Schild zwischen ihn und seine Feinde gestellt, könne ihn schützen, was um so wünschenswerter sei, als er in Bälde die Ankunft eines zweiten Babys erwarte.

Vier Monate waren wieder vorbei, da bestand die Hütte ganz und gar aus soliden Lehmmauern, und Naboth hatte den größten Teil meines Gebüsches für fünf Ziegen abgeholzt. Eine silberne Uhr an einer Aluminiumkette zierte seinen stattlichen Bauch. Nun waren meine Diener wiederholt unglaublich betrunken und pflegten auch sonst die Tage in geheimnisvollen Orgien in Naboths Paradies zu verbringen. Ich sprach mit Naboth. Er sagte, meine strahlende und erhabene Gnade vorausgesetzt, werde er alle seine Weiber in unnahbare Damen verwandeln, und, falls jemand ihn verdächtigen sollte, er triebe etwa einen verbotenen Handel mit Schnaps im Schatten der Tamariskensträucher, so solle ich, sein Gebieter und Herr, den Ruchlosen unerbittlich zur Rechenschaft ziehen.

Eine Woche darauf bestellte er einen Mann, damit er ihm einige Dutzend Quadratmeter Gitterzaun um die Rückseite der Hütte zöge, auf daß seine Damen vor den zudringlichen Blicken des Publikums geschützt seien. Der Mann fing mit der Arbeit zwar an, ließ sie aber bald stehen und pflasterte lieber statt dessen ein Stück der kurzen Verbindungsstraße, die zu meinem Hause läuft. Nun fuhr ich in der Dämmerung an jenem Tage heim und bog scharf um die Ecke an Naboths Weinberg. Im nächsten Augenblick hatten die beiden Pferde meines Phaethons sich mit den Füßen in einem Haufen umherliegenden Gitterwerks verfangen und stürzten. Das eine schürfte sich nur das Knie auf, aber das andere mußte ich auf der Stelle erschießen, so war es zugerichtet.

Naboth ist jetzt fort, seine Hütte ist der Erde, der sie entstammte, gleichgemacht, und der Boden mit Salz bestreut, statt mit Zucker, zum Zeichen, daß der Platz verflucht sein möge. An die Grenze meines Gartens habe ich mir eine Sommerlaube bauen lassen, die die Aussicht beherrscht. Sie dient mir als Sperrfort, von dem aus ich mein Reich vor Einfall beschirme.

Ich kann mir heute genau vergegenwärtigen, wie dem gottseligen Ahab in der Bibel zumute gewesen sein muß. Man hat ihn in der Schrift schmählich falsch beurteilt!

Moti Guj, der Meuterer

Es war einmal ein Pflanzer in Indien, der wollte einen Wald ausholzen, um eine Kaffeeplantage anzulegen. Als der letzte Baum gefällt und das Unterholz verbrannt war, blieb nur noch, die Stümpfe auszuroden. Dynamit kostet viel, und Feuer ist zu langweilig. Die beste Art, Stümpfe zu entfernen, ist, sich des Königs der Tiere, des Elefanten, zu bedienen. Er gräbt sie entweder mit seinen Stoßzähnen aus der Erde, oder er reißt sie vermittelst eines Taues aus. Der Pflanzer mietete also Elefanten und schickte sie einzeln, paarweise oder zu dreien an die Arbeit. Der beste der Elefanten gehörte dem schlechtesten der Treiber, und der Name dieses unvergleichlichsten aller Tiere war: Moti Guj. Er war der unbeschränkte Besitz seines Mahout, was unter einer Eingeborenenregierung nicht möglich gewesen wäre, denn Moti Guj war ein Geschöpf, das den Neid jedes Königs erweckt hätte; wie denn auch sein Name soviel wie: »Perle der Elefanten« bedeutete. Da das Land aber unter britischer Botmäßigkeit stand, durfte Deesa, der Mahout, im unbestrittenen Besitz seines Schatzes bleiben. Deesa, der Mahout, war ein Schlemmer. Hatte er durch die Kraft seines Elefanten genug Geld verdient, so pflegte er sich maßlos zu betrinken und dann Moti Guj eine Tracht Prügel mit einer Zeltstange zu verabfolgen, indem er auf die empfindlichen Zehennägel seiner Vorderfüße losdrosch. Moti Guj trampelte ihn bei solchen Gelegenheiten nicht etwa tot, wußte er doch ganz genau, wenn die Prügel zu Ende sein würden, würde Deesa seinen Rüssel umarmen und laut weinen und ihn »mein Herzblättchen, mein Leben und Leber meiner Seele« nennen und ihm Schnaps zu trinken geben. – Moti Guj war nämlich ein großer Freund des Alkohols, insbesondere des Arraks, aber er verschmähte auch Palmsaft – Toddy nicht, wenn er nichts Besseres bekam. – Nach solchen Gefühlsausbrüchen legte sich Deesa gewöhnlich zwischen Moti Gujs Vorderfüße schlafen und, da er sich dazu gewöhnlich die Mitte der Landstraße auserkor, Moti Guj über ihm Wache hielt und weder Pferd noch Fußgänger, noch Wagen passieren ließ, so stockte jedesmal der Verkehr, bis es Deesa beliebte, aufzuwachen.

Tagsüber war Schlafen auf der Ausholzung streng verboten, denn dazu waren die Löhne zu hoch. Deesa saß also auf Moti Gujs Nacken und kommandierte, während Moti Guj machtvoll Baumstümpfe ausrodete, denn er besaß ein paar prachtvolle Stoßzähne, oder sie mit einem Strick ausriß, – denn er besaß ein paar ebenso prachtvolle Schultern; Deesa trat ihm dabei hinter die Ohren und nannte ihn den König der Elefanten. Am Abend spülte Moti Guj 500 Pfund Grünfutter mit einem Quart Arrak hinunter, und auch Deesa nahm einen Imbiß zu sich und sang dann zwischen Moti Gujs Vorderbeinen Lieder, bis es Zeit wurde, schlafen zu gehen. Wöchentlich einmal führte Deesa Moti Guj hinunter ans Flußufer; Moti Guj legte sich dann in dem seichten Wasser wollüstig auf die Seite und ließ sich von Deesa mit einem Kokosschrubber und einem Ziegelstein bearbeiten, bis ihm ein Klatschen mit dem Stein das Zeichen gab, sich umzudrehen. War die Prozedur vorbei, sah Deesa ihm Augen und Füße nach und hob ihm die Lappen seiner langen Ohren auf, um nachzuschauen, ob sich dort nicht wunde Stellen oder Entzündungsherde gebildet hätten. Fiel der Befund zufriedenstellend aus, so kehrten beide – Moti Guj schwarz und glänzend, einen abgerissenen 12 Fuß langen Ast mit dem Rüssel schwenkend, und Deesa, sein nasses langes Haar zum Knoten schürzend und eine Hymne auf das Meer singend, – nach Hause zurück.

So floß ein friedliches und gut bezahltes Leben dahin, bis Deesa eines Tages die Lust in sich fühlte, sich wieder einmal gründlich zu besaufen. Er sehnte sich aus Herzensgrund nach einer Orgie. Die kleinen Gelegenheitsschnapsereien führten zu nichts Rechtem und zehrten nur an seinem Männlichkeitsbewußtsein!

Er ging deshalb zu dem Pflanzer und rief unter heißen Tränen: »Meine Mutter ist tot!«

»Ich weiß«, sagte der Pflanzer, »sie ist vor zwei Monaten auf der andern Plantage gestorben. Aber auch früher ist sie schon einmal gestorben, damals hast du – vor einem Jahr – bei mir gearbeitet.«

»Dann ist’s meine Tante!« heulte Deesa. »Sie war so gut zu mir wie meine Mutter. Sie hat achtzehn kleine Kinder zurückgelassen, deren hungrige Mägen ich füllen muß«, und er schlug seine Stirne auf den Boden.

»Wer hat dir die Nachricht gebracht?« forschte der Pflanzer.

»Die Post.«

»Die ganze letzte Woche ist doch gar keine Post gekommen! Scher dich an deine Arbeit!«

»Eine verheerende Krankheit ist in meinem Dorf ausgebrochen und meine sämtlichen Weiber liegen im Sterben!« jammerte Deesa, und echte Tränen füllten seine Augen.

»Chihun soll herkommen!« befahl der Pflanzer. »Er ist aus demselben Dorf wie Deesa. Chihun, hat dieser Mann ein Weib?«

»Der?!« sagte Chihun. »I wo! Kein Weib aus unserm Dorf würde ihn anschauen! Eher würde sie noch seinen Elefanten heiraten.«

Und Chihun lachte laut; Deesa aber weinte und brüllte.

»Du wirst gleich was erwischen! Marsch jetzt an deine Arbeit!« rief der Pflanzer.

»So will ich denn die himmlische Wahrheit sprechen!« stieß Deesa, von plötzlichem Offenherzigkeitsdrang ergriffen, hervor. »Seit zwei Monaten habe ich mich nicht mehr betrunken. Ich will weit fortgehen von dieser Himmelsplantage, um kein Ärgernis zu geben.«

Ein Lächeln flackerte über das Gesicht des Pflanzers. »Deesa«, sagte er, »jetzt hast du die Wahrheit gesprochen, und ich würde dir auf der Stelle einen Urlaub bewilligen, wenn ich nur wüßte, was ich mit Moti Guj anfangen soll, während du fort bist. Du weißt, er gehorcht nur dir allein.«

»Mögest du, o Licht des Himmels, vierzigtausend Jahre leben!« rief Deesa. »Ich werde nur zehn Tage fort sein, dann kehre ich zurück, das schwöre ich bei meinem Glauben, bei meiner Ehre und meiner Seele. Habe ich jetzt die allergnädigste Erlaubnis des Himmelsentsprossenen, Moti Guj herzubringen?«

Die Erlaubnis wurde erteilt und auf Deesas schrillen Pfiff hin kam das majestätische Tier aus dem Schatten einer Baumgruppe herangeschaukelt, wo es sich die Zeit damit vertrieben hatte, sich mit Staub zu duschen.

»Licht meines Herzens, Beschützer der Betrunkenen, Berg der Macht, leihe mir dein Ohr!« begann Deesa und pflanzte sich vor dem Elefanten auf.

Moti Guj lieh es ihm und salutierte mit dem Rüssel. »Ich gehe fort«, erklärte Deesa.

Moti Guj zwinkerte verständnisvoll; er liebte ebenso wie sein Herr das Herumstrolchen: man konnte da allerlei nette Sachen auf der Landstraße aufschnappen.

»Aber du, du altes dickes Schwein, bleibst hier und arbeitest!« setzte Deesa schnell hinzu.

Moti Guj heuchelte Entzücken, aber der Glanz in seinem Auge erlosch. Er haßte aus tiefster Seele das Stümpfeausroden. Es bereitete ihm Zahnschmerzen.

»Zehn Tage bleibe ich fort, o Lieblicher! Heb mal jetzt den linken Vorderfuß, damit ich dir die Zahl einhämmern kann, du Warzenkröte aus einer vertrockneten Dreckpfütze!« – und Deesa nahm die Zeltstange und schlug Moti Guj, der dabei grunzte und von einem Fuß auf den ändern trat, zehnmal auf die Nägel.

»Zehn Tage«, wiederholte Deesa, »mußt du arbeiten. Stümpfe ausroden und ausreißen, wie Chihun dir befehlen wird. Heb jetzt Chihun auf und setze ihn auf deinen Nacken!« Moti Guj rollte das Ende seines Rüssels zusammen, Chihun stellte seinen Fuß hinein und befand sich im nächsten Augenblick auf dem Nacken des Elefanten.

Deesa reichte ihm den Ankus hinauf, den eisernen Elefantenstachel; Chihun hämmerte damit auf Moti Gujs Glatze los wie ein Grobschmied auf den Amboß.

Moti Guj trompetete.

»Keine Widerrede, du Schwein aus dem Urwald!« ermahnte ihn Deesa. »Chihun ist jetzt dein Mahout für zehn Tage. Und nun, Tier meines Herzens, sag mir Lebewohl! O du mein Herr, mein König! Perle aller erschaffenen Elefanten! Du Lilie der Herde, bleib gesund und sei tugendhaft! Gott befohlen!«

Moti Guj schlang als Antwort seinen Rüssel um Deesa und schwenkte ihn zweimal durch die Luft.

»Jetzt wird er arbeiten«, sagte Deesa zu dem Pflanzer. »Darf ich gehen?«

Der Pflanzer nickte, und Deesa verschwand im Gehölz. Moti Guj ging zurück an seine Arbeit. –

Chihun behandelte ihn gut, aber er fühlte sich dennoch unglücklich und verlassen – Chihun gab ihm klumpenweise Gewürze, kitzelte ihn unter dem Kinn, Chihuns Baby umschmeichelte ihn nach der Arbeit, Chihuns Weib nannte ihn »Herzenskind«, aber Moti Guj war der geborene Hagestolz, genau wie Deesa, und Familienzärtlichkeiten lagen ihm nicht. Er sehnte sich nach dem Licht seiner Welt, nach einem Labetrunk, nach dem Schlummer der Trunkenheit, nach den wilden Hieben und den wilden Liebkosungen.

Dennoch arbeitete er zu des Pflanzers größter Verwunderung. Deesa war indessen auf den Landstraßen umhergestrolcht, bis er einer Hochzeitsprozession von Leuten seiner eigenen Kaste begegnet war und über Trinken, Tanzen und Schwelgen die Zeit vergaß.

Der Morgen des elften Tages brach an, und noch immer ließ er sich in der Plantage nicht sehen. Man löste die Stricke von Moti Guj, damit er an seine Arbeit gehe; er schüttelte sie ab, blickte umher, zuckte die Achseln und ging fort, wie jemand, der anderswo zu tun hat.

»Hü Ho! Komm zurück, du!« schrie Chihun. »Hierher, du ungestalter Berg, und heb mich auf deinen Nacken! Hier komm her, o Glanz des Hügelgeländes, Zierde von ganz Indien, kehre um, oder ich hau dir jede Zehe ab von deinen fetten Vorderfüßen!«

Moti Guj gurgelte höflich, dachte aber nicht im entferntesten daran, zu gehorchen. Chihun lief ihm nach und fing ihn mit einem Strick ein. Moti Guj breitete die Ohren aus wie Schirme. Chihun erkannte daraus, wieviel die Glocke geschlagen hatte, und versuchte es deshalb mit hochtrabenden Worten: »Erlaub dir keine frechen Spaße mit mir! Marsch jetzt in deine Abteilung, du Teufelssohn!«

»Hrrump!« entgegnete Moti Guj. Das war die ganze Antwort. Das und das Ausbreiten der Ohren!

Dann steckte Moti Guj die Hände in die Taschen, kaute einen Baumzweig als Zahnstocher, schlenderte auf der Plantage umher und verhöhnte die andern Elefanten, die bereits an ihre Arbeit gegangen waren.

Chihun meldete dem Pflanzer den Stand der Dinge, worauf dieser sich sofort auf den Schauplatz begab und wütend mit der Hundepeitsche knallte. Moti Guj erwies dem weißen Mann sogleich die Ehre, ihn eine Viertelmeile weit auf der Ausholzung in den Lüften umherzuschwenken und ihn dann in seine Veranda zu »hrrumpen«. Sodann stellte er sich vors Haus, wiegte sich erheitert hin und her und gluckste spaßhaft in sich hinein, wie das nun einmal Elefantenart ist.

»Wir werden ihn verhauen, wie noch nie ein Elefant verhauen worden ist!« schimpfte der Pflanzer. »Man gebe Kala Nag und Nazim jedem eine zwölf Fuß lange Kette; sie sollen ihm damit zwanzig Schläge geben.«

Kala Nag, was soviel heißt wie »Schwarze Schlange«, und Nazim waren zwei der größten Elefanten aus der Herde, und eine ihrer Obliegenheiten bestand darin, die schwereren Strafen auszuteilen, denn ein Mann ist nicht imstande, einen Elefanten zweckentsprechend zu verprügeln.

Sie traten pflichtgemäß an, nahmen die Peitschketten, rasselten sie in ihre Rüssel hinein und schritten auf Moti Guj zu, um ihn in die Mitte zu nehmen. Nun war Moti Guj während seines neununddreißigjährigen Lebens noch nie geprügelt worden und neuen Erfahrungen abhold. Er wartete kalten Blutes, wiegte den Kopf von rechts nach links und erwog genau, an welcher Stelle in Kala Nags fetter Flanke wohl ein Stoßzahn am tiefsten eindringen könnte. Kala Nag selbst besaß keine Zähne mehr; nur die Kette war das Abzeichen seiner Amtswürde, – er zog es deshalb vor, noch im letzten Augenblick möglichst weit von Moti Guj abzurücken und so zu tun, als habe er die Kette lediglich zu seinem Vergnügen mitgebracht. Auch Nazim drehte sich auf dem Absatz um und strebte nach Hause; – zum Prügeln fühlte er sich an diesem Morgen nicht aufgelegt. Und so blieb Moti Guj allein auf dem Platz zurück, die Ohren wie Schirme ausgebreitet.

Das bestimmte den Pflanzer, klein beizugeben, denn mit einem Elefanten, der nicht arbeiten mag und überdies nicht angebunden ist, kann man nicht so leicht fertig werden. Moti Guj trollte sich, um die Pflanzung in Augenschein zu nehmen, klatschte seinen alten Kameraden leutselig auf den Rücken und fragte sie spöttisch, ob das Baumstümpfeausreißen auch gut vonstatten gehe, redete dann allerhand Unsinn über die Arbeit an sich und über das Recht der Elefanten auf eine lange Mittagspause, kurz, er demoralisierte, von einem zum andern gehend und bis zum Sonnenuntergang aufrührerische Ansprachen haltend, die ganze Plantage, worauf er sich zu den Futtertrögen verfügte.

»Wenn du nicht arbeiten willst, dann sollst du auch nicht essen«, sagte Chihun ärgerlich. »Du bist ein wilder Elefant, schäm dich! Du bist überhaupt kein gebildetes Tier. Geh in dein Dschungel zurück!«

Da kroch Chihuns kleines, braunes Baby aus der Hütte heraus und reckte die fetten Ärmchen nach dem ungeheuren Elefantenschatten vor der Türe. Moti Guj wußte ganz genau, daß es Chihun das Liebste auf der Welt war; deshalb machte er mit dem Rüssel einen einladenden Haken, und sofort stürzte sich das Kleine mit einem Jauchzen darauf. Moti Guj hob es sofort zwölf Fuß hoch in die Luft über den Kopf seines Vaters, wo es laut zu krähen begann.

»Großer Häuptling!« schrie Chihun entsetzt, »die allerbesten Mehlkuchen, zwölf an der Zahl, und zwei Fuß breit und in Rum eingeweicht will ich dir auf der Stelle geben und zweihundert Pfund frischgeschnittenes Zuckerrohr dazu, nur geruhe in Gnaden, diesen wertlosen Knirps, der mein Herz und mein Leben ist, wieder sicher niederzusetzen!«

Moti Guj senkte das braune Baby behutsam zwischen seine riesigen Vorderfüße hinab, mit denen er Chihuns ganze Hütte spielend in Brei hätte verwandeln können, und wartete auf das versprochene Futter. Fraß es. Das braune Baby krabbelte von hinnen. Dann überließ sich Moti Guj dem Schlummer und träumte von Deesa. Eins der vielen Rätsel, die den Elefanten umgeben, ist, daß sein ungeheurer Körper fast keines Schlafes bedarf. Vier oder fünf Stunden genügen – zwei vor Mitternacht liegt er auf der einen Seite und zwei nach ein Uhr auf der andern. Der Rest der stillen Stunden wird mit Fressen, mit Hin- und Hertreten von einem Fuß auf den andern und mit langen gebrummten Selbstgesprächen verbracht.

Um Mitternacht nun schritt Moti Guj aus seinem Abteil heraus, denn es war ihm der Gedanke gekommen, Deesa könne möglicherweise irgendwo im dunkeln Walde herum liegen ohne Schutz und Bewachung. Deshalb jagte er die ganze Nacht schnaubend und trompetend und die Ohren schüttelnd durch das Unterholz. Ging hinunter an den Fluß und gab Trompetensignale über die Furt hinüber, wo ihn Deesa zu waschen pflegte; aber keine Antwort kam zurück. Er konnte Deesa nirgends erblicken, hingegen wachten alle Elefanten der Herde auf, und eine Zigeunerbande floh in wildem Entsetzen.

In der Morgendämmerung erschien endlich Deesa auf der Plantage. Er war schwer bezecht und sah seiner Bestrafung mit Fassung entgegen; er wußte gar wohl, daß er seinen Urlaub überschritten hatte, und atmete befreit auf, als er sah, daß das Bungalow und die Pflanzung noch unbeschädigt dastanden, denn er hatte, im Hinblick auf Moti Gujs Temperament, bereits das Schlimmste befürchtet. Mit vielen Salaams und noch mehr Lügen meldete er sich. Moti Guj weste ab. Er hatte sich zum Frühstück begeben, Die nächtliche Forschungsreise hatte ihn hungrig gemacht.

»Ruf dein Vieh her!« befahl der Pflanzer ärgerlich. Deesa schrie etwas in der geheimnisvollen Elefantensprache, die, wie viele Mahouts glauben, aus China herübergekommen ist, – bei Erschaffung der Welt – als noch Elefanten und nicht Menschen die Herren der Erde waren. Moti Guj horchte auf und kam sogleich. Elefanten laufen nie im Galopp; sie bewegen sich fort mit wechselnder Geschwindigkeit. Wenn ein Elefant einen Expreßzug einholen wollte, würde er auch nicht galoppieren, aber einholen würde er ihn bestimmt. So langte Moti Guj vor der Tür des Pflanzers an, ehe noch Chihun bemerkt hatte, daß er im Stalle fehlte. Er fiel Deesa um den Hals, trompetete entzückt und beide betasteten sich dann gegenseitig von Kopf bis zu Fuß, ob auch keiner von ihnen Schaden genommen hätte.

»Jetzt wollen wir an die Arbeit gehen!« sagte Deesa. »Heb mich auf, mein Sohn und meine Freude!«

Moti Guj schwang ihn auf seinen Nacken, und dahin ging’s zu der Kaffeeplantage, die lästigen Stümpfe ausreißen.

Dem Pflanzer aber verging der Zorn vor Staunen.

»Ohne priesterlichen Segen«

Ich erntete vor Frühling meinen Herbst.
Wie du verfrüht, mein Kornfeld, dich verfärbst!
Wie schmerzlich mich dein Rätsel überkommt,
Erwürgte und verdorrte Jahreszeit,
In Wachsens und in Sterbens Heimlichkeit!
Eh andre sahn den Tag, sah ich das Leid
Des Sonnenuntergangs, der Dunkelheit,
Ich, der ich weiß, was nicht zu wissen frommt!

I

»Was aber, wenn es ein Mädchen wird?«

»Herr meines Lebens, das kann nicht sein! Ich habe so viele Nächte hindurch gebetet und so oft Opfergaben zum Heiligenschrein Sheikh Badls geschickt, daß ich bestimmt weiß: Gott schenkt uns einen Sohn – einen Knaben, der zum Manne heranreifen wird. Denk daran und freue dich. Meine Mutter wird seine Mutter sein, bis ich wieder soweit bin, ihn zu mir zu nehmen, und der Mullah der Pattan-Moschee soll ihm sein Horoskop stellen. Gott gebe, daß er in einer günstigen Stunde geboren wird! Und – und dann wirst du meiner nie überdrüssig werden – meiner, deiner Sklavin.«

»Bist du denn je meine Sklavin gewesen?«

»Ja, seit jeher – von Anbeginn an – seit ich der Gnade teilhaftig geworden bin. Wie könnte ich deiner Liebe gewiß sein, wo ich doch weiß, du hast mich gekauft. Mit Silber!«

»O nein, es war ein Brautgeschenk; nur habe ich es deiner Mutter gegeben.«

»Und sie hat es verscharrt und sitzt darauf den ganzen Tag wie eine Henne. Was redest du da von einem Brautgeschenk! Gekauft bin ich worden wie ein Tanzmädchen.«

»Bereust du den Handel?«

»Ich habe ihn einst bereut, aber heute bin ich glücklich. Wirst du niemals aufhören, mich zu lieben? Sag, mein König!«

»Nein. Niemals – niemals.«

»Auch nicht, wenn die mem-log – die weißen Frauen dei ner Rasse dich mit ihrer Liebe verfolgen? Oh, ich habe gut gesehen, wie sie des Abends ihre Blicke auf dich werfen. Sie sind so schön!«

»So? Ich habe nur Hunderte von Leuchtkugeln gesehen! Aber dann habe ich den Mond gesehen, und vor seinem Glanz verblaßten die Leuchtkugeln!«

Ameera klatschte in die Hände und lachte. »Das ist lieb von dir«, sagte sie, spielte dann die Würdevolle: »Es ist genug. Ich gestatte dir, zu gehen, wenn du willst.«

Der Mann rührte sich nicht. Er saß auf einem niedrigen, rotlackierten Schemel in einer Stube, deren gesamte Ausstattung aus einem blau- und weiß-geblümten Teppich, ein paar Wolldecken und einer reichhaltigen Sammlung von Eingeborenenkissen bestand. Zu seinen Füßen saß eine Frau von sechzehn Jahren; sie bedeutete für ihn die ganze Welt. Nach wohl jedem Gesetz war sein Verhältnis zu ihr nicht einwandfrei, denn er war Engländer, sie die Tochter eines Muselmans, und er hatte sie ihrer Mutter abgekauft vor zwei Jahren. Die Alte war eine gänzlich mittellose Witwe und hätte gegen einen entsprechenden Preis Ameera auch an den Fürsten der Unterwelt verschachert.

John Holden hatte den Handel leichtfertig abgeschlossen, als Ameera fast noch ein Kind gewesen, aber seitdem hatte sie ihn immer mehr und mehr ausgefüllt. Um ihretwillen – und auch der Mutter zuliebe, einer runzeligen Hexe, hatte er ein kleines Haus gemietet, von dem aus man über die ganze große Stadt mit ihren roten Wällen blicken konnte. Als die Butterblumen am Brunnen im Hof zu blühen begannen, Ameera alles nach ihrem eigenen Geschmack wohnlich gemacht und die Alte endlich aufgehört hatte, über den weiten Weg zum Markt und die Unbrauchbarkeit der Küche zu maulen, sowie über Hauswirtschaft im allgemeinen, fühlte er sich geradezu heimisch, denn seine Junggesellenwohnung, wo jeder aus- und einging Tag und Nacht, wie es ihm gerade paßte, war ein unbehaglicher Aufenthalt. Zwar mußte er hier durch die Zimmer der Frauen gehen, wenn er über den Hof nach Hause kam, aber hatte sich das schwere Holztor einmal hinter ihm geschlossen, dann war er unbeschränkter König in seinem Reich – mit Ameera, seiner Königin. Doch jetzt drohte ein Drittes sich einzudrängen, dessen Kommen John Holden mit gemischten Gefühlen entgegensah. Es schien sein Glück trüben zu wollen. Es zerriß den Frieden des Hauses, das doch sein eigen war. Nur Ameera geriet außer sich vor Freude bei dem Gedanken an das kommende Kind, und ihre Mutter desgleichen. Die Liebe eines Mannes – und gar eines weißen Mannes – war im besten Falle eine Ungewisse Sache, aber – so schlossen die beiden Frauen – eines kleinen Kindes Hand würde sie befestigen. »Dann«, so pflegte Ameera zu sagen, »wird er sich nie mehr um die weißen mem-log kümmern. Ich hasse sie alle – ich hasse sie alle.«

»Er wird auch dann zu seiner Rasse zurückkehren«, meinte die Alte, »aber Gott gebe, daß diese Stunde ferne sei.«

Holden saß stumm auf dem Schemel und dachte über die Zukunft nach, die er sich trübe genug ausmalte. Die Nachteile eines doppelten Haushalts sind gar mannigfaltig! Überdies hatte ihn gerade jetzt das Gouvernement in väterlicher Besorgnis für eine zweiwöchentliche Reise in eine entfernte Station auserkoren – um einen Mann zu vertreten, der Tag und Nacht am Bett seiner kranken Frau wachte – und seinen Befehl mit der Bemerkung versüßt, wie gut es für ihn jetzt wäre, sich als Junggeselle frei und ungebunden zu wissen. Holden überbrachte die Hiobsbotschaft Ameera.

»Angenehm ist es wohl nicht«, sagte sie zögernd, »aber schließlich auch nichts Schlimmes. Meine Mutter ist ja bei mir, und es wird mir auch nichts Böses zustoßen – höchstens sterbe ich vor Freude. Geh nur ruhig an deine Arbeit und verscheuche alle bösen Gedanken. Wenn die Tage vorbei sind, glaube ich – nein, ich weiß es bestimmt – Und dann werde ich ›ihn‹ in deine Arme legen, und du wirst mich für immer lieben. Der Zug geht heute nacht, um Mitternacht, nicht wahr? Geh jetzt und laß dir das Herz nicht schwer sein um meinetwillen. Wirst du aber auch bald zurückkommen? Und nicht unterwegs mit den zudringlichen weißen mem-logs reden? Komm bald zu mir zurück, mein Leben!«

Als Holden aus dem Hof trat, um sein Pferd zu besteigen, das am Torpfosten angebunden war, sprach er den weißhaarigen, alten Mann an, der das Haus bewachte, gab ihm ein ausgefülltes Depeschenformular mit seiner Adresse und bat ihn, es sofort befördern zu lassen, falls die Umstände es erfordern sollten. Das war alles, was er tun konnte, und mit den Gefühlen eines Menschen, der sich selbst sein Begräbnis bestellt hat, reiste er mit dem Nachtzug ab. Jede Stunde am Tage fürchtete er, man könne ihm ein Telegramm überreichen, und des Nachts quälte er sich ab mit beständigen Ahnungen, Ameera läge im Sterben, Kein Wunder, daß seine Arbeit für den Staat sehr minderwertig und sein Verhalten den Kollegen im Amt gegenüber nichts weniger als freundlich war. Die zwei Wochen vergingen und keinerlei Nachricht von der Heimat war eingetroffen. Vor Angst fast zerrissen, mußte er die paar letzten Stunden sich noch zermürben lassen bei einem Abschiedsdiner im Klub, wobei er wie ein Halbbetäubter anhören mußte, wie abscheulich er seine Pflichten erfüllt und wie unliebenswürdig er sich den Herren gegenüber benommen hätte. Dann floh er zu Pferd in die Nacht hinaus und das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Er hämmerte an das Tor. Lange keine Antwort. Schon wollte er sein Pferd wenden, damit es mit den Hufen an das Holz donnere, da endlich erschien Pir Khan, der Hausmeister, mit einer Laterne und hielt ihm den Steigbügel.

»Ist etwas geschehen?« fragte Holden schnell.

»Die Nachricht soll nicht aus meinem Munde kommen, o Beschirmer der Armen, aber«, – der Alte hielt die Hand hin, wie einer, der für eine erfreuliche Botschaft ein Trinkgeld erwartet.

Holden eilte über den Hof. Ein Licht brannte im oberen Zimmer. Das Pferd wieherte im Torweg, und ein dünner, schriller Schrei trieb Holden das Blut in die Kehle. Dann eine Stimme, aber noch immer kein Zeichen, daß Ameera am Leben sei.

»Wer ist drin?« rief er die schmale Ziegelsteintreppe hinauf.

Da! Ein Schrei des Entzückens aus Ameeras Mund, und dann die zitterige Stimme der Mutter, bebend vor Stolz: »Wir die zwei Frauen sind hier und ein – Mann – dein Sohn!«

Auf der Zimmerschwelle trat Holden auf einen Dolch, sie hatten ihn hingelegt, um böses Geschick abzuwehren; die Klinge zerbrach unter der Wucht seines Fußes.

»Gott ist groß!« gurrte Ameera in der schwacherleuchteten Stube, »es ist ein Vorzeichen! Du hast alles Unheil von seinem Haupt auf das deinige genommen!«

»Gut. Aber wie geht es dir, mein Leben? Alte, sag, wie geht es ihr?«

»In ihrer Freude hat sie alle Schmerzen vergessen«, sagte die Greisin. »Alles ist gut abgelaufen; aber sprich leise!«

»Nur deine Gegenwart fehlte mir noch, um mich vollkommen glücklich zu machen«, sagte Ameera. »Mein König, so lange warst du fort! Und was bringst du mir mit? Ah, Ah! Diesmal bin ich es, die ein Geschenk hat. Schau her, mein Leben, schau her. Hat es schon je ein solches Baby gegeben? Ach, ich bin noch zu schwach, um auch nur den Arm von ihm zu lösen.«

»Bleib ganz ruhig und sprich nicht. Ich bin doch bei dir, bachari!«

»So lieb von dir! Aber jetzt ist noch ein viel festeres Band da, das uns verknüpft: schau, kannst du es sehen hier im Licht? Ohne Fehl und Tadel ist es. Noch nie hat es so einen Knaben gegeben. Ya illah! Ein Pundit – ein Gelehrter – soll er werden – nein, ein Soldat der Königin. Aber du, mein Leben, liebst du mich auch noch so wie früher? Trotzdem ich blaß bin und krank und verbraucht?«

»Oh, wie sehr! Ich hab dich lieb, wie je zuvor, aus ganzer Seele, mein Perlchen. Aber, lieg still und ruh dich aus.«

»Geh nicht! Setz dich neben mich – so. Mutter, der Herr des Hauses braucht ein Kissen! Bring’s.« Eine fast unmerkliche Bewegung des kleinen Lebens, das da im Arm Ameeras ruhte: »Aho!« sagte Ameera und ihre Stimme schlug über vor Freude. »Jetzt schon ist das Baby ein Fußballchampion. Wie es mich in die Seite kickt! Hat es jemals schon ein solches Kind gegeben! Und unser ist es – dein und mein. Leg deine Hand auf seinen Kopf, aber vorsichtig, es ist noch so jung, und Männer sind ungeschickt in solchen Dingen.«

Behutsam berührte Holden mit den Fingerspitzen das flaumige Köpfchen.

»Er ist ein Gläubiger bereits«, sagte Ameera; »als ich hier lag in den langen Nachtwachen, habe ich das Gebet und das Bekenntnis des Glaubens ihm ins Ohr geflüstert. Und wie wunderbar: er wurde an einem Freitag geboren, wie ich. Sei vorsichtig, mein Leben, aber er kann schon mit den Händchen greifen.«

Holden fühlte, wie eine winzige Hand sich schwach um seinen Finger schloß, aber die Berührung lief durch seinen ganzen Körper und sammelte sich rings um sein Herz. Bisher hatte all sein Sinnen und Sein Ameera gegolten; jetzt erwachte etwas in ihm, als gebe es außer ihr noch etwas anderes in der Welt; nur fühlte er noch nicht, daß es ein Sohn war mit einer lebendigen Seele. Er setzte sich und sann nach, und Ameera versank in Halbschlaf.

»Geh jetzt, Sahib«, flüsterte die Alte mit verhaltenem Atem. »Es ist nicht gut, wenn sie dich wieder hier sieht beim Erwachen. Sie braucht Ruhe.«

»Ich gehe schon«, sagte Holden gehorsam. »Hier hast du Geld. Sieh zu, daß mein Baby gedeiht und alles bekommt, was es braucht.«

Das Klingen der Silbermünzen erweckte Ameera. »Ich bin seine Mutter und keine feile Dirne«, hauchte sie. »Soll ich besser für ihn sorgen nur des Geldes wegen? Mutter, gib’s zurück! Ich habe meinem Herrn einen Sohn geboren.«

Tiefer Schlaf überfiel sie, noch während sie sprach. Holden ging leise hinunter – mit erleichtertem Herzen – in den Hofraum. Pir Khan, der alte Hausmeister, gluckste vor Entzücken. »Jetzt hat das Haus alles«, sagte er, und ohne weitere Erklärung drückte er Holden den Griff eines Säbels in die Hand, den er – Pir Khan selbst! – viele Jahre getragen hatte, als er noch der Königin gedient hatte bei der Polizei. Das Meckern einer Ziege tönte vom Brunnenrand herüber.

»Zwei sind’s«, sagte der Alte, »zwei der besten Sorte. Ich habe sie für teures Geld gekauft, und da keine Gäste zum Geburtsfest kommen, wird das Fleisch mir gehören. Schlag kräftig zu, Sahib! Es ist nur ein schlechtgewichtiger Säbel. Wart, bis sie die Köpfe erheben vom Abweiden der Butterblumen.«

»Warum das?« fragte Holden erstaunt.

»Als Erstgeburtsopfer. Wozu sonst? Das Kind bleibt unbeschirmt gegen das Schicksal, wenn man es unterläßt, und könnte sterben. Du wirst, Beschützer der Armen, die Worte schon finden, die man dazu sagen muß.«

Holden hatte sie einmal auswendig gelernt; er hatte damals natürlich nie daran gedacht, daß er sie jemals gebrauchen würde. – Die Berührung des Säbelknaufs in seiner Hand fühlte sich plötzlich an wie der Griff der winzigen Hand – vorhin, dort oben im Zimmer – des Kindes, das sein Sohn war -, und eine wilde Furcht, es könne ihm entrissen werden, überfiel Holden.

»Schlag zu!« rief Pir Khan. »Noch nie ist Leben in die Welt gekommen, es sei denn Leben dafür gegeben worden. Da: die Ziegen erheben ihre Köpfe! Jetzt! Und beim Schlag die Klinge ziehen!«

Holden begriff kaum, was er tat, als er zweimal zuschlug und dabei das mohammedanische Gebet hermurmelte, das da lautet: »Allmächtiger! An Statt meines Sohnes bring ich dir dar: Leben für Leben, Blut für Blut, Haupt für Haupt, Bein für Bein, Haar für Haar, Haut für Haut.« Das Pferd draußen schnaubte und bäumte sich am Halfter beim Geruch des rauchenden Blutes, das Holdens Reitstiefel von oben bis unten bespritzt hatte.

»Gut getroffen«, lobte Pir Khan und wischte die Klinge ab. »Ein Mann des Schwertes ist an dir verlorengegangen. Ziehe hin mit befreitem Gemüt, Himmelsentsprossener. Ich bin dein Diener und der Diener deines Sohnes. Möget ihr leben tausend Jahr und – gehört das ganze Fleisch der Ziegen mir?« Pir Khan zog sich zurück, um einen Monatslohn reicher. Holden schwang sich in den Sattel und ritt dahin durch den Holzrauch des Abends. Ein schwärmerisches Frohlocken erfüllte ihn, gemischt mit einer vagen Zärtlichkeit, die zwar niemand galt, ihn aber fast jauchzen machte, wie er sich so über den Hals seines aufgeregten Pferdes beugte. »Niemals im Leben habe ich ähnliches gefühlt«, dachte er bei sich, »ich werde in den Klub gehen und ausgelassen sein.«

Man hatte sich soeben zum Billardspiel begeben, und das Zimmer war voll Herren. Holden trat ein, um endlich helles Licht zu sehen und Freunde, und sang aus vollem Halse:

»In Baltimore am Korso – eine Lady traf ich dort!«

»So? Haben Sie das?« sagte der Sekretär des Klubs aus seiner Rauchecke heraus. »Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, daß Ihre Stiefel patschnaß sind? Meine Güte, Mensch! Es ist ja Blut!«

»Ach was!« sagte Holden und nahm sein Queue vom Ständer, »darf man mitspielen? Tau ist’s. Ich bin durch hohes Gras geritten. Oder meinetwegen: wahrscheinlich haben meine Stiefel Blutwurst zu Mittag gegessen.« Er trällerte:

»Ist’s ein Mädel, kriegt’s nen Trauring;
Wird’s ein Bub, wird er Soldat,
Oder geht auf Deck spazieren
Als Matrose oder Maat –«

»Gelb auf Blau, Grün kommt dran«, sagte der Markeur mit monotoner Stimme.

»Geht auf Deck spazieren. – So? Ich habe Grün? – Als Matrose oder – pfui Teufel, ein Gickser – als Matrose oder Maat.«

»Sie haben, weiß Gott, keinen Grund, zu krächzen«, meinte ein junger Streber von Zivilbeamten giftig, »die Regierung soll nicht besonders erbaut gewesen sein von Ihrer Tätigkeit bei Sanders drüben!«

»Oh! Eine Nase aus dem Hauptquartier?« sagte Holden mit einem geistesabwesenden Lächeln, »nun, ich werde mich zu trösten wissen.«

Das Gespräch wurde allgemein; es drehte sich immer um dasselbe Thema: Beruf und Amt, und hielt Holden fest, bis es Zeit zum Aufbruch wurde. Dann ging er in seinen dunkeln, leeren Junggesellen-Bungalow, wo ihn sein Diener mit dem Gesicht eines Menschen empfing, der alles weiß. Holden blieb fast die ganze Nacht wach und baute Luftschlösser.

II

>

»Wie alt ist er jetzt?«

»Ya illah! So kann auch nur ein Mann fragen! Rund sechs Wochen ist er alt, und heut nacht noch gehe ich aufs Dach hinauf mit dir, mein Leben, um die Sterne zu zählen, denn das bringt Glück. Er ist an einem Freitag geboren und im Zeichen der Sonne. Man hat mir gesagt, er wird uns beide überleben und zu großem Reichtum gelangen. Können wir uns Besseres wünschen, Geliebter?«

»Nein, etwas Besseres gibt es nicht! Komm, gehen wir auf das Dach hinauf, und du sollst die Sterne zählen. Aber viel werden es nicht sein: der Himmel ist voller Wolken.«

»Die Winterregen sind heuer spät dran, fast schon nach der Saison. Also komm, ehe die Sterne ganz verschwinden! Ich habe meine besten Juwelen angelegt.«

»Das Beste von allem hast du aber vergessen!«

»Ai! Richtig! Unser Juwel! Er kommt mit. Er hat noch nie den Himmel gesehen.«

Ameera klomm die schmale Leiter hinauf, die empor zum flachen Dache führte, und in ihrem Arm lag, still und mit weit offenen Augen, das Kind, eingehüllt in silberdurchwirkten Musselin, auf dem Köpfchen eine kleine Haube. Ameera trug allen Schmuck, den sie besaß: den diamantenen Nasenknopf, der wie das europäische Schönheitspflästerchen den Zweck hat, die feine Schweifung der Nüstern zu betonen, den goldenen Zierat mitten auf der Stirn, besetzt mit Smaragd- und Rubintropfen, die schwere Halskette aus gehämmertem Gold, die sich weich an ihren Nacken schmiegte, und die klirrenden, getriebenen Silberreifen um die zarten, schlanken Fußknöchel. Sie war gekleidet in jadegrünen Musselin, wie es sich geziemt für eine Tochter aus dem Stamme der Gläubigen. Von Schulter zu Ellbogen und vom Ellbogen zum Gelenk liefen Braceletts aus Florettseide, mit Silberfäden durchzogen, und zarte Glasarmbänder fielen auf die Hand herab, um ihre Schmäle zu zeigen. Dazwischen schwere goldene Armreifen, die zwar keine Ornamente nach dem Geschmack der Asiaten zeigten, aber ein Geschenk Holdens waren und – versehen mit schönen europäischen Schlössern – Ameeras besondere Freude bildeten.

Sie setzten sich beide auf das weiße, niedrige Ruhebett auf dem Dache und blickten hinab auf die Stadt mit den vielen Lichtern.

»Sicher sind sie glücklich, die da unten«, sagte Ameera, »aber so glücklich wie wir können sie nicht sein. Ich glaube auch nicht, daß die weißen mem-log glücklich sind. Was, meinst du?«

»Sie sind es gewiß nicht.«

»Woher weißt du das?«

»Sie überlassen ihre Kinder den Ammen.«

»Ich habe das noch nie gesehen«, sagte Ameera mit einem tiefen Seufzer, »ich möchte es auch nie sehen. Ahi!« Sie ließ ihren Kopf auf Holdens Schulter sinken, »ich habe vierzig Sterne gezählt und bin so müde jetzt. Schau: das Kind! Es zählt auch, du Licht meines Lebens!«

Mit runden Augen starrte das Baby in die Dunkelheit des Firmamentes hinein. Ameera legte es Holden in den Arm; es blieb dort ruhig liegen, ohne zu schreien, oder zu weinen.

»Wie werden wir ihn nennen?« fragte sie. »Schau ihn an! Könntest du jemals müde werden, ihn anzusehen?! Er hat ganz deine Augen. Nur der Mund -«

»Ist von dir, Liebling. Wer wüßte das besser als ich?«

»So ein kleines Mündchen! Und doch hält es mein Herz zwischen den Lippen. Gib ihn mir wieder jetzt! So lange schon hab ich ihn nicht gehabt.«

»Nein, laß ihn noch; er hat noch nicht angefangen zu weinen.«

»Freilich, wenn er weint, dann gibst du ihn zurück – eh? Was ihr Männer doch für ein Volk seid! Je mehr er schreit, desto lieber hab ich ihn. Also: mein Leben, wie sollen wir ihn nennen?«

Hilflos und fest angeschmiegt lag der kleine Körper an seines Vaters Herzen; Holden wagte kaum zu atmen, um ihm nicht wehe zu tun. Der grüne Papagei im Käfig – der gute Geist des Hauses nach der Meinung der Eingeborenen – bewegte sich auf der Stange und schüttelte schlaftrunken sein Gefieder.

»Da haben wir die Antwort«, rief Holden. »Mian Mittu hat gesprochen! Mian Mittu, so heißt doch der Papagei in deiner – in der Sprache der Moslim – nicht wahr? – So soll auch der Namen des Kleinen sein! Wenn er soweit ist, wird er schwätzen und herumlaufen wie ein Papagei.«

»Und mich fragst du gar nicht?« schmollte Ameera. »Wählen wir doch einen Namen, der englisch klingt, wenn auch nicht ganz. Ich bin ja seine Mutter!«

»Dann nenn ihn Tota; das klingt noch am meisten englisch.«

»Ay, Tota, und das heißt fast soviel wie: Papagei! Verzeih mir, mein Herr und Gebieter, das, was ich soeben vor einer Sekunde gesagt habe, aber ich dachte, er ist noch viel zu klein, um ein so schweres Gewicht wie den Namen Mian Mittu tragen zu können. Ja: Tota soll es sein – unser Tota soll er sein! Hörst du mich, Kleines? Kindchen, du bist der Tota!« Sie drückte seine Wange an die ihrige, und das Baby erwachte und begann zu weinen; die Mutter nahm es in ihren Arm, wiegte es und sang den schönen Kinderreim, der da heißt: »Are koko, Jare kokó – – –

Krähe du! Fort mit dir, Krähe du! Baby schläft gesund.
Wilde Pflaumen wachsen im Busch, nur ein Penny das Pfund,
Nur ein Penny das Pfund, husch, husch – nur ein Penny das Pfund.«

Vielemal versichert, daß Zwetschgen so überaus billig seien, kuschelte sich Tota in Schlaf. Die beiden sanften weißen Ochsen beim Brunnen wiederkäuten rastlos ihre Abendmahlzeit und der alte Pir Khan kauerte zu Häupten des Pferdes seines Herrn, seinen Polizeisäbel auf den Knien und schlaftrunken an seiner Wasserpfeife saugend, die schnurgelte und quakte wie ein Riesenfrosch im Sumpf. Das schwere Holztor war verriegelt, und Ameeras Mutter spann unten in der Veranda. Die Musik eines Hochzeitszuges tönte aus dem Summen der Stadt bis herauf auf das Dach und ein paar fliegende Hunde huschten über das schimmernde Antlitz des Mondes.

»Ich habe gebetet«, sagte Ameera nach einer langen stillen Pause, »ich habe um zwei Dinge gebetet: zuerst, daß ich an deiner Statt sterben möge, wenn dich der Tod ruft – und daß man mich von der Erde nähme an Stelle des Kindes. Ich habe zum Propheten gebetet und zu Bibi Mirjam, der Jungfrau. Glaubst du, sie haben meine Bitte gehört?«

»Wer würde von deinen Lippen nicht auch das leiseste Wort hören?!«

»Ich habe dich um ein kaltes, klares Wort gebeten, statt dessen antwortest du mir lieb und sanft. Wird mein Gebet erhört werden?«

»Wie kann ich das wissen! Gott ist allgütig.«

»Dessen bin ich nicht so sicher! Hör mich an: wenn ich stürbe, oder das Kind stirbt, was wird dann dein Schicksal sein? Lebst du, dann wirst du zurückkehren zu den frechen, weißen mem-log, denn Art schreit nach Art.«

»Nicht immer.«

»Bei einer Frau, nein; aber bei Männern ist es anders. Du wirst in deinem Leben – später – zurückkehren zu deinem Volk. Ich werde es tragen können, denn dann bin ich nicht mehr. Aber wenn du stirbst, dann gehst du fort in ein mir fremdes Land und in ein Paradies, das ich nicht kenne.«

»Ob es wohl das Paradies sein wird?«

»Sicher, denn wer könnte dir Böses wünschen? Aber wir zwei – ich und das Kind – werden anderswo sein, und nicht zu dir kommen können – so wenig, wie du zu uns kommen kannst. In früheren Tagen, bevor das Kind geboren wurde, habe ich an solche Dinge nie gedacht; aber jetzt verläßt mich der Gedanke nicht. Es liegt mir schwer auf dem Herzen.«

»Es wird kommen, wie es bestimmt ist. Das ›Morgen‹ kennen wir nicht, aber das ›Heute‹ und die Liebe, die kennen wir. Und heute sind wir glücklich.«

»So glücklich, daß es gut wäre, wir schmiedeten unser Glück für immer fest. Deine Bibi Mirjam wird meine Bitte hören, denn sie ist ein Weib wie ich, aber sie wird mich beneiden! Es soll nicht sein, daß ein Mann ein Weib anbetet.«

Holden lachte laut auf bei diesem seltsamen Eifersuchtsausbruch Ameeras.

»Du glaubst, es ist nicht recht? Warum erlaubst du mir dann, daß ich dich anbete, Arneera?«

»Du? Mich anbeten? Du mein König: trotz deiner süßen, lieben Worte weiß ich doch immer, daß ich nur deine Sklavin bin und Staub zu deinen Füßen. Ich möchte auch nicht, daß es je anders sei. Schau!«

Und ehe Holden sie daran hindern konnte, beugte sie sich vor und berührte seine Füße – stand dann leise lachend auf und drückte Tota an die Brust. Dann fuhr sie fort, fast wild:

»Ist es wahr, daß die frechen weißen mem-log dreimal länger leben als wir anderen Frauen? Ist es wahr, daß sie nicht früher heiraten, als bis sie alte Weiber geworden sind?«

»Sie heiraten, wie andere auch, wenn sie erwachsene Frauen geworden sind.«

»Das weiß ich, aber sie sollen sich mit fünfundzwanzig Jahren vermählen. Ist das wahr!«

»Ja, das ist wahr.«

»Ya illah! Mit fünfundzwanzig! Wer heiratet freiwillig ein Weib, wenn es schon achtzehn ist? Ein Weib – es altert doch von Stunde zu Stunde! Fünfundzwanzig! Ich werde in dem Alter eine alte Frau sein – und diese mem-log bleiben ewig jung. Oh, wie ich sie hasse!« »Was hat das mit uns zu tun?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur: heute schon kann das Weib auf Erden leben, das zehn Jahre älter ist als ich und zu dir kommen wird und mir deine Liebe rauben, wenn ich eine grauhaarige Greisin sein werde und die Dienerin Totas. Das ist ungerecht und schlimm. Oh, wenn sie doch stürbe.«

»Nun, trotz deiner Jahre bist du doch noch ein Kind, das man nehmen und die Leiter hinuntertragen muß.«

»Tota! Gib acht auf Tota, mein Herr und Gebieter! Du bist wirklich noch so närrisch wie ein Baby!« Und Ameera barg sorgsam Tota an ihrer Brust, damit ihm nichts geschehe, und wurde lachend von Holden auf den Armen hinuntergetragen, wobei das Kindchen, die Augen weit offen, lächelte, wie Engel lächeln.

Es war ein stilles Kind, und ehe Holden noch richtig begriffen hatte, daß es wirklich und wahrhaftig auf der Welt war, hatte es sich bereits in einen kleinen goldfarbenen Gott verwandelt und sich zum unbestrittenen Despoten in dem Hause, das da hinab sah auf die Stadt, aufgeschwungen. Es waren Monate ungetrübten Glückes für Ameera und Holden – des Glückes in einer Welt, die abgeschlossen war durch das Holztor und bewacht wurde von Pir Khan. Tagsüber erfüllte Holden seine Amtspflichten, tiefes Bedauern für alle im Herzen, die nicht so glücklich waren wie er, und voll Sympathie für kleine Kinder, die auf den engen Spielplätzen ihre Mütter in Entzücken und Staunen versetzten. Brach der Abend an, kehrte er zu Ameera zurück, die immer von neuen Wundertaten Totas zu berichten wußte: wie er bereits zielbewußt die Finger zu bewegen verstünde – was offenbar ein Mirakel bedeutete – und später, daß er aus eigenem Antrieb sein niedriges Bettchen verlassen habe und auf dem Boden herumgekrochen sei – einmal sogar drei Atemzüge lang aufrecht auf zwei Beinen.

»Und es waren sogar lange Atemzüge«, erklärte Ameera; »ich weiß es bestimmt, denn mir stand, das Herz still vor Wonne.«

Später nahm Tota das Getier des Hauses in Augenschein: die Brunnenochsen, die kleinen grauen Eichhörnchen, die Schnattergans, die in einem nassen Loch beim Brunnen wohnte, und insbesondere Mian Mittu, den Papagei, der immer furchtbar schrie, wenn ihn der Kleine bei den Schwanzfedern zauste – bis Ameera oder Holden zu Hilfe eilten.

»Du Bösewicht! Du gewalttätiges Kind!« pflegte Ameera bei solchen Gelegenheiten zu schelten. »So etwas deinem Bruder oben auf dem Hausdach?! Tobah, Tobah! Pfui! Pfui! Aber wart, ich weiß einen Zauberspruch, der macht dich weise wie Suleiman und Aflatoun. Da schau« – und sie reichte dem Kind eine Handvoll Mandeln hin – »schau! Wir zählen jetzt bis sieben. Im Namen Gottes!«

Dabei hebt sie den wütenden und schlimm zerzausten Papagei auf seinen Käfig hinauf, setzt sich zwischen ihn und das Kind, knackt und schält eine Mandel und hält sie mit ihren weißen Zähnen fest: »Lach nicht, mein Leben, es ist ein wirklicher Zauber. Schau, ich gebe Mian Mittu die eine Hälfte und Tota die andere!« Behutsam holte sich der Vogel mit dem Schnabel seinen Teil, und die andere Hälfte küßte sie in den Mund des Kindchens hinein, das langsam die Mandel aß mit verwunderten Augen. »Das werden wir sieben Tage hindurch tun; dann wird unser kleiner Sohn ein kühner Redner und ein Weiser werden. Sag, Tota, was wird sein, bis du ein Mann bist und ich eine alte grauhaarige Frau?« Tota verschlang seine fetten Beinchen als Antwort zu den erstaunlichsten Verknotungen. Kriechen? Ja, das ging noch an, aber seine Jugend mit eitlen Gesprächen verbringen? Nein! Wonach es ihn gelüstete, war: Mian Mittu wieder in den Schweif zu zwicken.

Als er soweit war, die Würde eines kleinen silbernen Halsbandes schätzen zu können, das ihm, mit einem magischen Plättchen versehen, umhing als größter Teil seiner Bekleidung, kletterte er nach langer gefahrvoller Reise hinab in den Garten zu Pir Khan und bot ihm seinen ganzen Schmuck dar, – denn er hatte einst die Großmutter belauscht, wie sie mit Hausierern schacherte – für einen Ritt auf Holdens Pferd. Pir Khan vergoß Tränen und setzte zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit die kleinen ungeübten Füßchen auf sein graues Haupt; dann trug er den Abenteurer in die Arme der Mutter zurück und schwur, Tota würde, noch ehe ihm ein Bart wüchse, ein Führer der Menschheit werden.

An einem heißen Abend, als Tota zwischen Vater und Mutter auf dem Dache saß und beobachtete, wie die Gassenjungen Papierdrachen steigen ließen, verlangte er plötzlich, selbst ein solches Ding zu besitzen, das aber Pir Khan steigen lassen müsse – denn er selbst fühlte sich Sachen gegenüber, die größer waren als er selbst, nicht recht geheuer. Als Holden dazu lachte und meinte: er sei doch noch ein »winziges Fünkchen«, stellte er sich auf die Füße und verteidigte seine kürzlich erst erworbene Individualität mit den gravitätischen Worten: »Hum park nahin hai. Hum admi hai.«[Ich bin kein Fünkchen; ich bin ein Mann]

Dieser Ausspruch erschreckte Holden förmlich und zwang ihn direkt, über Totas Zukunft nachzudenken. Die Gedanken wollten nicht mehr aus seinem Kopf: dieses Leben ist fast zu schön, als daß es ewig dauern könnte! – Und bald zerschellte auch das Glück, wie so vieles einem entrissen wird in Indien – plötzlich, wie durch einen Blitz aus heiterm Himmel. Der kleine Herr des Hauses, wie ihn Pir Khan zu nennen pflegte, wurde eines Tages traurig und klagte über Schmerzen, deren Ursache nicht zu ermitteln war. Ameera, außer sich vor Entsetzen, wachte die ganze Nacht bei ihm, aber in der Dämmerung des zweiten Tages schüttelte das Fieber – das gefürchtete Herbstfieber – das Leben aus dem kleinen Körper. Es kam so plötzlich, und es war so unwahrscheinlich, Tota könne sterben, daß weder Ameera noch Holden ihren Augen trauten, auf dem Bettchen läge eine kleine Leiche. Dann schlug Ameera den Kopf gegen die Mauer und hätte sich in den Brunnen gestürzt, wenn nicht Holden sie mit aller Kraft davon abgehalten hätte.

Nur eine Gunst gewährte ihm das Schicksal: als er im Sonnenschein ins Amt geritten war, fand er eine schwere Postarbeit vor, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Aber er hatte für diese Gnade der Götter nur ein totes Herz.

III

Wird ein Mensch von einer Kugel getroffen, so fühlt er zuerst nur einen starken Schlag; zehn bis fünfzehn Sekunden vergehen, ehe der Körper die Verstümmelung der Seele meldet. Auch Holden wurde seines Schmerzes nur allmählich gewahr – so, wie er sich einst auch nur langsam seines Glückes bewußt geworden. Zuerst hatte er nur die Empfindung eines erlittenen Verlustes und fühlte, daß Ameera des Trostes bedurfte, wie sie so dasaß, den Kopf auf den Knien, und jedesmal zusammenschauderte, wenn Mian Mittu auf dem Dach oben rief: »Tota! Tota! Tota!« Später aber war es, als stünde die ganze Welt und das tägliche Leben selbst gegen ihn auf, um ihn zu verwunden. Klang es nicht fast wie Hohn, daß am Abend die Knaben draußen jubelten und tobten, wo doch sein eigenes Kind gestorben war! Es peitschte ihn fort, wenn ihn ein Junge ansprach und ihm erzählen wollte, wie sich sein Vater gefreut habe über diese oder jene kleine kindliche Tat. Er mußte seinen Schmerz herunterwürgen, hatte er doch nirgends Sympathien, nirgends Trost oder Zuspruch; Ameera selbst, wenn er müde heim kam von der Arbeit, trieb ihn durch die Hölle der Selbstvorwürfe: vielleicht hätte ein wenig mehr Sorgfalt dem Kinde das Leben gerettet – nur ein ganz klein wenig mehr Umsicht, wie es Eltern zu tun pflegen, denen ein Kind entrissen worden.

»Vielleicht«, so sagte Ameera immer und immer, »habe ich nicht auf alles geachtet. Meinst du nicht auch? Damals, als er so lang auf dem Dach gespielt hat, schien die Sonne so heiß, – und – ich habe mir das Haar geflochten! Ahi! Vielleicht hat die Sonne das Fieber in ihm ausgebrütet. Hätte ich ihn vor ihr gewarnt, er wäre jetzt noch am Leben. Oh, sag mir doch, daß ich schuldlos bin! Du weißt, ich habe ihn geliebt, wie ich dich liebe. Sag, daß keine Schuld auf mir ruht, oder ich muß sterben – ich muß sterben!«

»Du hast keine Schuld, bei Gott, – keine. Es hat im Buche des Schicksals geschrieben gestanden; was hätten wir da tun können, ihn zu retten? Was geschehen ist, ist geschehen. Laß Vergangenheit Vergangenheit sein.«

»Für mich war er mein ganzes Herz. Wie kann ich den Gedanken verscheuchen, wo doch die lange Nacht hindurch mein Arm mich beständig mahnt: wo ist er? Ahi! Ahi! Oh, Tota, komm zurück zu mir – zurück zu mir, damit alles wieder so ist, wie es war!«

»Still! Still! Um deinetwillen – und – auch um meinetwillen: schweig!«

»Daran sehe ich, daß du nicht Kummer im Herzen trägst; und wie könnte es auch sein? Die weißen Männer haben steinerne Herzen und Seelen aus Eisen. Oh, hätte ich doch einen Mann aus meinem Stamme geheiratet – ich weiß, er hätte mich geschlagen, aber ich hätte nie das Brot eines Fremden gegessen!«

»Ich, ein Fremder? Der Mutter meines Sohnes?«

»Was sonst, Sahib? Oh, verzeih mir – verzeih mir! Der Tod hat mich wahnsinnig gemacht. Du, du bist das Leben meines Herzens und das Licht meiner Augen und der Atem meines Lebens, und – und ich hab dich von mir gestoßen, wenn auch nur einen Augenblick. Wenn du von mir gehst, bei wem soll ich Hilfe suchen? Sei nicht zornig! Wirklich, es war nur der Schmerz, der aus mir gesprochen hat, und nicht ich, deine Sklavin.«

»Ich weiß, ich weiß. Wir sind zwei – und sind drei gewesen. Um so größer die Notwendigkeit, daß wir jetzt eins sein sollen.«

Sie saßen beisammen auf dem Dach des Hauses nach alter Gewohnheit. Es war eine warme Vorfrühlingsnacht und Blitze tanzten am Horizont zum Trommelton des fernen Donners. Ameera hatte sich in Holdens Arm geschmiegt.

»Die trockene Erde lechzt wie eine verdurstende Kuh nach Wasser und – und ich fürchte mich. Ist’s nicht wie damals, als wir die Sterne zählten? Aber liebst du mich noch wie früher, als – als das Band uns noch zusammenhielt? Sag!«

»Ich liebe dich noch mehr, denn der Schmerz, den wir beide aus dem Becher des Leides schlürfen mußten, hat ein neues Band geschaffen; das weißt du.«

»Ja, ich weiß«, flüsterte Ameera, »aber es ist so gut, es immer wieder aus deinem Mund zu hören, mein Leben. Du bist so stark. Aber auch ich will kein Kind mehr sein und dir helfen! Gib mir meine Sitar und ich will tapfer sein und singen.«

Und sie nahm die leichte silberbeschlagene Sitar und be gann ein Lied zu singen von dem großen Helden Radscha Rasalu; doch bald irrten ihre Finger über die Saiten – ein tiefer Akkord, und das arme, kleine Ammenliedchen von der bösen Krähe erklang:

»Und wilde Pflaumen wachsen im Busch, nur ein Penny das Pfund,
Nur ein Penny das Pfund, husch, husch, – nur ein Penny das Pfund.«

Dann ein Tränenstrom und herzzerbrechende Anklagen gegen das Schicksal, bis sie in Schlaf sank, im Traum noch schluchzend und den Arm gebeugt, als behüte sie etwas, das nicht da war. Seit jener Nacht wurde das Leben leichter für Holden. Die ewige Gegenwart des Schmerzes um den erlittenen Verlust trieb ihn zur Arbeit, und die Arbeit lohnte es ihm, indem sie sein Gemüt für neun oder zehn Stunden täglich gefangennahm. Unterdessen saß Ameera allein zu Hause und brütete vor sich hin; aber allmählich fühlte sie sich glücklicher, da sie sah, daß es Holden besser ging, – wie es so Frauenart ist. Wiederum kosteten sie das Glück, aber diesmal behutsamer:

»Tota mußte sterben, weil wir ihn so lieb hatten; die Eifersucht Gottes lastete auf uns«, sagte sie. »Ich habe einen großen, schwarzen Krug vors Fenster gestellt, um den bösen Blick von uns abzuwenden; und wir dürfen unser Entzücken nicht merken lassen, sondern ganz still unter den Sternen dahinwandeln, sonst findet uns Gott. Hab ich nicht recht, du – Elender?« – sie sagte: »Elender« statt »Geliebter«, um ihrer Theorie Ausdruck zu geben, man solle sein Glück verstecken. Aber der Kuß, den sie gleich darauf Holden gab, war so heiß, daß er wohl den Neid jeder Gottheit erregt hätte. In Hinkunft beschränkten sie sich darauf, bei jeder Gelegenheit zu sagen: »Es ist nichts, gar nichts« – hoffend, daß die Hohen Mächte es hören würden.

Aber die Hohen Mächte waren anderweitig beschäftigt. Sie hatten einem Dreißig-Millionen-Volk vier Jahre Wohlstand geschenkt: die Menschen gediehen und nahmen an Rundung sichtlich zu; die Ernte kam gut herein, die Geburtsziffern stiegen von Jahr zu Jahr und die Ackerbauberichte erhöhten sich von der Zahl neunhundert auf zweitau send pro Quadratmeile bepflanzten Bodens. Der Abgeordnete von Klein-Tooting durchwanderte Indien in Zylinder und Gehrock, schwätzte ein langes und breites über die Wohltat der englischen Regierungsmaßnahmen, schlug, als dringend wichtig, eine allgemeine Wahlreform vor und eine Generalbeschenkung der Gerechtsamen. Seine leidensgewohnten Gastgeber lächelten dazu und hießen ihn willkommen und, wenn er gelegentlich eine Pause in seinem Geschwätz eintreten ließ, um auf irgendeinen frühzeitig in Blüte stehenden Dhak-Baum als auf ein günstiges Vorzeichen kommender froher Begebnisse hinzuweisen, lächelten sie noch mehr.

Der Distriktskommissar von Kot-Kumharsen war es, der anläßlich eines Tagesaufenthaltes im Klub eine Nachricht brachte, die Holden derart das Blut in den Adern erstarren machte, daß er das Ende der Erzählung nicht mehr verstand. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie Satz sich an Satz reihte, bisweilen unterbrochen von Fragen der Zuhörer:

»- und da war Schluß mit dem Gequassel. Hab noch nie einen Menschen so erstaunt gesehen. Bei Gott, ich glaubte schon, er wolle eine Frage an ein leeres Parlament stellen. Mitpassagier auf seinem Schiff gewesen – schwätzte was über Cholera – dann war er tot in achtzehn Stunden – jawohl. Da gibt’s nichts zu lachen, meine Herren. Der Abgeordnete von Klein-Tooting rast – besser gesagt: das Herz hat er in den Hosen – gedenkt, seine werte Person aus Indien fluchtartig zu entfernen.«

»Ich möchte es mich etwas kosten lassen, wenn ihn der Teufel holte. Würde gern ein paar Küster seines Gelichters auf ihr eigenes Kirchspielbegräbnis schicken. Aber was ist’s mit der Cholera? Man hört da neuerdings wieder allerhand Gerüchte«, sagte der Vorstand einer dividendenlosen Salzlecke.

»Weiß nichts Genaues«, entgegnete der Deputatskommissar nachdenklich. »Es schwirrt durch die Luft wie Heuschrecken. Sporadisches Auftreten der Cholera oben im Norden – wir nennen’s nämlich ›sporadisch‹ des Anstands halber. Die Frühlingssaat steht niedrig in fünf Distrikten, und die Leute haben schon fast vergessen, wie Regen aussieht. Dabei ist beinahe März. Ich will niemand verknobeln, aber mir scheint, die Natur wird heuer den Rotstift zur Hand nehmen. Noch im Sommer.«

»Natürlich, gerade jetzt, wo ich mir Urlaub zu nehmen gedenke!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Viel Urlaub wird’s dies Jahr nicht geben, wohl aber desto mehr Avancement! Ich bin hergereist, um der Regierung nahezulegen, daß mein Bewässerungskanalprojekt auf die Liste der Hungersnotstandsarbeiten gesetzt wird. Es weht ein böser Wind, der nichts Gutes verheißt. Der Kanal muß endlich fertig werden.«

»Immer das gleiche, alte Programm also«, sagte Holden, »Hungersnot, Fieber, Cholera?«

»Ach nein. Nur die übliche Schlamperei und ein besonders zahlreiches Auftreten der Saisonkrankheiten. Sie werden es nächstes Jahr in den Statistiken lesen, wenn Sie noch am Leben sind! Aber was denn Sie! Sie sind ein glücklicher Bursche: Sie haben kein Weib daheim, dessentwegen Sie sich sorgen müßten. Die Bergstationen werden heuer voll von Frauen sein!«

»Ich glaube, Sie übertreiben ein wenig das Bazargeschwätz«, fiel ein junger Zivilbeamter des Sekretariats ein. »Ich habe beobachtet -«

»So? Sie haben?« unterbrach der Kommissar. »Sie werden sehr bald noch viel mehr zu beobachten haben, mein Sohn. Inzwischen möchte ich Ihnen aber -« und er nahm den jungen Herrn beiseite, um mit ihm über das Kanalprojekt zu diskutieren, das ihm so am Herzen lag. Holden ging in seinen Junggesellen-Bungalow und es kam ihm mit aller Deutlichkeit zu Bewußtsein, daß er nicht allein auf der Welt war und der Furcht um ein anderes Wesen preisgegeben – die einzige Furcht des Menschen, die seiner Seele nützt.

Zwei Monate später traf ein, was der Kommissar vorausgesagt hatte: die Natur nahm den »Rotstift« zur Hand. Der Frühlingsmißernte auf dem Fuß folgte der Schrei nach Brot, und, da die Regierung beschlossen hatte, niemand dürfe an Mangel sterben, schickte sie Weizen. Aber da kam die Cholera aus allen vier Richtungen der Windrose. Im Nu war eine halbe Million Menschen auf den Beinen und pilgerte zu irgendeinem heiligen Schrein. Viele starben zu den Füßen ihres Gottes; andere packte es »nur« und sie eilten durch das Land, die Pestilenz mit sich herumschleppend und von Dorf zu Dorf tragend. Das Volk belagerte die Eisenbahnzüge, hing auf den Trittbrettern und quetschte sich auf den Dächern der Waggons, aber – die Cholera folgte ihnen: auf jeder Station lud man Tote und Sterbende aus. Sie starben am Wegesrand und die Pferde der Engländer scheuten vor den Leichen im Gras. Kein Tropfen Regen wollte fallen und die Erde verwandelte sich in Eisen, damit die Menschen dem Tod nicht entrannen, indem sie sich eingruben. Die Engländer schickten ihre Frauen in die Berge und gingen an ihre gewohnte Arbeit, einander ersetzend, wenn der Vordermann erledigt war. Holden, fast krank vor Furcht, er könne sein Liebstes auf Erden verlieren, tat sein Bestes, Ameera zu überreden, mit ihrer Mutter ins Himalajagebiet zu fliehen.

»Warum soll ich gehen?« fragte sie, als sie eines Abends wieder auf dem Dach saßen.

»Überall wütet die Krankheit und das Volk stirbt dahin. Alle weißen mem-log sind bereits fort.«

»Alle?«

»Alle – höchstens ist noch hie und da ein Dickschädel zurückgeblieben und macht dem Gatten das Herz schwer, indem sie sich der Todesgefahr aussetzt.«

»Oh, die dableibt, die ist meine Schwester, und du darfst sie nicht beschimpfen, denn ich will auch so ein Dickschädel sein. Ich bin froh, daß die Frechen der weißen mem-log alle fortgegangen sind.«

»Spreche ich mit einer Frau, oder mit einem Kind? Geh in die Berge und ich werde dafür sorgen, daß du wie eine Königstochter reist. Denk nur, Kind: in einem rotlackierten Ochsengefährt, verschleiert und hinter Vorhängen, Messingpfauen auf dem Verdeck und rote Tuchbehänge! Zwei Ordonnanzen gebe ich dir mit zum Schutz, und -«

»Still! Jetzt sprichst du wie ein Kind! Was soll mir dieser Tand? Tota hätte die Ochsen getätschelt und mit dem Zierat gespielt – vielleicht seinetwegen hätte ich mich zur Engländerin machen lassen und wäre gereist. Aber so? Ich will nicht. Sollen die mem-log davonlaufen!«

»Aber ihre Gatten schicken sie doch fort, Geliebte!«

»Eine treffliche Ausrede. Seit wann bist du mein Gatte gewesen, um mir zu sagen, was ich tun soll? Ich habe dir lediglich einen Sohn geboren. Du allein bist das Um-und-Auf meiner Seele. Wie könnte ich abreisen mit der Furcht im Herzen: was, wenn dich ein Unheil befällt? Und wenn es auch nur gering wäre wie der Nagel meines kleinen Fingers – und der ist doch gewiß klein, nicht wahr? – ich würde es merken, und wäre ich selbst im Paradies! Und wenn ich denke, du könntest hier sterben im Sommer – ai, jani, – sterben! Ans Sterbebett würden sie dir ein weißes Weib schicken! Sie würde mir deine Liebe rauben!«

»Liebe entsteht nicht in einem Augenblick und auch nicht auf dem Totenbett.«

»Was verstehst du von Liebe, du steinernes Herz? Sie würde deinen Dank mit sich nehmen, und das, bei Gott und dem Propheten und bei Bibi Mirjam, der Mutter des Propheten, – das könnte ich nicht ertragen. Mein Herr und Geliebter, sprich nicht mehr so närrisch zu mir von Weggehen! Wo du bist, da bin auch ich. Es ist genug.« Und sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und verschloß ihm den Mund mit der Hand.

Kein Glück ist so überwältigend, wie das unter dem Damoklesschwert! Sie saßen beisammen und lachten – gaben einander Kosenamen, offen und ohne Scheu vor der Eifersucht der Götter. Unten die Stadt wand sich in Qual und Angst; Schwefelfeuer schwelten in den Straßen, die Tritonmuscheln in den Hindutempeln heulten und bellten, denn die Götter waren unaufmerksam in jenen Tagen. Ein Gottesdienst wurde abgehalten vor dem großen mohammedanischen Heiligenschrein, und unaufhörlich tönten die Gebete von den Minaretten. Aus den Häusern erscholl Totenklage und da und dort der Schrei einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte und verzweiflungsvoll jammerte, es möge wieder zum Leben erwachen. Sie sahen, wie man die Leichen hinaustrug durch die Stadt, ein kleines klagendes Gefolge hinterdrein, sahen es, küßten sich und schauderten.

Der Tod hielt eine furchtbare Ernte, denn das Land war krank und brauchte eine Atempause, ehe das ärmliche Leben wieder anfangen konnte, auch nur schwach zu pulsieren. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten der Epidemie gar keinen Widerstand; es überfiel sie und sie saßen still, bis das Schwert des Novembers sie hinraffte, wenn das Schicksal es wollte. Auch in die Reihen der Engländer wurden Breschen gerissen, aber immer wieder von neuen Menschen ausgefüllt. Die Hungersnotbehörde trat in Tätigkeit, Cholerabaracken erstanden, Medizinen wurden verteilt, – kurz alle die kleinen, fast wirkungslosen Sanitätsmaßnahmen wurden getroffen, die die Regierung befohlen hatte.

Holden mußte sich bereit halten, jeden Augenblick seinen Vormann zu ersetzen, falls dieser weggerafft werden sollte. Oft vergingen zwölf Tagesstunden, ehe er Ameera wiedersehen durfte, – sie konnte inzwischen gestorben sein! Er malte sich den namenlosen Schmerz aus, wenn ihn das Los träfe, drei Monate fern von ihr sein zu müssen; oder wenn sie stürbe in seiner Abwesenheit. So gewiß wußte er in seinem Innern, daß sie ihm entrissen werden würde, so unfehlbar gewiß, daß er nur krampfhaft auflachte, als eines Tages Pir Khan atemlos vor ihm stand im Torweg. »Und?« fragte er kurz —

»Wenn in der Nacht sich ein Schrei aus der Brust ringt und der Geist die Kehle drosselt, wer hätte da noch einen helfenden Zauberspruch? Komm schnell, Hirnmelsentsprossener! Es ist die schwarze Cholera.«

Holden raste auf seinem Pferd in gestrecktem Galopp nach Hause. Der Himmel war schwer von Wolken, denn der lang ersehnte Regen hing in der Luft; die Hitze brütete zum Ersticken. Ameeras Mutter kam ihm entgegen in den Hof und winselte: »Sie stirbt. Sie huschelt sich selbst in den Tod hinein. Sie ist fast schon gestorben. Was soll ich tun, Sahib?«

Ameera lag in dem Zimmer, in dem sie Tota geboren hatte. Sie erkannte Holden nicht mehr, als er eintrat; die menschliche Seele ist ein einsames Wesen: wenn sie sich rüstet zum Aufbruch, schweift sie hinüber in das dunkle Grenzland, in das ihr die Lebenden nicht folgen können. Die schwarze Cholera vollbringt ihr Werk, stumm – erbarmungslos, aber ohne Kampf. Ameera schied aus dem Leben, als hätte der Engel des Todes selbst sie bei der Hand genommen. Die schnellen Atemzüge bewiesen, daß sie weder litt noch sich fürchtete, aber weder Lippen noch Augen gaben eine Antwort auf Holdens Küsse. Da war kein Rat mehr und keine Hilfe. Holden konnte nur schweigen, warten und leiden. Draußen fielen die ersten Regentropfen auf die Dächer, und er konnte die Freudenschreie hören, die durch die Straßen der entvölkerten Stadt liefen.

Da kam die Seele Ameeras für einen Augenblick zurück und die Lippen bewegten sich. Holden beugte sich über sie. »Nimm nichts von meinen Sachen«, flüsterte sie, »nimm nicht ein Haar von meinem Haupte. ›Sie‹ – die Andere -, würde später alles verbrennen. Die Flamme würde auch mich verzehren! Tiefer! Beug dich tiefer zu mir herab! Nur an das eine denke immer: daß ich dein war und dir einen Sohn geboren habe. Und wenn du morgen ein weißes Weib freiest und hältst in den Armen deinen Sohn, – einen Sohn, der vor allen Menschen deinen Namen tragen wird, – so denke an mich. Alles Unheil, das ihn treffen könnte, falle auf mein Haupt. Zeuge bin -« Ihre Lippen hauchten die Worte des mohammedanischen Glaubensbekenntnisses in sein Ohr: »Zeuge bin ich: es gibt nur einen Gott – aber das bist du, Geliebter!«

Dann verschied sie. Holden saß regungslos, und alles Denken war von ihm gewichen, bis er hörte, daß Ameeras Mutter den Vorhang hob.

»Ist sie tot, Sahib?«

»Tot.«

»Dann will ich die Totenklage anstimmen und nachher ein Verzeichnis der Möbel aufnehmen. Denn es gehört mir. Der Sahib wird sie doch nicht beanspruchen? Es ist wenig, Sahib, sehr, sehr wenig, und ich bin ein altes Weib. Ich möchte es gern behaglich haben.«

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, schweig! Geh hinaus und stimm die Totenklage an, wo ich es nicht höre.«

»Sahib, sie muß in vier Stunden bestattet werden!«

»Ich weiß, es ist so Sitte. Ich werde gehen, ehe sie sie holen. Ich lege es in deine Hand. Sieh zu, daß das Bett, auf dem – auf dem sie liegt -«

»Aha! Das schöne rotlackierte Bett. Ich hab’s schon lang gewünscht.«

»Daß das Bett unberührt bleibt und zu meiner Verfügung. Alles übrige im Haus ist dein. Miete einen Karren, nimm alles, geh fort; noch vor Sonnenuntergang darf nichts mehr hier sein, außer das, was du zu respektieren hast, wie ich dir gesagt habe.«

»Ich bin ein altes Weib. Wenn ich wenigstens bleiben könnte über die Tage der Totenklage, und bis der Regen nachläßt. Wohin soll ich denn gehen?«

»Was kümmert das mich? Mein Befehl lautet: Du hast zu gehen. Das Hausgerät ist tausend Rupien wert, und meine Ordonnanz wird dir heute nacht hundert Rupien bringen.«

»Das ist sehr wenig. Bedenke, was die Karrenmiete kostet.«

»Es wird zu nichts zusammenschrumpfen, wenn du nicht gehst, und zwar sofort. Weib, geh hinaus und laß mich allein mit meiner Toten!«

Die Alte schlurfte die Treppe hinunter und vor lauter Gier nach den Sachen im Haus vergaß sie die Totenklage. Holden stand an Ameeras Lager und die Regenschauer prasselten auf das Dach hernieder -; er konnte infolge des lauten Geräusches keinen klaren Gedanken fassen, sosehr er sich auch bemühte. Dann kamen vier verhüllte Gespenster hereingetrippelt und starrten ihn an durch ihre Schleier: Leichenwäscherinnen. Holden verließ das Zimmer und ging hinaus zu seinem Pferd. Gekommen war er in totem, erstickendem Dunst und durch fußtiefen Staub, jetzt schien der ganze Hofraum eine einzige Regenpfütze zu sein, belebt von Fröschen; ein gelber Wasserstrom lief unter dem Tor durch und ein heulender Wind jagte Güsse wie Flintensalven gegen die Lehmmauern. Pir Khan schauderte in seiner kleinen Hütte neben dem Eingang und das Pferd stampfte mit den Hufen in die Nässe.

»Ich habe die Befehle des Sahibs erhalten«, sagte Pir Khan. »Es ist gut. Das Haus ist jetzt verödet. Auch ich gehe, denn mein Affengesicht könnte Erinnerungen in dir wecken an das, was dahin ist. Was das Bett betrifft, so werde ich es in der Frühe in dein Haus hinüberbringen; aber bedenke, Sahib, es wird dir wie ein Messer sein, das in einer frischen Wunde wühlt. Ich gehe auf die Pilgerschaft, und ich nehme kein Geld von dir. Ich bin dick und fett geworden unter dem Schutz der Gegenwart dessen, dessen Leid auch mein Leid ist. Zum letztenmal halte ich jetzt seinen Steigbügel.«

Er berührte Holdens Fuß mit beiden Händen und das Pferd jagte hinaus auf die Landstraße, wo der hohe Bambus den Himmel peitschte und die Frösche quakten. Holden konnte wegen des Regens in seinem Gesicht kaum sehen. Er preßte die Hand vor die Augen und murmelte:

»O du Scheusal! O du grauenhaftes Scheusal!«

Die Nachricht von seinem Schicksalsschlag war ihm bereits vorausgeeilt in seinen Bungalow. Er las es in den Augen seines Dieners, Achmed Khan, als dieser ihm das Essen brachte; zum ersten- und letztenmal im Leben legte ihm der Mann die Hand auf die Schulter. »Iß, Sahib! Iß!« sagte er. »Essen ist das beste gegen Kummer. Ich hab’s einst auch an mir erfahren. Die Schatten kommen und gehen, Sahib! Die Schatten kommen und gehen. Hier hast du Eier mit Pfeffer.«

Holden konnte weder essen, noch schlafen. Acht Zoll Regen schüttete der Himmel in dieser Nacht herab und wusch die Erde rein. Die Fluten rissen Mauern nieder, zerstörten die Straßen und wuschen die seichten Gräber der mohammedanischen Begräbnisstätten auf. Den ganzen folgenden Tag regnete es, und Holden saß regungslos in seinem Haus und wühlte in seinem Gram. Am Morgen des dritten Tages erhielt er ein lakonisches Telegramm des Inhalts: »Ricketts, Myndonie, im Sterben. Holden antreten. Sogleich.« Ehe er abreiste, wollte er noch einen Blick tun in das Haus, wo er einst König und Gebieter gewesen. Das Wetter hatte sich aufgehellt; die nasse Erde dampfte.

Die Regengüsse hatten die Lehmpfeiler beim Tor eingerissen, und das Tor selbst, das einst sein Alles hienieden behütet, hing lose in den Angeln. Drei Zoll hoch war Gras im Hof aufgeschossen; Pir Khans Hütte stand leer und der aufgeweichte Fußboden hatte sich zwischen die Balken hinabgesenkt. Ein graues Eichhörnchen hatte Besitz ergriffen von der Veranda, als sei das Haus unbewohnt gewesen seit dreißig Jahren, statt drei Tagen. Ameeras Mutter hatte alles mit fortgenommen mit Ausnahme einer mottenzerfressenen Decke. Das Ticktick der kleinen Skorpione, wie sie über den Boden liefen, war das einzige Geräusch im Haus. Ameeras Zimmer und das, worin Tota gelebt, waren von Schimmel überzogen, und die Sprossen der Leiter hinauf auf das Dach besudelt mit Wasserschlamm. Holden sah es und ging hin aus auf die Straße; dort kam ihm sein Hausherr, Durga Daß, entgegen, – sauber und stattlich gekleidet in weißem Musselin, ein Ce-Feder-Buggy kutschierend: er wollte seinen Besitz in Augenschein nehmen und nach dem Schaden sehen, den der Regen angerichtet hatte.

»Ich habe vernommen, Sahib«, begann er, »Sie wollen das Haus verlassen?«

»Was haben Sie mit ihm vor?«

»Vielleicht vermiete ich es wieder.«

»Dann behalte ich es, auch wenn ich nicht hier bin.«

Durga Daß schwieg eine Weile. »Sie sollten das nicht tun«, sagte er dann. »Als ich noch jung war, hatte ich auch so –. Aber heute bin ich Mitglied der Stadtbehörde. Ho! Ho! Nein. Wenn die Vögel fortgeflogen sind, wozu ist das Nest noch gut? Ich möchte es niederreißen lassen: mit dem Bauholz kann man noch mancherlei kaufen. Es soll eingerissen werden und die Stadt wird eine Straße drüberlegen, wie sie es schon lange will, vom Verbrennungs-Ghaut bis hinüber zur Schanze. Kein Mensch wird später wissen, wo es gestanden hat!«

Durchs Feuer

Der Polizeimann ritt durch den Himalaja-Wald unter den moosbewachsenen Eichen dahin, und ihm nach trottete die Ordonnanz.

»Es ist eine scheußliche Sache, Bhere Singh«, sagte der Polizeimann. »Wo sind die beiden!«

»Es ist eine scheußliche Sache«, wiederholte Bhere Singh; »und was die beiden betrifft, so schmoren sie jetzt ohne Zweifel in einem heißeren Feuer, als je eines mit Ästen angezündet wurde.«

»Das wollen wir nicht hoffen«, meinte der Polizeimann, »denn wenn wir absehen von dem Unterschied der Rassen, so ist es die Geschichte der Francesca da Rimini, Bhere Singh!«

Da Bhere Singh keine Ahnung hatte, wer Francesca da Rimini gewesen war, hielt er den Mund, bis sie zu der Kohlenbrenner-Lichtung kamen, wo die erlöschenden Flammen ihr »hwit, hwit, hwit« sagten, wie sie über der weißen Asche flüsternd hin und her zuckten. Es mußte ein riesiges Feuer gewesen sein, als es noch lichterloh brannte! Die Leute in Donga Pa hatten es in der Nacht weithin über das Tal scheinen und flackern sehen und gesagt, die Kohlenbrenner in Kodru müßten offenbar schwer betrunken sein. In Wirklichkeit waren es nur Suket Singh, ein Sepoy des 102ten Punjab-Infanterieregiments, und Athira, ein Weib, gewesen, die da verbrannt – zu Asche verbrannt – waren.

Wie die Sache vor sich ging, habe ich aus dem Tagebuch des Polizeimanns erfahren:

Athira war die Frau des Madu, eines einäugigen Kohlenbrenners von boshafter Gemütsart. Schon eine Woche nach der Hochzeit prügelte er sie mit einem dicken Stock. Einen Monat später kam Suket Singh, der Sepoy, des Weges, um seinen Regimentsurlaub in den kühlen Bergen zu verbringen. Er elektrisierte die Dorfbewohner von Kodru mit Erzählungen von allerlei Geschichten aus dem Militärdienst, verherrlichte die Ruhmestaten des Gouvernements und schilderte anschaulich, in welchen hohen Ehren er beim Obersten, dem Sahib Bahadur, stünde. Die braune Desdemona hörte dem Othello zu, und wie alle Desdemonas der Welt verliebte sie sich dabei in ihn.

»Ich hab zwar selber eine Frau zu Hause«, sagte Suket Singh, »aber es soll dich nicht bedrücken, wenn es dir im Kopf herumgeht. Ich muß auch nach einiger Zeit wieder zum Regiment zurück, denn ich kann doch nicht gut zum Deserteur werden, gar, wo ich den Rang eines Havildars anstrebe.«

»Schadet nichts«, sagte Athira, »bleib jetzt bei mir, und wenn Madu mich schlagen will, dann verprügle ihn!«

»Famos!« sagte Suket Singh und verabreichte dem Madu eine gehörige Tracht zum Entzücken sämtlicher Kohlenbrenner in Kodru.

»So, das genügt«, sagte er und gab dem Madu einen Stoß, daß er den Abhang hinunterrollte, »jetzt werden wir Ruhe haben.« Aber Madu krallte den Grashügel wieder hinauf und hinkte mit wütenden Blicken um seine Hütte herum.

»Er wird mich ermorden«, sagte Athira zu Suket Singh, »du mußt mich mit fortnehmen.«

»Es wird einen Skandal geben in der Truppe, und mein Weib wird mir den Bart ausreißen!« meinte Suket Singh, »aber was liegt daran! Ich nehme dich mit.«

Es gab auch wirklich einen Skandal im Regiment, der Bart wurde Suket Singh ausgerissen, und seine Gattin ging zu ihrer Mutter zurück und nahm die Kinder mit. »Jetzt ist alles gut«, sagte Athira, und Suket Singh pflichtete ihr bei: »Jetzt ist alles gut.«

Madu hauste nunmehr allein in seiner Hütte, von der er weit hinüber ins Tal nach Donga Pa blicken konnte; von Anbeginn waren die Sympathien der Leute nicht auf seiner Seite gewesen: das Volk hat nichts übrig für betrogene Ehemänner.

Eines Tages ging er zu Juseen Dazé, dem Zauberer, der den redenden Affenkopf besitzt.

»Verschaff mir mein Weib wieder!« sagte er.

»Das kann ich nicht«, sagte Juseen Dazé, »erst mußt du den Sutlej das Tal hinauffließen machen bis Donga Pa.«

»Mach keine Flausen! Gib mir gefälligst keine Rätsel zu lösen auf«, schrie Mach und schüttelte seine Hacke drohend gegen den weißhaarigen Juseen Dazé.

»Gib all dein Geld den Oberhäuptern des Dorfes«, riet Juseen Dazé; »sie sollen eine Versammlung einberufen und einen Boten abschicken mit der Weisung, dein Weib müsse zurückkommen.«

Madu verzichtete auf seine irdischen Güter, die aus siebenundzwanzig Rupien, acht Annas und drei Pies nebst einer silbernen Kette bestanden, und überreichte sie den Stadträten von Kodru. Dann geschah es, wie Juseen Dazé vorhergesagt: man schickte Athiras Bruder zu dem Regiment Suket Singhs, um Athira auszurichten, sie möchte heimkehren. Suket Singh benützte ihn als Fußball und kickte ihn um die Front herum; dann überlieferte er ihn dem Hamildar, der ihn mit einem Treibriemen bearbeitete.

»Komm heim!« schrie Athiras Bruder unentwegt bei dieser Prozedur.

»Wohin denn?« fragte Athira.

»Zum Madu!«

»Ich denk nicht dran!« war die Antwort.

»Dann wird dir Juseen Dazé seinen Fluch schicken!« drohte der Bruder, »und du wirst verdorren wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühling!« Das ging Athira im Kopf herum.

Am nächsten Morgen schon hatte sie Rheumatismus. »Ich beginne bereits zu verdorren wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühjahr«, sagte sie. »Das ist der Fluch Juseen Dazés.«

Und tatsächlich begann sie hinzusiechen, denn in ihr Herz war die Furcht eingezogen. Wer an Flüche glaubt, der stirbt an ihnen. Auch Suket Singh war voll Angst, denn er liebte Athira mehr als sein Leben. Zwei Monate vergingen, da stand Athiras Bruder wieder da, aber ein wenig weiter weg von der Schützenlinie, und höhnte: »Aha, du verdorrst schon! Komm heim!«

»Ja, ich will kommen!« sagte Athira.

»Sag lieber: ›Wir‹ werden kommen!« rief Suket Singh.

»Ai! Gut, aber wann?« fragte Athiras Bruder.

»Eines Tages, sehr früh am Morgen«, versprach Suket Singh und marschierte im Paradeschritt zum Oberst Sahib Bahadur, um sich einen Urlaub zu erbitten.

»Ich verdorre wie der Ast eines gefällten Baumes im Frühjahr«, jammerte Athira.

»Es wird dir bald besser gehen«, tröstete sie Suket Singh; und er gestand ihr heimlich, was er vorhatte, und sie lachten und kosten miteinander, denn sie liebten sich beide heiß. Von Stund an ging es besser mit Athira.

Dann reisten sie zusammen fort – fuhren dritter Klasse mit der Bahn, solange es Schienen gab, später in einem Karren die niedrigeren Vorberge hinauf und wanderten zu Fuß auf die höheren. Athira sog den Tannenduft ihrer heimatlichen Berge ein – der feuchten Himalajaberge. »Wie schön ist es doch, zu leben!« sagte sie.

»Heda! Du!« fragte Suket Singh einen Mann, »wo liegt die Straße nach Kodru und wie kommt man zu dem Haus des Waldhüters?«

»Hat vor zwölf Jahren vierzig Rupien gekostet«, sagte der Waldhüter und reichte dem Sepoy eine Flinte hin.

»Hier hast du zwanzig«, sagte Suket Singh, »aber du mußt mir die besten Kugeln geben!«

»Es ist unendlich schön, zu leben«, sagte Athira sehnsüchtig und sog den Harzduft eines Tannengehölzes ein; und dann warteten sie, bis sich die Nacht herabsenkte auf Kodru und Donga Pa. Madu hatte, um am nächsten Tag Kohle zu brennen, auf der Anhöhe über seinem Haus dürres Holz aufgetürmt. »Es ist hübsch von ihm, daß er uns die Mühe erspart hat«, sagte Suket Singh, als er in der Dunkelheit gegen den zwölf Fuß breiten und vier Fuß hohen Scheiterhaufen anrannte. »Wir müssen warten, bis der Mond aufgeht.«

Als der Mond aufgegangen war, bestieg Athira den Holzstoß und kniete nieder. »Wenn es nur wenigstens ein Regiments-Snidergewehr wäre«, sagte Suket Singh bekümmert mit einem Scheelblick auf den mit Draht umwickelten Lauf der Flinte des Waldhüters.

»Beeile dich«, sagte Athira. Und Suket Singh beeilte sich. Athira beeilte sich in diesem Leben nicht mehr!

Dann zündete er den Scheiterhaufen an den vier Ecken an, da, wo dürre Zweige herausragten. »Man sollte im Regiment lernen, wie man ein Gewehr mit den Zehen abschießt!« sagte er grimmig zum Mond hinauf. Das war die letzte Bemerkung des Sepoys Suket Singh.

Eines Tages, früh am Morgen, kam Madu zu dem Feuerbrand, erschrak sehr und lief fort, um den Polizeimann zu holen, der gerade in der Umgebung die Runde machte.

»Dieser Auswurf von einem Menschen hat mir für vier Rupien Kohlenholz verbrannt«, schimpfte er, »und meine Frau getötet. Und einen Brief hat er an eine Tanne gebunden. Ich kann nicht lesen.«

In der steifen, pedantischen Schrift, die in den Regimentern gelehrt wird, hatte der Sepoy Suket Singh folgendes geschrieben:

»Man verbrenne uns zusammen, falls noch Reste von uns übrig sein sollten; wir haben die vorgeschriebenen Gebete verrichtet. Madu und Malak, den Bruder Athiras, haben wir verflucht; sie sind beide böse Menschen. Dem Oberst Sahib Bahadur sende man meine Empfehlung.«

Lang und versonnen blickte der Polizeimann auf das Ehebett aus roter und weißer Asche, auf dem, schwarzgebrannt, der Gewehrlauf des Waldhüters lag. Geistesabwesend stieß er mit seiner bespornten Ferse in einen halbverkohlten Balken und prasselnde Flammen züngelten hoch. »Ein ganz sonderbares Volk!« murmelte er.

»Hju, ju, oui, oui«, sagten die kleinen Flammen.

Dann notierte der Polizeimann mit dürren Worten die Tatsachen in sein Dienstbuch, denn die Regierung liebt romantische Phrasen nicht.

»Und wer wird mir meine vier Rupien bezahlen?« fragte Madu.

Vorwort

Vorwort

Im Norden Indiens stand einst ein Kloster, genannt die Ghubara des Dhunni Bhagat. Niemand weiß heute mehr, wer Dhunni Bhagat gewesen ist. Er hatte sein Leben gelebt, wie es eben jeder Hindu lebt, hatte ein bißchen Geld erworben und es, wie jeder gute Hindu tun soll, auf ein frommes Werk verwendet: eben jene Chubara. Diese Chubara enthielt eine Menge gemauerter Zellen, deren Wände mit Bildern von Göttern, Königen und Elefanten bunt bemalt waren. Asketisch aussehende Priester pflegten darin zu sitzen und über die Letzten Dinge nachzudenken. Die Gänge waren mit Ziegeln gepflastert; die nackten Füße Tausender hatten sie zu Rinnsteinen ausgehöhlt. Grasbüschel wuchsen in ihren Ritzen, heilige Feigenbäume breiteten ihre Blätter aus über die Brunnenwinde, die den ganzen Tag über knarrte und ächzte, Scharen von Papageien schwirrten durch das Geäst, Krähen und Eichhörnchen waren zahm wie Haustiere; wußten sie doch, daß ihnen von den Priestern keinerlei Gefahr drohte!

Die wandernden Bettler, die Amulettverkäufer und heiligen Landstreicher auf hundert Meilen in der Runde machten die Chubara zu ihrem Unterkunfts- und Ruheplatz. Mohammedaner, Sikhs, Hindus, einträchtig gesellten sie sich zueinander unter den Bäumen – Greise alle mitsammen. – Wenn der Mensch sich dem Wegkreuz der großen Nacht nähert, erscheinen ihm die vielen, verschiedenen Glaubensformen der Welt wunderbar gleich und farblos.

Gobind, der Einäugige, erzählte mir dies alles. Er war ein heiliger Mann, hatte früher auf einer Insel inmitten des Flusses gelebt und zweimal am Tage die Fische mit Brotkrumen gefüttert. Wenn zur Zeit des Hochwassers aufgedunsene Leichen an den Strand getrieben kamen, sorgte Gobind dafür, daß sie pietätvoll begraben wurden – um der Ehre der Menschheit willen und auch mit Rücksicht auf seine eigene dereinstige Abrechnung mit Gott. Als später eine Überschwemmung zwei Drittel der Insel wegspülte, kam Gobind über den Fluß hinüber in die Chubara des Dhunni Bhagat mit seinem kupfernen Trinkgefäß, das ihm am Brunnenseil befestigt um den Hals hing, mit seiner nägelbeschlagenen kurzen Armstütze, seiner Gebetrolle, seiner großen Pfeife, seinem Sonnenschirm, seiner hohen zuckerhutförmigen Kopfbedeckung mit der nickenden Pfauenfeder. – Er wickelte sich in seine, aus Flicken jeder Farbe und jedes Stoffes der Welt zusammengesetzte Decke, hockte sich in eine Ecke der friedvoll ruhigen Chubara, stützte den Arm auf seine kurze Krücke und erwartete den Tod. – Das Volk brachte ihm Nahrung und Sträußchen von Dotterblumen, und er gab ihnen seinen Segen dafür. – Er war fast blind und sein Gesicht über jede Beschreibung faltig, verrunzelt und durchfurcht, denn er hatte schon zu einer Zeit das Licht der Welt erblickt, als die Engländer noch nicht einmal auf fünfhundert Meilen an das Gebiet herangekommen waren, in der die Chubara des Dhunni Bhagat lag.

Als wir näher miteinander bekannt wurden, erzählte mir Gobind bisweilen Geschichten mit einer Stimme, dumpfrollend wie eine Holzbrücke, über die schwere Kanonen fahren. Es waren wirklich wahre Geschichten, aber unter zwanzig könnte man auch nicht eine in einem europäischen Buche drucken; die Europäer denken in anderer Weise als die Eingeborenen. Sie brüten über Dinge, die zu überdenken der Eingeborene sich Zeit läßt, bis der geeignete Moment eingetreten ist, und worauf sie nicht zwei Gedanken verwenden würden, darüber grübelt der Eingeborene stundenlang nach. – Wenn sie dann zu einer gemeinsamen Unterhaltung zusammentreffen – Eingeborene und Europäer – so starren sie einander verglast an, durch breite Klüfte des Mißverstehens getrennt.

»Und was ist dein ehrenwertes Gewerbe«, fragte mich eines Sonntagabends Gobind, »und womit erwirbst du dir dein tägliches Brot?«

»Ich bin«, sagte ich, »ein Kerani – einer, der mit der Feder auf Papier schreibt -, obgleich ich nicht im Dienste der Regierung stehe.«

»Was schreibst du also?« fragte Gobind. »Komm näher, denn ich kann dein Gesicht nicht sehen und das Tageslicht schwindet.«

»Ich schreibe von allen Dingen, die ich verstehe, aber auch von vielen Dingen, die ich nicht verstehe. Hauptsächlich schreibe ich über das Leben und über den Tod, von Männern und von Weibern und über Liebe und Schicksal, je nach dem Maß meiner Kraft, indem ich die Geschichten einer, zwei oder mehreren Personen in den Mund lege. – Dann werden die Geschichten verkauft, wenn Gott es zuläßt, und das Geld fließt mir zu, damit ich davon leben kann.«

»Ich verstehe«, sagte Gobind. »Dasselbe tut auch der Geschichtenerzähler in den Bazars, nur spricht er unmittelbar zu den Männern und Frauen und schreibt nichts auf. Wenn jedoch seine Geschichte die allgemeine Erwartung erregt hat und auf dem Punkte angelangt ist, wo dem Tugendhaften in der Schilderung Gefahr droht, dann unterbricht er sie plötzlich und verlangt Bezahlung, bevor er fortfährt. – Machst du es bei deinem Berufe ebenso, mein Sohn?«

»Ich habe gehört, daß es auch bei meinesgleichen so etwas Ähnliches gibt. Wenn eine Geschichte sehr lang ist, dann verkauft man sie in Abschnitten wie eine Melone.«

»Oh, ich war auch einmal ein berühmter Geschichtenerzähler«, sagte Gobind. »Damals, als ich auf der Landstraße zwischen Koshin und Etra bettelte, vor meiner letzten Pilgerfahrt nach Orissa. Oh, ich habe sehr viele Geschichten erzählt und noch viel mehr gehört, wenn wir des Abends nach langer Wanderung froh beisammen saßen. Ich trage die Gewißheit im Herzen, daß erwachsene Menschen so sind wie die Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt; die ältesten Geschichten sind ihnen die liebsten.«

»Bei deinen Leuten ist das so«, sagte ich, »aber die Menschen meines Volkes wollen immer neue Geschichten und, wenn sie sie gelesen haben, dann stehen sie auf und sagen, so oder so geschrieben hätten sie ihnen besser gefallen; sie bezweifeln, ob sie auch wahr seien, oder sprechen geringschätzig von ihrer Erfindung.«

»O wie töricht!« rief Gobind und erhob seine runzlige Hand. »Eine Geschichte ist wahr, solange die Erzählung dauert. Und was das Schwätzen darüber betrifft – nun, du weißt ja, was Bilas Khan, der doch der König aller Geschichtenerzähler war, zu einem gesagt hat, der ihn in einem großen Unterkunftshause an der Straße nach Jhelum unterbrach und verspottete: – ›Fahr du jetzt fort, mein Bruder‹, sagte er, ›und vollende, was ich begonnen habe!‹ – Der Spötter nahm zwar den Faden der Erzählung auf, aber da er weder die Stimme noch die nötige Gabe besaß, blieb er stecken und mußte es sich gefallen lassen, daß ihn die Pilger die halbe Nacht hindurch verhöhnten und knufften.«

»Bei uns sind die Leute aber in ihrem Recht, da sie ja ihr Geld dafür hergeben. Man darf doch auch einem Schuster Vorwürfe machen, wenn die Schuhe nicht gut sind, die man bei ihm gekauft hat. Wenn ich wieder einmal ein Buch schreibe, sollst du es zu sehen kriegen und beurteilen.«

»Ja, ja, auch der Papagei sagte zu dem fallenden Baum: Warte, Bruder, bis ich eine Stütze hole«, sagte Gobind und lachte grimmig. »Gott hat mir bereits achtzig Jahre gegeben und noch ein paar darüber. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rechnen. Jeder Tag, der mir gewährt wird, ist eine Gnade. Du müßtest dich also recht sehr beeilen.«

»In welcher Weise gehe ich wohl am besten bei meinem Berufe vor«, fragte ich, »o du Fürst aller derer, die Perlen mit der Zunge aufreihen?«

»Wie kann ich das wissen?« Gobind dachte eine kleine Weile nach. »Doch warum sollte ich es auch nicht wissen! – Gott hat viele Köpfe gemacht, aber es gibt nur ein Herz in der ganzen Welt, bei deinen Leuten und bei meinen Leuten. Alle sind sie Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt!«

»Ja, aber gerade Kinder können fürchterlich werden, wenn man ein Wort an die falsche Stelle setzt oder beim zweitenmal Erzählen auch nur um einen Deut abweicht.«

»Freilich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst solchen Kindern Geschichten erzählt; mach es so: -« Seine alten Augen ruhten versonnen auf den bunten Wandmalereien, der blauen und roten Kuppel und den flammenden Poinsettien im Hintergrund. »Erzähl ihnen zuerst von den Dingen, die du mit ihnen zusammen gesehen hast. Dann wird ihr eigenes Wissen das ergänzen, was du unvollständig läßt. Sodann erzähle ihnen, was du allein gesehen hast, dann, was du selber gehört hast, und dann – da sie ja alle Kinder sind – erzähl ihnen von Schlachten, von Königen, Pferden, Teufeln, Elefanten und Engeln; aber vergiß auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen. Die Erde ist voll von Geschichten für jemand, der hören kann und die Armen nicht von seiner Türe weist; die Armen sind die besten Geschichtenerzähler, denn sie müssen jede Nacht ihr Ohr an die Erde legen.«

Seit jenem Gespräch reifte der Stoff für mein Buch in meinem Kopf von Tag zu Tag, und Gobind erkundigte sich wiederholt und eingehend, welche Fortschritte es mache.

Nachdem wir uns Monate nicht mehr gesehen hatten, erhielt ich die Nachricht, daß ich verreisen müßte, und ging, Abschied von ihm zu nehmen.

»Ich komme heute, um dir Lebewohl zu sagen«, begann ich, »denn ich muß eine lange Reise unternehmen, Gobind.«

»Ich auch! Eine längere noch als du! Aber wie steht es mit dem Buch, mein Sohn?«

»Es wird rechtzeitig geboren werden, wenn es so sein soll.«

»Ich wollte, ich könnte es noch sehen«, sagte der alte Mann und kauerte sich unter seiner Decke zusammen. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde in drei Tagen sterben. Nachts. Kurz vor Sonnenaufgang. Die Zahl meiner Jahre ist reif.«

In neun Fällen unter zehn täuscht sich ein Eingeborener nicht über den Tag seines Todes. Er hat in dieser Hinsicht das Ahnungsvermögen eines Tieres.

»Dann wirst du in Frieden scheiden; deine Rede ist gute Rede, daß das Leben dir keine Freude ist.«

»Es ist schade, daß das Buch noch nicht geboren ist. Wie werde ich wissen, ob mein Name wirklich darin aufgezeichnet ist?«

»Ich verspreche dir, daß gleich am Anfang des Buches, allem ändern voran, stehen soll, daß Gobind, der Saddhu, von der Insel im Flusse, und in Erwartung Gottes in der Chubara des Dhunni Bhagat, mir zuerst von dem Buche gesprochen hat«, sagte ich.

»Und seinen Rat dazu gegeben hat – den Rat eines alten Mannes – den Rat Gobinds, des Sohnes Gobinds, aus dem Dorfe Chumi im Kreis Karaon, im Distrikt Mooltan. Wird auch das darin stehen?« forschte der Greis.

»Auch das wird darin stehen.«

»Und das Buch wird über das Schwarze Wasser gehen bis in die Häuser der Leute deines Volkes, und alle Sahibs werden von mir wissen, der ich jetzt älter als achtzig Jahre bin?«

»Alle, die das Buch lesen, werden von dir wissen. Für die anderen kann ich nicht gutstehen.«

»Das ist gute Rede. Ruf sie alle herbei mit lauter Stimme, die im Kloster sind, damit ich es ihnen erzählen kann!«

Und sie kamen alle herbei, die Fakire, die Saddhus, die Sunnyasis, die Bairagis, die Nihangis und Mullahs, – Priester aller Religionen und in jedem Grade der Zerlumptheit. Gobind, auf seine Krücke gestützt, sprach zu ihnen mit einer Begeisterung, daß sie sämtlich von Neid erfüllt wurden, bis ein weißhaariger Greis ihn ermahnte, an sein Ende zu denken, anstatt an den vergänglichen Ruhm im Munde der Fremden. Dann gab mir Gobind seinen Segen, und ich ging fort.

Die Geschichten, die ich in dem Buche bringe, habe ich an allen möglichen Orten gesammelt, habe sie gehört aus dem Munde so manchen Priesters in der Chubara, aus dem Munde Ala Yars, des Bildschnitzers, und Jiwun Singhs, des Schlossers – von Menschen ohne Namen, die ich auf Dampfern und in Eisenbahnzügen traf, von Weibern, die im Zwielicht vor ihren Hütten spannen, von Offizieren und Gentlemen, die längst tot und begraben sind; einige hat mir mein Vater auf den Weg mitgegeben, sie sind die besten.

Die bemerkenswertesten Geschichten kann ich hier nicht bringen – aus leichtbegreiflichen Gründen!

I

I

»Köpfe«

Ein Verbrecher mehr im Zentral-Zuchthaus
Hinterm alten Wall von Lehm:
Ein Dieb weniger vorn, an der Front da drauß,
Und des Reichs Ruh über all dem,
Ihr Jungs,
des Reichs Ruh über all dem!

Denn wir tragen ja allein unsres Führers Schand
Auf uns fällt so Schuld, wie Fem,
Wenn die Hand wir tun vom geknebelten Land:
Ihr Jungs,
denn des Reichs Ruh über all dem,
Des Reichs Ruh über all dem!

I

Unversehens, urplötzlich hatte der Indus Hochwasser gebracht. Die Nacht vorher noch war er so seicht gewesen, daß man ihn bequem durchwaten konnte, eine Nacht später: und tosende Wassermassen, schmutzig und trüb, fünf Meilen breit, hatten die Sandbänke verschlungen und Uferdämme und Gelände weggerissen. Eine Sänfte, getragen von sechs bärtigen Männern, denen man ansah, daß sie an solche Arbeit nicht gewöhnt waren, machte halt auf dem weißen Sand, der die schimmernde Fläche begrenzte.

»Es ist Gottes Wille«, sagten sie. »Nicht einmal in einem Boot könnten wir wagen, überzusetzen. Zünden wir ein Feuer an und kochen wir das Essen; wir bedürfen der Ruhe.«

Sie spähten in die Sänfte; drin, von Fieber geschüttelt, lag sterbend der Deputatskommissar des Bezirkes Kot-Kumharsen. Sie hatten ihn hergetragen übers Land, die sechs Tapfern eines kriegerischen Grenzstammes, den er zu friedlicher Beschäftigung bekehrt hatte, ehe er selbst zusammengebrochen war am Fuße ihrer unwirtlichen Berge. Tallantire, sein Assistent, war neben ihnen hergeritten, bekümmert im Herzen und die Lider schwer von lange entbehrtem Schlaf. Drei Jahre hatte er unter dem Kranken gedient und ihn lie ben gelernt, wie Menschen, die ein hartes Leben zusammenführt, einander lieben lernen oder – hassen. Er beugte sich aus dem Sattel, hielt die Vorhänge der Sänfte auseinander und lugte hinein:

»Orde – Orde, alter Freund, hören Sie mich? Wir müssen warten, bis das Hochwasser fällt; eine böse Bescherung.«

»Ich höre«, kam’s in leisem Flüsterton zurück. »Warten wir, bis das Wasser fällt. Ich glaubte, wir würden das Lager erreichen, ehe die Dämmerung anbricht. Polly weiß, daß ich komme; sie will mich noch einmal sehen.«

Einer der Sänftenträger starrte über den Fluß und erspähte ein kleines funkelndes Licht drüben in weiter Ferne. »Dort ist das Lagerfeuer und sein Weib«, raunte er Tallantire zu, »sie werden in der Frühe herüberfahren, denn sie haben gute Boote, Kann er so lange leben?«

Tallantire schüttelte den Kopf. Yardley-Orde rang bereits mit dem Tode; wozu seine Seele quälen mit Hoffnung auf eine Zusammenkunft, die doch nie mehr stattfinden würde?! Der Strom gurgelte an den Dünen, riß eine Sandklippe ein und brauste wie ein hungriges Ungetüm. Die Sänftenträger suchten nach trockenem Reisig in dem Gestrüpp der Kameldornbüsche; ihre Schwertgürtel klirrten, wie sie so dahinschlichen im nebligen Mondlicht; und Tallantires Pferd hustete, um anzudeuten, es wünsche eine wärmende Decke.

»Auch ich friere«, sagte die Stimme in der Sänfte, »ich glaube, es ist das Ende. Arme Polly!«

Tallantire ordnete die Decken des Sterbenden; Khoda Dad Khan sah es, zog seinen dicken Schaffellmantel aus und legte ihn über die Kissen. »Ich werde mich selber am Feuer wärmen, ich brauche ihn nicht«, sagte er. Tallantire nahm den erstarrten Körper seines Freundes in die Arme und drückte ihn an sich; vielleicht, wenn man Orde erwärmte, würde er so lange leben, daß er sein Weib noch einmal sehen könne! Wenn doch die blinde Vorsehung gäbe, daß das Wasser um drei Fuß fiele!

»Jetzt wird mir besser«, hauchte Orde. »Tut mir leid, daß ich Sie so behelligen muß, aber – haben Sie nichts zu trinken?«

Man reichte ihm Milch mit Whisky, und Tallantire fühlte, wie der Körper in seinen Armen ein wenig wärmer wurde. Orde begann zu murmeln:

»Es ist mir nicht ums Sterben, aber, daß ich Polly verlassen muß und meinen Bezirk. Gott sei Dank: wir haben keine Kinder. Dick, Sie wissen: ich bin verschuldet – tief verschuldet, Vorschüsse während meiner ersten fünf Dienstjahre! Die Pension wird klein sein, aber für sie ausreichen. Sie hat eine Mutter daheim in England. Wie nach Hause kommen? Das ist die Schwierigkeit! Und – und – Sie wissen, da sie keine Soldatenwitwe ist -.«

»Wir werden das mit der Heimfahrt schon regeln. Selbstverständlich«, sagte Tallantire ruhig.

»Ein häßlicher Gedanke: mit dem Hut in der Hand einsammeln zu gehen! Aber, Gott im Himmel, wie viele sind, derentwegen es geschehen mußte! Morton ist gestorben – er war von meinem Jahrgang. Shaughnessy ist tot und hat Kinder zurückgelassen; – ich erinnere mich noch, wie er ihre Briefe aus der Schule uns vorgelesen hat (was für ein langweiliger Bursche er doch ist, haben wir uns dabei gedacht); Evans ist tot – das Klima von Kot-Kumharsen hat ihn umgebracht! Dicketts von Myndonie ist tot – und jetzt gehe auch ich. ›Der Mensch, vom Weibe geboren, ist ein Nichts wie die Kartoffel in den Bergen‹ – das erinnert mich, Dick: die vier Khusru-Kheyl-Dörfer in unserm Gebirgsdistrikt brauchen ein Drittel Steuernachlaß in diesem Frühjahr! Das ist nur recht und billig, denn ihr Getreide steht schlecht. Schauen Sie zu, daß die Sache zustande kommt, und sprechen Sie mit Ferris wegen des Kanals. Ich hätte so gern noch erlebt, daß er fertig wird; er ist für die Dörfer des nördlichen Indus von größter Bedeutung, aber Ferris ist eine Schlafmütze, rütteln Sie ihn auf. Die Arbeit im Bezirk wird auf Ihren Schultern ruhen, bis mein Nachfolger eintrifft. Ich wollte, man überwiese Ihnen die Stellung, denn Sie kennen das Volk. Aber ich glaube, man wird sie Bullows geben. Er ist ein braver Kerl, aber zu lax für die Tätigkeit an der Grenze; und dann: er durchschaut die Priester nicht! Der blinde Mullah in Jagai braucht ein wachsames Auge über sich. Sie finden alles in meinen Akten – sie liegen, glaube ich, im Uniformschrank. Rufen Sie jetzt die sechs Khusru-Kheyl-Leute; ich will ihnen eine letzte Ansprache halten. Khoda Dad Khan!«

Der Anführer der Sänftenträger sprang auf und eilte zu dem Sterbenden, und seine Kameraden folgten ihm.

»Ihr Männer, ich sterbe jetzt«, sagte Orde rasch in der Sprache der Eingeborenen; »und bald wird kein Orde Sahib mehr sein, der euch beim Ohr nimmt und vom Viehstehlen abhält.«

»Das möge Gott verhüten!« rief der ganze Chor in tiefem Baß. »Der Sahib wird nicht von uns gehen.«

»Doch! Er wird. Und dann wird er wissen, ob Mohammed die Wahrheit gesprochen hat, oder Moses. Aber ihr sollt gute Menschen bleiben, auch wenn ich nicht mehr hier bin. Als solche und als Bewohner unseres Grenzlandes müßt ihr, wie bisher, willig eure Abgaben zahlen. Ich habe veranlaßt, daß man euch dieses Jahr entgegenkommt. Als Bergbewohner müßt ihr euch des Viehdiebstahls enthalten, nicht Brand stiften und taub sein für die Reden der Priester, die die Macht der Regierung nicht kennen und euch in Kriege verwickeln möchten. Es würde euch nur das Leben und euer Getreide kosten. Ihr dürft auch keine Karawanen ausplündern und müßt eure Hilfe den Polizeitruppen leihen, wenn welche kommen, wie ihr es bisher getan habt gemäß meinem Befehl. Und Tallantire Sahib wird vorläufig bei euch bleiben; wer meine Stelle einnehmen wird, weiß ich nicht. Ich rede die lautere Wahrheit, weile ich doch, ihr meine Kinder, fast schon unter den Toten. Ja, ihr seid Kinder noch, wenn ihr auch starke Männer seid.«

»Und du bist unser Vater und unsere Mutter!« – der ganze Chor rief es wie einen Schwur, Khoda Dad Khan voran. »Was sollen wir tun, wo keiner mehr da sein wird, der zu uns spricht und so weise raten kann wie du?«

»Tallantire Sahib wird bei euch sein. Gehet zu ihm; er kennt eure Reden und eure Herzen. Haltet die jungen Männer in Zucht und Ordnung und höret auf die Alten. Khoda Dad Khan: hier, nimm meinen Ring. Die Uhr und die Kette sollen deinem Bruder gehören. Nehmet diese Dinge zum Gedenken an mich und daß ich, zu welchem Gott immer ich gerufen werde, ihm sagen will: die Khusru Kheyl sind brave Menschen. Ihr habt jetzt meine Erlaubnis zu gehen.«

Khoda Dad Khan steckte den Ring an seinen Finger und schluchzte laut, während er die übliche Formel hersagte, die eine Unterredung zu beschließen hat. Sein Bruder wandte sich um und spähte wieder über den Strom. Die Dämmerung begann, sich aufzuhellen, und ein weißer Fleck wurde sichtbar auf dem matten Silberglanz des Flusses. »Sie kommt«, sagte er mit verhaltenem Atem. »Ob er noch zwei Stunden leben kann?« – er zog die soeben geerbte Uhr aus dem Gürtel und blickte verständnislos auf das Zifferblatt, wie er es bei Engländern gesehen hatte.

Zwei Stunden lang halsten die gebauchten Segel und gingen über Stag, den Fluß hinauf und hinab, derweilen Tallantire Orde in seinen Armen hielt und Khoda Dad Khan ihm die Füße rieb. Bisweilen sprach der Kranke von seinem Bezirk und von seiner Gattin, aber je näher das Ende kam, desto häufiger von ihr. Man wollte ihm verschweigen, daß sie gerade jetzt auf der Überfahrt in einem gebrechlichen Eingeborenen-Boot ihr Leben aufs Spiel setzte, um zu ihm zu gelangen, aber das geschärfte Ahnungsvermögen des Sterbenden machte alle Vorsicht zu schänden! Orde kämpfte sich auf, blickte durch die Vorhänge und sah das nahe Segel. »Das ist Polly«, sagte er schlicht, obgleich seine Lippen bereits verkrampft waren in Todespein. »Polly – (es war wohl der grimmigste Hohn, den sich das Schicksal einem Menschen gegenüber erlaubt) – und – Sie, Dick – Sie – werden ihr es sagen – müssen.«

Eine Stunde später stand Tallantire auf der Sandbank einer Frau in Gingham-Reitkleid und Tropenhut gegenüber, die nach ihrem Gatten schrie – ihrem Alles und dem Licht ihres Lebens -, während Khoda Dad Khan sich mit dem Gesicht auf die Erde warf und seine Augen bedeckte.

II

Die Herzenseinfalt, mit der die Regierung Stellung nahm zu dem Vorfall, war geradezu rührend. Nichts einfacher für einen weitblickenden Staatsmann, wenn es gilt, die Wünsche des Volkes zu respektieren, als ein Landeskind zur Herrschaft bestellen! Zweihundert Millionen des dankbarsten, liebestrunkensten aller Völker im Reiche Ihrer Majestät der Königin würden in Lobeshymnen ausbrechen und so etwas nimmermehr vergessen. Der glückliche Auserwälhlte selbst stand natürlich jenseits von Lob und Tadel; war er doch auserkoren vom Allerhöchsten sämtlicher Vizekönige! Und dessen Herrschaft beruhte auf Prinzipien, und Prinzipien müssen bekanntlich streng berücksichtigt werden – im Sommer und im Winter. Seine Feder, seine Zunge hatte Neu-Indien geschaffen – laut hinschallend, eindringlich: Neu-Indien, eine Nation unter Nationen, ein Land, schwanger mit unbegrenzten Möglichkeiten, und das alles: Sein Werk. Weshalb denn auch alsbald der Allerhöchste sämtlicher Vizekönige noch einen Schritt vorwärts tat, was die Frage betraf, für Yardley-Orde einen Nachfolger zu erküren. Die Wahl fiel auf einen Gentleman, ein Mitglied des bengalischen Zivildienstes, der seinen Rang nebst Universitätsbildung in freiem Wettbewerb mit den Söhnen Englands erworben hatte. Feinsinnig, weltgewandt, wie er war, hatte er, so hieß es, auf weise – und noch mehr: auf höchst sympathische Art einen volkreichen Bezirk in Südost-Bengalen verwaltet. Er war englisch gesinnt in jeder Beziehung und lange das Entzücken vieler Gesellschaften gewesen; er hieß, soweit sich der Vizekönig erinnerte: Grish Chunder Dé, M. A. Kurz und gut: konnte irgend jemand an einem Manne etwas aussetzen, der so geeignet schien, als Landeskind über Landeskinder zu herrschen? Man brauchte nur rasch an seine Stelle in Südost-Bengalen einen jüngeren Zivilbeamten aus gleicher Rasse zu setzen – (er war bereits gefunden; hatte er doch ein bemerkenswert geschicktes Pamphlet geschrieben über den politischen Wert der Sympathie im Regierungsdienst) – und nichts mehr stand im Wege, Mr. Grish Chunder Dé, M. A., nordwärts nach Kot-Kumharsen abzusenden. Der Vizekönig mischt sich nicht gern persönlich und direkt in Sachen, die eigentlich den Provinzgouvernements unterstehen, und betont immer, er erteile lediglich seinen Rat. Was die Rassenfrage betraf, so war Mr. Grish Chunder Dé im Grunde noch viel mehr Engländer, und zu alldem mit einem sympathischen Wesen und einem Tiefsinn ausgestattet, der ihn zum Besten stempelte im besten aller Regierungsämter der Welt.

Die ernsten, schwarzbärtigen Könige, die den Großen Indischen Rat bilden, gaben die verschiedensten Meinungen kund über den Vorschlag, aber schließlich, wie üblich, erhoben sie den Vizekönig ekstatisch in den siebenten Himmel und ließen ihre nur kindischerweise vorgebrachten Einwände fallen.

»Im Prinzip ist es sehr richtig«, sagte das schläfrig blickende Oberhaupt der Roten Provinzen, in denen Kot-Kumharsen lag, denn es war ein ausgesprochener Anhänger aller Prinzipien. »Die einzige Schwierigkeit wäre nur -«

Kein Text in dieser Ausgabe

»Ach was!« rief der »Ritter des Gezückten Schwertes« mit der offenherzigen Brutalität dazwischen, die noch jedes Oberhaupt der Roten Provinzen in seinen Grundfesten erschüttert hat – »ach was! Man bürdet ganz einfach die Verantwortung an dem Zeugs irgendeinem Unterbeamten auf, gibt dem Dé links und rechts je einen handfesten Kommissar an die Seite, unterstützt ihn mit dem tüchtigsten Assistenten der Gegend, seift vor allem das Volk genügend ein mit der ›Furcht vor Gott, dem Herrn‹, und wenn’s dann noch schiefgehen sollte, sagt man eben: seine Kollegen sind schuld und haben ihm nicht genug beigestanden. Schließlich ist ja der Bezirksleiter immer der Sündenbock; wozu ist er denn da?« Die Folge der Rede war ein allgemeines stillschweigendes Einverständnis. Es sprach doch alles dafür!

Kein Text in dieser Ausgabe

III

»Wann wird denn der Mensch endlich seine Stellung antreten? Ich bin immer noch ganz allein hier und man munkelt, ich soll sein Unterbeamter bleiben.«

»Möchten Sie vielleicht um Versetzung einkommen?« fragte Bullows scharf.

Dann legte er seine Hand auf Tallantires Schulter: »Wir sitzen doch alle im selben Kahn; reißen Sie gefälligst nicht aus. Andererseits freilich, wenn Sie einen bessern Posten kriegen können, was sollte sie hindern?« »Der Umstand, daß früher Orde hier regiert hat«, sagte Tallantire schlicht.

»Gut. Aber jetzt macht’s der Dé. Er ist ein Bengali, angefüllt bis zum Hals mit Gesetzbuch und Paragraphen und überhaupt ein Prachtkerl, was Erfahrung und Schubladenarbeit anbetrifft; auch plaudert sich’s mit ihm sehr nett. Be greiflicherweise hat man ihn bisher in seinem Heimatsbezirk belassen, wo alle seine Schwestern zu Hause sind und seine Vettern und Tanten – irgendwo da unten im Süden von Dacca. Eigentlich hat er die ganze Gegend in eine nette Familiensinekure verwandelt, seinen Angestellten niemals dreingeredet und jedermann Gelegenheit zum stibitzen gelassen. Infolgedessen ist er ungeheuer beliebt da unten.«

»Damit will ich nichts zu schaffen haben. Aber sagen Sie mir, wie soll ich unserm Bezirk klarmachen, daß ein Bengali hier die Herrschaft kriegt? Meinen Sie – besser gesagt: meint die Regierung, daß die Khusru Kheyl so etwas ruhig hinnehmen? Was werden die mohammedanischen Häuptlinge der Dörfer sagen? Wie werden die Polizisten der Muzbi Sikhs und der Pathans unter Mr. Dé funktionieren? Wir müssen uns ja fügen, wenn man einen Universitätspedell zum Oberhaupt ernennt, aber das Volk wird aufmucken, das wissen Sie ganz genau. Es ist eine hirnverbrannte Idee.«

»Mein lieber Junge, ich weiß das alles und noch ein bißchen mehr. Ich habe meine Bedenken vorgebracht, aber man sagte mir, es seien ›knabenhafte‹ Vorurteile. Gott gebe, daß die Khusru Kheyl sich mit dem Vorwurf begnügen, ich kennte das Grenzland und seine Gebräuche nicht! Unsere einzigen Chancen sind, daß Sie zur Zeit noch den Bezirk fest in der Hand haben; ich meinerseits lasse alles liegen und stehen und helfe Ihnen, durchzuhalten. Ich verlange gar nicht, daß Sie mit dem Bengali durch dick und dünn gehen. Aber: tun Sie Ihr Bestes, lediglich um Ihrer selbst willen.«

»Um Ordes willen tat ich’s vielleicht. Um mein persönliches Interesse schere ich mich keinen Pfifferling.«

»Seien Sie kein Esel! Die Sache steht, weiß Gott, traurig genug; die Regierung wird es später schon einsehen. Wozu jetzt murren? Ihre Sache ist’s, den Bezirk in der Hand zu behalten; Ihre Sache, die Khusru Kheyl zu besänftigen und dem Curbar von der Polizei einzuschärfen, ein wachsames Auge auf alles zu haben. Ich bin jederzeit telegraphisch erreichbar und setze, wenn nötig, meinen Ruf aufs Spiel, wenn es darauf ankommt, den Bezirk zusammenzuhalten. Glückt Ihnen die Sache, dann wird allerdings er den Ruhm einheimsen; geht’s schief, wird man sagen, daß Sie ihn nicht ausreichend unterstützt hätten.«

»Ich weiß, welche Last man mir aufgebürdet hat«, sagte Tallantire traurig, »aber ich will ans Werk gehen. Es ist schwer.«

»Die Arbeit ist unser; der Erfolg steht bei Allah – wie Orde zu sagen pflegte, wenn ihm das Wasser in die Nase lief« – das waren Bullows letzte Worte, ehe er wegritt.

Daß zwei Gentlemen im Zivildienste Ihrer Majestät derart über einen dritten, der ebenfalls im Staatsdienst stand, sprechen konnten, zumal es sich um einen kultivierten und fähigen Mann handelte, mag seltsam und betrüblich erscheinen, aber man höre erst, was der blinde Mullah in Jagai, der Priester der Khusru Kheyl, für Reden hielt, wenn er auf seinem Felsen saß, von dem aus man über die ganze Grenze hinüberblicken konnte. Vor etwa fünf Jahren hatte ihm eine platzende Granate einer Batterie Erde in das Gesicht gespritzt, als er gerade einen Überfall der Ghazts auf ein halbes Dutzend britischer Bajonnette in Szene setzte; die Folge war, daß er erblindete, was ihn den Engländern gegenüber noch mehr in Harnisch brachte. Orde erfuhr damals von seinem Mißgeschick und lachte ihn deshalb – aus guten Gründen – öffentlich mehrmals aus.

»Hunde seid ihr«, sagte der blinde Mullah zu den aufhorchenden Stammeshäuptlingen am Lagerfeuer. »Verprügelte Hunde! Ihr habt auf Orde Sahib gehört und ihn Vater genannt; ihr habt euch benommen wie seine Kinder. Die britische Regierung hat jetzt bewiesen, wie sie euch einschätzt. Ihr wißt: Orde Sahib ist tot.«

»Ai! Ai! Ai!« klagte ein halbes Dutzend Stimmen.

»Ja, er! Er war ein Mann! Aber wer, glaubt ihr wohl, kommt jetzt an seine Stelle? Ein Bengali aus Bengalen – ein Fischfresser aus dem Süden!«

»Das ist eine Lüge!« sagte Khoda Dad Khan. »Wenn du dich noch länger als Priester patzig machst, stoß ich dir meinen Gewehrkolben in den Hals.«

»Oho, bist du auch da, du englischer Speichellecker?« höhnte der Mullah. »Geh nur morgen über die Grenze hinüber und biete deine Dienste dem Nachfolger Orde Sahibs an. Aber vergiß nicht, vor dem Zelteingang deine Schuhe auszuziehen! Es ist das Sitte, wenn man ein Geschenk in die schwarze Pfote eines Bengalen legt. Ich weiß das! In meiner Jugend hätte man einem Burschen den Gewehrkolben in den Hals gerannt, wenn er gewagt hätte, einen Mullah zu schmähen, der die Tür zu Himmel oder Hölle in der Hand hat.«

Der blinde Mullah haßte Khoda Dad Khan, wie nur ein Afghane hassen kann, denn beide waren Rivalen um die Vorherrschaft über den Stamm: den einen fürchtete man wegen seiner körperlichen Eigenschaften, den anderen wegen seiner geistigen. Khoda Dad Khan warf einen Blick auf Ordes Ring und grunzte: »Morgen gehe ich hin. Ich bin kein solcher Narr, Krieg gegen die Engländer zu predigen. Aber, wenn die Regierung wirklich verrückt geworden ist, dann -«

»Was dann?« krächzte der Mullah, »wirst du dann die jungen Leute aufrufen und die vier Dörfer im Grenzland besetzen?«

»Oder vielleicht dir wegen Verbreitung von Lügen den Kragen umdrehen, du schwarzer Rabe der Hölle!«

Khoda Dad Khan ölte sorgfältig seine langen Locken, zog seinen besten Buchara-Gürtel an, einen neuen Turban und schöne grüne Schuhe und stieg, begleitet von ein paar Freunden, die Berge hinab, um dem neuen Deputatskommissar von Kot-Kumharsen seinen Besuch abzustatten. Auch nahm er als Tribut vier oder fünf unschätzbare, goldene Mohurs aus den Zeiten des Kaisers Akbar mit – in ein weißes Schnupftuch gewickelt. Der Deputatskommissar hatte sie zu berühren und zurückzugeben. Die Zeremonie bedeutete, daß die Khusru Kheyl sich brav zu benehmen versprachen – in der nächsten Zeit, und vorausgesetzt, daß Khoda Dad Khan am Ruder blieb und ihm der neue Deputatskommissar auch sympathisch war. Solange Yardley-Orde an der Spitze stand, schloß der Besuch jedesmal mit einem solennen Festessen, gewürzt mit – wahrscheinlich verbotenen – Schnäpsen, für alle Fälle aber mit einigen wundervollen Erzählungen und Versicherungen unverbrüchlicher Freundschaft. Khoda Dad Khan befestigte sodann stets zu Hause seine Herrschaft aufs neue durch überschwengliche Schilderung des prunkvollen Empfangs, der ihm bereitet worden, nannte Orde Sahib und Tallantire königliche Prinzen und schwor, jedem bei lebendigem Leib die Haut abziehen zu lassen, der es wagen sollte, einen Raubzug in britisches Gebiet zu veranstalten. Diesmal schien alles beim alten geblieben zu sein: das Zelt des Deputatskommissars sah genauso aus wie früher, und da Khoda Dad Khan sich selbstverständlich dazu für berechtigt hielt, trat er ohne weiteres durch die offene Tür ein. Gleich darauf erblickte er einen dicken, süßlich lächelnden Bengali, der an einem Tische saß und schrieb. Völlig unwissend, welch erhebenden Einfluß eine sorgfältige Erziehung auf den Menschen ausübt, und überdies gänzlich verschlossenen Gemütes gegenüber Würden, die die Universität verleiht, schätzte Khoda Dad Khan den Mann als Babu – den eingeborenen Kommis des Deputatskommissars und das gehaßteste und verächtlichste Geschöpf – ein.

»Heda!« rief er in aufmunterndem Ton, »wo ist dein Herr, Babudschu?«

»Ich bin der Deputätskommissar«, antwortete der Gentleman auf englisch. Offenbar überschätzte er den Einfluß seiner Universitätswürden, sonst hätte er kaum Khoda Dad Khan so fixiert, wie er es jetzt tat. Wer nun aber gewohnt ist, von frühester Kindheit an Schlachtgetümmel, Mord und Totschlag vor Augen zu haben, und auf wessen Nerven vergossenes Blut nicht mehr Eindruck macht als rote Farbe, wer überdies, wie Khoda Dad Khan, felsenfest glaubt, daß ein Bengali der Sklave aller Hindustanis ist, die an und für sich schon tiefer stehen als das eigene große lebensfrohe Ich, der hält so manchen Blick aus, auch wenn er keine Erziehung genossen hat. Er kann auch einen graduierten Oxfordstudenten in Grund und Boden starren, gar, wenn dieser, physisch widerstandslos, Unbehaglichkeiten fürchtet wie manche Menschen die Sünde, und als Kind schon in den Schlaf geschreckt wurde mit Ammenmärchen von Teufeln, die in Afghanistan und dem schwarzen Norden hausen. Es dauerte denn auch nicht lange und die Augen hinter der goldenen Brille suchten den Fußboden! Khoda Dad Khan lachte kurz auf, machte kehrt und schritt hinaus, um gleich darauf Tallantire zu begegnen. »Hier«, sagte er rauh und hielt die Münzen hin, »berühre du sie und gib sie zurück! Das soll die Gewähr sein, daß ich für meine Person mich gut betragen will. Aber, o Sahib, hat denn die Regierung den Verstand verloren, daß sie uns einen schwarzen Bengalihund schickt? Und ich soll einem solchen Dienste leisten?! Und du arbeitest unter ihm? Was soll denn das heißen?«

»Es ist Befehl«, sagte Tallantire; er hatte ähnliches kommen sehen. »Er ist ein sehr geschickter S-sa-hib.« »Der und ein Sahib?! Ein kala admi ist er, ein Farbiger, und unfähig, einen Geschirrwagenesel am Schwanz festzuhalten! Alle Völker der Erde haben Bengalen geschröpft. Das ist sprichwörtlich. Wohin sind wir aus dem Norden denn gegangen, wenn wir Weiber brauchten oder plündern wollten? Nach Bengalen! Wohin sonst? Was ist das für ein Kindergeschwätz von Sahibwürde, gar jetzt, nachdem Orde Sahib hier geherrscht hat! In einer Beziehung hat also der blinde Mullah recht gehabt.«

»Was ist’s mit ihm?« fragte Tallantire betroffen; er mißtraute dem Alten mit den toten Augen und der tödlichen Zunge.

»Nun, da ich Orde Sahib Treue geschworen habe, als er starb drüben am Fluß, will ich es dir sagen. Aber zuerst: ist es wahr, daß die Engländer sich selbst die Ferse dieses Bengali in den Nacken gesetzt haben und englische Herrschaft nichts mehr gilt hier im Land?«

»Ich bin doch hier!« sagte Tallantire, »und ich diene der Maharani von England.«

»Der Mullah sagt anders: weil wir Orde Sahib geliebt haben und uns seiner starken Hand gefügt, habe die Regierung ein Schwein hergeschickt, um uns zu zeigen, daß wir Hunde sind. Dann heißt es: die weißen Soldaten werden zurückgezogen und durch Hindustanis ersetzt. Kurz: alles soll anders werden.«

Nichts ist schlimmer, als ein großes Land falsch behandeln! Sieht etwas noch so vernünftig aus in Kalkutta, so richtig in Bombay, so angebracht für Madras – für den Norden bedeutet es einen Schlag ins Gesicht und bringt das Uferland des Indus außer Rand und Band. Khoda Dad Khan erklärte, so gut er konnte, daß wohl er selbst die besten Absichten habe, aber nicht einstehe für die weniger überlegten Häuptlinge seines Stammes, zumal diese fast alle unter dem Einfluß des blinden Mullahs stünden. Ob es nun Aufstände geben würde oder nicht, keinesfalls dächte auch nur einer daran, dem neuen Deputatskommissar Gefolgschaft zu lei sten, dessen sei er sicher. Und ob denn Tallantire wirklich meine, daß für den Fall eines regelrechten Grenzüberfalles die vorhandenen Regierungsstreitkräfte genügten?

»Richte dem Mullah aus«, sagte Tallantire kurz, »wenn er noch weiter so dummes Zeug schwatzt, jagt er seine Leute nur in einen sichern Tod und seinen Stamm der Blockade entgegen, der Kontribution und der Entrichtung von Blutgeld. Aber was soll ich noch länger diskutieren mit jemand, dessen Stimme kein Gewicht mehr hat im Rate der Stämme!«

Khoda Dad Khan steckte die Beleidigung schweigend ein: er wußte genau, daß er noch lange nicht ausgelernt hatte, und kehrte zurück in seine Berge, wo ihm der Mullah, dessen aufreizende Reden von Mund zu Mund gingen an den Lagerfeuern und schneller zündeten als die Glut der getrockneten Dungfladen, einen sarkastischen Empfang bereitete.

IV

Wie sieht der fast unbekannte Bezirk von Kot-Kumharsen aus? Wälle aus dürrer Erde und aufgetürmten Felsen, an die Berge von Khosru angelehnt und der Länge nach durchschnitten vom Indusstrom. Siebzig Meilen lang und fünfzig breit, beherbergte das Gebiet eine Bevölkerung von weniger als Zweihunderttausend Seelen und mußte eine jährliche Abgabe von vierzigtausend Pfund leisten für Erträgnisse aus einem Boden, der nicht viel anderes war als eine trostlose Wüstenei. Die Ackerbebauer waren unfreundliche Leute, die Salzminer noch mehr und die Viehzüchter erst recht. Ein Polizeiposten rechts oben auf einer Anhöhe und ein dünnwandiges Lehm-Fort links oben sahen auf Ordnung, wenn allzuviel Salz geschmuggelt oder mehr Vieh gestohlen wurde, als der Einfluß der Einwohner verhindern konnte. Rechter Hand unten im Tal liegt Jumala, das Hauptquartier des Bezirkes, ein Nest aus Lehmbaracken, die man Häuser nennt – heimgesucht vom Sommerfieber und mit Dächern bedeckt, die in der Hitze klaffen und in der nassen Jahreszeit lecken.

So war der Ort beschaffen, dessen Herrschaft anzutreten Grish Caunder Dé berufen wurde. Die Nachricht von seinem Kommen war ihm lange schon vorausgeeilt. Bengalis sind so selten wie Pudel da oben unter den Grenzbewohnern, die sich die Köpfe blutig schlagen mit ihren langen Spaten und vor Hindu- und mohammedanischen Heiligenschreinen zu beten pflegen. Sie rotteten sich zusammen, um Grish Chunder Dés Anblick teilhaftig werden zu können, deuteten mit Fingern und verglichen ihn mit einer trächtigen Milchkuh oder einem niedergebrochenen Pferd, wie es ihnen gerade in den Mund kam. Sie lachten über seine Polizeigarde und wollten gern wissen, seit wann denn die vollbepackten Sikhs bengalische Affen mit sich führten. Sie fragten höhnisch, ob er denn auch alle seine Weiber mitgebracht hätte, und rieten ihm eindringlich, sich ja nicht etwa an die ihrigen heranzumachen. Einer alten runzligen Hexe am Wegesrand blieb vorbehalten, daß sie sich auf ihre ausgemergelten Brüste schlug, als er vorbeikam, und kreischte: »Sechse habe ich gesäugt, die imstande gewesen wären, sechstausend von solchen aufzufressen, wie er einer ist. Die Regierung hat sie erschossen, aber den da machen sie zum König!« Worauf ein blaubeturbanter knochiger Pflugscharschleifer ihr zuschrie: »Keine Sorge, Mutter meiniges, er wird schon noch denselben Weg gehen wie deine Bankerte!« Auch die Kinder, die kleinen runden braunen Pudelbälle, machten neugierige Augen. Wie ergötzlich für die Jugend, sich in Orde Sahibs Zelt zu drängen, wo es Kupfermünzen regnete, wenn man die Hand hinhielt – und auch Märchen erzählt wurden, so buchgetreu, daß selbst die eigenen Mütter kaum die Hälfte davon kannten. Allerdings: wie Pir Prith den zehn Teufeln die Augenzähne ausriß, wie sich die großen Steine oben auf den Berggipfeln des Khusru in Reih und Glied stellten, oder was geschieht, wenn man abends durch das Dorftor dem grauen Wolf zuschreit: »Badl Khas ist tot«, – davon wußte der fette schwarze Kerl drin nichts zu berichten. Mittlerweile schwätzte Grish Chunder Dé viel und schnell auf Tallantire ein – nach der Gewohnheit aller derer, die sich hyperenglisch geben -, von Ehrendinners, Cricketmatches, Jagdrennen, von der »Heimat« drüben und ähnlichem fremden Zeug und Sport. »Wir müssen die Burschen fest in die Hand kriegen«, flocht er bisweilen, unbehaglich gestimmt, ein; »besorgen Sie das! Nur die Zügel nicht auslassen! Sie verstehen: es hat keinen Zweck, in Ihrem Distrikt ein Auge zuzudrücken.«

Aber gleich darauf hörte Tallantire, wie Debendra Nath Dé, der seinem hohen Verwandten brüderlicherweise nachgefolgt war auf seinem Triumphzug, hoffend, daß für ihn etwas abfallen möchte durch dessen Protektion, und sei es auch nur eine Wahlstelle, auf bengalisch flüsterte: »Besser geräucherte Fische in Dacca als gezückte Schwerter in Delhi! Bruder, hör auf mich: diese Menschen sind Teufel, wie unsere Mutter zu sagen pflegte! Du wirst immer mit einem Fuß im Steigbügel bleiben müssen!«

Noch in der selben Nacht sollte seitens des neuen Deputatskommissars in einem verfallenen Dorf, dreißig Meilen hinter Jumala, eine öffentliche Ansprache gehalten werden, gewissermaßen als Antwort auf den »festlichen« Empfang, den die eingeborenen Beamten bereitet hatten. Es war eine sorgfältig ausgearbeitete Rede, die sicherlich sehr gewirkt haben würde, wenn nicht der dritte Satz mit den Worten begonnen hätte: »Hamara hookum hai«[Es ist mein Befehl] Gelächter, klar und glockenrein, brach los; es kam aus dem Hintergrund des Zeltes, wo ein paar Landbesitzer aus dem Grenzgebiet saßen, schwoll an, mit Ausrufen des Zornes gemischt; und das magere, lauernde Gesicht Debendra Nath Dés wurde blaß. Grish Chunder aber wandte sich zu Tallantire und sprach: »Sie – natürlich Sie haben das arrangiert.« Mitten in den Lärm hinein tönte der Schall von Hufschlägen, und gleich darauf trat Gurbar ein, der Befehlshaber der Bezirkspolizei, schwitzend und staubbedeckt. Der Staat hatte ihn durch volle siebzehn schwere Jahre in einen Winkel der Provinz verbannt, damit er dort den Salzschmuggel in Schach halte und auf eine Beförderung harre, die niemals eintrat. Curbar hielt seit langem nicht mehr auf eine weiße Uniform, trug rostige Anschraubsporen und auf dem Kopf bald einen Helm, bald einen Turban. Versauert, alt, verbraucht von Hitze und Kälte, wartete er nur noch auf eine ausreichende Pension, um vor dem Verhungern gesichert zu sein.

»Tallantire«, sagte er, Grish Chunder Dé auch nicht eines Blickes würdigend, »kommen Sie mal raus; ich muß mit Ihnen sprechen. Es handelt sich nämlich um folgendes«, fuhr er draußen fort, »die Khusru Kheyl sind eingebrochen, haben ein halbes Dutzend Kulis an Ferris‘ Kanalufer abgeschnitten, ein paar Leute umgebracht und ein Frauenzimmer weggeschleppt. Ich wollte Sie deswegen nicht erst alarmieren, denn Ferris ist hinter ihnen her und Hugonin, mein Assistent, mit zehn Mann, aber ich glaube, es ist erst der Anfang. Ihre Feuer brennen auf den Höhen des Hassan Ardeb und, wenn wir uns nicht rasch dazu halten, steht bald das ganze Grenzgebiet in Flammen; sie werden zuerst die vier Khusru-Dörfer aufs Korn nehmen, denn mit denen stehen sie schon seit Jahren auf schlechtem Fuß. Sie wissen doch: der blinde Mullah predigt den Heiligen Krieg, seit Orde tot ist. Was meinen Sie?«

»Verdammt!« brummte Tallantire. »Das ist schnell gegangen. Nun, ich glaube, es ist das beste, ich reite zum Fort Ziar und raffe, wenn es nicht überhaupt schon zu spät ist, soviel Talbewohner zusammen, wie ich kann. Ich meine, Tommy Dodd hat zurzeit das Kommando in Fort Ziar? Ferris und Hugonin sollten der Räuberbande einen Denkzettel geben und – aber nein, es geht nicht, daß das Oberhaupt der Polizei in zu auffälliger Weise die Bezirkskasse bewacht: gehen Sie zurück an den Kanal! Ich werde Bullows telegraphieren, er soll nach Jumala kommen mit einem starken Polizeiaufgebot und sich auf die Kasse setzen. Wenn die Kerle auch nicht hindringen werden, so sieht es doch gut aus.«

»Ich -ich – bestehe darauf: ich will wissen, was hier vorgeht!« ertönte da die Stimme des Deputatskommissars, der den beiden heimlich nachgekommen war.

»Na«, sagte Curbar nachlässig (er als Polizist konnte nicht begreifen, daß fünfzehn Jahre sorgfältige Erziehung aus einem Bengali einen Briten machen können). »Na, ein Gefecht hat halt stattgefunden im Grenzgebiet und Menschen sind haufenweis erschlagen worden. Na, und dann gibt’s eben noch ein Gefecht und noch mehr Menschen werden erschlagen.«

»Und warum?«

»Weil die lumpigen paar Millionen im Bezirk mit Ihnen nicht so recht einverstanden sind und glauben, unter Ihrer gesegneten Regierung allerhand Sehindluder treiben zu dürfen. Sie hätten eben besser Vorsorgen müssen! Ich handle, das wissen Sie, ganz nach Ihren Befehlen. Was raten Sie also jetzt?«

»Ich rufe Sie alle zu Zeugen, daß ich mein Amt offiziell noch gar nicht angetreten habe!« stotterte der Deputatskommissar, diesmal nichts weniger als hyperenglisch.

»Ach so! Hab mir sowas gleich gedacht. Ja, was ich sagen wollte, Tallantire! Ihr Plan ist gut. Führen Sie ihn aus! Brauchen Sie eine Eskorte?«

»Nein, nur ein gutes Pferd. Wer wird aber das Telegramm ins Hauptquartier aufgeben?«

»Nach der Blässe im Gesicht Ihres Herrn Vorgesetzten zu schließen, wird, glaube ich, er selbst, bevor die Nacht noch rum ist, einige wundervolle Depeschen vom Stapel lassen; und wir werden nicht lang zu warten brauchen, dann haben wir die Hälfte aller Provinztruppen hier, um den Aufstand zu ersticken. Also gut: reiten Sie los! Aber geben Sie acht auf sich! Vergessen Sie nicht: die Khusru Kheyl stechen mit dem Messer von unten nach oben. Hallo, Mir Khan, bring dem Tallantire Sahib das beste Pferd, das wir haben; und fünf Mann sollen nach Jumala reiten zum Schutz des Deputatskommissars Sahib Bahadur. Ein bißchen geschwind aber!«

Geschwind ging es allerdings und nicht zumindest durch Debendra Nath Dés Zutun, der, in einem Polizeisattel klebend, beständig nach dem kürzesten – nämlich dem allerkürzesten Weg nach Jumala fragte. Die Bengalen sind nun einmal originelle Leute. Eigentlich hätte Debendra Nath bei seinem Bruder bleiben sollen, aber dieser hatte bereits per Eisenbahn das Weite gesucht und war nach Jumala abgedampft, seinen Göttern – Göttern, die der katholischsten aller Universitäten sicherlich völlig unbekannt sind – dankend, daß er sein Amt offiziell noch nicht angetreten hatte. So blieb ihm immer noch der Ausweg, sich – o herrliche Zuflucht aller geistesgegenwärtigen Rassen! – rechtzeitig krank zu stellen.

Betrüblicherweise setzten zu alledem noch zwei, rohen Späßen keineswegs abholde Polizisten einen Schabernack auf seine Kosten in Szene, kaum daß er das schirmende Dach über seinem Haupte wußte. Sie hatten es ausgeheckt, als sie so dahinplumpsten in ihren Sätteln nach Jumala. Sie betraten – zuerst der eine und nach einer Weile der zweite – das Zimmer des Gewaltigen und überboten einander mit blutrünstigen Schilderungen des Krieges und der Massen teuflischer Stämme, die da ganze Städte in Brand setzten. Es wäre ein Spaß gewesen, sagten diese Unholde später, fast so, wie ein Verfolgungsritt mit Curbar hinter fliehenden Afghanen drein. Jede einzelne Schreckensschilderung scheuchte den Unglücklichen immer von neuem an den Schreibtisch, wo er dann halbestundenlange Depeschen aufsetzte voll Greuelbotschaften, als handle es sich um eine Wiederholung des historischen Blutbades zu Delhi. An jeden Machthaber telegraphierte er, von dem sich voraussetzen ließ, er sei imstande, ein Bajonett mobil zu machen. Unsagbares hätte sich begeben, wären die Depeschen abgeschickt worden, aber zum Glück schlief der einzige Beamte auf der Post bereits, und der Stationsvorstand meinte nach einem kurzen Blick auf den Stoß bekritzelten Papiers, mit Hinsicht auf die Eisenbahnvorschriften sei die Beförderung kaiserlicher Botschaften nicht gestattet; so knüllten denn die beiden Polizisten, Ram Singh und Nihal Singh, das Zeug zusammen zu Polstern und schliefen darauf den Schlaf der Gerechten.

Tallantire gab seinem ungebärdigen Scheckenhengst mit den porzellanblauen Augen die Sporen und machte sich auf einen vierzig Meilen langen Ritt nach dem Fort Ziar gefaßt. Er kannte die Gegend des ganzen Distriktes auswendig und gab sich nicht erst die Mühe, Wege abzuschneiden, sondern ritt in gerader Luftlinie auf die Furt zu. wo Orde gestorben war und begraben lag. Der staubige Boden verschlang das Geräusch der Hufschläge und der Mond warf den Pferdeschatten voraus als ein ruheloses Gespenst; der schwere Tau durchnäßte den Reiter bis auf die Haut. Tamariskenblätter peitschten seine Stirn, dann wieder: kahle Hügellandschaft, hohes Gestrüpp, das den Bauch des Gauls kämmte wie Bürsten, endlose Tiefebene, durchfurcht von Äckern und gefleckt von schlafenden Herden; Wüstenei, und abermals Hügel flogen vorüber, dann arbeitete sich der Hengst durch den tiefen Sand der Indus-Furt. Tallantire kam zu keinem rechten Bewußtsein, bis er den Bug der schlingernden Fähre drüben im Fluß erkannte und zugleich sein Pferd schnaubend scheute vor dem weißen Stein auf Ordes Grab. Da raffte er sich auf und schrie, daß der Tote es hören möge: »Der Tanz geht los. Wünsch mir Glück, Alter!« Dann hämmerte er mit dem Steigbügeleisen in der eisigen Dämmerung an das Tor der Festung Ziar, hinter deren Mauern fünfzig zerlumpte Beshakli Beludschen mit ihren Säbeln weilten, um nötigenfalls die Interessen Ihrer Majestät auf ein paar hundert Meilen in der Runde des Grenzlandes zu wahren. Dieses einzigartige Fort stand unter dem Kommando eines Subalternen, der der alten Familie der Derouletts entstammte, aber nichtsdestoweniger auf den Namen Tommy Dodd hörte. Tallantire fand ihn wach, in einen Schaffellmantel gehüllt, zitternd vor Fieber wie Espenlaub, und damit beschäftigt, die Eingeborenen-Arzneiliste für Invaliden zu studieren.

»Sind Sie also doch gekommen, Tallantire«, sagte er. »Schön. Aber wir sind alle krank hier, und ich bezweifle, ob ich dreißig Mann in den Sattel kriege. Aber – bub-bub-bub – wir tun’s herzensgern. Halt: glauben Sie, ist das da eine Falle, oder eine Lüge?« – er schob Tallantire einen Bogen Papier hin; darauf stand in Gurmukhi-Kraxelfüßen: »Junge Füllen kann man nicht zurückhalten. Wenn der Mond untergeht, hinabsteigt in die vier Dörfer vom Jagai-Paß, wollen sie zum Freßtrog in der Nacht!« – und darunter in runder englischer Schrift: »Dein aufrichtiger Freund.«

»Braver Kerl!« sagte Tallantire. »Das ist Khoda Dad Khans Werk. Es sind die einzigen englischen Worte, die er sich gemerkt hat; ich erinnere mich genau. Er bildet sich einen Mordsfetzen darauf ein. Er spielt also auf eigene Faust Karten gegen den blinden Mullah, der Fuchs.«

»Ich kenne die Politik der Khusru Kheyl nicht, aber wenn Sie zufrieden sind, dann bin ich’s auch«, sagte Tommy Dodd. »Man hat den Brief gestern nacht übers Tor hereingeworfen, und da sagte ich mir, wir müßten uns einen heftigen Ruck geben und nachforschen, was los ist. Ach Gott, wenn nur das Fieber nicht wäre! Glauben Sie, es wird ein festes Geraufe werden?«

Tallantire schilderte in kurzen Worten die Sachlage, und Tommy Dodd pfiff dazu oder schüttelte sich zur Abwechslung im Fieber. Der ganze Tag war sodann der Strategie und den Finessen der Kriegskunst geweiht, sowie der Wiederbelebung der Invaliden, bis gegen Abend glücklich zweiundvierzig Soldaten auf den Beinen standen, mager, hinfällig und ungekämmt, auf die Tommy Dodd mit Stolz blickte, sie mit folgenden Worten anredend: »Ihr Männer! Wenn ihr sterbt, so fahrt ihr zur Hölle. Deshalb rafft euch auf und bleibt hübsch am Leben! Wenn ihr aber zur Hölle fahrt, dann werdet ihr es dort heißer finden als irgendwo anders, und von kaltem Fieber wird nicht mehr die Rede sein. Deshalb fürchtet euch nicht vor dem Tod. Kehrt euch! Marsch!« Die Leute grinsten und gingen.

V

Lang, lang wird die Erinnerung an jenen nächtlichen Überfall auf die Tal-Dörfer fortleben in den Herzen der Khusru Kheyl! Der Mullah hatte ihnen einen leichten Sieg und unzählbare Beute verheißen, aber – wie aus dem Boden wuchsen die Truppen der Königin, hieben und stachen, kamen angeritten im Sternenlicht, daß bald keiner mehr wußte, wohin sich wenden, und alle, wähnend, sie seien umzingelt von Armeen, in wilder Flucht zurückeilten in ihre Berge. In der Panik fielen so manche, aufgeschlitzt vom Messer der Afghanen, die von unten nach oben ihren Stoß führen, aber mehr noch unter dem Feuer der langen Karabiner. Da erhob sich der Schrei: »Verrat! Verrat!«; und als die Fliehenden die befestigten Höhen ihrer Berge erklommen hatten, fehlten vierzig Mann, die gefallen waren, und sechzig Verwundete. Aber auch der Glaube an den blinden Mullah war dahin! Man schrie, fluchte und stritt sich an den Lagerfeuern; die Weiber jammerten um ihre Söhne und Männer; und der Mullah heulte Flüche auf die Zurückgekehrten herab.

Da stand Khoda Dad Khan auf, beredt und ungebrochen, denn er hatte an der Schlacht nicht teilgenommen – er hielt den Augenblick für gekommen. Punkt für Punkt machte er dem Stamme klar, daß nur der Mullah die Schuld trug an all dem Unheil, daß er gelogen hatte in jeder Hinsicht und sie durch sein Geschwätz in eine Falle gelockt. Freilich sei es eine Beleidigung, daß ein Bengali, der Sohn eines Bengali, beauftragt worden, die Leitung des Grenzlandes zu übernehmen, aber es bedeute noch lange nicht, wie der Mullah fälschlich behauptet habe, den Anbruch einer Zeit der Willkür und Selbständigkeit. Auch habe der unerklärliche Wahnsinn der englischen Regierung ihre Macht nicht geschwächt. Im Gegenteil, der betrogene und vom Anschluß abgetrennte Stamm werde gerade jetzt, wo seine Scheunen leerstünden, mit Blockade gegenüber dem Handel mit Hindustan bestraft, bis Geiseln gestellt würden als Bürgschaft für künftiges Wohlverhalten – habe Schadenersatz zu leisten und Blutgeld zu zahlen – sechsunddreißig englische Pfund für jeden erschlagenen Dörfler! – »Und ihr könnt euch denken«, erklärte Khoda Dad Khan, »daß diese Hunde von Talbewohnern beschwören werden, wir hätten ihrer schockweise umgebracht. Wird der Mullah die Schulden begleichen, oder sollen wir unsere Gewehre verkaufen?« – Ein lautes Murren lief um die Lagerfeuer. – »Ihr seht also: es war des Mullahs Werk, und wir haben nichts dafür bekommen als Versprechungen des Paradieses. Es fehlt uns, ihr wißt, ein Heiligenschrein, um davor zu beten. Wir sind zu geschwächt, als daß wir, wie bisher, uns hinüberwagen könnten ins Gebiet der Madar Kheyl, um am Grabe Pir Sajjis zu knien und unsere Andacht zu verrichten. Die Madar Kheyl würden über uns herfallen – und mit Recht. Unser Mullah aber ist ein heiliger Mann. Er hat hundert Leuten unseres Stammes ins Paradies verhelfen diese Nacht. Soll er ihnen nachfolgen! Wir wollen einen Dom errichten über seinem Leichnam aus blauen Multan-Ziegeln und Lampen anzünden zu seinen Füßen jeden Freitag. Er soll ein Heiliger werden, wir haben unsern Schrein, und unsere Weiber werden davor beten um Nachkommenschaft, auf daß die Lücken sich wieder füllen in unseren Reihen. Wie denkt ihr darüber?«

Ein grimmiges Kichern folgte auf diesen Vorschlag, und das leise »Ft, ft«, wie die Dolche aus den Scheiden gezogen wurden, folgte dem Kichern. Es war eine treffliche Anregung gewesen und entsprach einem lange gehegten Herzensbedürfnis des Stammes. Der Mullah sprang auf und glotzte mit seinen verschrumpften Augäpfeln vergeblich umher nach dem drohenden, unsichtbaren Tod; rief den Fluch Gottes und Mohammeds herab auf den Stamm! Dann begann eine Art Blinde-Kuh-Spiel zwischen den Lagerfeuern. Khuruk Shah, der Barde des Stammes, hat es in unsterblichen Versen besungen.

Sie kitzelten ihn mit den Spitzen ihrer Messer in den Achselhöhlen: er sprang heulend zur Seite – nur, um gleich darauf eine kalte Klinge im Nacken zu fühlen oder eine Flintenmündung im Bart. Er rief seine Anhänger zu Hilfe, aber die meisten von ihnen lagen erschlagen unten in der Ebene; für die Abwesenheit gerade der Entschlossensten hatte Khoda Dad Khan schon von Anfang an gesorgt. Die Männer verhöhnten den Blinden mit Schilderungen, wie herrlich der Schrein sein würde, und die Kinder klatschten in die Hände und schrien: »Lauf, Mullah, lauf! Hinter dir steht einer!« Schließlich, als der Sport anfing, langweilig zu werden, jagte ihm Khoda Dad Khans Bruder ein Messer zwischen die Rippen. »So«, sagte Khoda Dad Khan mit entzückender Schlichtheit, »so, jetzt bin ich der Führer der Khusru Kheyl!« Niemand erhob Einwände, und alles legte sich schlafen.

Unten in der Ebene hielt Tommy Dodd einen Vortrag über die Schönheit einer Kavallerie-Attacke in der Nacht, und Tallantire keuchte nervenerschüttert dazu, im Sattel zusammengekrümmt, denn der an seinem Handgelenk baumelnde Säbel troff vom Blute der Khusru Kheyl, des Stammes, den Orde so gut im Zaum gehalten. Als ein Radschput-Soldat darauf hinwies, daß dem Schecken das rechte Ohr an der Wurzel glatt abgehauen war – offenbar infolge eines Säbelhiebes seines ungeschickten Reiters, da brach Tallantire völlig zusammen, und schluchzte und lachte nervös durcheinander, bis Tommy Dodd ihn flach auf den Boden legte und beruhigte.

»Wir müssen warten bis zum Morgen«, sagte er. »Ich habe dem Obersten telegraphiert, bevor wir ausrückten, er solle uns einen Flügel Beshaklis nachschicken. Er wird rasen, daß ich die Sache allein erledigt habe, aber: macht nichts, die Bergbanditen werden jetzt Ruhe geben.«

»Schick deine Beludschen doch mal an den Kanal hinüber; sie sollen nach Curbar sehen, Tommy! Übrigens, weißt du auch sicher, daß – daß das – Zeug da am Säbel nur von dem Ohr des Schecken herrührt?«

»Aber selbstverständlich«, sagte Tommy, »du hättest ihm ja beinahe den Kopf abgeschlagen. Ich hab’s ganz deutlich gesehen, als der Tanz anfing. Schlaf jetzt, alter Bursche.«

Der Nachmittag brachte zwei Schwadronen Beshaklis zur Stelle und eine Gesellschaft befreundeter Offiziere, die Tommy Dodd vor ein Kriegsgericht gestellt zu sehen wünschten, da er ihnen, unkameradschaftlicherweise, das »Picknick« verdorben habe; sodann gab’s einen gemeinschaftlichen Galopp über Land zum Kanalwerk, wo Ferris, Curbar und Hugonin den schreckensbleichen Kulis zuredeten, doch nicht eine so gute Arbeit und hohen Lohn im Stiche zu lassen, bloß weil die Khusru Kheyl einem halben Dutzend von ihnen die Hälse durchgeschnitten hatten. Der Anblick einer Truppe Beshaklis stellte das erschütterte Vertrauen bald wieder her, und die von Polizisten verfolgten Räuber hatten das zweifelhafte Vergnügen, zusahen zu müssen, wie das fleißige Summen der Arbeit am Kanalufer von neuem begann, wobei diejenigen, die in den Wasserläufen ihre Zuflucht gesucht, von den Truppen aufgestöbert wurden. Bei Sonnenuntergang trat dann seitens der Polizeipatrouille eine erbarmungslose Streife ein, die ganze Grenze entlang – ähnlich einem rastlosen Kuhhirtenritt um eine unruhige Viehherde.

»Da seht ihr’s«, sagte Khoda Dad Khan zu seinen Leuten und deutete von den flackernden Lagerfeuern hinab ins Tal, »wie wenig sich gegen früher die Zustände geändert haben! Nach ihrer Reiterei werden die kleinen Teufelskanonen kommen, die sie bis herauf auf unsere Gipfel schleppen können, und die bis in die Wolken die Kugeln tragen, wie ich weiß. Wenn der Stammesrat es für gut befindet, so will ich zu Tallantire Sahib gehen – er liebt mich – und versuchen, ob ich nicht wenigstens die Blockade verhüten kann. Soll ich im Namen des Stammes reden?«

»Ay, sprich für den Stamm in Gottes Namen. Wie die verdammten Feuer blinken! Schicken die Engländer ihre Truppen mit dem Telegraphendraht, oder ist es ein Werk dieses Bengali?«

Als Khoda Dad Khan eben im Begriffe war, den Berg hinabzusteigen, begegnete er einem Stammesgenossen, und ein kurzes Gespräch bewog ihn, rasch wieder umzukehren und etwas zu holen, was er anscheinend vergessen hatte. Sodann ließ er sich von den zwei Soldaten, die hinter seinem Freunde hergewesen waren, zu Tallantire Sahib eskortieren, der sich angeblich mit Bullows in Jumala befand. An der Grenze war alles ruhig, und die Zeit des brieflichen Meinungsaustausches hatte begonnen.

»Gott sei Dank«, sagte Bullows, »daß es zu einem Aufstand gekommen ist! Wir können natürlich nicht das Thema auf werfen: hie Farbig, hie Weiß, aber ganz Indien wird verstehen, was wir sagen wollen. Besser ein scharfer, kurzer Wutausbruch im Distrikt, als fünf Jahre einer impotenten Regierung innerhalb des Grenzgebietes. Es kostet weniger. Grish Chunder Dé hat sich krank gemeldet; man hat ihn ohne Vorwurf in seine eigene Provinz zurückberufen. Er hat sich ausdrücklich darauf ausgeredet, daß er sein Amt hier noch nicht offiziell angetreten habe.«

»Natürlich«, sagte Tallantire bitter. »Gut, und welche Schuld wird man mir zuschieben?«

»Oh, man wird sagen, Sie hätten ihre Befugnisse überschritten und außerdem versäumt, rechtzeitig zu warnen und einen Einfall der Khusru Kheyl drei Wochen früher vorherzusagen. Aber ich denke, die Autoritäten werden nicht wagen, viel Aufhebens davon zu machen; sie haben eine Lektion gekriegt. Haben Sie übrigens Curbars Notizen über den Vorfall gelesen? Einen ordnungsmäßigen Bericht kann er nicht schreiben, wohl aber einen wahrheitsgetreuen.«

»Was nützt die Wahrheit? Am besten, er zerrisse seinen Bericht. Ich bin krank an Leib und Seele. Es war alles so gänzlich unnötig – höchstens, daß wir den Babu los sind.«

In diesem Augenblick trat Khoda Dad Khan ein, in der Hand einen auffallend straff gefüllten Furagebeutel, und hinter ihm die zwei Soldaten.

»Möget ihr niemals ermüden!« sagte er fröhlich. »Eine schöne Schlacht war’s, Sahibs! Und dir, Tallantire Sahib, ist Naim Schahs Mutter zu besonderer Anerkennung verpflichtet. Ein glatter Hieb, so höre ich, vom Hals bis tief hinunter zum Brustbein, durch den gefütterten Mantel hindurch! Brav gemacht! Aber ich spreche jetzt für den Stamm. Es war ein Fehler – ein großer Fehler. Du weißt, Tallantire Sahib, daß ich und die meinen den Eid gehalten haben, den wir Orde Sahib schwuren am Ufer des Indus.«

»Ja. So einschneidig wie ein afghanisches Messer: stumpf auf der einen und scharf auf der andern Seite!« sagte Tallantire.

»Ebendarum ist es so wirksam beim Hieb! Aber, ich spreche die Wahrheit, bei Gott! Nur der blinde Mullah hat die jungen Leute hineingehetzt mit der Spitze seiner Zunge; er hat gesagt, es gäbe kein Grenzgesetz mehr, seit der Bengali hergeschickt wurde, und man brauche die Engländer nicht mehr zu fürchten. Da sind sie hinuntergestiegen, um Rache für die Beleidigung zu nehmen und Beute zu machen. Damit ihr uns Glauben schenket, haben wir dem blinden Mullah, dessen üble Ratschläge den Stamm zur Unbesonnenheit verleitet haben, den Kopf abgeschnitten. Zum Beweis hab ich ihn mitgebracht«, – er warf den Kopf auf den Boden – »er wird keinen Aufstand mehr machen, denn jetzt bin ich der Führer und habe die oberste Stimme. Aber hier ist noch ein Seitenstück zu dem Kopf. Es hat noch ein zweiter Fehler stattgefunden. Einer unserer Leute hat das schwarze Bengali-Vieh erwischt, das schuld war, daß der Aufstand losbrach. Alla Dad Khan hat es gesehen, wie es weinend zu Pferd herumstreunte, und da er daran dachte, daß es die Schuld an so vielem vergossenen Blut trägt, hat er ihm den Kopf abgesäbelt; ich bringe ihn mit, auf daß ihr eure Schmach mit ihm begraben könnt. Wenn ihr es wünscht, lasse ich Alla Dad Khan morgen erschießen. Seht her: nicht einmal die Brille haben sie ihm genommen, trotzdem sie aus Gold ist!«

Langsam rollte zu Tallantires Füßen hin der kurzgeschorene Schädel eines bebrillten, bengalischen Gentlemans, die Augen aufgerissen, den Mund weit offen: der Kopf des Schreckens selber in leibhaftiger Gestalt! Bullows bückte sich herab: »Wieder ein Blutgeld, und ein sehr schweres, Khoda Dad Khan, denn dies ist der Kopf Debendra Naths, des Bruders! Der Babu selbst hat sich längst in Sicherheit gebracht. Alle wissen es, nur die Narren von Khusru Kheyl wissen es nicht.«

»Meinetwegen. Ich kümmere mich nicht um Aas. Fleisch ist Fleisch. Das Vieh hat unten am Bergesrand nach der Straße nach Jumala gefragt, und da hat ihm Alla Dad Khan halt den Weg in die Hölle gezeigt, eben, weil er ein Narr ist, wie du sagst. Bleibt nur noch zu erörtern, was die Regierung in unserm Fall zu tun gedenkt. Also: zur Blockade -«

»Wer bist du denn, du Verkäufer von Hundefleisch«, donnerte Tallantire los, »daß du es wagst, von Verträgen und Verhandlungen zu reden? Pack dich in deine Berge – geh! Und warte dort und hungere, bis die Regierung geruht, dein Volk zur Strafe zu rufen; Kinder und Narren, die ihr seid! Zählt eure Toten und schweigt. Haltet Ruhe, bis euch die Regierung einen – Mann schickt.«

»Das wird gut sein«, erwiderte Khoda Dad Khan, »sind doch auch wir Männer.«

Dann blickte er lang und fest Tallantire zwischen die Augen und fügte hinzu: »Bei Gott, Sahib, mögest du dieser Mann sein!«

Serang Pambés Harren und Hoffen

Faßt man alle Einzelheiten des Falles ins Auge, so drängt sich einem die Überzeugung auf: Pambé, der Serang, konnte nur so und nicht anders handeln. Freilich: er wurde dafür so lange am Halse aufgehängt, bis er starb; aber Nurkeed ist tot!

Vor drei Jahren, als der Elsaß-Lothringer Dampfer »Saarbrücken« bei geradezu fürchterlich heißem Wetter Kohlen in Aden einnahm, erbat sich Nurkeed, der große, dicke Sansibar-Heizer, der den ungeheuren Kessel rechts unten, dreißig Fuß unter dem Deck, bediente, Urlaub, um ein wenig an Land zu gehen. Als nüchterner »Sidi-boy« – so heißen die Heizer – verließ er das Schiff, aber zurück kam er als Vollblut-Sultan von Sansibar – als Seine Hoheit Sayyid Burgash, mit einer Flasche in jeder Hand. Dann fläzte er sich auf das Lukengitter des Vorderdecks hin, fraß Salzfisch mit Zwiebel und sang die Lieder eines fernen Landes dazu. Eigentlich gehörte das Mahl Pambé, dem Serang oder Oberhaupt der indischen Matrosen, der es soeben erst für sich selbst gekocht hatte und nur einen Augenblick weggegangen war, um sich das nötige Salz dazu auszuborgen. Als er zurückkehrte, war es zu spät: Nurkeeds schmutzige Finger steckten bereits in der Schüssel!

Ein Serang ist ein Würdenträger, verglichen mit einem Heizer, obgleich er schlechter bezahlt wird. Er leitet den Chor: »Hya! Hulla! Hi-ah! Heh!«, wenn die Gig des Kapitäns an den Davits an Deck gezogen wird; er handhabt sogar das Tieflot! Zuweilen, wenn an Bord nichts zu tun ist, zieht er schneeweißes Musselin an und eine große rote Schärpe und spielt mit den Kindern der Passagiere auf dem Quarterdeck. Dafür bekommt er Trinkgelder, die er sorgfältig zusammenspart für eine Orgie in Bombay oder Kalkutta oder Pulu Penang. »Ho! Du schwarzes dickes Ofenrohr, du frißt ja mein Essen!« sagte Pambé in dem gewissen Lingua-Franca-Jargon, der dort beginnt, wo die Levantesprache aufhört, um dann vorzuherrschen, von Port Said angefangen ostwärts, bis der Osten zum Westen wird und die Seglerbriggs der Kurileninseln mit den verstreuten Hakodate-Dschunken schwätzen.

»Sohn des Iblis, Affenschnauze, vertrocknete Haifischleber, Schweinekerl, – ich bin der Sultan Sayyid Burgash und Oberbefehlshaber an Bord! – Da hast du deinen Dreck wieder!« schrie Nurkeed und warf Pambé den leeren Topf zu.

Pambé schleuderte ihn verachtungsvoll in ein Wasserschaff über Nurkeeds Wollschädel. Nurkeed zog das Messer und stach damit Pambé ins Bein, worauf Pambé seinerseits ein Messer zückte. Aber Nurkeed ließ sich in die Finsternis hinabfallen und spuckte von unten durch das Gitter nach Pambé, dessen Blut das saubere Vorderdeck besudelte.

Der weiße Mond war der einzige Zeuge dieser Vorgänge, denn die Offiziere des Schiffs standen abseits, um die Verstauung der Kohlen zu überwachen, und die Passagiere drängten sich in ihre Kabinen. »Macht nix«, sagte Pambé und verband sich die Wunde, »wir werden die Sache später schon in Ordnung bringen.«

Als Malaye und in Indien geboren war er einmal in Burma verheiratet, wo seine Gattin einen Zigarrenladen in der Shwe-Dagon-Straße besaß; ein zweites Mal in Singapur mit einem Chinesenmädel, und außerdem noch in Madras mit einer mohammedanischen Geflügelverkäuferin. Ein englischer Seemann kann wegen der Segnungen der Post und des Telegraphen nicht so ausgiebig heiraten, wie er gerne möchte, aber ein eingeborener Matrose kann es, denn er kümmert sich um die barbarischen Einrichtungen des Westens den Teufel. Pambé war ein solider Ehemann, vorausgesetzt, daß er sich der Existenz einer seiner Gattinnen jeweils bewußt wurde; aber andererseits war er auch Malaye, und es ist nicht ratsam, einen Malayen zu beleidigen, denn er vergißt niemals. Hier, im Fall Pambé, war Blut vergossen und Essen besudelt worden.

Am nächsten Morgen stand Nurkeed mit klarem Kopf auf; er war nicht mehr länger der Sultan von Sansibar, sondern lediglich ein von Kesselglut gequälter Heizer. Als solcher begab er sich auf Deck und öffnete seine Brust der Morgenbrise, da kam ein Messer angesaust wie ein fliegender Fisch knapp an seiner Achselhöhle vorbei und blieb in der Tür der Schiffsküche stecken. Ohne die Ruhepause weiter zu genießen, lief Nurkeed hinunter und sann nach, was er dem Besitzer der Waffe möglicherweise angetan haben könnte. Nachmittags, als alle indischen Matrosen beim Essen saßen, trat er unter sie und, da er ein friedfertiger Mann war und überdies um seine Haut besorgt, eröffnete er ein Gespräch mit folgenden Worten: »Mannschaft des Dampfers! Gestern nacht war ich besoffen. Heut morgen wollte es mir scheinen, als hätte ich mich ungebührlich gegen einen oder den andern von euch benommen. Wer ist dieser Mann, auf daß ich von Angesicht zu Angesicht vor ihn treten kann und ihm sagen, daß ich besoffen war?«

Pambé maß im Geiste die Distanz ab, die ihn von Nurkeeds nackter Brust trennte. Ein so weiter Sprung konnte leicht fehlgehen, und ein blindes Drauflosstechen hätte vielleicht nur eine Schramme zur Folge gehabt; mit Sicherheit jemand das Messer zwischen die Rippen jagen kann man nur, wenn der Betreffende schläft. – Daher schwieg Pambé, und die andern Inder taten desgleichen. Ihre Gesichter wurden regungslos, wie es bei allen Orientalen geschieht, wenn Mord und Totschlag oder sonst etwas Drohendes in der Luft liegen. Nurkeed spähte lang in die weißen starren Augäpfel; er war nur ein Afrikaner und verstand sich nicht aufs Charakterlesen. Ein schwerer Seufzer – fast ein Stöhnen – entrang sich seiner Brust, dann ging er wieder hinunter zu seinem Kessel. Die indischen Matrosen nahmen ihre Unterhaltung auf, wo sie stehengeblieben waren; sie tauschten Meinungen aus, wie man am besten Reis kocht.

Nurkeed litt sehr unter dem Luftmangel unten im Heizraum auf der langen Fahrt nach Bombay, aber er kam nur an Deck, wenn alles belebt war. Aber auch bei solchen Gelegenheiten passierten die merkwürdigsten Dinge: einmal fiel ein schwerer Block von der Dirk herunter, dicht an seinem Schädel vorbei; dann wieder begann ein anscheinend fester Grätling, auf den er seinen Fuß setzte, derart zu wackeln, daß er bei einem Haar fünfzehn Fuß tief in die Schiffsladung hinabgestürzt wäre; und schließlich, in einer besonders unerträglich schwülen Nacht sauste ein Messer vom Fockmast hernieder. Und diesmal gab’s Blut. Da erstattete Nurkeed die Anzeige und, als die »Saarbrücken« Bombay anlief, suchte er schnell das Weite und verbarg sich unter den achthunderttausend Menschen, und muckste sich nicht, bis das Schiff den Hafen nach einem Monat wieder verließ. Auch Pambé wartete, hoffte und harrte; aber seine Bombay-Gattin erging sich immer gründlicher in Keiferei, so daß ihm schließlich nichts übrigblieb, als sich für die »Spichern« heuern zu lassen, zumal ihm deutlicher und deutlicher zu Bewußtsein kam, daß Stilliegen für eine Blaujacke Zerlumptwerden heißt. In der tückischen Chinesischen See mußte er häufig Nurkeeds gedenken, und als die »Saarbrücken« einmal zufällig neben der »Spichern« vor Anker lag, da erkundigte er sich auf das angelegentlichste nach seinem Verbleib, wobei er erfuhr, daß Nurkeed auf der »Gravelotte« unterwegs sei über Kapstadt nach England. Da schiffte er sich auf der »Wörth« ein und kam ebenfalls in England an; die »Spichern« hatte das Schiff unterwegs an einem schottischen Leuchtturm getroffen. Aber Nurkeed hatte sich auf die »Spichern« geschmuggelt und dampfte nach der Küste von Kalkutta.

»Wat? n‘ Freund willste bei die Klöten kriegn, du Mausfallen-Snut?« sagte eines Tages ein Handelsschiff-Gentleman zu Pambé, »nichts leichter! Wart bi die Nyanza-Docks, bis er kommt. Jeder Mensch kommt mal bi die Nyanza-Docks. Warte dort auf ihn, du armer Heide!« Der Gentleman hatte die Wahrheit gesprochen. Es gibt drei große Tore in der Welt, wo man jeden Menschen einmal treffen muß, vorausgesetzt, daß man lange genug wartet. Das Ende des Suezkanals ist das eine, aber da kommt der Tod oft früher, als der, auf den man wartet; die Station Charing Cross in London ist das zweite, wenigstens was den Inland-Wartesport betrifft, und das Nyanza-Dock ist das dritte. Auf allen diesen Orten warten Männer und Frauen in alle Ewigkeit auf die, die bestimmt einmal kommen werden. Pambé wartete ebenfalls dort. Zeit spielte für ihn keine Rolle, und seine Frauen konnten warten, wie er es tat: Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat bei den »Blue Diamond«-Minentrichtern, den »Red Dot«-Schornsteinen und den »Yellow Streaks«, – die unbenannten zigeunernden Kleinboote belauernd, die Ladungen einnahmen oder ausschifften, einander umdrängend, pfeifend und heulend mit ihren Sirenen im beständigen Nebel. Als Pambé das Geld ausging, überredete ihn ein wohlgesinnter Herr, Christ zu werden. Er willigte augenblicklich ein, wechselte den Glauben zwischen Schiff und Schiffes Ankunft und bezog ein Gehalt von sechs bis sieben Schilling in der Woche, wofür er Traktätchen an Seeleute verteilen mußte. Worin sein neuer Glaube bestand, bekümmerte ihn nicht weiter; er wußte, wenn er zu gewissen Herren mit langen schwarzen Röcken sagte: »Ich bin mich eine eingeborene Chlist«, bekam er ein paar Kupfermünzen als Belohnung.

Nach acht Monaten erkrankte er an einer Lungenentzündung, die er sich durch das lange Herumstehen im nassen Straßenschmutz zugezogen hatte, und sah sich zu seinem größten Bedauern genötigt, sich unter Flüchen gegen das widrige Schicksal in seiner Fünfzig-Pfennig-Bude niederzulegen.

Der alte Gentleman, der Glaubensbekehrer, saß neben dem Bett und grämte sich, als er gewahr wurde, daß sein Zögling Pambé, statt auf Erbauung aus frommen Büchern bedacht zu sein, vielmehr in einer fremden Sprache vor sich hinschwätzte und auch sonst auf bestem Wege zu sein schien, in das alte Heidentum wieder zurückzufallen, bis eines Tages die halbe Betäubung des Patienten mit einem Ruck verschwand, – offenbar infolge eines Rufes draußen auf dem Dock. »Meine Freund, – er«, flüsterte Pambé. »Ihm rufen jetzt – rufen: Nurkeed! Schnell! Gott hat ihn mich geschickt!«

»Er sehnt sich nach einem Landsmann«, sagte sich der freundliche Gentleman, eilte hinaus und schrie aus voller Lunge: »Nurkeed! Nur-keed!« Ein erstaunlich dunkelhäutiger Mann in weißer, brettartig gestärkter Wäsche, funkelnagelneuen weiten Matrosenhosen und mit einer faustgroßen Busennadel geschmückt, drehte sich um. Nurkeed war’s; oh, er hatte auf seinen vielen Reisen gelernt, wie man den richtigen Gebrauch macht von Geld, und hatte sich als Weltbürger ausstaffiert.

»Hü Jawoll!« sagte er, als der freundliche Gentleman die Situation erklärt hatte. »War in meinige Dienst – schwarze Nigger das – auf der ›Saarbrücken‹ – Oh ja. Alde Pambé, gute alde Pambé. Verdammter Inder. Wo ist er sich, Herr?«. Und er folgte dem Gentleman in das Krankenzimmer. Ein schneller Blick zeigte ihm, daß der alte Herr die Wahrheit gesprochen hatte: Pambé war bettelarm. Nurkeed wühlte mit beiden Händen in den Taschen, näherte sich mit gefüllten Fäusten dem Kranken und schrie: »Heja, Pambé. Heja! Hi-ah! Hulla! Hih! Takilo! Takilo! Faß an! Hoch! Pambé! Weißt noch, Pambé? Du kennen mich. Dekho, jih! Da schau! Verdammter fetter fauler Matros, indisches!«

Pambé winkte schwach mit der linken Hand; die rechte ruhte unter der Bettdecke. Nurkeed nahm seinen riesigen Hut ab und beugte sich über Pambé, um sein Geflüster besser verstehen zu können. – »Es ist wahrhaft erhebend«, sagte der freundliche Gentleman, »diese Orientalen lieben einander wie die Kinder!«

»Los! Spuck aus: Was is?« fragte Nurkeed und lehnte sich noch weiter vor.

»Da hast d‘ für den Fisch mit Zwiebel!« sagte Pambé und stieß ihm ein Messer von unten nach oben zwischen die Rippen.

Ein ersticktes, trockenes Husten, dann fiel der Afrikaner langsam neben dem Bett zusammen. Seine Hände streckten sich und eine Menge Silbermünzen rollten durch die Stube.

»Jetzt kann ich sterben!« sagte Pambé.

Aber er starb nicht; man päppelte ihn mit größter Sorgfalt und mit Aufgebot der verfügbaren Geldmittel wieder auf, denn das Gesetz hielt das Auge auf ihn gerichtet. Als er dann soweit genesen war, hängte man ihn in aller Form, und wie es sich gehört, auf.

Pambé machte sich nicht viel daraus. Aber für den freundlichen alten Herrn war es ein schwerer Schlag.

Finanzwirtschaft der Götter

Das Abendessen in Dhunni Bhagats Chubara war zu Ende, und die alten Priester rauchten oder beteten ihre Rosenkränze. Ein kleines Kind kam hereingetrappelt, den Mund weit offen, in der einen Hand einen Strauß Butterblumen und in der andern ein Päckchen Tabak. Es versuchte niederzuknien und vor Gobind eine tiefe Verbeugung zu machen, aber fett wie es war, fiel es hin auf seinen glattgeschorenen Kopf und purzelte auf die Seite, strampelnd und nach Atem schnappend, wobei die Butterblumen nach links und der Tabak nach rechts in weitem Bogen flogen. Gobind lachte, stellte es wieder auf die Füße und segnete die Butterblumen, während er den Tabak einsteckte.

»Von Papa«, sagte das Kind. »Er hat das Fieber und kann nicht kommen. Wirst du für ihn beten, Vater?«

»Freilich, Kleinchen; aber der Erdrauch ist aufgestiegen und Nachfrost liegt in der Luft. Es ist nicht gut, nackt im Herbst herumzulaufen!«

»Ich hab keine Kleider«, sagte das Kind, »und den ganzen Tag hab ich Kuhfladen in den Bazar tragen müssen. Es ist so heiß gewesen, und ich bin schrecklich müd.« Es schauderte ein wenig, denn die Dämmerung war kühl.

Gobind steckte den Arm unter seine weite, buntgefleckte Lumpendecke und machte neben sich ein kleines einladendes Nest daraus; das Kind kroch hinein, und Gobind füllte den frischen Tabak in seine messingbeschlagene Wasserpfeife: mit dem langen Lederschlauch. – Als ich in die Chubara trat, lugte der kleine geschorene Kopf mit der Haarquaste oben drauf und den schwarzen Kugelaugen aus seinem Nest heraus, wie ein Eichhörnchen, während Gobind daneben saß und lächelnd duldete, daß das Kind mit seinem Bart spielte.

Ich wollte etwas Freundliches sagen, erinnerte mich aber noch rechtzeitig, daß, wenn das Kind vielleicht später zufällig stürbe, es heißen würde, ich hätte den bösen Blick, was ein furchtbarer Vorwurf ist.

»Bleib nur ruhig sitzen, Däumlingchen«, sagte ich, als der Kleine Miene machte, aufzuspringen und fortzulaufen. »Wo hast du denn deine Schiefertafel? Und wie hat denn der Lehrer einem Bösewicht wie dir erlauben können, auf der Straße herumzulaufen, wo doch gar kein Polizeimann da ist, der auf uns schwache Brummer achtgibt? Und in welchem Stadtviertel gedenkst du dir den Hals zu brechen beim Drachensteigenlassen auf dem Dach?«

»Nein, Sahib, nein!« sagte das Kind, versteckte sein Gesicht im Barte Gobinds und flocht verlegen Strähne hinein. »Heut war doch schulfrei, und ich laß nie Drachen steigen. Ich spiel Ker-li-kit, wie die andern.«

Kerlikit-Cricket ist das Nationalspiel der Schulbuben im Punjab, vom nackten ABC-Schützen angefangen, der zum Cricket-Ballbesteck sich eine alte Weißblechlampe auserkürt, bis hinauf zum Universitätshörer, der für die Meisterschaft trainiert.

»So? Du spielst Kerlikit! Aber du bist doch selber erst halb so groß wie ein Cricketschläger!« sagte ich.

Das Kind nickte stolz. »O ja! Ich kann gut spielen. Per-lay Ball: A-us! Lauf, lauf, lauf! Ich weiß das alles.«

»Aber du darfst dabei niemals vergessen, zu den Göttern zu beten, wie es vorgeschrieben ist«, ermahnte Gobind, der auf Cricketspielen und andere westliche Neuerungen nicht das geringste Gewicht legte.

»Ich vergeß es nie«, beteuerte das Kind verschüchtert.

»Auch deinem Lehrer Verehrung entgegenzubringen, und –« – Gobinds Stimme wurde mild – »und heilige Männer nicht am Bart zu zupfen, du kleiner Missetäter. Eh, eh, eh? Was ist denn das?«

Das Kind hatte sofort sein Gesicht in dem großen weißen Bart begraben und begann zu wimmern, bis Gobind es beschwichtigte, wie man alle Kinder in der Welt beschwichtigt: mit dem Versprechen, ihm eine Geschichte zu erzählen.

»Ich hab dich doch nicht erschrecken wollen, Dummerle! Schau doch her! Mach ich ein böses Gesicht? Also! Aré, aré, aré. Soll ich vielleicht mitweinen? Und aus unsern Tränen einen Teich machen, in dem wir dann beide ertrinken? Und wenn dann dein Vater nicht mehr gesund wird, wer wird ihn denn dann am Bart zupfen? Still, still, ich werde dir etwas von den Göttern erzählen. Hast du schon viele Geschichten gehört?«

»Oh, viele, viele, Vater.«

»Aber ich weiß eine neue, die du sicher noch nicht gehört hast. Also: lang lang früher in alter Zeit, als die Götter noch mit den Menschen herumgingen – sie tun’s auch heute noch, aber wir haben zu wenig Glauben und darum sehen wir sie nicht -, da ist Schiwa, der oberste aller Götter, mit Parbati, seiner Frau, eines Tages im Garten eines Tempels spazierengegangen.«

»In welchem Tempel?« fragte das Kind schnell. – »Im Nandgaon-Viertel?«

»Ach was! Viel viel weiter. Vielleicht in Trimbak, oder in Hurdwar, wohin du einmal pilgern mußt, bis du groß bist. Nun, und da saß gerade im Garten unter den Jujube-Bäumen ein Bettelmönch, der hatte Schiwa verehrt durch vierzig Jahre und lebte von den Gaben der Frommen. Tag und Nacht war er versenkt in heiligen Betrachtungen.«

»Oh, Vater, das warst du!« rief das Kind und blickte mit weit offenen Augen Gobind an.

»Aber nein! Ich hab dir doch gesagt, es war viel früher. Und dann war der Bettelmönch verheiratet.«

»Haben sie ihn bei der Hochzeit auf ein Pferd gesetzt und ihm Blumen auf den Kopf gelegt und ihm verboten, in der Nacht zu schlafen? So haben sie es mit mir gemacht, als sie mich vor ein paar Monaten verheiratet haben.«

»So? Und was hast du dazu gesagt?« fragte ich.

»Ich? No, ich hab halt geweint, und sie haben mich ausgescholten. Dann hab ich ›ihr‹ eine hineingehaut, und dann haben wir zusammen geweint.«

»Das hat der Bettelmönch nicht getan«, fuhr Gobind fort, »denn er war ein heiliger Mann und sehr arm. Als die Göttin Parbati ihn nackt so dasitzen sah auf den Tempelstufen, während alles hinauf- und hinabstieg, sagte sie zu Schiwa: ›Was werden sich die Menschen von den Göttern denken, daß sie ihre Verehrer so vernachlässigen? Vierzig Jahre lang hat dieser Mann da zu uns gebetet und nur täglich ein paar Körner Reis und einige zerbrochene Kaurimuscheln dafür gekriegt. Die Herzen der Menschen werden hart werden, wenn das so weitergeht.‹ Und Schiwa sagte: ›Ich will nach dem Rechten sehen‹, und rief in den Tempel seines Sohnes, des Gottes mit dem Elefantenkopf, hinein: ›Mein Sohn, draußen ist ein Bettler, der ist sehr arm. Was gedenkst du zu tun für ihn?‹ – Da erwachte der große Elefantenköpfige in der Dunkelheit und antwortete: ›Wenn es dein Wille ist, so soll er in drei Tagen hunderttausend Rupien haben.‹ – Darauf ging Schiwa mit seiner Frau Parbati fort.

Aber da hatte ein Geldverleiher, im Garten versteckt, gestanden unter den Butterblumen«, – das Kind blickte verständnisvoll auf den zerknickten Blumenstrauß, den es in der Hand hielt – »ganz richtig: unter gelben Butterblumen, und mitangehört, was die Götter besprochen hatten. Er war ein habgieriger Mann mit einem schwarzen Herzen und wünschte, das Lakh Rupien an sich zu bringen. So ging er denn zu dem Bettler und fragte: ›O Bruder, wieviel geben dir die Frommen täglich?‹ – Und der Bettler antwortete: »Genau weiß ich es nicht. Manchmal ein wenig Reis, manchmal ein bißchen Hülsenfrüchte und ein paar Kaurimuscheln. Es ist aber auch schon vorgekommen, daß sie mir gesalzene Mangos und gedörrten Fisch gegeben haben.‹«

»Das schmeckt gut!« rief das Kind und leckte sich die Lippen.

»Da sagte der Geldverleiher: ›Ich habe dich lange beobachtet und dich, deiner Geduld wegen, liebgewonnen. Deshalb will ich dir jetzt fünf Rupien geben für das, was du in den nächsten drei Tagen einnehmen wirst. Du brauchst nur diesen Schein hier zu unterschreiben.« Aber der Bettler erwiderte: ›Du bist ja verrückt! In zwei Monaten nehme ich nicht soviel ein, wie fünf Rupien wert sind›, und er erzählte es noch am Abend seiner Frau. Da sie ein Weib war, meinte sie: ›Wann hätte jemals ein Geldverleiher ein schlechtes Geschäft abgeschlossen?! Der Wolf läuft durch die Felder, um ein fettes Wild zu erwischen. Unser Schicksal liegt in den Händen der Götter. Daß du mir nichts unterschreibst in den nächsten drei Tagen!‹

Da ging der Bettler zu dem Geldverleiher und sagte ihm, daß er nicht gedenke, den Handel abzuschließen. Der Bösewicht aber wollte ihn nicht loslassen, blieb den ganzen Tag bei ihm sitzen und bot immer mehr und immer mehr. Zuerst zehn, fünfzig und hundert Rupien, dann, da er fürchtete, die Götter könnten jeden Augenblick ihr Geschenk schicken, Rupien tausendweis, bis die Summe auf fünfzigtausend, also auf ein halbes Lakh, gestiegen war. Da gab das Weib des Büßers ihre Einwilligung und der Vertrag wurde unterschrie ben. Das Geld wurde in Silber ausbezahlt und große weiße Stiere brachten es in Wagenladungen herbei. Alles schien in Ordnung zu sein, aber das Geschenk der Götter kam nicht und kam nicht und das Herz des Geldverleihers wurde unruhig vor Erwartung. Am Nachmittag des dritten Tages ging der Geldverleiher in den Tempel, um die Beratung der Götter zu belauern und zu erfahren, auf welche Art das Geschenk eintreffen würde. Er war gerade mitten im Gebet, da öffnete sich eine Spalte zwischen den Steinfliesen, blieb einen Augenblick offenstehen, schloß sich dann wieder und zwickte die Ferse des Geldverleihers ein. Gleich darauf wandelten die Götter im Dunkel der Säulen umher, und Schiwa rief nach seinem Sohn Ganesha und fragte ihn: »Mein Sohn, wie steht es mit dem Lakh Rupien, die du dem Bettler geben wolltest?‹ – Und Ganesha erwachte – der Geldverleiher hörte deutlich das trockene Rascheln, wie der Gott seinen Rüssel entfaltete – und antwortete: ›Vater, die eine Hälfte ist bereits ausbezahlt, und den Schuldner für die andere Hälfte halte ich hier fest an der Ferse.‹«

Das Kind schüttelte sich vor Lachen. »Und hat der Geldverleiher den Bettler bezahlt?« fragte es.

»Natürlich! Wen die Götter einmal bei der Ferse haben, der muß zahlen, bis er schwarz wird. Noch an demselben Abend wurde das Geld ausgezahlt. Lauter Silber. In großen Karren. Und das war Ganeshas Werk.«

»Na-thu! Ohé Nathu!«

Ein Weib rief’s draußen in der Dunkelheit am Tor des Hofraums.

Das Kind rückte unruhig hin und her. »Die Mutter ruft!«

»Also geh, Kleinchen!« sagte Gobind. »Halt, wart noch ein wenig!«

Er riß ein großes Stück aus seiner Flickendecke, legte es dem Kind um die Schultern, und das Kind lief hinaus.

Das Stigma des Tieres

»Eure Götter, oder meine Götter – wissen wir, welche von beiden die mächtigeren sind?
Indisches Sprichwort

Östlich von Suez scheint die Vorsehung irgendwie zu versagen; die Menschen werden dort der Macht der Götter und Teufel Asiens überlassen; wenigstens tritt jene Vorsehung, die die englische Kirche lehrt, nur gelegentlich und auch dann nur sehr lahm in Tätigkeit, soweit es Europäer betrifft.

Diese Theorie könnte so manches überflüssig grauenhafte Geschehnis im Leben Indiens erklären. Ich erwähne das, weil es auf meine Geschichte hier einigen Bezug hat.

Mein Freund Strickland vom Polizeidepartement, der die Eingeborenen Indiens so gut kennt, wie selten einer, kann die Tatsache bezeugen; Dumoise war ebenfalls Augenzeuge, so, wie Strickland und ich. Nur der Schluß, den er daraus zog, war gänzlich unrichtig. Er ist jetzt tot. Starb auf sehr seltsame Weise. Darüber werde ich an anderer Stelle berichten.

Als Fleete nach Indien kam, nannte er ein kleines Vermögen nebst Landbesitz in Dharmsala im Himalajagebiet sein eigen: Er hatte es von seinem Onkel geerbt und gedachte es zu verwalten. Er war ein großer, schwerfälliger, dabei heiterer und friedfertiger Mann; seine Kenntnis der Eingeborenen war natürlich nur sehr oberflächlich, und er klagte oft darüber, daß er ihre Sprache nur mit Mühe und sehr unvollkommen verstehen könne.

Eines Tages kam er von seiner Besitzung in den Vorbergen angeritten, um Neujahr in der Station zu feiern, und lud sich bei Strickland zu Gast. Am Silvesterabend fand ein großes Festessen im Klub statt, und die Nacht verlief entsprechend feuchtfröhlich. Wenn Leute aus den äußersten Grenzen des indischen Kaiserreichs zusammenkommen, haben sie ein gewisses Recht, ein wenig über die Schnur hauen zu dürfen! Das Himalaja-Grenzgebiet hatte zu diesem Feste ein Kontingent von mehr oder weniger Hol-mich-der-Teufel-Existen zen entsandt; lauter Leute, die im Jahr keine zwanzig weiße Gesichter zu sehen bekamen und gewohnt waren, fünfzehn Meilen weit zum Essen zu reiten, dabei in beständiger Gefahr, statt Speise und Trank eine Khyber-Paß-Kugel kredenzt zu bekommen. Sie benützten ihre augenblickliche Sicherheit dazu, mit einem zusammengerollten Igel, den sie im Garten aufgestöbert hatten, Billard zu spielen, wobei einer von ihnen die Schreibtafel zwischen den Zähnen im Zimmer herumtrug. Ein halbes Dutzend Pflanzer aus dem Süden ergötzte sich damit, einen als größten Lügner Asiens bekannten Gentleman durch Erzählen grobdrähtiger Geschichten zu übertrumpfen, wurden aber alsbald von ihm aus dem Sattel gehoben. Kurz: die Gesellschaft war so bunt wie nur möglich zusammengewürfelt, und es gab keinen Unterschied des Ranges oder Standes. Man stellte fest, wer im verflossenen Jahr hinweggerafft oder sonstwie trinkunfähig geworden war – mit einem Wort: die Nacht verlief in Lust und Feuchtigkeit. Ich erinnere mich noch, daß wir Auld Lang Syne sangen, die Füße in den Polo-Meisterschaftspokalen und unsere Köpfe in den Sternen, und uns unverbrüchliche Treue schworen. Im Laufe der späteren Zeit gingen einige von uns hin und eroberten Burma, andere bemühten sich, den Sudan zu erschließen, fielen aber in jenem grauenvollen Gemetzel vor Suakim; andern gelang es, Orden und Medaillen zu ergattern, andere wieder heirateten, was an sich schon schlimm genug ist, und noch andere taten etwas, was womöglich noch schlimmer war. Der Rest von uns blieb an seine alten Ketten geschmiedet und mühte sich ab, auf Grund unzulänglicher Erfahrungen Geld zu machen.

Fleete eröffnete die Nacht mit Sherry und Magenbittern, trank dann rastlos bis zum Dessert Champagner, kratzenden Capri dazu, stark wie Whisky, nahm Benediktiner zum Kaffee, vier oder fünf Whiskys mit Soda, um die Billardbälle besser sehen zu können, vertilgte um halb drei Uhr mehrere Biere mit »Feuerwasser« und setzte einen alten Brandy drauf. Kein Wunder also, daß er um halb vier Uhr morgens, bei vierzehn Grad Kälte ins Freie tretend, vor Wut außer sich geriet, weil sein Pferd hustete, während er sich bemühte, mit Grätschsprüngen in den Sattel zu gelangen. Da es der Gaul vorzog, durchzugehen, um den Stall wieder aufzusuchen, so mußten Strickland und ich eine Unehrengarde bilden und Fleete nach Hause geleiten.

Unser Weg führte durch den Bazar, dicht an einem kleinen Tempel Hanumans, des Affenkönigs, vorüber, der eine Gottheit ersten Ranges ist und sich größter Ehrfurcht erfreut, denn alle Götter haben, wie die Priester, stets hervorragende Eigenschaften. Was mich betrifft, so zolle ich Hanuman jegliche Hochachtung, – auch bin ich seinem Volke, den großen, grauen Affen der Berge, überaus wohlgesinnt. Kann man doch nie wissen, ob man nicht einmal einen Freund nötig hat!

Im Tempel schien Licht, und als wir vorübergingen, hörten wir Männerstimmen drin Hymnen singen: in einem Hindutempel stehen jede Stunde der Nacht die Priester auf und ehren ihre Götter. Bevor wir Fleete zurückhalten konnten, war er die Tempelstufen hinauf gelaufen, klopfte zwei Priestern auf die Rücken und malte mit der Asche seines Zigarrenstummels auf die Stirn des roten Steinbildes Hanumans ein paar Striche. Strickland versuchte, ihn wegzuziehen, aber er setzte sich nieder und sagte feierlich:

»D-d-da! Das Z-z-zeichen des Viehs! Ich ha-huck-hab’s gemacht. Fein, was?«

Kaum eine Minute verging, da wurde es im Tempel lebendig. Lärm und Getöse entstand, und Strickland, der genau wußte, was derlei Götterschändungen für Folgen haben konnten, meinte, es sei Gefahr im Verzug. Durch seine Stellung als Polizeibeamter, seinen langen Aufenthalt in der Gegend und seine Vorliebe, sich unter die Eingeborenen zu mischen, war er den Priestern wohlbekannt, was ihm jetzt überaus peinlich wurde. Fleete saß auf der Erde, weigerte sich, aufzustehen, und brummte: »Der gute alte Hanuman – huck – ist ein vortreffliches Ruhekissen!«

Da plötzlich – lautlos – stürzte aus einem Schlupfwinkel hinter der Bildsäule des Gottes ein silberner Mensch hervor. Er war vollkommen nackt, trotz der bitteren, grimmigen Kälte. Sein Körper schimmerte wie reifbedecktes Silber, denn er war, wie es in der Bibel steht, »ein Aussätziger, weiß wie Schnee. Er hatte kein Gesicht mehr, war seit vielen Jahren aussätzig, und das Übel lastete schwer auf ihm.« Wir bückten uns beide schnell, um Fleete wegzureißen, während der Tempel sich zusehends mit Menschen füllte, die wie aus dem Boden zu wachsen schienen, aber schon war der Silberne mit einem Ton, der dem Miauen einer Otter glich, unter unsern Händen durchgeschlüpft, hatte mit beiden Armen Fleete umfaßt und, ehe wir ihn fortstoßen konnten, seinen Kopf auf Fleetes Brust gepreßt. – Dann zog er sich in einen Winkel zurück und saß miauend da, derweil die Menge die Türen verrammelte.

Die Priester schäumten vor Wut; erst als sie sahen, daß der Silberne Fleete berührt und sich an ihm gewetzt hatte, beruhigten sie sich.

Nach einigen Minuten tiefsten Schweigens trat einer der Priester an Strickland heran und sagte in tadellosem Englisch: »Führen Sie Ihren Freund weg. Er ist mit Hanuman fertig, aber Hanuman nicht mit ihm.« Die Menge gab Raum, und wir brachten Fleete auf die Straße.

Strickland war wütend. Er sagte, wir hätten alle drei leicht erstochen werden können, und Fleete solle sich bei seinem guten Stern bedanken, daß er mit heiler Haut davongekommen sei.

Fleete fiel es natürlich gar nicht ein, sich zu bedanken. Nicht einmal bei uns. Er sagte, er wolle zu Bett gehen. Er war sinnlos betrunken.

Wir schritten unseres Weges, Strickland ärgerlich und schweigsam. Dann wurde Fleete mit einemmal von Schüttelfrost und einem Schweißausbruch befallen. Er schimpfte, daß die Gerüche aus den Bazars nicht auszuhalten seien, und er wundere sich, daß man die Schlachthäuser so nahe den englischen Wohnungen dulde. »Riecht ihr denn das Blut nicht?« fragte er immer wieder und wieder.

Endlich – die Dämmerung graute bereits – hatten wir ihn zu Bett gebracht. Strickland forderte mich auf, noch einen Whisky mit Soda mit ihm zu trinken; dabei kam er wieder auf den Skandal im Tempel zu sprechen und gab zu, daß ihn die Angelegenheit ganz aus der Fassung gebracht hätte. Es sei ihm im höchsten Grade widerwärtig, von Eingeborenen, mystifiziert zu werden – um so mehr, als es doch seine Aufgabe sein müsse, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Bis jetzt sei ihm das zwar nicht gelungen, aber in fünfzehn oder zwanzig Jahren hoffe er weiter zu sein.

»Hätten sie uns lieber verprügelt, statt uns anzumiauen!« sagte er. »Ich möchte gern wissen, was das hat bedeuten sollen! Die Sache will mir nicht recht gefallen.«

Ich gab der Meinung Ausdruck, die Priesterschaft werde wahrscheinlich Anklage erheben wegen Religionsstörung, denn es gäbe sicherlich eine Menge Paragraphen, die auf Fleetes Vergehen paßten. – Strickland meinte, wenn es damit sein Bewenden fände, wolle er von Herzen froh sein. Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick in Fleetes Zimmer; er lag auf der rechten Seite und kratzte sich unaufhörlich an der linken Brust. Dann ging ich zu Bett, fröstelnd, bedrückt und verstimmt, um sieben Uhr morgens.

Um ein Uhr ritt ich hinüber nach Stricklands Haus, um mich nach Fleetes Befinden zu erkundigen. Daß er Kopfschmerzen haben würde, nahm ich als selbstverständlich an. Er saß beim Frühstück und schien unwohl, war verdrossen und schimpfte auf den Koch, weil sein Kotelett nicht roh genug sei! Ein Mensch, der nach einer durchschlemmten Nacht Appetit hat auf rohes Fleisch, ist ein Kuriosum. Ich sagte das Fleete. Er lachte nur.

»Eine sonderbare Art Moskitos züchtet ihr hier zu Lande«, sagte er nach einer Weile. »Ganze Stücke haben sie mir herausgebissen! Zum Glück nur an einer Stelle.«

»Laß mal sehen!« meinte Strickland. »Das Jucken wird doch wohl schon nachgelassen haben?«

Während die Koteletts zugerichtet wurden, öffnete Fleete sein Hemd und zeigte uns gerade über seiner linken Brust eine Verfärbung, die der schwarzen Rosette glich – den fünf oder sechs im Kreise stehenden unregelmäßigen Flecken, wie sie der Leopard auf dem Fell trägt. Strickland betrachtete die Stelle und sagte: »Merkwürdig! Heute morgen war es noch rosa; jetzt ist es schwarz geworden!«

Fleete stürzte zum Spiegel. Warf einen Blick hinein. Schrie: »Zum Teufel, das ist ja scheußlich! Was mag das nur sein?!«

Wir wußten keine Erklärung. Die Koteletts wurden gebracht; Fleete verschlang drei davon auf höchst sonderbare und widerwärtige Art: Er kaute nur mit den linken Backenzähnen und drehte den Kopf jedesmal über die rechte Schulter, wenn er einen Fetzen Fleisch ab gerissen hatte. Als er damit fertig war, schien er sich bewußt zu werden, daß er sich sonderbar benommen habe, denn er sagte, wie um sich zu entschuldigen: »In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so hungrig gewesen. Ich hab gefressen wie ein Strauß!«

Nach dem Frühstück flüsterte mir Strickland zu: »Bleib hier! Geh nicht fort! Bleib hier über Nacht!«

Da ich keine drei Meilen weit von Stricklands Haus entfernt wohnte, erschien mir dies Ansinnen recht sonderbar, aber er bestand darauf und wollte eben etwas hinzufügen, da unterbrach ihn Fleete und gestand – wie verschämt -, daß er schon wieder hungrig sei. Strickland schickte sodann einen Boten in meine Wohnung, um mein Bettzeug und ein Pferd zu holen, während wir in die Ställe hinuntergehen wollten, um uns die Zeit zu vertreiben, bis der Moment zum Ausreiten gekommen sein würde. Wer Pferdeliebhaber ist, wird stets Ställe gern besichtigen; bietet sich doch dort immer Gelegenheit, Erfahrungen und Reiterlatein auszutauschen.

In den Ställen standen fünf Pferde. Nie werde ich die Szene vergessen, die sich abspielte, kaum, daß wir eingetreten waren! Die Tiere schienen plötzlich toll geworden zu sein! Sie bäumten sich, schrien förmlich vor Entsetzen und rissen beinahe ihre Pflöcke heraus. Sie schwitzten und zitterten, schäumten und gebärdeten sich wie rasend vor Furcht. Da es Stricklands Pferde waren, die ihren Herrn liebten wie die Hunde, erschien das besonders befremdend. Wir verließen auf der Stelle den Stall, denn wir mußten fürchten, daß sich die Tiere an ihren Halftern erwürgen könnten. Doch gleich darauf kehrte Strickland wieder um und raunte mir zu, ich solle ihm allein und unauffällig folgen. Die Pferde zitterten noch immer, ließen sich aber von uns streicheln und liebkosen und legten uns die Köpfe an die Brust.

»Vor uns fürchten sie sich also nicht!« sagte Strickland. »Weißt du, daß ich gern drei Monat Gehalt dafür geben würde, wenn der alte ›Outrage‹ hier nur eine Minute lang reden könnte!«

Aber »Outrage« war leider stumm und konnte nur seinen Herrn liebkosen und mit den Nüstern schnauben, wie das die Pferde tun, wenn sie etwas erklären wollen und nicht können. In diesem Augenblick kam Fleete wieder in den Stall; kaum wurden die Tiere seiner ansichtig, brach ihr Entsetzen von neuem los, und wir mußten schleunigst hinauseilen, um nicht Hufschläge abzukriegen. »Sie scheinen dich nicht besonders zu lieben!« sagte Strickland zu Fleete, als wir in Sicherheit waren.

»Dummes Zeug!« erwiderte Fleete. »Vielleicht deine Pferde! Meine Stute folgt mir wie ein Hund.« Wir gingen zu ihr. Sie befand sich in einem Extrastand, der ihr freie Bewegung ließ. Fleete schob den Riegel zurück: Im nächsten Augenblick schlug sie aus, überrannte ihn, warf ihn zu Boden und raste in den Garten hinaus. Ich lachte aus vollem Halse, aber Strickland blieb todernst – faßte seinen Schnurrbart mit beiden Händen und zog daran, als wollte er ihn sich ausreißen. Statt Anstalten zu treffen, sein Pferd wieder einzufangen, gähnte Fleete nur zu meinem Erstaunen, sagte, er sei plötzlich sehr schläfrig, ging ins Haus und legte sich nieder! Eine sonderbare Art, den Neujahrstag zu verbringen!

Wir gingen ohne ihn wieder in den Stall, und Strickland fragte mich, ob mir an Fleetes Benehmen nicht etwas besonders aufgefallen sei. Ich gab zu, daß er allerdings sein Essen wie ein Tier verschlungen hätte, aber das könne vielleicht eine Folge davon sein, daß er einsam in den Bergen lebe und fern von einem so kultivierten Umgang, wie der unsrige. Strickland lächelte nicht einmal; er hatte mir wahrscheinlich gar nicht zugehört, denn seine nächsten Worte bezogen sich auf das Merkmal an Fleetes Brust. Ich äußerte die Ansicht, es könne möglicherweise von spanischen Fliegen herrühren, oder sei vielleicht ein plötzlich sichtbar gewordenes Muttermal. Daß es scheußlich aussähe, darüber waren wir uns beide einig, und Strickland fügte hinzu, ich sei ein Narr.

»Ich kann dir jetzt noch nicht sagen, was ich denke«, fuhr er fort, »denn du würdest mich für verrückt halten; aber du mußt die nächsten paar Tage bei mir bleiben, wenn du irgend kannst! Bitte, beobachte Fleete, aber sprich nicht mit mir darüber, was du dir denkst, denn ich möchte mir meine eigene Meinung bilden.«

»Aber heut abend esse ich außerhalb!« behielt ich mir vor. »Ich auch!« sagte Strickland. »Und Fleete hat dieselbe Absicht, vorausgesetzt, daß er sie inzwischen nicht geändert hat.«

Dann schlenderten wir ein bißchen im Garten umher und rauchten stumm, denn wir waren Freunde, und Reden schmälert den Tabakgenuß, bis in unsern Pfeifen nur mehr Asche war. Hierauf beschlossen wir, Fleete zu wecken. Aber er war bereits wach. Lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab.

»Es geht nicht so!« sagte er, als er uns eintreten sah. »Ich muß noch Koteletts haben! Kann ich welche kriegen?«

Wir lachten. »Zieh dich lieber um, Fleete! Die Ponys werden gleich da sein.«

»Schön«, sagte er. »Ich werde mich umkleiden, aber vorher muß ich noch Koteletts haben. Aber: halb roh, verstanden?!«

Er schien es im Ernst zu meinen, trotzdem es erst vier Uhr war und wir um ein Uhr reichlich gefrühstückt hatten. Immer wieder und wieder verlangte er rohe Koteletts. Dann erst zog er seinen Reitanzug an und kam auf die Veranda. Aber auch das Pony wollte ihn nicht nahe kommen lassen. (Die Stute war noch immer nicht eingefangen.) Alle drei Tiere waren nicht zu bändigen und außer sich vor Furcht. Als alle Mittel vergeblich geblieben waren, die Ponys zu beruhigen, sagte Fleete schließlich, es sei das beste, er bliebe zu Hause und lasse sich wieder etwas zu essen geben. Strickland und ich ritten erstaunt fort. Als wir an dem Hanumantempel vorbeikamen, tauchte der Silberne auf und miaute uns an.

»Er ist kein regulärer Priester des Heiligtums«, sagte Strickland. »Ich hätte große Lust, ihn verhaften zu lassen!«

Es war kein rechter Schwung in unserm Galopp an jenem Abend: die Pferde griffen nicht ordentlich aus und schienen ermattet, als seien sie abgetrieben.

»Der Schreck hat sie sehr hergenommen!« erklärte Strickland.

Es war die einzige Bemerkung, die er während des Rittes fallenließ. Nur ein- oder zweimal hatte ich ihn fluchen hören, aber das war nichts Seltenes bei ihm.

Es war bereits dunkel und etwa sieben Uhr, als wir wieder zu Hause anlangten. Zu unserm Erstaunen brannte nicht ein Licht in dem Bungalow. »Nachlässige Bande, diese Dienerschaft!« schimpfte Strickland.

Da scheute mein Pferd vor etwas Schwarzem auf dem Weg, und gleich darauf tauchte Fleete dicht unter der Nase des Tieres auf.

»Was kriechst du denn da im Garten herum?« fragte Strickland.

Beide Pferde machten Miene auszubrechen und warfen uns beinahe ab; wir stiegen vor dem Stall aus den Sätteln und kehrten zu Fleete zurück, der zwischen den Orangebüschen auf Händen und Knien umherkroch.

»Was, zum Teufel, ist denn los mit dir?« rief Strickland.

»Nichts, gar nichts!« antwortete Fleete hastig, aber mit seltsam schwerer Zunge. »Ich – ich habe im Garten gearbeitet, botanisiert und so. Der – der Geruch der Erde ist entzückend. Ich möchte einen Spaziergang machen – einen langen Spaziergang, die ganze Nacht hindurch.«

Ich begriff sofort, daß hier etwas über alle Maßen Ungewöhnliches vor sich ging, und sagte zu Strickland: »Ich werde doch lieber nicht auswärts speisen!«

»Danke dir«, erwiderte Strickland kurz. »Heda, Fleete! Steh auf, du holst dir das Fieber. Komm hinein zum Essen. Wir wollen Licht machen lassen; wir essen heute zu Hause.«

Fleete stand unwillig auf und knurrte: »Keine Lampen! Es ist viel schöner hier draußen. Essen wir doch hier! Mehr Koteletts – haufenweise, und – blutig und zäh!«

Ein Dezemberabend im Norden Indiens ist schneidend kalt, und der Vorschlag Fleetes war der eines Wahnsinnigen.

»Komm herein!« befahl Strickland in strengem Ton. »Komm augenblicklich herein!« Fleete gehorchte.

Als die Lampen gebracht wurden, sahen wir, daß er buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckt war; er mußte sich im Garten herumgewälzt haben. Er schrak vor dem Licht zurück und ging in sein Zimmer. Seine Augen waren schrecklich anzusehen; es glomm ein grünes Licht – nicht in ihnen, nein: hinter ihnen, – ich kann es nicht anders schildern! und die Unterlippe hing ihm herunter.

»Es wird etwas Tolles geben – etwas ganz Tolles – heute nacht«, sagte Strickland. »Behalte dein Reitzeug an!«

Wir warteten und warteten auf Fleetes Rückkunft und bestellten unterdessen die Speisen. Er rumorte in seinem Zimmer, aber Licht hatte er nicht angezündet. Plötzlich erscholl aus seiner Stube das langgezogene Geheul eines Wolfes!

Man spricht und schreibt oft leichthin von erstarrendem Blut und von gesträubtem Haar. Aber, wenn es wirklich geschieht, vergeht einem die Lust, Scherz damit zu treiben! Mir stand das Herz still, als wäre es mit einem Messer durchstochen, und Strickland war weiß geworden wie das Tischtuch.

Das Geheul wiederholte sich und wurde von einem andern Geheul, weit über die Felder her, beantwortet.

Das setzte dem Grauen die Krone auf. Strickland stürzte in Fleetes Zimmer. Ich folgte, und wir sahen, daß Fleete aus dem Fenster kletterte. Tierische Laute kamen tief aus seiner Kehle. Er konnte nicht antworten, als wir ihn anschrien. Er geiferte.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, was dann folgte, aber ich glaube, Strickland muß ihn durch einen Hieb mit dem Stiefelknecht betäubt haben, sonst hätte ich nicht plötzlich auf seiner Brust knien können. Fleete konnte nicht mehr sprechen; er knurrte nur. Aber es war nicht das Knurren eines Menschen – es war das Knurren eines Wolfes! Der menschliche Geist in ihm mußte im Lauf des Tages immer mehr und mehr geschwunden und im Zwielicht erloschen sein; wir hatten es jetzt mit einem Tier zu tun, das einst Fleete gewesen war.

Das Erlebnis stand jenseits aller menschlichen und vernunftgemäßen Erfahrung. Ich wollte etwas sagen über Hydrophobie – Tollwut, brachte aber das Wort nicht über die Lippen – empfand es als Lüge, noch ehe ich es aussprechen konnte!

Wir fesselten das »Tier« mit ledernen Punkahriemen, banden ihm Daumen und große Zehe zusammen, knebelten es mit einem Schuhlöffel! Es ist das ein sehr wirksamer Knebel, wenn man ihn richtig anzuwenden weiß. Dann schleppten wir das »Tier« ins Eßzimmer und schickten einen Mann zu Dumoise, dem Arzt, mit der Bitte, er möge sofort kommen. Als der Bote fort war und wir wieder Atem geschöpft hatten, sagte Strickland: »Es wird nichts nützen. Die Sache schlägt nicht in das Fach eines Arztes.« Ich wußte, daß er die Wahrheit sprach.

Der Kopf des »Tieres« war frei; es warf ihn ruhelos hin und her. Hin und her. Wäre damals jemand ahnungslos ins Zimmer getreten, er hätte glauben müssen, wir stünden im Begriffe, einem Wolf das Fell abzuziehen; und das war von allen Gedanken, die unser Hirn bestürmten, vielleicht der schrecklichste.

Strickland saß unbeweglich da, das Kinn auf die Faust gestützt, und beobachtete schweigend das »Tier«, wie es sich auf dem Boden krümmte und wand, das Hemd vom Ringen aufgerissen, darunter die schwarze Rosette auf der linken Brust, die sich von der Haut abhob wie eine Brandblase.

In der Totenstille, die im Zimmer herrschte, hörten wir mit einemmal draußen etwas miauen, wie eine weibliche Otter. Wir sprangen beide auf, und ich – ich rede nur von mir allein, nicht von Strickland -, fühlte mich todkrank, richtig körperlich krank. Wir versuchten, uns einzureden: es – es sei eine Katze.

Dumoise kam. Noch nie habe ich einen Arzt so berufswidrig erschrecken sehen. Er sagte, es sei ein geradezu erschütternder Fall von Tollwut; leider gebe es kein Mittel dagegen. Beruhigende Medikamente würden den Todeskampf nur verlängern. Das »Tier« hatte bereits Schaum vor dem Mund. Wir redeten Dumoise ein, Fleete sei ein- oder zweimal von Hunden gebissen worden, was bei jemand, der ein halbes Dutzend Terriers hält, häufig vorzukommen pflegt. Dumoise konnte keinerlei Hilfe in Aussicht stellen; nur eins könne er mit Sicherheit erklären, sagte er, nämlich, daß Fleete an Hydrophobie sterben werde. Wie als Antwort heulte das Tier in diesem Augenblick laut auf: es war ihm gelungen, sich von dem Knebel zu befreien. Dumoise sagte, er wäre bereit, die Todesursache jetzt schon zu bescheinigen, da das Ende nahe sei. Er war ein braver, kleiner Kerl und erbot sich, bei uns zu bleiben, aber Strickland lehnte es ab; er wollte Dumoise das Neujahrsfest nicht verderben und bat ihn nur, die wirkliche Todesursache von Fleetes Tod nicht öffentlich bekanntzugeben.

Dumoise verließ uns tiefbewegt. Als das Rollen seines Wagens verstummte, teilte mir Strickland seinen Verdacht mit – im Flüsterton; es klang so unglaublich, was er sagte, daß er selbst es nicht laut auszusprechen wagte. Und obgleich ich Stricklands Ansicht innerlich vollkommen teilte, so schämte ich mich doch, es einzugestehen, und gab lieber vor, ich glaubte an derlei Dinge nicht.

»Selbst wenn der Silberne wirklich Fleete behext hat«, sagte ich leise, »so rasch könnte doch die Strafe wegen der Beschimpfung der Hanumanstatue –«

Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn abermals wurde ein Schrei draußen laut, und sofort verfiel das »Tier« wieder in einen Paroxysmus von Krämpfen – so heftig, daß wir fürchten mußten, seine Fesseln könnten zerreißen.

»Gib acht!« rief Strickland. »Wenn sich das noch sechsmal wiederholt, nehme ich das Gesetz selbst in die Hand. Ich befehle dir, mir dabei zu helfen!«

Er ging rasch in sein Zimmer und kehrte nach wenigen Minuten zurück mit dem Lauf einer alten Schrotflinte, einem Stück Angelschnur, ein paar dicken Stricken und seiner schweren Holzbettstatt. Ich berichtete ihm, die Krämpfe seien jedesmal etwa zwei Sekunden nach dem Heulen draußen eingetreten, aber jetzt sei das »Tier« merklich schwächer.

Strickland murmelte in sich hinein: »Das Leben kann er ihm doch nicht nehmen! Nein, Leben kann er nicht nehmen.«

»Es wird eine Katze sein!« Ich wollte unter keinen Umständen etwas anderes zugestehen: »Es muß eine Katze sein! Wenn der Silberne die Schuld hat, würde er nicht wagen hierherzukommen!«

Strickland zündete Holz auf dem Herd an, legte den Flintenlauf in die Glut, breitete die Taue auf dem Tisch aus, brach einen Spazierstock in zwei Teile und knotete einen Meter Angelschnur, aus Darm geflochten und drahtumwickelt, wie man sie zum Fischen der großen Mahseers verwendet, mit den Enden zusammen.

Dann sagte er nachdenklich: »So. Irgendwie müssen wir ihn fangen. Wenn ich nur wüßte, wie! Wir müssen ihn unverletzt in die Hand bekommen.«

»Verlassen wir uns auf die Vorsehung! Nehmen wir ein paar Polohämmer«, schlug ich vor, »und schleichen wir uns leise hinaus in das Buschwerk vor dem Haus! Alles spricht dafür, daß der Mensch, oder das Tier, das das Geheul ausstößt, in regelmäßigen Zeitabständen den Bungalow umkreist wie eine Nachtwache. Lauern wir ihm im Gebüsch auf und überfallen wir ihn, wenn er vorüberkommt!«

Strickland erklärte sich einverstanden, und wir schlüpften vom Badezimmerfenster aus auf die Veranda hinaus und von da über den Fahrweg ins Buschwerk.

Gleich darauf kam der Aussätzige um die Ecke des Hauses; wir konnten ihn deutlich im Mondlicht sehen. Er war völlig nackt, miaute von Zeit zu Zeit und blieb dann stehen, um einen merkwürdigen Tanz mit seinem Schatten aufzuführen. Es war ein grauenhafter Anblick, und als ich mir vorstellte, dies scheußliche Geschöpf sei schuld an des armen Fleete Erniedrigung zum Tier, da fielen meine letzten Bedenken und ich beschloß, Strickland zu helfen – mit dem glühenden Flintenlauf sowohl, wie mit der geknoteten Angelschnur – mit allen Foltern, die nötig sein würden, Foltern, vom Kopf angefangen bis zu den Hüften und wieder zurück!

Als der Aussätzige einen Moment vor der Eingangstür haltmachte, fielen wir mit den Polohämmern über ihn her. Er war erstaunlich kräftig, und wir mußten alles aufbieten, damit er uns nicht entwischte, ehe wir ihn festhatten, zumal wir darauf achten mußten, ihn nicht ernstlich zu verwunden. Wir hatten immer angenommen, Aussätzige wären schwache, elende Geschöpfe; es war ein Irrtum gewesen. Strickland versetzte ihm schließlich einen derartigen Hieb auf die Schienbeine, daß er niederstürzte. Ich setzte ihm den Fuß in den Nacken. Er miaute schauderhaft; durch meine hohen Reitstiefel hindurch konnte ich deutlich fühlen, daß sein Fleisch nicht das eines gesunden Menschen war.

Er schlug nach uns mit den Stummeln seiner Hände und Füße; wir schlangen den Riemen einer Hundepeitsche unter seinen Achseln hindurch, verknoteten sie und schleppten ihn rücklings in die Vorhalle und in das Eßzimmer, wo das »Tier« gefesselt lag. Dort banden wir ihn mit Tauen fest. Er wehrte sich nicht mehr. Miaute nur.

Die Szene, die sich abspielte, als wir ihn dem »Tier« gegenüberstellten, spottet jeder Beschreibung. Das »Tier« schnellte sich nach rückwärts, den Körper wie ein Bogen nach hinten gekrümmt, als sei es mit Strychnin vergiftet, und stöhnte zum Erbarmen. Noch verschiedenes andere begab sich, was ich hier nicht beschreiben kann.

»Ich glaube, meine Vermutung war richtig«, sagte Strickland. »Wollen mal die Aufforderung an ihn richten, den Fall zu kurieren!«

Aber der Aussätzige miaute nur. Strickland wickelte ein Tuch um die Hand und nahm den Flintenlauf aus der Glut; ich steckte den zerbrochenen Spazierstock durch die Schlinge der Angelschnur, drehte ihn als Handhabe und schnürte so den Aussätzigen an der Bettstatt fest. Ich bekam damals einen leisen Begriff, wieso Männer, Frauen und Kinder es einst ertragen konnten, Hexen lebendig verbrennen zu sehen. Das »Tier« auf dem Boden wimmerte und jammerte, und wenn auch der Silberne kein Gesicht mehr hatte, so konnte man doch von Zeit zu Zeit über den zähen Schlamm, der es ersetzte wie eine Maske, einen Ausdruck bestialischer Verworfenheit, gemischt mit Wut und Schrecken, hinhuschen sehen – etwa, wie Hitzewellen über rotglühendem Eisen spielen.

Einen Moment bedeckte Strickland seine Augen mit den Händen; dann gingen wir ans Werk. Eine Schilderung wird niemals im Druck erscheinen.

Der Tag begann zu dämmern, da erst entschloß sich der Aussätzige zu sprechen. Bis dahin hatte er nur miaut; wir wollten uns aber damit nicht zufriedengeben. Das »Tier« war ohnmächtig vor Erschöpfung. Wir banden den Aussätzigen los und befahlen ihm, den bösen Geist auszutreiben. Er kroch zu dem »Tier« hin und legte ihm die Hand auf die linke Brust; das war alles. Dann fiel er, das Gesicht nach unten, nieder und winselte, wobei er den Atem nach innen sog.

Wir beobachteten das »Tier« und sahen: die Seele Fleetes kehrte wieder in seine Augen zurück; seine Stirne bedeckte sich mit Schweiß, und die Augen – es waren wieder menschliche Augen – schlossen sich. Wir warteten eine Stunde: Fleete schlief fest und tief. Wir trugen ihn in sein Zimmer und bedeuteten dem Aussätzigen, er möge gehen, gaben ihm die Bettstatt, die Decke, damit er seine Blöße verhülle, die Handschuhe, die Tücher, kurz alles, womit wir ihn berührt, und die Peitschenschnur, mit der wir ihn gefesselt hatten. Er hüllte sich in die Decke und schritt hinaus in die Morgenfrühe, ohne zu sprechen, ohne zu miauen.

Strickland trocknete sich die Stirn und setzte sich nieder; ein Nachtgong weit drüben in der Stadt schlug sieben Uhr.

»Genau vierundzwanzig Stunden!« sagte Strickland. »Ich habe mein Bestes getan, um einer Entlassung aus dem Staats dienst sicher sein zu können, möglicherweise auch eines lebenslänglichen Freiquartiers in einer Irrenanstalt. Was meinst du übrigens: schlafen wir, oder sind wir wach und noch bei Sinnen?«

Der glühende Flintenlauf war heruntergefallen, versengte den Teppich, der Brandgeruch war durchaus real, kein Zweifel: wir waren wach und bei Sinnen.

Um elf Uhr gingen wir zu Fleete, um ihn zu wecken, und bemerkten sofort, daß die schwarze Leopardenrosette von seiner Brust verschwunden war. Er sah sehr müde und schlaftrunken aus, rief aber, als er uns erblickte, sofort: »Was sehe ich? Da seid ihr ja, alte Burschen! Ein glückliches Neujahr wünsche ich euch! Und laßt euch raten: trinkt niemals Schnaps, Bier und Champagner durcheinander: Ich bin noch halb tot davon!«

»Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit, aber mit der Gratulation kommst du ein bißchen spät«, sagte Strickland. »Heute schreiben wir bereits den zweiten Januar. Du hast geschlafen wie ein Murmeltier!«

Da ging die Tür auf, und der kleine Dumoise steckte den Kopf herein; er war zu Fuß gekommen und nahm an, wir wollten Fleete bereits aufbahren.

»Ich habe eine Leichenwäscherin mitgebracht«, sagte er. »Ich glaube, sie wird alles gut besorgen.«

»Haha«, lachte Fleete und richtete sich belustigt im Bett auf. »Nur herein mit der Holden! Das ist ja prachtvoll.«

Dumoise war sprachlos. Strickland führte ihn hinaus und erklärte ihm, er müsse sich offenbar in der Diagnose geirrt haben. Dumoise erwiderte kein Wort: er fühlte sich in seiner Würde als Arzt schwer gekränkt und schien die Sache als eine persönliche Beleidigung auffassen zu wollen. Auch Strickland ging fort. Als er zurückkehrte, erzählte er mir, er habe beim Hanumantempel vorgesprochen und sich zu jeglicher Art Genugtuung wegen der geschehenen Götterentweihung bereit erklärt. Man hätte ihm aber aufs feierlichste versichert, niemals sei das Bild des Gottes von einem weißen Mann berührt worden. Er sei fraglos die Verkörperung aller Tugenden, scheine aber bisweilen Sinnestäuschungen unterworfen zu sein.

»Was sagst du dazu?« schloß Strickland.

»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und -« wollte ich ausrufen, da fiel mir noch rechtzeitig ein, daß Strickland dieses Zitat haßte; es sei abgedroschen, pflegte er zu behaupten.

Noch etwas begab sich, – es erschreckte mich fast ebenso, wie die Vorfälle in der Nacht: als Fleete angekleidet ins Eßzimmer trat, schnupperte er plötzlich in die Luft. Er hatte eine seltsame Art, die Nase zu bewegen, wenn er schnupperte. »Ein scheußlicher Geruch nach Hunden ist hier«, sagte er. »Du solltest deine Terrier besser pflegen! Versuche es doch einmal mit Schwefelblüte, Stricky!«

Strickland antwortete nicht. Er haschte nach einer Stuhllehne und brach urplötzlich in einen Weinkrampf aus. Es ist eine schreckliche Sache, einen starken Mann weinen zu sehen. Dann überfiel auch mich die Erinnerung, daß wir hier in diesem Raum mit dem Silbernen um Fleetes Seele gerungen und uns als Engländer erniedrigt hatten, und ich lachte, keuchend und gurgelnd. Fleete dachte sich offenbar, wir seien beide verrückt geworden! Gesagt haben wir ihm niemals, was wir für ihn getan hatten.

Ein paar Jahre später, als Strickland sich verheiratet hatte und seiner Frau zuliebe ein emsiger Kirchengänger geworden war, besprachen wir noch einmal das seltsame Erlebnis in aller Ruhe, und Strickland machte mir den Vorschlag, ich solle den Fall veröffentlichen.

Ich meinesteils glaube nicht, daß dadurch das Geheimnis aufgeklärt wird, denn erstens glaubt niemand gern an derlei lästige Geschichten, und zweitens weiß jeder vernünftige Mensch, daß die Götter der Heiden aus Stein oder Erz bestehen, und daß die Annahme, sie könnten als etwas anderes aufgefaßt werden, überaus töricht ist!

Imrays Rückkehr

Imray hatte das Unmögliche vollbracht; ohne eine Zeile zu hinterlassen, aus unbegreiflichen Gründen, in der Blüte der Jahre, an der Schwelle einer Karriere, hatte er die Welt verlassen – das heißt: die kleine indische Station, in der er lebte. Tags vorher war er noch frisch und wohlauf gewesen, vergnügt und emsig tätig an den Billardtischen seines Klubs. Am Morgen darauf war er nicht mehr zu finden, und alle Nachforschungen nach ihm blieben erfolglos. Er hatte seine Wohnung verlassen, war aber nicht, wie sonst, rechtzeitig im Amt erschienen; auch hatte man seinen Dogcart nicht auf den Straßen gesehen. Weil er sich einmal einer mikroskopisch winzigen Pflichtversäumnis schuldig gemacht, hielt sich das Kaiserreich nur zu einer ebenso winzig mikroskopischen Untersuchung des Vorfalles verpflichtet. Man suchte die Teiche nach Imray ab, Brunnen wurden ausgepumpt und Telegramme an die Eisenbahnstationen und die nächste Seehafenstadt – sie lag die Kleinigkeit von zwölfhundert Meilen entfernt – losgelassen. Aber Imray blieb verschwunden; man fand ihn weder am Ende der Schleppnetztaue noch am Ende der Telegraphendrähte. Die Regierungsmaschine des großen indischen Kaiserreiches nahm ihre tägliche Arbeit wieder auf, denn man konnte sich Imrays wegen doch nicht länger aufhalten. Imray, der Mensch, wurde eine geheimnisumwobene Angelegenheit, von der man bestenfalls einen Monat lang an den Klubtischen spricht, um sie dann zu vergessen. Seine Gewehre, Wagen und Pferde wurden an den Meistbietenden veräußert. Sein Vorgesetzter schrieb einen gewundenen Brief an die Mutter, in dem die Tatsache unterstrichen war, daß Imray auf unerklärliche Weise verschwunden sei und sein Bungalow leerstehe.

Als drei oder vier Monate des sengend heißen Wetters vorbei waren, mietete mein Freund Strickland von der Polizei dem eingeborenen Hauswirt den Bungalow ab. Das geschah, bevor er sich mit Miss Youghal verlobte und noch seinen Forschungen über das Leben und Treiben der Eingeborenen oblag. Seine eigene Lebensführung war sonderbar genug, und so mancher hat sich über seine Manieren und Gewohnheiten beklagt. Nahrungsmittel waren in seinem Hause stets reichlich vorhanden, aber eine regelmäßige Essenszeit gab es nicht; im Stehen, oder auf und ab gehend, aß er, was gerade auf dem Serviertisch stand, und das behagt nicht jedem. Sein Wohnungsschmuck bestand aus sechs Doppelflinten, drei Schrotbüchsen, fünf Sätteln und einer Sammlung steifgesplißter Mahseer-Angelruten, die noch viel dicker und stärker sind als die, mit denen man die größten Lachse fängt. Diese Dinge nahmen die eine Hälfte des Bungalows ein, die andere war für Strickland – und Tietjens reserviert, eine riesige Hündin aus Rampur, die täglich die Ration von zwei Männern verschlang. Sie sprach mit Strickland ihre eigene Sprache, und wenn sie draußen beim Umherstreifen etwas bemerkte, was nach ihrer Ansicht den Frieden Ihrer Majestät, der Kaiserin und Königin, hätte stören können, so kehrte sie zu ihrem Gebieter zurück, um Bericht zu erstatten; Strickland verfügte sodann auf der Stelle die erforderlichen Geldstrafen oder Gefängnis für die betrübten Schuldigen. Die Eingeborenen hielten infolgedessen Tietjens für eine Art dienstbaren Hausgeist und bezeigten ihr jene Art Hochachtung, die sich aus Haß und Furcht zusammensetzt. Ein Zimmer im Bungalow war eigens für sie bestimmt, und außerdem nannte sie eine Bettstatt, eine wollene Decke und einen Trinktrog ihr eigen. Wenn jemand des Nachts Stricklands Gemächer betrat, liebte sie es, den Eindringling zu Boden zu werfen und so lange zu heulen, bis Licht gebracht wurde. Strickland dankte ihr sein Leben; als er sich einmal in den Grenzgebieten aufgehalten hatte, schlich ein Mörder, den er dingfest machen wollte, in der Dämmerung in sein Zelt, ein Messer zwischen den Zähnen, um ihn in ein Land zu befördern, das noch jenseits der Andamaneninseln liegt; aber Tietjens packte den Kerl und verhalf ihm dadurch zu einem streng gesetzmäßigen Ende am Galgen. Seitdem trägt sie ein dickes silbernes Halsband und hat ein Monogramm auf ihrer Bettdecke. Diese Decke ist aus doppeltem Kaschmirstoff, denn Tietjens hält viel auf dergleichen.

Unter keinen Umständen litt sie, daß man sie von ihrem Herrn trennte. Als Strickland einmal an Fieber darniederlag, bereitete sie den Ärzten große Verlegenheiten; sie konnte ihrem Herrn zwar nicht helfen, aber sie duldete auch nicht, daß ihm andere hülfen. Macarnaght vom indischen Sanitätskorps mußte ihr erst eins mit dem Gewehrkolben über den Schädel geben, ehe sie zur Einsicht kam, daß die Ärzte mit dem Chinin den Vortritt hätten.

Kurz nachdem Strickland Imrays Bungalow bezogen hatte, führten mich meine Geschäfte zu der Station, und da die Klubquartiere überfüllt waren, mietete ich mich bei ihm ein. Es war ein solid gebauter Bungalow, mit acht Räumen und mit einem guten Dach versehen, so daß kein Regen durch konnte. Innen hing eine Art Baldachin als Schutzdecke quer über dem Wohnraum, sauber wie ein getünchter Bewurf. Der Hauswirt hatte sie frisch übermalen lassen, bevor Strickland einzog. Wer die Bauart indischer Bungalows nicht kennt, hätte schwerlich vermutet, daß über diesem weißen, gespannten Tuch die dunkle dreieckige Höhlung des Dachstuhls lag, bewohnt von Ratten, Fledermäusen und anderem ekelhaften Ungeziefer.

Tietjens empfing mich in der Veranda mit einem Gebell, dröhnend wie die Glocke der St.-Pauls-Kirche, und legte mir als Zeichen der Freude und des Wohlwollens die Pfoten auf beide Schultern. Strickland hatte sich aus Töpfen und Tellern eine Art Frühstück zusammengekratzt, eilte aber, kaum daß er es hinuntergewürgt hatte, sofort zu seinen Berufsangelegenheiten und ließ mich mit Tietjens und meinen Gedanken allein. Die Hitze des Sommers war vorüber und hatte dem warmen Dunst der ersten Regenzeit Platz gemacht. Kein Lüftchen regte sich, aber der Regen fiel Ladestöcken gleich auf die Erde herab, sich beim Wiederemporspritzen in einen blauen Nebel verwandelnd. Der Bambus, die Zuckeräpfelbäume, die Pointsettias und die Mangobäume standen unbeweglich und ließen sich von dem warmen Wasser überrieseln, derweilen die Frösche in den Aloehecken dazu sangen. Kurz vor dem Dunkelwerden, als der Regen am heftigsten fiel, saß ich im Hintergrund der Veranda, lauschte auf das Trommeln des Wassers in den Dachtraufen und kratzte mich, denn ich war mit Hitzebläschen über und über bedeckt. Tietjens war mit mir hereingekommen, legte mir den Kopf in den Schoß und blickte ungemein sorgenvoll drein, – weshalb ich ihr ein paar Biskuits gab, als ich im Rückraum, wo es wesentlich kühler war, meinen Tee einnahm. Die übrigen Gemächer des Hauses lagen in Dunkelheit getaucht hinter mir. Ich vermied sie, denn ich konnte den Geruch von Stricklands Sattelzeug und dem öl an seinen Flinten nicht leiden. Da kam mein Privatdiener zu mir – seine dünnen Kleider waren so durchnäßt, daß sie ihm förmlich am Leibe festklebten – und sagte, ein Fremder sei gekommen und wünsche, mit jemand zu sprechen. Ich wollte nicht erst warten, bis der Diener Licht in den dunklen Zimmern angezündet haben würde, und ging daher – eigentlich ganz gegen meinen Willen – in das kahle Vorzimmer. Ob nun wirklich ein Besucher draußen war oder nicht, jedenfalls schien es mir, als stünde eine Gestalt am Fenster. Aber als der Diener mit den Leuchtern kam, war nichts zu sehen, zu hören und zu spüren als Regengeprassel und der Geruch der trinkenden Erde. Ich erklärte meinem Diener, er sei noch dümmer, als es sich von Rechts wegen gezieme, und kehrte in die Veranda zurück, um mich mit Tietjens weiter zu unterhalten. Sie war inzwischen in das Unwetter hinausgegangen und ließ sich nur mit Widerstreben zurücklocken -trotz Zuckerstücken und Biskuitverheißung. Kurz vor Abendessenszeit kam Strickland, triefend vor Nässe, nach Haus. Seine ersten Worte waren:

»Ist jemand hier gewesen?«

Ich erzählte ihm, mit dem nötigen Hinweis auf die Dummheit meines Dieners, daß man mich in das Empfangszimmer gerufen habe. Vielleicht sei wirklich irgendein Tagedieb dagewesen, aber jedenfalls hätte er das Weite gesucht, ohne sich vorzustellen und seinen Namen zu nennen, schloß ich meinen Bericht.

Strickland hörte mir schweigend zu, bestellte das Essen, und da es ein ordnungsmäßiges Mahl war, serviert auf einem weißen Tuch, setzten wir uns zu Tisch, wie es sich gehört. Um 9 Uhr ging Strickland schlafen. Ich war ebenfalls müde. Tietjens, die unter dem Tisch gelegen hatte, verfügte sich mit einem Satz in den am meisten geschützten Teil der Veranda, als sich ihr Herr in sein Schlafgemach begab, das an ihr eigenes Staatszimmer angrenzte. Wenn etwa eine Frau es vorgezogen hätte, draußen im strömenden Regen zu schlafen, wäre das weiter nicht von Belang gewesen, aber Tietjens war eine Hündin und somit wertvoller. Ich sah Strickland erwartungsvoll an, ob er sie nicht mit der Peitsche zurückholen würde, aber er lächelte nur entsagungsvoll, etwa wie ein Ehemann, der sich keinerlei Gewalt über die Hauswirtschaft anzumaßen getraut. »Sie hat es so gehalten, seitdem ich hier eingezogen bin. Laß sie«, sagte er.

Tietjens war schließlich Stricklands Hündin und nicht meine, und daher schwieg ich. Aber daß es Strickland keineswegs paßte, so leicht über die Sache hinwegzugehen, fühlte ich deutlich. Tietjens schlug ihr Lager draußen vor dem Fenster meines Schlafzimmers auf. Sturmbö folgte auf Sturmbö und fegte donnernd über das Dach; schwand dahin. Blitze spritzten über den Himmel, wie Eier, die an ein Scheunentor geworfen werden. Nur nicht so gelb. Mehr blaßblau. Durch die Ritzen meiner Bambusjalousie konnte ich erkennen, daß die große Hündin regungslos draußen in der offenen Veranda stand, die Rückenhaare gesträubt, die Füße wie angewurzelt. Die Sehnen gespannt, wie die Drahtseile einer Kettenbrücke. Während der kurzen Pausen des Donners versuchte ich einzuschlafen, hatte aber immerwährend das Gefühl, irgend jemand wolle mich davon abhalten und verlange etwas von mir. Wer es auch sein mochte, er versuchte, mich beim Namen zu rufen. Aber seine Stimme ging stets in ein lautloses Flüstern über. Der Donner hörte auf, Tietjens ging in den Garten, heulte den Mond an. Jemand versuchte, meine Tür zu öffnen, wanderte auf und ab im Haus, stand schwer atmend in der Veranda still. Ich war kaum eingeschlafen, da bildete ich mir ein, wildes Hämmern und Geschrei über meinem Kopf – oder war es an der Tür? – zu hören.

Ich stürzte in Stricklands Zimmer und fragte, ob er krank wäre oder mich gerufen hätte. Er lag, halb angekleidet, auf seinem Bett, die Pfeife im Munde. »Ich hab mir’s gleich gedacht, daß du kommen würdest«, sagte er. »Bin ich soeben im Haus herumgelaufen?«

Ich sagte, er sei im Eß- und Rauchzimmer herumgetrampelt und noch in zwei oder drei ändern Zimmern. Er lachte bloß und riet mir, mich schlafen zu legen. Ich legte mich wieder nieder und schlief bis zum Morgen, aber beständig verfolgte mich das Gefühl im Traum, ich beginge ein Unrecht gegen jemand, der irgend etwas von mir wünsche. Was das für Wünsche sein könnten, vermochte ich mir nicht klarzumachen, aber ein schwankender, umhertappender, zaudernder schemenhafter Jemand überhäufte mich mit Vorwürfen wegen meiner Saumseligkeit. Zwischenhinein hörte ich, wie im Halbwachen, das Dreschen des Regens und Tietjens‘ Geheul im Garten.

Zwei Tage blieb ich in dem Haus. Jeden Morgen ging Strickland in sein Büro und ließ mich mit Tietjens als einziger Gesellschaft, acht bis zehn Stunden allein. Solange heller Tag war, fühlte ich mich ganz behaglich. Ebenso Tietjens. Aber wenn die Dämmerung kam, zogen wir uns in die rückwärtige Veranda zurück und taten schön miteinander. Wir waren allein im Haus, dennoch schien jemand anwesend zu sein – allzu anwesend – mit dem ich nichts zu tun haben mochte. Ihn konnte ich nicht sehen, aber ich sah, daß sich die Vorhänge, die die Zimmer abteilten, bewegten, als sei soeben jemand hindurchgegangen; ich hörte die Bambusstühle knarren, als hätte sich eben ein Gewicht von ihnen erhoben; ich fühlte, wenn ich ein Buch aus dem Eßzimmer holen wollte, jemand warte auf der Vorderveranda, bis ich fortginge. Tietjens machte das Zwielicht interessant durch ihr Starren in die dunklen Räume, jedes Haar gesträubt und die Bewegungen eines Etwas verfolgend, das ich nicht sehen konnte. Sie ging niemals in die dunklen Zimmer hinein, aber ihre aufmerksam wandernden Augen sagten mir genug. Erst wenn mein Diener die Lampen brachte und ihr Licht alles hell und wohnlich machte, ging sie mit mir hinein, setzte sich auf die Hinterbeine und beobachtete eine unsichtbare Erscheinung, die sich hinter meinem Rücken zu schaffen machte. Hunde sind freundliche Gefährten.

Ich eröffnete Strickland so höflich wie möglich, daß ich nunmehr hoffen könne, im Klub Unterkunft zu finden, pries seine Gastfreundschaft, bewunderte seine Waffen und Angelruten, aber sein Haus und die Atmosphäre darin paßten mir ganz und gar nicht. Er ließ mich zu Ende sprechen, lächelte dann müde, aber ohne Empfindlichkeit, denn er ist ein Mann, der die Beweggründe anderer gelten läßt. – »Bleib doch noch hier«, sagte er nach einer Weile – »und denk nach, was das alles zu bedeuten hat. Was du mir mitgeteilt hast, weiß ich, seit ich den Bungalow bewohne. Bleib doch hier und warte ab! Tietjens hat mich verlassen; willst du auch gehen?«

Ich habe einmal mit ihm ein kleines Erlebnis, ein heidnisches Götzenbild betreffend, gehabt, das mich beinahe ins Irrenhaus brachte; ich verspürte keine Lust, ihm auch noch bei weiteren Experimenten Gesellschaft zu leisten. Er war ein Mensch, dem Ungeheuerlichkeiten so häufig unterliefen, wie ändern etwa ein Mittagessen.

Ich sagte ihm daher klipp und klar, daß ich ihn sehr gerne hätte und ihn mit Freuden jederzeit am Tage besuchen wollte, aber unter seinem Dach zu schlafen, ließe ich mir nicht zumuten. Das geschah nach dem Mittagessen, Tietjens lag draußen vor der Veranda.

»Gott, freilich, zu verwundern ist’s nicht«, sagte Strickland. Er betrachtete aufmerksam das Tuch an der Zimmerdecke

»Da! Schau mal!« Die Schwänze von zwei braunen Schlangen hingen zwischen Tuch und Wandgesims herab. Warfen lange Schatten im Lampenlicht. »Hm. Wenn du dich vor Schlangen fürchtest -« brummte er. Allerdings fürchte und hasse ich Schlangen. Wenn man ihnen ins Auge sieht, beschleicht einen der Verdacht, sie wissen um das ganze Geheimnis des Sündenfalles der Menschen und fühlen die Verachtung, die Satan gefühlt haben mag, als Adam aus dem Paradies vertrieben wurde. Außerdem ist ihr Biß meistens verhängnisvoll, – und sie winden sich einem mit Vorliebe an den Hosenbeinen hinauf.

»Du solltest wirklich einmal das Dach nachsehen lassen!« sagte ich. »Gib mir doch einen von deinen Maskeer-Angelstöcken her! Ich werde die Viecher herunterstochern.«

»Sie werden sich zwischen die Dachbalken verkriechen«, meinte Strickland. »Schlangen überm Kopf! Das könnte mir so passen! Warte, ich steige hinauf. Wenn ich sie herunterschüttle, zerschlag ihnen das Rückgrat mit dem Ausklopfstecken da!«

Ich verspürte wenig Lust, Strickland bei diesem Unternehmen beizustehen, nahm aber doch den Stock zur Hand und wartete, derweil Strickland eine Gärtnerleiter aus der Veranda holen ging, die er sodann an die Zimmerwand lehnte. Sofort wanden sich die Schlangenschwänze aufwärts und verschwanden. Man konnte deutlich das trockene Rascheln ihrer langen Leiber hören, wie sie im Innern des sackartig gebauchten Zimmerdeckentuchs dahineilten. – Strickland nahm beim Hinaufsteigen eine Lampe mit. Ich suchte ihm begreiflich zu machen, daß es nicht nur gefährlich sei, zwischen Decke und Baldachin Schlangen zu jagen, sondern überdies bedenklich hinsichtlich des Geldbeutels, denn möglicherweise könnte das Tuch bei dem Experiment zerreißen.

»Blödsinn!« sagte Strickland. »Sie werden sich zwischen Wand und Tuch versteckt haben. Die Ziegel sind ihnen zu kalt; die Zimmerwärme ist ihnen lieber.« Und er ergriff eine Ecke des Tuches und riß es vom Gesims los. Es gab mit einem lauten knirschenden Geräusch nach, und Strickland steckte den Kopf in die entstandene Öffnung hinein in die Dunkelheit der Dachbalkenwinkel. Ich biß die Zähne zusammen und packte den Stock fester, denn irgend etwas mußte doch jetzt herunterkommen!

»Hm«, machte Strickland, und seine Stimme dröhnte unter dem Dach wie in einem Resonanzboden. »Platz wäre hier für eine ganze Menge Zimmer. Aber, zum Teufel, da wohnt ja schon jemand!«

»Schlangen?« fragte ich von unten.

»Nein, es scheint eher ein Büffel zu sein. Reich mir mal die Spitze einer Masheer-Angel herauf, ich will ihn anstechen. Er liegt auf dem Hauptbalken.«

Ich reichte ihm den Angelstock hinauf.

»Ist das ein Nest für Eulen und Schlangen!« rief Strickland und kletterte noch tiefer in die Höhlung hinein. »Freilich kein Wunder, daß es ihnen hier gefällt!« Ich konnte sehen, wie er mit dem stockbewehrten Arm nach vorwärts stieß. »Heda! Sie! Mein Herr! Kommen Sie mal herunter!« hörte ich ihn rufen. »Achtung auf deinen Kopf! Es fällt!«

Und schon sah ich, wie sich das Dachtuch, fast in der Mitte des Zimmers, herabsenkte, beutelförmig ausgebaucht durch den Druck eines hineingefallenen Gegenstandes, und immer tiefer und tiefer herniederkam auf die Lampe zu, die brennend auf dem Tisch stand. Sofort riß ich sie weg und sprang mit ihr zurück. Im nächsten Augenblick löste sich das Dachtuch von den Wänden los, zerriß wie mit einem Schrei und ließ ein Etwas auf den Tisch fallen, das ich nicht anzusehen wagte, bis Strickland, auf der Leiter herabgestiegen, wieder neben mir stand.

Strickland war kein Mann der vielen Worte; schweigend faßte er die niederhängenden Enden des Tafeltuchs und deckte sie über das, was da auf dem Tische lag.

»Es will mir scheinen«, sagte er nach einer Weile und stellte seine Lampe weg, »unser Freund Imray ist zurückgekehrt! Ja, was ist denn das? Wirst du wohl?«

Es hatte sich etwas unter dem Tuch bewegt. Eine kleine Schlange ringelte sich heraus. Strickland zerschlug ihr mit dem dicken Ende der Masheer-Angel das Rückgrat. Mir wurde so übel, daß ich kein Wort hervorbringen konnte.

In Gedanken versunken stand Strickland eine Weile da, dann ließ er sich etwas zu trinken bringen. Unter dem Tafeltuch war es still geworden.

»Ist es Imray?« würgte ich hervor.

Strickland zog einen Augenblick das Tuch zurück, warf einen Blick hin und sagte: »Es ist Imray, und sein Hals ist durchschnitten von einem Ohr bis zum ändern.«

Dann riefen wir plötzlich beide gleichzeitig:

»Also darum hat es hier im Haus gespukt!«

Tietjens im Garten begann mit einemmal wütend zu bellen, und gleich darauf hob sie mit ihrer großen Nase den Türdrücker hoch, kam herein und schnüffelte in die Luft.

Dann setzte sie sich nieder, fletschte die Zähne, stemmte die Pfoten fest auf den Boden und blickte Strickland an.

Strickland nickte ihr zu. »Ja, ja, das ist eine schlimme Geschichte, alte Dame! Man klettert doch nicht aufs Dach, um dort zu sterben, und macht nachher den Baldachin unter sich fest! – Wart, laß mich mal überlegen.«

»Überlegen wir’s uns anderswo«, riet ich.

»Famose Idee! Du hast recht, überlegen wir’s uns anderswo! Lösch die Lampen aus. Gehen wir in mein Zimmer!«

Ich überließ das Lampenauslöschen ihm und ging voraus in sein Zimmer. Er kam mir nach, wir setzten unsere Pfeifen in Brand und dachten nach. Strickland insbesondere. Ich meinesteils rauchte wie ein Verrückter, denn mich gruselte schauderhaft.

»Also: Imray ist zurückgekehrt!« begann Strickland. »Die Frage ist nun: Wer hat ihn ermordet? Unterbrich mich jetzt nicht, mir fällt soeben etwas ein. Als ich diesen Bungalow bezog, übernahm ich die meisten von Imrays Dienern. – Imray war arglos und gutmütig, nicht wahr?«

Ich stimmte zu, obgleich der Haufen unter dem Tuch im Nebenzimmer weder nach der einen noch nach der ändern Eigenschaft ausgesehen hatte.

»Wenn ich jetzt sämtliche Diener hereinrufe, werden sie sich zusammenrotten und lügen wie die Arier. Was schlägst du vor?«

»Laß einen nach dem andern kommen!« riet ich.

»Dann werden sie hinauslaufen und sich gegenseitig warnen. Wir müssen sie trennen. Glaubst du, daß dein Diener etwas ahnt?«

»Könnte sein; ich weiß es nicht. Er ist erst zwei oder drei Tage hier. Was ist deine Ansicht?«

»Ich kann es noch nicht genau sagen. Wie, zum Kuckuck, kam Imray hinter die unrechte Seite des Dachtuchs?«

Da hörten wir ein lautes Husten vor Stricklands Schlafkammertür, ein Zeichen, daß Bahadur Khan, sein Leibdiener, aus dem Schlafe erwacht war und seinem Herrn beim Auskleiden behilflich sein wollte.

»Komm herein!« rief Strickland. »Eine verdammt heiße Nacht heute, was?«

Bahadur Khan, ein großer, grünbeturbanter, sechs Fuß hoher Mohammedaner, bestätigte, die Nacht sei in der Tat sehr warm, aber es sei noch mehr Regen in Aussicht, der, seiner Gnaden Gunst vorausgesetzt, dem Lande bald Erleichterung bringen würde.

»Es wird so sein, wenn es Gott gefällt«, erwiderte Strickland und begann seine Stiefel auszuziehen. »Aber da fällt mir ein, Bahadur Khan, daß ich dich lange Zeit unbarmherzig habe für mich arbeiten lassen – ja fast, seitdem du in meine Dienste getreten bist. Wann war das doch?«

»Hat der Himmelsentsprossene es vergessen? Es war, als Imray Sahib im geheimen nach Europa ging, ohne es jemand zu sagen. Damals bin ich – und die andern – in den geehrten Dienst des Beschirmers der Unterdrückten getreten.«

»So? Imray Sahib ist nach Europa gegangen?«

»So heißt es unter denen, die seine Diener waren.«

»Willst du wieder in seine Dienste treten, wenn er zurückkommt?«

»Sicherlich, Sahib! Er war ein guter Herr und leutselig gegenüber seinen Untergebenen.«

»Ja, das stimmt. Aber ich bin sehr müde jetzt und will morgen früh auf die Jagd gehen. Bring mir mal das kleine Präzisionsgewehr, das ich für die Schwarzbockjagd brauche, her! Es hängt dort im Kasten.«

Der Diener nahm Lauf und Kolben und reichte die Stücke seinem Herrn, der sie zusammensetzte und dabei fürchterlich gähnte. Dann griff Strickland selbst in den Kasten, nahm eine scharfe Patrone heraus und schob sie in das Verschlußstück der 36o-Expreß.

»Und Imray Sahib soll insgeheim nach Europa gereist sein? Ist das nicht sehr sonderbar, Bahadur Khan? Was meinst du?«

»Was weiß ich von den Gebräuchen der Weißen, Himmelsentsprossener? !«

»Sehr wenig, freilich. Aber du sollst sogleich mehr darüber erfahren. Ich habe nämlich gehört, daß Imray Sahib von einer sehr langen Reise zurückgekehrt ist und gerade jetzt im Zimmer nebenan liegt und auf seinen Diener wartet.«

»Sahib!«

Das Lampenlicht huschte über den Gewehrlauf, wie er sich schnell emporrichtete – mit der Mündung gegen Bahadur Khans breite Brust.

»Geh hinein und überzeug dich selbst! Dein Herr ist müde und man wartet drinnen auf dich. Geh!«

Der Mann ergriff eine Lampe und ging in das Eßzimmer. Strickland folgte ihm auf dem Fuße, schob ihn fast vorwärts mit der Flintenmündung. Bahadur Khan warf einen schnellen Blick in die gähnende Tiefe des Dachgebälks über dem Baldachin, dann auf die zuckende Schlange auf dem Fußboden und schließlich mit einem gläsernen Ausdruck im Gesicht auf das Ding unter dem Tischtuch.

»Hast du gesehen?« fragte Strickland nach einer Pause.

»Ich habe gesehen. Ich bin Erde in der Hand des weißen Mannes. Was gedenkt der Erhabene zu tun?«

»Dich diesen Monat noch aufknüpfen lassen. Was denn sonst?«

»Weil ich ihn getötet habe? Aber Sahib! Bedenke: während wir Imray Sahib bedienten, fiel sein Blick auf mein Kind – ein Knabe von vier Jahren. Er hat es behext. In zehn Tagen starb es an Fieber – mein Kind!«

»Was hat Imray Sahib gesagt?«

»Er hat gesagt, es sei ein schönes Kind, und hat ihm den Kopf gestreichelt. Deshalb ist mein Kind gestorben. Deshalb habe ich Imray Sahib getötet in der Dämmerung, als er aus seinem Amt gekommen war und schlief. Deshalb habe ich ihn nach oben unter die Balken geschleppt und das Dachtuch wieder festgemacht. Der Himmelsentsprossene weiß alle Dinge. Ich bin der Diener des Himmelsentsprossenen.«

Strickland warf mir über die Flinte hinweg einen Blick zu und sagte in der Eingeborenensprache: »Du bist Zeuge seines Geständnisses. Er hat getötet.«

Bahadur Khan stand da – aschfahl – im Licht der Lampe. Plötzlich überkam ihn der Trieb, sich zu rechtfertigen.

»Ich bin in die Falle gegangen«, sagte er, »aber die Schuld trifft ihn allein: Er hat den bösen Blick auf mein Kind geworfen, und deshalb habe ich ihn getötet und versteckt. Nur die, die von Teufeln bedient werden« – dabei starrte er Tietjens an, die stumpfsinnig vor ihm lag, »nur so jemand konnte erfahren, was ich getan habe.«

»Geschickt hast du’s angefangen, Bahadur Khan! Nur hättest du ihn mit einem Strick am Balken festbinden sollen! Jetzt wirst du selbst mit einem Strick – he, Ordonnanz!«

Ein schlaftrunkener Polizist, gefolgt von einem zweiten, erschien auf Stricklands Ruf. Tietjens saß merkwürdig still da.

»Führt ihn auf die Polizeistation!« befahl Strickland. »Es liegt etwas gegen ihn vor.«

»Werde ich denn gehenkt?« fragte Bahadur Khan. Er machte keinen Versuch zu entfliehen. Seine Augen waren auf den Boden geheftet.

»So sicher, wie die Sonne scheint und das Wasser fließt – jawohl«, sagte Strickland. Bahadur Khan machte einen langen Schritt nach rückwärts, schauderte zusammen und blieb dann unbeweglich stehen. Die beiden Polizisten warteten auf weitere Befehle.

»Geh!« sagte Strickland.

»Ich bin schon unterwegs«, sagte Bahadur Khan. »Ich bin bereits ein toter Mann. Da!«

Er hob den Fuß: an seiner Zehe haftete der Kopf der halberschlagenen Schlange, festgebissen in der Agonie des Todes.

»Ich stamme aus landbesitzendem Geschlecht«, sagte Bahadur Khan und schwankte hin und her. »Es wäre eine Schande für mich, zum Galgen zu gehen vor den Leuten, deshalb habe ich diesen Weg gewählt. Es sei mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß des Sahibs Hemden genau abgezählt sind und daß ein extra Stück Seife in der Waschtoilette liegt. Mein Kind ist behext worden, und ich habe den Zauberer erschlagen. Warum mich also mit dem Strick hinrichten? Meine Ehre ist gerettet, und – und ich sterbe.«

Nach einer Stunde starb er. So, wie man eben stirbt, wenn man von der kleinen, braunen Karait gebissen worden ist. Die Polizisten trugen ihn und – das Ding unter dem Tischtuch an den Ort, der ihnen bezeichnet wurde. Das Verschwinden Imrays war jetzt aufgeklärt.

»Und dies«, sagte Strickland seelenruhig, sein Bett erkletternd, »dies nennt man das neunzehnte Jahrhundert! Hast du gehört, was der Mann gesagt hat?«

»Ich hab es gehört«, sagte ich. »Imray hat einen Fehler begangen.«

»Einzig und allein infolge seiner Unkenntnis der Denkungsweise der Orientalen!« ergänzte Strickland. »Dann kam noch ein endemischer Fieberfall dazu – ja. Hm. Bahadur hat ihm vier Jahre lang treu gedient.«

Ich schauderte. Mein eigener Diener stand genau ebenso lang in meinen Diensten. Als ich hinüber in mein Zimmer ging, wartete er dort auf mich, regungslos wie der Kopf auf einer Münze, um mir beim Entkleiden zu helfen.

»Was ist Bahadur Khan zugestoßen?« forschte ich ihn aus.

»Eine Schlange hat ihn gebissen. Das übrige weiß der Sahib«, war die Antwort.

»Und wieviel war dir von der Sache bekannt?«

»Nicht mehr, als man schließen kann, wenn einer in der Dämmerung kommt, um Sühne zu fordern. Langsam, Sahib! Laß mir dir die Stiefel ausziehen.«

Ich war kaum in einen Schlaf der Erschöpfung verfallen, da hörte ich Strickland drüben in seinem Zimmer rufen:

»Da schau einer! Tietjens ist auf ihren alten Platz zurückgekehrt!«

Und so war es auch. Die große Jagdhündin lag stolz in ihrem Staatsbett, auf ihrer Prunkdecke, unbekümmert, trotzdem im Eßzimmer von Zeit zu Zeit das leere Dachtuch raschelte, wie es, immer weiter und weiter sich ablösend, noch mehr zerriß.

Die gespenstische Rikscha

Mögen böse Träume meine Lagerstätte meiden,
finstre Mächte mich in Ruhe lassen!
Abendhymne

Einige der wenigen Vorzüge, die Indien vor England genießt, bestehen in der Leichtigkeit, mit der man Bekanntschaften schließt. Schon nach fünfjähriger Dienstzeit kennt man zwei- bis dreihundert Zivilpersonen, die Offizier-Korps von zehn bis zwölf Regimentern und Batterien und etwa fünfzehnhundert Leute der nichtoffiziellen Kaste. Nach zehn Jahren können sich die Bekanntschaften verdoppelt haben, und nach zwanzig ist einem jeder Engländer im Kaiserreich geläufig – dem Namen nach oder von Angesicht zu Angesicht – und man kann reisen, wohin man will, und die Hotelrechnung schuldig bleiben.

Weltenbummler, die die Inanspruchnahme der Gastfreundschaft als ein ihnen zustehendes Recht betrachten, haben, wie ich an mir selbst des öfteren erfuhr, häufig auch das herzlichste Entgegenkommen schmählich mißbraucht; dennoch stehen, jedem nach wie vor alle Türen offen, er sei denn ein Wildschwein oder ein räudiges Schaf. Unsere kleine Welt ist nachsichtig und hilfreich!

Vor ungefähr fünfzehn Jahren war ein gewisser Rickett aus Kamartha bei einem Manne namens Polder in Kumaon zu Gast. Er wollte nur zwei Tage bleiben, aber er erkrankte an einem rheumatischen Fieber, und sechs Wochen hindurch brachte er Polders Hauswesen in Unordnung, hielt ihn von seiner Arbeit ab und wäre bei einem Haar in Polders Bett gestorben. Polder benahm sich, als wäre er ihm in alle Ewigkeit verpflichtet, und schickt noch heute den kleinen Ricketts Jahr für Jahr eine Schachtel Spielzeug zu Weihnachten. Und ähnliches geschieht überall in Indien. Männer, die sonst nicht mit einer Meinungsäußerung zurückhalten, der oder jener sei ein unfähiger Esel – Frauen, die stets bei der Hand sind, beim Teeklatsch jemandes Charakter anzuschwärzen -, sie alle mühen sich ab bis zur Erschöpfung, wenn es gilt, einem Hilfsbedürftigen beizuspringen, zumal, wenn er krank ist.

Zum Beispiel Heatherlegh, der Arzt, hatte neben seiner Privatpraxis ein Hospital auf eigene Kosten errichtet; seine Freunde nannten es »eine Gruppe einzelnstehender Schachteln für Unheilbare«, aber in Wirklichkeit war es eine Schirmstätte und ein Zufluchtsort für Leute, deren Kräfte unter dem Klima allzu schwer gelitten hatten. Das Wetter in Indien ist oft unerträglich schwül und, da das Gewicht der täglich zu schleppenden »Ziegel« kein geringes ist und die einzige Erholung im Tagwerk lediglich darin besteht, Überstunden machen zu dürfen, ohne dafür bezahlt zu werden, so kommt es vor, daß Menschen gelegentlich zusammenbrechen oder im Kopf so wirr werden, wie die Metaphern in diesem Satz.

Heatherlegh ist der liebenswürdigste Arzt, der je gelebt hat. Sein immer sich gleichbleibendes Rezept für alle Kranken lautet: »Niedrig liegen, langsam gehen, ruhig bleiben.« Er behauptet, daß mehr Menschen an Überbürdung stürben, als die Wichtigkeit der Welt rechtfertigen könne. – Tatsache ist, daß ein gewisser Pansay, der vor drei Jahren ihm unter den Händen starb, an Überarbeitung zugrunde ging. Als Autorität ist Heatherlegh natürlich maßgebend, und er lacht über meine Ansicht, daß nicht Überbürdung, sondern vielmehr ein Knacks in Pansays Hirn, entstanden durch Eindringen eines bißchens aus der »Dunklen Welt«, die wahre Todesursache gewesen sei; »Pansay starb«, so sagt er, »lediglich an den Reizerscheinungen, die die Folge eines langen Urlaubs in Indien sind. Ob er sich nun als Schuft gegenüber Mrs. Keith-Wessington benommen hat oder nicht, hat damit nichts zu tun, – die Arbeit in der Katabundi-Ansiedlung hat ihn zermürbt und zum Grübler gemacht, so daß er eine ganz gewöhnliche ›Wald- und Wiesenliebelei‹ viel zu schwer nahm. Fest steht nur eins: er war mit Miss Mannering verlobt und sie hat später die Verbindung gelöst. Dann traten Fiebererscheinungen bei ihm auf und mit ihnen der ganze Gespensterunsinn. Überanstrengung war die Ursache der Krankheit, verhinderte die Genesung und führte schließlich den Tod herbei. Die Schuld trägt ein System, das einem einzigen Menschen die Arbeit von zwei und einem halben aufbürdet.«

Ich kann Heatherleghs Meinung nicht teilen. Ich saß bisweilen bei Pansay, wenn ich nichts zu tun hatte und Heatherlegh bei andern Patienten weilte. Der Kranke machte mich geradezu toll, wenn er bei solchen Gelegenheiten mit leiser eintöniger Stimme die Prozession beschrieb, die er an seinem Bett vorüberziehen zu sehen behauptete; er hatte die Beredsamkeit eines Fieberkranken.

Als es ihm später wieder ein wenig besser ging, riet ich ihm, die ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende niederzuschreiben; ich hoffte, es würde sein Gemüt beruhigen, wenn er sie sich vom Halse schriebe.

Er fieberte stark, als er sie zu Papier brachte, aber der Kolportagestil, dessen er sich dabei bediente, regte ihn womöglich noch mehr auf. Zwei Monate später war er nach Ansicht der Regierung wieder dienstfähig, aber er zog es im letzten Augenblick vor zu sterben, trotzdem man seiner Arbeitskraft dringend bedurfte, um einer in Verlegenheit geratenen Unterkommission über ein nicht unbedenkliches Defizit hinwegzuhelfen. Bis zum letzten Atemzug schwor er, er würde von einer Hexe geritten. Ich erhielt sein Manuskript, noch ehe er verschied. Es war mit dem Jahresdatum 1885 versehen. Ich gebe es hier wörtlich wieder:

Mein Arzt sagt, ich hätte Ruhe und Luftwechsel nötig. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich mir beides bald verschaffen werde – eine Ruhe, die weder der rotberockte Postbote noch das Mittagsgong jemals wieder wird stören können, und einen Luftwechsel, so gründlich, wie mir ihn nicht einmal ein Ozeandampfer ermöglichen könnte, der schnurstracks in die Heimat fährt. Es ist also das gescheiteste, ich bleibe, wo ich bin, und schlage das Anraten des Arztes, doch nicht immer die ganze Welt ins Vertrauen zu ziehen, in den Wind. Jedermann soll die Ursache meiner Krankheit erfahren und selber beurteilen, ob es jemals auf dieser Erde einen vom Weibe geborenen Menschen gegeben hat, der so gequält wurde wie ich.

Wenn ich hier vielleicht Worte gebrauche, wie sie sonst wohl nur ein zum Tode verurteilter Verbrecher vor seiner Hinrichtung spricht, und meine Geschichte in gräßlichen Farben schildere – und so unglaublich sie auch klingen mag, Beachtung verdient sie jedenfalls, – so möge man mir verzeihen. Daß man mir nicht glauben wird, davon bin ich überzeugt. Hätte doch ich selbst noch vor zwei Monaten einen Menschen für verrückt oder betrunken gehalten, der kühn genug gewesen wäre, mir etwas Ähnliches zu erzählen. – Vor zwei Monaten war ich noch der glücklichste Mann in ganz Indien; heute gibt es keinen Unglücklicheren, von Peshawur angefangen bis hinunter zum Meeresstrand. – Mein Arzt und ich allein wissen das. Seine Erklärung ist, mein Gehirn, meine Augen und meine Verdauung seien angegriffen, und daher meine sich beständig wiederholenden »Sinnestäuschungen«. Ja, ja, Sinnestäuschungen! Ich schelte ihn einen Narren; trotzdem wartet er mir immer mit dem gleichen geduldigen Lächeln auf, mit denselben milden berufsmäßigen Manieren und seinem sorgfältig gekämmten roten Bart, bis er mich schließlich so weit hat, daß ich wirklich glaube, ich sei ein undankbarer, bösartiger Patient. Aber man urteile selbst!

Vor drei Jahren, auf der Rückkehr von einem langen Urlaub, hatte ich das Glück – das Unglück -, von Gravesend bis Bombay mit Agnes Keith-Wessington, der Gattin eines Offiziers aus der Umgebung von Bombay, auf demselben Dampfer zu fahren. Es geht niemand etwas an, zu welcher Kategorie von Frauen man sie hätte zählen können, es genügt, festzustellen: bevor noch unsere Reise zu Ende ging, waren wir beide bis zum Wahnsinn ineinander verliebt. Gott ist mein Zeuge, daß ich das nicht aus Eitelkeit sage! In Liebesangelegenheiten ist immer ein Teil der Gebende und der andere der Empfangende. Vom ersten Tage unseres unglückseligen Verhältnisses an wußte ich, daß Agnes‘ Leidenschaft stärker und, wenn ich mich so ausdrücken darf, reinerer Empfindung war als die meinige, und daß sie völlig unter diesem Banne stand. Ob sich Agnes derselben Erkenntnis bewußt war, weiß ich nicht. Später wurde sie uns beiden bitter klar.

Im Frühjahr in Bombay angekommen, ging jedes von uns seiner Wege; wir sahen einander drei oder vier Monate nicht wieder, bis mich mein Urlaub und sie ihre Liebe nach Simla führte. Dort verbrachten wir die Saison zusammen – dort brannte auch das Strohfeuer meiner Leidenschaft, noch ehe das Jahr zu Ende ging, nieder bis zum letzten Aschenrest Ich verhehlte es ihr nicht. – Ich will mich nicht besser machen, als ich bin! Mrs. Wessington hatte um meinetwillen bereits vieles geopfert und war bereit, alles aufzugeben. Im August 1882 sagte ich ihr offen und brüsk, daß mich ihre Nähe krank mache, daß ich ihrer Gesellschaft müde sei, nicht einmal mehr den Klang ihrer Stimme vertrüge. Neunundneunzig unter hundert Frauen wären meiner längst überdrüssig geworden, mehr noch als ich ihrer; fünfundsiebzig hätten sich sofort an mir durch offensichtliches Kokettieren mit anderen Männern gerächt. Mrs. Wessington war die hundertste. Weder meine nicht mißzuverstehende Abneigung noch auch die verletzenden Roheiten, mit denen ich unsere Begegnungen ausschmückte, machten auf sie irgendwelchen Eindruck. »Jack, mein Liebling«, war ihr ewiger Kuckucksruf, »es ist bestimmt nur ein Mißverständnis – ein häßliches Mißverständnis; wir werden eines Tages wieder die besten Freunde sein. Bitte, vergib mir, lieber Jack!«

Die ganze Schuld lag auf meiner Seite, und ich wußte es. Dies Bewußtsein verwandelte aber nur mein anfängliches Mitleid mit ihr in stumpfes Erdulden; dann wurde blinder Haß daraus, und gelegentlich regte sich in mir jener gewisse dunkle Trieb, der uns zwingt, in wilder Erregung eine Spinne zu zertreten, die tödlich verletzt zu unsern Füßen kriecht. Und mit solchem Haß in meinem Herzen verlebte ich die Saison 1882 bis zum Schluß.

Das nächste Jahr trafen wir uns abermals in Simla – sie mit ihrem monotonen Gesicht und den schüchternen Versöhnungsversuchen, – ich, jede Fiber meines Körpers erfüllt mit Widerwillen. Ich konnte nicht vermeiden, zuweilen allein mit ihr zusammenzutreffen, und bei solchen Gelegenheiten waren ihre Worte genau die gleichen. Immer derselbe unvernünftige Jammer, es läge lediglich ein »Mißverständnis« vor, stets die Hoffnung, wir würden dereinst noch die besten Freunde werden. Wäre ich nicht mit Absicht blind gewesen, ich hätte bemerken müssen, daß nur noch diese Hoffnung allein sie am Leben erhielt; sie wurde von Tag zu Tag durchsichtiger und abgezehrter. Man wird mir zugestehen müssen, daß ihr Verhalten auch so manchen ändern zur Verzweiflung getrieben hätte; es war, da ihre Liebe nicht erwidert wurde, kindisch und unweiblich. Dann wieder – in dunklen, fieberhaft durchwachten Nächten – machte ich mir Vorwürfe, nicht gütiger zu ihr gewesen zu sein; aber wie hätte ich das können! Liebe heucheln, ohne sie zu empfinden, es wäre unser beider unwürdig gewesen.

Im letzten Jahr trafen wir uns noch einmal; wieder dasselbe Bild: die gleichen flehentlichen Bitten, dieselben rücksichtslosen Antworten von meinen Lippen! Ich wollte ihr endlich begreiflich machen, wie gänzlich verkehrt und hoffnungslos alle ihre Versuche wären, die früheren Beziehungen wieder herzustellen. Je mehr die Saison vorrückte, desto seltener sahen wir uns – das heißt, ich vereitelte nach Möglichkeit die Zusammenkünfte, indem ich Beschäftigung aller Art vorschützte. Wenn ich mir heute in meinem Krankenzimmer die Begebnisse von damals wieder in Ruhe vergegenwärtige, erscheint mir die Saison 1884 wie ein wüster Traum, in dem Licht und Schatten sich phantastisch miteinander vermengen: mein Werben um die kleine Kitty Mannering, mein Hoffen, mein Zagen, meine Befürchtungen um sie, unsere gemeinsamen, weiten Spazierritte, mein schüchternes Liebesgeständnis, ihre Antwort – und zwischen hinein als dunkler Schatten das gelegentliche Vorübergleiten eines bleichen Gesichtes in jener Rikscha, gezogen von schwarz und weiß livrierten Dienern, nach der ich einst in früheren Tagen so eifrig ausgespäht, das Winken von Mrs. Wessingtons behandschuhter Hand – und, wenn sie mich allein traf, was selten mehr geschah, die ermüdende Monotonie ihrer Bitten. Ich liebte Kitty Mannering – habe sie ehrlich und von Herzen geliebt -, aber mit meiner Liebe zu ihr wuchs auch mein Haß gegen Agnes. Im August verlobte ich mich mit Kitty. Tags darauf begegnete ich den verwünschten Jhampanies jenseits des Jakko, und, von plötzlichem Mitleid ergriffen, blieb ich stehen, sagte Mrs. Wessington alles. Sie wußte es bereits.

»Ich habe von deiner Verlobung gehört, lieber Jack«, – im selben Atem setzte sie hinzu: »Es ist bestimmt nur ein Mißverständnis – ein häßliches Mißverständnis. Wir werden sicher noch die besten Freunde werden, wie wir es jemals waren.«

Die Antwort, die ich gab, hätte auch einen Mann ins Herz getroffen, das sterbende Weib vor mir traf es wie ein Peitschenhieb. »Bitte, vergib mir, Jack, ich wollte dich nicht erzürnen. Aber es ist wahr, es ist wahr!«

Und Mrs. Wessington brach vollständig zusammen. Ich wandte mich ab. Ließ sie ihres Weges ziehen. Einen Augenblick lang kam mir zu Bewußtsein, wie unsagbar niederträchtig ich mich benommen hatte, und ich blickte mich nach ihr um. Bemerkte, daß sie ihre Rikscha hatte wenden lassen. In der Absicht, mich wieder einzuholen, nahm ich an.

Die Szene lebt in allen Nebenumständen wie photographiert in meinem Gedächtnis fort: der regendunkle Himmel, die nassen, schwarzbraunen Kiefern, die schmutzige, durchweichte Straße, und die düsteren zerklüfteten Klippen bildeten einen trüben Hintergrund, gegen den sich die schwarzweißen Livreen der Jhampanies, die gelblackierte Rikscha und Mrs. Wessingtons vornübergeneigter goldblonder Kopf scharf abhoben. Sie hielt ihr Taschentuch in der linken Hand und lehnte erschöpft in den Kissen der Kutsche. Ich lenkte mein Pferd in einen Seitenweg und raste buchstäblich davon, dem Sanjowlie-Staubecken zu. Einmal glaubte ich den schwachen Ruf »Jack« zu hören, aber es mag Einbildung gewesen sein. Ich hielt nicht an, um es festzustellen. Zehn Minuten später begegnete mir Kitty, ebenfalls zu Pferd; und in meiner Freude, mit ihr einen weiten Spazierritt machen zu dürfen, vergaß ich bald, was sich begeben hatte.

Eine Woche darauf starb Mrs. Wessington, und damit war die schreckliche Bürde ihres irdischen Daseins von mir genommen. Offen gestanden: ich fühlte mich überglücklich, und ehe drei Monate um waren, hatte ich alles, was sie betraf, so gut wie vergessen; nur hie und da, wenn mir gelegentlich einer ihrer alten Briefe unter die Hände kam, erinnerte ich mich an unsere früheren Beziehungen. Im Januar suchte ich unter meinen Habseligkeiten zusammen, was noch von unserer Korrespondenz übrig war, und verbrannte es. Anfangs April des Jahres 1885 besuchte ich Simla zum letztenmal, das noch halb verödete Simla, und wir vertieften uns in Liebesgespräche und köstliche Wanderungen, Kitty und ich; und wir beschlossen, gegen Ende Juni zu heiraten. Ich liebte sie so heiß, daß ich nicht zuviel sage: ich hielt mich für den glücklichsten Mann in ganz Indien.

Vierzehn wonnevolle Tage waren nur so dahingeflogen, ehe ich mir sagte, ich müßte auch die äußere Form wahren. Ich eröffnete Kitty, sie müsse zum Zeichen ihrer Würde als Braut unbedingt einen Verlobungsring tragen, und bat sie, mit mir zu Hamilton, dem Juwelier, zu gehen, um sich ihn anmessen zu lassen. Bis dahin hatten wir tatsächlich keinen Augenblick Zeit gehabt, an derlei triviale Dinge auch nur zu denken. Wir gingen zu Hamilton am 15. April 1885. – Wenn auch mein Arzt es bestreitet, ich weiß genau: ich war damals vollkommen gesund, leiblich und geistig, und fühlte mich ruhig und harmonisch in jeder Hinsicht. Kitty trat mit mir in den Juwelierladen, und dort nahm ich ihr selbst, entgegen aller üblichen Gepflogenheit und Sitte, Maß zu dem Ring, wobei der Kommis verschmitzt lächelte. Es war ein Ring mit einem Saphir und zwei Diamanten. Dann ritten wir den Abhang hinunter nach der Combermere-Brücke und Pelitis Restaurant.

Noch während mein Walliser Pferd sich vorsichtig seinen Weg über die lockeren Schieferplatten ertastete, noch während Kitty lachend und plaudernd mir zur Seite ritt, noch während ganz Simla, das heißt, die wenigen Gäste, die aus der Ebene bereits zur Kur angekommen waren, sich im Lesezimmer und auf der Veranda Pelitis versammelten – hörte ich, anscheinend aus weiter Ferne, jemand meinen Vornamen rufen. Die Stimme kam mir wohl bekannt vor, aber ich konnte mich nicht entsinnen, wann und wo ich sie früher schon einmal gehört hatte. Auf der kurzen Strecke zwischen Hamiltons Laden und dem ersten Pfeiler der Combermere-Brücke riet ich gewiß auf ein halbes Dutzend Personen, denen ich einen so albernen Witz zutrauen durfte, bis ich mir schließlich sagte, es müsse eine Gehörstäuschung gewesen sein. Da, unmittelbar Peliti gegenüber, blieb mein Auge wie gebannt an einer gelblackierten billigen Bazar-Rikscha haften, die von vier Jhampanies in elsterfarbenen Livreen gezogen wurde, und sofort stand die verflossene Saison und mit ihr Mrs. Wessington lebendig vor meinem Geist. Erregung und Widerwillen bemächtigten sich meiner: war es nicht genug, daß die Frau tot war und ich mit ihr fertig für immer! Mußten gerade jetzt, mitten in meinem Glück, ihre schwarzweißen Diener vor mir auftauchen und mir den Tag vergällen! Bei wem die vier Kulis jetzt auch angestellt sein mochten, ich nahm mir vor, den Mann aufzusuchen und mir von ihm die Gunst zu erbitten, er möge ihnen eine andere Livree geben; nötigenfalls wollte ich sie selbst in meinen Dienst nehmen und ihnen die Röcke vom Buckel wegkaufen. Ich kann gar nicht beschreiben, welche Flut von unleidlichen Erinnerungen mir ihr Anblick erweckte.

»Kitty«, rief ich, »schau, dort: die Jhampanies der unglücklichen Mrs. Wessington! Möchte gern wissen, bei wem sie jetzt in Diensten stehen!«

Kitty hatte Mrs. Wessington flüchtig gekannt und sie immer wegen ihres verhärmten Aussehens bemitleidet. »Was? Wo?« fragte sie. »Ich sehe nichts.«

Dabei spornte sie ihr Pferd an, um einem beladenen Maulesel Platz zu machen, und ritt geradewegs auf die vorbeiziehende Rikscha los. Ich fand kaum Zeit, einen Warnungsruf auszustoßen, da waren auch schon Roß und Reiterin zu meinem namenlosen Entsetzen durch den Wagen und die ihn ziehenden Diener wie durch ein Luftgebilde hindurchgegangen.

»Was ist denn los?« rief Kitty. »Warum hast du eigentlich so ängstlich aufgeschrien? Wenn ich auch verlobt bin, so braucht es doch nicht gleich jeder Mensch zu merken. Es war doch wahrhaftig genug Platz zwischen dem Maultier und der Veranda, um durchzukommen. Oder glaubst du vielleicht, ich kann nicht reiten?«

Und sofort setzte sich der kleine Eigensinn, das zierliche Köpfchen hoch erhoben, in einen kurzen Handgalopp – der Musikkapelle zu, erwartend, wie sie mir später sagte, ich würde ihr, ohne zu zögern, folgen. Was war denn auch geschehen? Nichts, freilich. Gar nichts. Entweder ich war betrunken, oder verrückt. Oder in Simla gingen die Teufel um. Ich zog die Zügel an, drehte um. Auch die Rikscha machte kehrt und stand nunmehr unmittelbar zwischen mir und dem Brückengeländer.

»Jack! Jack, mein Liebling!!« Nein, diesmal konnte es kein Irrtum sein: die Worte dröhnten durch mein Gehirn, als schrie sie mir jemand ins Ohr. -»Jack, es ist ein Mißverständnis, ein häßliches Mißverständnis, ich weiß es gewiß. Bitte, Jack, vergib mir! Laß uns wieder die alten Freunde sein.«

Das Rikschaverdeck fiel zurück und drin im Wagen – so wahr ich bei Tag heute den Tod ersehne und erflehe, den ich in der Nacht so fürchte – drin im Wagen saß Mrs. Keith-Wessington, das Taschentuch in der Hand, den goldblonden Kopf auf die Brust gesenkt.

Wie lange ich – regungslos – hingestarrt haben mag, ich weiß es nicht. Die Frage eines Reitknechtes, der die Zügel meines Walliser Pferdes ergriffen haben mochte, ob ich krank sei, erweckte mich aus meiner Betäubung. Vom Entsetzlichen zum Banalen ist nur ein Schritt: ich taumelte aus dem Sattel, stürzte zu Peliti hinein und trank ein Glas Kirschschnaps. Ein paar Leute saßen um die Kaffeehaustische herum und erzählten sich Tagesklatsch; ihr Geschwätz beruhigte mich damals mehr, als die Tröstungen der Religion vermocht hätten. Ich mischte mich in die Unterhaltung, plauderte, lachte, riß Witze mit einem Gesicht, das bleich und entstellt gewesen sein muß wie das einer Leiche. Einigen von ihnen fiel mein seltsames Benehmen offenbar auf, denn sie versuchten, mich von den übrigen Müßiggängern zu trennen; sie nahmen wahrscheinlich an, ich hätte zuviel über den Durst getrunken. Aber ich weigerte mich: ich klammerte mich an eine leere Unterhaltung so, wie ein Kind sich aus Furcht vor dem Dunkel der Nacht in die Gesellschaft von Erwachsenen flüchtet. Ich hatte etwa zehn Minuten – mir erschien es wie eine Ewigkeit – ins Blaue hineingeschwätzt, da hörte ich draußen Kittys helle Stimme nach mir fragen; gleich darauf trat sie ins Zimmer, und gedachte mich vermutlich wegen meines Ausbleibens zur Rede zu stellen. Irgend etwas in meinem Gesicht machte sie stutzen.

»Jack«, rief sie, »wo steckst du denn? Ist etwas geschehen? Bist du krank?« So, direkt zu einer Lüge gezwungen, sagte ich, die Sonne hätte mich betäubt. Es war fast fünf Uhr nachmittags und den ganzen Tag über war trübes Wetter gewesen; sofort sah ich meine Dummheit ein, verstrickte mich aber immer tiefer in alberne Ausreden, bis mir schließlich nichts anderes übrigblieb, als mit Kitty fortzugehen, voll Zorn über mich selbst und begleitet von dem spöttischen Lächeln der Kaffeehausgesellschaft. Draußen entschuldigte ich mich bei Kitty irgendwie – ich glaube, ich habe mich auf einen Ohnmachtsanfall ausgeredet -, ließ sie allein ihren Spazierritt fortsetzen und verfügte mich schleunigst in mein Hotel.

Dort, in meinem Zimmer, setzte ich mich nieder, um vernünftig über den Fall nachzudenken.

Hier bin ich, sagte ich mir vor, ich, Theobald Jack Pansay, ein wohl erzogener bengalischer Zivilbeamter im Jahre des Heils 1885, und wie mir scheinen will: bei klarem Verstand, vollkommen gesund, aber in einem Anfall von Entsetzen vertrieben von der Seite der Heißgeliebten durch das Phantom einer Frau, die vor acht Monaten gestorben ist und begraben wurde. Das waren Tatsachen, die sich nicht wegleugnen ließen. Als ich mit Kitty den Laden Hamiltons verließ, lag mir nichts ferner, als an Mrs. Wessington zu denken, und nichts kann weniger phantastisch sein als die Wegstrecke vor dem Restaurant Peliti. Außerdem war heller Tag gewesen und die Straße voller Menschen; – ich empfand es wie Hohn gegenüber jedem Gesetz der Glaubhaftigkeit und der Natur selbst, daß gerade da ein Gesicht aus dem Grabe vor mir erscheinen mußte.

Und dann: Kittys Araberstute war mitten durch die Rikscha hindurchgegangen! Also auch die Hoffnung, es hätte möglicherweise eine andere, der Mrs. Wessington wunderbar ähnliche Frau drin gesessen und dieselbe Kutsche mit den elsterlivrierten Dienern gemietet gehabt, war dadurch zunichte gemacht. Und ebenso unerklärlich wie die Erscheinung blieb mir auch die Stimme, die ich gehört hatte. Die tolle Idee überfiel mich, Kitty alles anzuvertrauen und sie zu bitten, mich auf der Stelle zu heiraten, damit ich in ihren Armen das Phantom in der Rikscha vergessen könne. Ich versuchte, mir einzureden, Beweis genug für die Unwirklichkeit des Begebnisses sei allein schon der Umstand, daß ich außer Mrs. Wessington auch die ganze Rikscha gesehen hätte, denn seit wann spuken nicht nur Menschen, sondern auch leblose Gegenstände! Nein: die Sache war und blieb absurd!

Am nächsten Morgen schrieb ich einen ellenlangen Reuebrief an Kitty und flehte sie an, mein sonderbares Benehmen vom verflossenen Nachmittag zu vergessen. Die Göttin meines Herzens war jedoch noch ziemlich unwirsch, als wir uns später trafen, bis es mir gelang, sie mit einer Beredsamkeit, auf die ich mich die ganze Nacht hindurch präpariert hatte, zu überzeugen, ich sei das Opfer eines Anfalles heftigen Herzklopfens gewesen, die Folge von Magenbeschwerden. Diese einleuchtende Entschuldigung verfehlte ihre Wirkung nicht: Kitty ritt mit mir aus. Aber der Schatten der ersten Lüge stand zwischen uns.

Nichts liebte sie so sehr wie einen Galopp um den Jakko herum. Nervenerregt noch von der Nacht her, suchte ich es ihr auszureden, schlug den Observatoriumshügel, Jutogh, die Boileaugunge-Straße vor – kurz: alles mögliche, nur der Jakko sollte es nicht sein. Aber Kitty schmollte, schien gekränkt, und schließlich, um nicht abermals einen Mißton aufkommen zu lassen, gab ich nach und wir schlugen den Weg nach Chota-Simla ein. Nach alter Gewohnheit ritten wir die erste Strecke im Schritt, dann setzten wir uns, ungefähr eine Meile vor dem Kloster, in Galopp, da die Straße zum Sanjowlie-Staubecken glatt und eben ist. Die armen Pferde jagten nur so dahin; mir schlug das Herz schneller und schneller, je mehr wir uns der Steigung des Weges näherten. Schon vor Beginn des Rittes hatte ich beständig an Mrs. Wessington denken müssen, jetzt erinnerte mich jeder Zoll der Jakkostraße an sie, an die alten Zeiten, an unsere Spaziergänge, an unsere Gespräche! Die Meilensteine am Wegrand waren voll davon, die Pinien mir zu Häupten schrien mir es zu, die regengeschwollenen Rinnsale gurgelten und glucksten von der schmählichen Geschichte; der Wind sang mir meine Missetat ins Gesicht.

Der Höhepunkt des Grauens aber erwartete mich an der Straßenbiegung, die im Volksmund »die Meile unsrer lieben Frau« heißt. Da! Wieder die vier Jhampanies in schwarz und weißer Livree! Wieder die gelbgestrichene Rikscha und – das goldblonde Haupt der Frau darin, alles genau so – aufs Haar genau – wie es einst dagestanden vor acht Monaten und vierzehn Tagen! »Diesmal muß es Kitty sehen«, sagte ich mir schreckerfüllt, »sind wir doch so aufeinander abgestimmt und seelenverwandt!«, aber ihre ersten Worte schon belehrten mich eines besseren. »Keine Seele weit und breit!» rief sie. »Komm, Jack, rennen wir um die Wette bis zum Stauwerk!« Und fort wie ein Pfeil schoß ihr sehniger, kleiner Araber; meine Walliser hinterdrein. Ein Galopp von einer halben Minute hatte eine Strecke von fünfzig Metern zwischen uns und die Rikscha gelegt! Bei den Klippen holte ich Kitty ein, parierte mein Pferd und – fuhr zusammen: mitten auf der Straße stand die Rikscha. Und abermals ging der Araber – durch sie hindurch; mein Walliser hinterdrein. »Jack, mein Liebling! Jack, bitte vergib mir!« klang es mir nach in klagendem Ton. Und nach einer Weile: »Es ist ein Mißverständnis, wirklich nur ein häßliches Mißverständnis!«

Ich spornte meinen Gaul wie ein Besessener. Als ich mich umwandte und, beim Staubecken angelangt, zurückblickte, sah ich, daß die Rikscha immer noch dortstand; die schwarz-weißen Livreen warteten davor, unbeweglich, geduldig, im grauen Bergesschatten, und der Wind trug mir das höhnische Echo der Worte zu, die ich so oft schon gehört hatte. Kitty neckte mich gehörig wegen meiner Schweigsamkeit während des Weiterreitens, zumal ich vorher lebhaft mit ihr geplaudert hatte.

Wäre es um mein Leben gegangen, ich hätte kein Wort herausgebracht; von Sanjowlie bis zur Kirche schwieg ich wie ein Toter.

Abends sollte ich bei Mannerings speisen; es blieb mir nur knappe Zeit, nach Haus zu reiten, um mich umzukleiden. Unterwegs auf der Straße nach Elysium Hill wurde ich Zeuge eines Gesprächs, das zwei Männer miteinander in der Dämmerung führten: »Sonderbar«, sagte der eine, »wie von der Erde weggeblasen ist auch die letzte Spur von ihnen! Du weißt ja, meine Frau war geradezu verliebt in die blonde Dame und hat mich beschworen, ich solle die alte gelbe Rikscha ihr zum Andenken kaufen und nachforschen, wo die vier Kulis geblieben seien, um sie mit Geld und guten Worten wieder zur Stelle zu schaffen. Eine verrückte Idee, was? Aber, was tut man nicht alles um des häuslichen Friedens willen!

Jetzt denk dir mal, was der Wagenverleiher, den ich endlich ausfindig machte, mir berichtet hat!: Alle vier Diener – es waren Brüder gewesen, die armen Teufel – sind an der Cholera gestorben, unterwegs nach Hardwar! Und die Rikscha hat der Mann zertrümmert. Unglück brächten die Rikschas toter Memsahibs, hat er gesagt. Verrückt, was? Als ob die kleine arme Mrs. Wessington fähig gewesen wäre, irgend jemandes Glück zu zerstören, außer ihr eigenes!« Ein krampfhaftes Lachen befiel mich bei diesen Worten, – ein Lachen, das mich selbst erbeben machte. Es gab also wirklich und wahrhaftig Gespenster von Rikschas, und – Dienerschaften im Jenseits! Wieviel Lohn wohl Mrs. Wessington ihren Leuten drüben zahlen mochte? Und wieviel Stunden hatten sie täglich zu tun? Und wohin sind sie jetzt gefahren?

Wie als sichtbare Antwort auf meine letzte Frage tauchte das infernalische Ding in diesem Augenblick in der Dämmerung vor mir auf. Ja, die Toten reiten schnell und kennen Wegabkürzungen, von denen gewöhnliche Kulis keine Ahnung haben. Und wieder mußte ich laut auflachen, biß die Zähne zusammen, um es zu ersticken; ich fürchtete, wahnsinnig zu werden. Bis zu einem gewissen Grade muß ich wohl auch wahnsinnig gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich an die Rikscha heranritt und Mrs. Wessington einen guten Abend wünschte. Die Antwort, die sie mir gab, war mir geläufig! Ich hörte sie bis zu Ende an und erwiderte, alles das hätte ich schon oft aus ihrem Munde vernommen und ich würde mich glücklich schätzen, einmal etwas anderes zu hören. – Ein boshafter Teufel muß damals Macht über mich gehabt und mich geritten haben, denn ich entsinne mich dunkel, ich schwätzte dem gespenstischen »Ding« da vor mir vielleicht fünf Minuten lang von allerlei Tagesklatsch.

»Ein gänzlich übergeschnappter armer Teufel – oder ist er betrunken? Max, geh, bring ihn nach Haus!« hörte ich sagen.

Das war bestimmt nicht Mrs. Wessingtons Stimme! Die zwei Männer hatten mich offenbar in die leere Luft hineinreden hören und waren umgekehrt, um nach mir zu sehen. Sie benahmen sich sehr freundlich und rücksichtsvoll, aber aus ihren Worten ging deutlich hervor, daß sie mich für schwer bezecht hielten. Ich dankte ihnen verwirrt, galoppierte nach meinem Hotel, zog mich um und kam zehn Minuten zu spät zu Mannerings. Ich entschuldigte mich mit der Dunkelheit auf den Straßen, wurde von Kitty wegen meiner eines Verlobten und Verliebten höchst unwürdigen Unpünktlichkeit ein wenig ausgescholten und setzte mich zu Tisch.

Eine lebhafte Unterhaltung war bereits im Gang; unter dem Deckmantel der infolgedessen von uns abgelenkten Aufmerksamkeit plauderte ich zärtlich mit Kitty, da wurde ich plötzlich gewahr, daß ein am unteren Ende des Tisches sitzender Herr – er war von gedrungener Gestalt und trug einen roten Backenbart – mit allerlei Ausschmückungen die Schilderung eines Erlebnisses zum besten gab, das er an diesem Abend mit einem Wahnsinnigen auf der Straße gehabt hatte.

Einige Sätze gaben mir die Gewißheit, daß er von meinem Falle sprach, der sich vor einer halben Stunde abgespielt hatte. Mitten in seiner Erzählung ließ er in der Runde der Gesellschaft seine Blicke schweifen, gewissermaßen Beifall erwartend, wie das Leute, die fesselnd zu plaudern verstehen, zu tun gewohnt sind. Dabei begegneten sich unsere Augen, und mitten im Satz brach er ab. Ein verlegenes Schweigen trat ein, dann murmelte der rotbärtige Herr etwas wie: der Schluß sei ihm entfallen, und opferte damit seinen Ruf als glänzender Anekdotenerzähler, den er sich im Lauf von sechs Saisons erworben. Ich segnete ihn aus tiefstem Herzen und machte mich über die Fischmayonnaise her.

Das Diner war zu Ende, und nur schwer konnte ich mich von Kitty trennen, innerlich fest überzeugt, daß mich draußen vor der Tür – mein Schicksal erwarte. Der rotbärtige Herr, der mir als Dr. Heatherlegh aus Simla vorgestellt worden war, erbot sich, mich ein Stück Weges zu begleiten, zumal wir dieselbe Strecke zurückzulegen hätten. Ich nahm sein freundliches Anerbieten dankbar an.

Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht: mitten auf dem Korso wartete es auf mich – das Rikscha-Phantom, teuflisch und höhnisch – wie ein Tiefseefisch mit glühendem Laternenauge; der rotbärtige Herr aber ging sofort auf sein Ziel los in einer Weise, die mich erkennen ließ, daß er schon an der Tafel darüber nachgedacht haben mußte.

»Hören Sie, Pansay, was zum Kuckuck war eigentlich heute mit Ihnen los auf der Elysiumstraße?« Die Frage kam so plötzlich und unerwartet, daß sie mir die Antwort entriß, ehe ich noch Zeit zur Überlegung fand.

»Das da!« sagte ich und deutete auf die Erscheinung.

»Das da«, sagte Dr. Heatherlegh gelassen, »kann entweder D. T. – Delirium tremens – sein, oder mit den Augen zusammenhängen. Daß Sie kein Trinker sind, habe ich schon bei Tisch gesehen, D. T. kann es also nicht sein. Dort, wohin Sie deuten, ist überhaupt nichts zu sehen; dennoch sind Sie in Schweiß gebadet und zittern wie ein erschrecktes Pony. Ich schließe daraus, daß es an den Augen liegt. Und was das anbelangt, kenne ich mich aus. Kommen Sie doch mit zu mir! Ich wohne in der Unteren Blessingtongasse.«

Zu meiner größten Freude war die Rikscha, statt auf uns zu warten, etwa zwanzig Meter vorausgefahren, und diese Distanz blieb immer die gleiche, ob wir nun im Schritt ritten, trabten oder galoppierten. Im Laufe dieses langen, nächtlichen Rittes habe ich Dr. Heatherlegh so ziemlich alles erzählt, was ich erlebt hatte.

»Eigentlich haben Sie mir bei Tisch eine meiner besten Geschichten verpatzt, aber ich verzeihe Ihnen«, sagte er, »denn Sie haben viel durchgemacht. Bleiben Sie bei mir und tun Sie, was ich Ihnen raten werde. Wenn Sie dann wieder gesund sind, lassen Sie sich’s eine Lehre sein und meiden Sie in Hinkunft Weiber und andere unverdauliche Speisen bis zum Tod!«

Die Rikscha hielt sich beständig vor uns, und meinem rotbärtigen Freund schien es jedesmal einen Riesenspaß zu bereiten, wenn ich ihm genau die Stelle bezeichnete, wo sie sich befand.

»Die Augen sind’s, Pansay – ich hab’s mir gleich gedacht! Die Augen, das Gehirn und der Magen. Vor allem: der Magen. Sie haben das Gehirn zuviel, den Magen zuwenig belastet, und außerdem die Augen überanstrengt. Ist erst einmal der Magen wieder in Ordnung, dann folgt das übrige von selbst, und das ganze dumme Zeug hat ein Ende. Ich werde die Kur selbst in die Hand nehmen. Sie sind ein viel zu interessantes Phänomen, als daß ich Sie einem ändern überließe.«

Mittlerweile waren unsere Pferde in den tiefen Schatten eingetreten, in dem der abfallende Teil des Blessingtonweges liegt. Die Rikscha machte plötzlich halt unter einer von Schwarzkiefern gekrönten, überhängenden Schieferklippe. Unwillkürlich riß ich mein Pferd zurück und erklärte Heatherlegh, weshalb. Er stieß einen Fluch aus:

»Wenn Sie vielleicht glauben, ich hätte Lust, eine kalte Nacht hier in den Bergen zu verbringen, bloß einer Augen-, Magen- und Gehirnreizung zuliebe, dann – – – um Gotteswillen! Was ist das!« – (Ein dumpfes Dröhnen, eine Staubwolke dicht vor uns, ein Krachen von brechenden Ästen, und kaum zehn Meter von der Klippe entfernt, stürzten Kiefern, Unterholz, Steine und Erde herab, im Nu fast die ganze Straße versperrend.) Wie trunkene Riesen schwankten die entwurzelten Bäume einen Augenblick in der tiefen Dunkelheit hin und her, dann fielen sie mit Donnergetöse zu Boden. Unsere beiden Pferde standen wie gebannt, schaumbedeckt vor Schrecken. Als endlich wieder Stille eintrat, murmelte Dr. Heatherlegh: »Mann, wenn wir weitergeritten wären, lägen wir jetzt zehn Fuß tief im Grabe! Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde – – – Aber kommen Sie nach Haus, Pansay, und danken Sie Gott! Ich muß einen Kognak trinken.«

Wir ritten ein Stück zurück, wählten den Weg über die Kirchbrücke und kamen kurz nach Mitternacht in Dr. Heatherleghs Wohnung an.

Er nahm mich sofort in Behandlung, und eine Woche lang ließ er mich nicht aus den Augen. Wie oft im Laufe dieser Woche habe ich meinem Schicksal gedankt, daß es so gnädig gewesen ist, mich dem besten und gütigsten Arzt Simlas in die Arme zu führen; von Tag zu Tag wurde mir leichter und wohler zumute. Von Tag zu Tag bekehrte ich mich mehr zu Dr. Heatherleghs Theorie, daß alles nur Sinnestäuschung, entstanden durch Augen-, Magen- und Gehirnreizung, gewesen sei. Kitty schrieb ich, ich hätte mir bei einem Sturz vom Pferd den Fuß verstaucht, daß ich aber hergestellt sein würde, noch ehe sie Zeit hätte, meine Abwesenheit schmerzlich zu empfinden.

Heatherleghs Kur war höchst einfach; sie bestand aus Leberpillen, kalten Bädern und körperlicher Anstrengung in der Abenddämmerung oder frühmorgens, denn, wie er bemerkte: »Ein Mann mit verrenktem Fuß läuft tagsüber nicht zehn Meilen weit, ohne zu riskieren, seiner Braut zu begegnen, die große Augen machen würde, wenn sie ihn so flott laufen sähe.«

Am Schluß der Woche, nach langen sorgfältigen Untersuchungen meiner Pupillen und meines Pulses und strengen Verhaltungsmaßregeln hinsichtlich meiner weiteren Lebensführung, soweit es Diät und körperliche Bewegung betraf, entließ er mich ebenso kurz angebunden, wie er mich aufgenommen hatte. Hier der Segensspruch, den er mir zum Abschied gab: »Mensch! Ich erkläre Sie für gesund, was soviel heißen will, wie: ich habe die meisten Ihrer Leibesbeschwerden beseitigt. Packen Sie jetzt Ihre sieben Zwetschgen und enteilen Sie zu Ihrer heißgeliebten Kitty!«

Ich wollte ihm meinen Dank für seine Güte aussprechen; er schnitt mir das Wort ab.

»Glauben Sie doch nicht, ich hätte es aus Liebe zu Ihnen getan! Im Gegenteil, ich neige sogar zu der Ansicht, daß Sie sich damals wie ein Hinterwäldler in der gewissen Angelegenheit benommen haben. Aber sei dem, wie es wolle, ein seltsames Phänomen sind Sie, ein ebenso seltsames Phänomen, wie Sie es als Hinterwäldler waren. Nein, bitte, kein Geld! Gehen Sie jetzt und sehen Sie zu, ob Sie das Augen-Magen-Gehirngespenst wiederfinden können! Ich zahle Ihnen fünftausend Pfund, wenn es Ihnen gelingt!«

Eine halbe Stunde später saß ich mit Kitty in dem Besuchszimmer der Mannerings, trunken vor Glück und berauscht von dem Gefühl der Gewißheit, daß »Es« mich hinfort nie wieder durch seine Erscheinung stören würde. Im frohen Bewußtsein der wiedergefundenen Selbstsicherheit schlug ich Kitty vor, auf der Stelle einen Galopp – und zwar rund um den Jakko – zu unternehmen.

Noch nie im Leben hatte ich mich so wohl gefühlt, so geladen mit Lebenskraft und Frohsinn, wie damals nachmittags am 30. April. Kitty war entzückt über mein gutes Aussehen und beglückwünschte mich in ihrer reizenden offenherzigen Art. Wir verließen Mannerings Haus zusammen, lachend und miteinander plaudernd, und schlugen, wie gewöhnlich, den Weg nach Chota-Simla ein.

Ich konnte es gar nicht erwarten, das Sanjowlie-Staubecken zu erreichen, um dort das Gefühl meiner wiedergewonnenen inneren Sicherheit noch zu verstärken; die Pferde griffen aus, was sie konnten, aber in meiner Ungeduld schien es mir noch viel zu langsam. Kitty konnte sich gar nicht genug darüber wundern. »Jack, du bist ja wie ein Kind«, rief sie. »Was ist denn mit dir?«

Wir befanden uns bereits unterhalb des Klosters, und aus reinem Übermut ließ ich meinen Walliser kurbettieren, ihn mit der Schleife meines Reitstockes kitzelnd.

»Was mit mir los ist, Liebste?« antwortete ich. »Nichts! Das ist es ja eben, daß ich so fröhlich bin! Wenn du eine Woche nichts getan hättest, als ruhig dazuliegen, wärest du auch so ausgelassen, wie ich!«

»Von Singen und Jauchzen den Busen geschwellt,
zu fühlen: wir leben! Nur wir allein!
O Herr der Natur, Herr der sichtbaren Welt,
Herr unsrer fünf Sinne zu sein!«

Ich hatte das Zitat kaum zu Ende gesprochen – wir waren um die Ecke beim Kloster gebogen und wenige Meter vor uns öffnete sich der Ausblick auf Sanjowlie – da standen mitten auf der ebenen Straße: die schwarz und weißen Livreen, die gelbgestrichene Rikscha, und drin Mrs. Keith-Wessington! Ich riß mein Pferd zurück, starrte hin und rieb mir die Augen und muß wohl irgend etwas gestammelt haben – das nächste, worauf ich mich erinnern konnte, war, daß ich mit dem Gesicht nach unten auf der Erde lag und daß Kitty weinend neben mir kniete.

»Ist – es – fort, Kind?« keuchte ich. Kitty weinte nur noch heftiger.

»Was – was soll denn fort sein, Jack?« schluchzte sie. »Was bedeutet denn das alles? Wovon sprichst du? – Es muß da irgendein Mißverständnis vorliegen – ein häßliches Mißverständnis, Jack!« Ihre letzten Worte ließen mich emporschnellen. Ich war wie rasend; der Wahnsinn griff nach mir.

»Ja«, schrie ich, »ja, es – es besteht ein – Mißverständnis! ein -häßliches Mißverständnis. Da, schau ›Es‹ dir an!«

Ich entsinne mich dunkel: ich zog Kitty am Handgelenk über die Straße an die Stelle, wo »Es« stand, ich beschwor sie, »Es« anzureden und zu sagen, daß wir verlobt seien und weder Tod noch Hölle unsern Bund zerreißen könne, und -Kitty allein weiß, was ich sonst noch alles daherredete. Wieder und immer wieder beschwor ich das Schreckgespenst in der Rikscha leidenschaftlich, doch Einsicht zu haben und mich von der Qual zu befreien, die mich noch töten würde. Vermutlich habe ich in meiner besinnungslosen Aufregung dabei Kitty alle meine früheren Beziehungen zu Mrs. Wessington enthüllt, denn ich sah sie mit bleichem Gesicht und blitzenden Augen mir zuhören.

»Ich danke Ihnen, Mr. Pansay«, sagte sie, als ich zu Ende war, »das genügt mir. Reitknecht, ghora lao

Gleichmütig, wie Orientalen meistens sind, kamen die Reitknechte langsam mit den wieder eingefangenen Pferden angeritten; Kitty sprang in den Sattel, ich faßte ihre Zügel, beschwor sie, mich anzuhören, mir zu verzeihen. Ihre Antwort war ein Hieb mit der Reitpeitsche, der mir eine blaue Strieme über das Gesicht zog vom Mund bis zum Auge. Und ein Wort des Lebewohls, das ich noch jetzt mich scheue niederzuschreiben. Da schwand mir jeder Zweifel; Kitty wußte alles, auch das letzte. Ich taumelte zu der Rikscha hin; mein Gesicht blutete. Ich verachtete mich selbst. Da kam Heatherlegh, der Kitty und mir in einer Entfernung gefolgt sein mußte, angaloppiert.

»Doktor«, sagte ich und wies auf mein Gesicht, »hier die Unterschrift Miss Mannerings; sie hat unsere Verlobung gelöst – aber Ihre fünftausend Pfund gedenke ich demnächst einzukassieren.«

Das Gesicht, das Heatherlegh zu meinen Worten schnitt, reizte mich trotz meinem grenzenlosen Jammer zum Lachen.

»Ich setze meinen Ruf als Arzt zum Pfand«, begann er.

»Seien Sie kein Narr«, murmelte ich. »Ich habe mein Lebensglück verloren – Sie täten besser, mich heimzubringen.«

Noch während ich sprach, verschwand die Rikscha. Ich fühlte, daß mich das Bewußtsein verließ: der Gipfel über dem Jakko schien sich zu heben, begann zu schweben wie eine Wolke und senkte sich im Fallen auf mich hernieder.

Sieben Tage später – es war der 7. Mai – erwachte ich in Heatherleghs Zimmer, schwach wie ein kleines Kind. Heatherlegh, an seinem Schreibtisch hinter einem Stoß Papieren sitzend, beobachtete mich scharf. Die ersten Worte, die er an mich richtete, klangen nicht besonders ermutigend, aber ich war zu erschöpft, als daß sie einen tiefen Eindruck auf mich hätten machen können.

»Miss Kitty hat Ihnen Ihre Briefe zurückgeschickt«, begann er. »Eine hübsche Menge habt ihr junges Volk da zusammengeschrieben! – Und hier ist ein Päckchen, das sieht so aus, als läge ein Ring drin. Auch eine gewisse Art Liebesbillett von Papa Mannering ist angekommen, das zu lesen und sofort zu verbrennen ich mir die Freiheit genommen habe. Der alte Herr scheint Ihnen nicht mehr sehr gewogen zu sein.«

»Und Kitty?« fragte ich, halb betäubt.

»Ist fast noch mehr aufgebracht als ihr Vater – nach dem zu schließen, was sie schreibt. Ich entnehme daraus, daß Ihnen eine Menge von seltsamen Erinnerungen entschlüpft sein muß, just, bevor ich Sie traf. Sie sagt, ihrer Ansicht nach solle sich ein Mann, der einer Frau gegenüber gehandelt hat, wie Sie gegenüber Mrs. Wessington, schon aus Rücksicht auf seine Blutsverwandten selber niederknallen. Sie ist halt eine kleine hitzköpfige Amazone, Ihr Schatz. Behauptet auch steif und fest, Sie hätten einen Anfall von Delirium tremens gehabt -damals, als Sie sich auf der Jakkostraße überschlugen. Beteuert: sie wolle lieber sterben, als jemals wieder ein Wort mit Ihnen sprechen.«

Ich stöhnte auf und wälzte mich in meinem Bett auf die andere Seite.

»Sie müssen jetzt Ihrerseits eine Entscheidung treffen«, fuhr Heatherlegh fort, »lieber Freund! Die Verlobung muß offiziell gelöst werden. Und die Mannerings wollen ja auch gern ein Auge zudrücken. Soll also Delirium tremens oder Epilepsie der Vorwand sein? Es tut mir leid, aber ich kann Sie vor keine mildere Wahl stellen. Höchstens vielleicht: erbliche Belastung. Sprechen Sie das Wort aus, und ich werde den Leuten die Mitteilung in gewählter Form zukommen lassen. Ganz Simla weiß doch von der Szene auf der ›Meile unsrer lieben Frau‹. Raffen Sie sich auf! Ich lasse Ihnen fünf Minuten Überlegung.«

Ich glaube, ich habe in jenen fünf Minuten die fürchterlichsten Tiefen der Hölle durchwandert, die ein Mensch, solang er auf Erden weilt, betreten kann. Zugleich sah ich mich selbst in den dunklen Labyrinthen des Zweifels, des Jammers und der äußersten Hoffnungslosigkeit umhertaumeln. Ich hatte bis zum letzten Augenblick – so wenig wie Heatherlegh – eine Ahnung, welche der drei schrecklichen Alternativen ich ergreifen würde. Dann hörte ich plötzlich eine Stimme, die meine eigene gewesen sein muß, antworten: »Sie sind schauderhaft einseitig, was die Moralität hier anbelangt, Heatherlegh! Schreiben Sie den Mannerings, ich wähle Epilepsie, wenn’s ihnen in den Kram paßt; ich stelle es ihnen anheim, sie mögen darüber verfügen, wie – auch über meine Liebe. Lassen Sie mich jetzt noch ein bißchen schlafen, Doktor!«

Dann vereinigten sich meine beiden Ichs, und nur eines blieb zurück – das eine, halb wahnsinnige, vom Teufel gehetzte, das sich im Bette herumwälzte und Schritt um Schritt zurückwanderte in die Begebnisse des verflossenen Monates.

»Ich – bin – in – Simla«, sagte ich mir unablässig vor, »ich, Jack Pansay, bin in Simla, und Geister gibt es hier nicht. Es ist unvernünftig von der Frau, mir das Gegenteil beweisen zu wollen. Warum läßt sie mich nicht in Ruhe? Ich habe ihr doch nie etwas zu Leide getan. Gerade so gut wie sie, hätte auch ich sterben können! Nur wiedergekommen wäre ich nie, um sie zu morden. Sie aber kommt zurück -. Warum läßt sie mich nicht ruhig und glücklich sein?«

Es war später Nachmittag, als ich erwachte; früher Morgen war’s gewesen, bevor ich in Schlaf verfiel – in den Schlaf, der das Opfer auf dem Streckbrett befällt, wenn der Schmerz so furchtbar geworden ist, daß es ihn nicht mehr empfindet.

Am nächsten Tag war ich außerstande, das Bett zu verlassen. Heatherlegh erzählte mir, eine Antwort der Mannerings sei eingetroffen (dank seiner freundlichen Bemühung), daß die Nachricht von meiner Erkrankung bereits in ganz Simla die Runde gemacht habe und man mich allgemein bedauere.

»Das ist eigentlich mehr, als Sie verdienen«, fügte er scherzhaft hinzu, »obwohl Sie durch eine scharfe Mühle gegangen sind, das weiß Gott. Macht nichts; kurieren werde ich Sie doch, Sie verdrehtes Phänomen!«

Ich bat ihn allen Ernstes, sich und mir das zu ersparen. »Sie haben mir sowieso schon viel zuviel Güte angedeihen lassen, altes Haus!« sagte ich. »Ich möchte Sie wahrhaftig nicht noch weiter bemühen.«

Ich wußte in meinem Herzen nur zu gut, daß er mir die Bürde, die auf mir lag, nimmermehr würde erleichtern können.

Mit dieser Erkenntnis überkam mich gleichzeitig eine hoffnungslose, aber um so leidenschaftlichere Empörung gegen all das Widersinnige, das mir zugestoßen war. Wie viele Männer gab es, nicht besser als ich, und doch blieb ihnen – hienieden wenigstens – die Strafe erspart; warum mußte gerade ich von einem so grausigen Schicksal heimgesucht werden?! Diese Gemütsstimmung machte später einer andern Platz: es wollte mir nämlich so scheinen, als seien die Rikscha und ich die einzigen wirklichen Wesen in einer Welt der Schemen, Kitty hingegen ein Gespenst, und die Mannerings, Heatherlegh und die zahllosen Männer und Frauen meiner Bekanntschaft desgleichen; wie große graue Berge, aber dabei leere Schatten, empfand ich sie – nur dazu da, peinigend auf mir zu lasten. – Sieben lange, qualvolle Tage taumelte ich so im Geiste hin und her, vorwärts und rückwärts, jedoch mein Körper genas mehr und mehr von Stunde zu Stunde, bis mir eines Morgens der Spiegel in meinem Schlafzimmer sagte, daß ich wieder fähig sei, zum alltäglichen Leben zurückzukehren und ein Mensch zu sein wie die ändern. Sonderbar genug: in meinem Gesicht war keine Spur zu sehen, die verraten hätte, welche Kämpfe ich durchgemacht. Es war bleich, aber, wie sonst, ohne irgendwelchen besonderen Ausdruck. Ich hatte mir vorgestellt, ich müßte gänzlich verändert sein – gewissermaßen ein wandelndes Krankheitsbild. Nichts von alledem.

Am 15. Mai verließ ich Heatherleghs Sanatorium; der Junggeselleninstinkt trieb mich in den Klub. Bald merkte ich, daß jedermann dort meine Leidensgeschichte kannte – der Variante nach, die Heatherlegh zu verbreiten für gut befunden hatte –, merkte es an der plumpen Art, mir auffallend höflich entgegenzukommen. Trotzdem wußte ich nur zu genau, ich würde den Rest meines Lebens wohl zwischen, aber niemals »mit« meinen Gefährten verbringen. Aus tiefster Seele beneidete ich die Kulis auf der Gasse um ihr fröhliches Lachen. – Ich frühstückte im Klub und wanderte gegen vier Uhr planlos die Straße entlang in der heimlichen Hoffnung, Kitty zu begegnen. In der Nähe der Musikkapelle traf ich die schwarz und weißen Livreen und hörte Mrs. Wessingtons mir so wohlbekannten Zuruf dicht neben mir. Ich hatte es kommen gefühlt vom ersten Augenblick an, seit ich ausgegangen war; ich wunderte mich nur, daß das Phantom so lange gezögert hatte, mir zu erscheinen. So zogen wir Seite an Seite dahin über die Chota-Simla-Straße -: die Rikscha und ich. Beim Bazar überholten uns Kitty und ein Herr zu Pferd und ritten an uns vorüber; sie hatte nicht einmal so viel Rücksicht für mich, ihr Tempo zu beschleunigen, obwohl sie es in Hinblick auf das Regenwetter leicht hätte erklärlich machen können. Sie wollte mir damit zeigen, daß ich ihr so gleichgültig war wie ein Hund am Wege.

So zogen wir – jedes ein Pärchen – um den Jakko herum, sie mit ihrem Kavalier, ich mit meiner gespenstischen Geliebten. Die Straße war überflutet, die Pinien troffen wie Dachrinnen, daß das Wasser nur so auf die Felsen niederklatschte, und die Luft war erfüllt von feinem Sprühregen. Zwei- oder dreimal ertappte ich mich dabei, wie ich laut mit mir selbst sprach und mir vorsagte: »Ich bin Jack Pansay und auf Urlaub in Simla – jawohl: in Simla – dem mir gut bekannten Simla; ich darf das nicht vergessen – unter keinen Umständen vergessen!« Und dann zwang ich mich, mich irgendeines blöden Geschwätzes im Klub zu entsinnen, was dieses oder jenes Pferd gekostet hätte, oder an ein belangloses Ereignis in der anglo-indischen Welt, die mir bekannt war wie meine Tasche, zu denken. Dann wieder rechnete ich im Kopf das Einmaleins durch, um mich zu vergewissern, daß ich noch Herr meiner fünf Sinne war. Und das beruhigte mich, hatte wahrscheinlich zur Folge, daß ich Mrs. Wessingtons Stimme nicht ununterbrochen hörte.

Noch einmal erklomm ich, müde, den Klosterhügel und erreichte die ebene Straße. Kitty und ihr Begleiter setzten sich soeben in Galopp, und so war ich allein mit Mrs. Wessington. – »Agnes«, sagte ich, »möchtest du nicht das Wagenverdeck zurückschlagen lassen und mir sagen, was das alles zu bedeuten hat?« Und sofort klappte die Plane geräuschlos zurück, und ich stand Auge in Auge mit meiner toten und begrabenen Geliebten. Sie trug dasselbe Kleid, wie damals, als ich sie zum letztenmal gesehen, dasselbe kleine Taschentuch in der rechten, dieselbe Visitenkartentasche in der linken Hand. (Man denke: eine Frau, vor acht Monaten gestorben, hat eine Visitenkartentasche bei sich!!) Ich mußte das Einmaleins wieder hersagen, meine beiden Arme auf die steinerne Brust-Wehr der Brücke stützen, um mir zu versichern, daß diese wenigstens wirklich war.

»Agnes«, sagte ich, »um Gottes Barmherzigkeit willen, erklär mir, was hat das alles zu bedeuten?« Mrs. Wessington beugte sich vor – mit der eigentümlich schnellen Kopfbewegung, die mir von früher her so vertraut war – und begann zu sprechen.

Wenn meine Geschichte nicht an und für sich schon alles Maß des Wahrscheinlichen überschritten hätte, ich würde jetzt versuchen, sie plausibel zu machen, aber da ich nur zu gut weiß, daß niemand mir glauben wird, auch Kitty nicht, vor der mich zu rechtfertigen mein Wunsch war, als ich sie niederschrieb, unterlasse ich es lieber und fahre fort: Mrs. Wessington sprach und sprach, und ich ging neben ihr her, wie neben der Rikscha einer lebenden Frau, in eine Unterhaltung vertieft, von der Sanjowlie-Straße angefangen, bis zur Biegung des Kommandeurhauses. Die zweite, wohl die quälendste Form meiner Krankheit hatte die Oberhand über mich gewonnen: gleich dem Prinzen in Tennysons Gedicht vermeinte ich, mich in einer Welt von Schemen zu bewegen. Ein Gartenfest hatte im Hause des Kommandeurs stattgefunden, und ich geriet in das Gedränge der in Scharen heimkehrenden Gäste; ich empfand ihre Nähe wie die von Schatten – ich hatte den Eindruck, als wichen sie zur Seite, um mir und der Rikscha Platz zu machen. Was Mrs. Wessington und ich miteinander sprachen im Laufe dieses unheimlichen Beisammenseins, ich kann nicht – ich wage es nicht zu sagen. Heatherlegh würde es als ein Mischmasch von Augen-Magen-Gehirn-Reizung erklärt haben. Es war eine grausige, aber doch für mich irgendwie wunderbar liebe und teure Erfahrung. War es denn wirklich möglich, daß ich, ein lebender Mensch, mich ein zweites Mal um eine Frau bewarb? Um eine Frau, die ich durch Lieblosigkeit und Grausamkeit selbst getötet hatte?!

Auf dem Heimwege begegnete ich Kitty; sie war für mich ein Schatten unter Schatten geworden.

Wollte ich alles der Reihe nach niederschreiben, was ich den nächsten Tag noch erlebte, meine Geschichte käme nie zu Ende. Morgen für Morgen, Abend für Abend wanderte ich neben der gespenstischen Rikscha durch Simla. Wo ich ging und stand, da waren auch die vier schwarz und weißen Livreen, begleiteten mich nach meinem Hotel, warteten auf mich, bis ich ausging. Vor dem Theater standen sie mitten unter den ändern lautschreienden Jhampanies vor der Klubveranda nach langen Whistabenden, harrten meiner nach dem Ball, der zu Ehren des Geburtstages der Königin stattgefunden, und vor den Türen der Häuser am hellichten Tage, in denen ich Besuche machte. Abgesehen davon, daß die Rikscha keinen Schatten warf, erschien sie mir so wirklich wie jede andere aus Eisen und Holz, und mehr als einmal mußte ich mich zurückhalten, um nicht einen Warnungsruf auszustoßen, wenn ein Bekannter, wie es mir schien, im Begriff stand, in sie hineinzureiten. Und mehr als einmal wanderte ich die Hauptstraße hinunter in tiefstem Gespräch mit Mrs. Wessington zum maßlosen Erstaunen der Passanten.

Ich hatte es noch nicht eine Woche lang so getrieben, als ich bemerkte, daß die Ansicht, ich sei epileptisch, der Theorie von vererbtem Irresein Platz gemacht hatte; trotzdem änderte ich meine Lebensweise nicht im geringsten, machte Besuche, ritt spazieren, dinierte auswärts und bewegte mich so frei, wie es mir gut dünkte. Innerlich aber sehnte ich mich so leidenschaftlich wie wohl nie zuvor nach der Wirklichkeit des Lebens, aber gleichzeitig fühlte ich mich auch tiefunglücklich, wenn ich – für meine Begriffe – zu lang von meiner gespenstischen Gefährtin getrennt gewesen war; es ist mir unmöglich, den beständigen Wechsel meiner Gemütsstimmung zu beschreiben, die mich befallen hatte vom ij. Mai bis zum Tage dieser Niederschrift.

Die Gegenwart der Rikscha erfüllte mich bald mit Schrecken, blinder Angst und Furcht, bald mit Freude, bald mit äußerster Verzweiflung. Simla zu verlassen, wagte ich nicht; und doch wußte ich, daß ein längeres Verbleiben mir den Tod bringen würde. Meine einzige Sehnsucht war, meine Bußezeit möchte zu einem ruhevollen Ende führen. Mich dürstete nach dem Anblick Kittys und gleichzeitig erheiterte mich ihr krampfhaftes Kokettieren mit meinem Nachfolger – besser gesagt: mit meinen Nachfolgern. Sie stand außerhalb meines Lebens, so wie ich außerhalb des ihrigen. Tagsüber wanderte ich, fast zufrieden mit meinem Schicksal, an Mrs. Wessingtons Seite dahin, aber des Nachts flehte ich zu Gott, er möchte mich der Welt, wie ich sie früher gekannt, wiedergeben. Und über all diesen wechselnden Stimmungen lag das dumpfe, betäubende Verwundern, daß Sichtbares und Unsichtbares sich so seltsam zusammenfügte nur zu dem Zweck, eine arme Seele ins Grab zu hetzen.

27. August. Heatherlegh ist unermüdlich in seinen Sorgen um mich. Gestern hat er mir geraten, ich solle um einen Urlaub ansuchen. – Ein Urlaub, um der Gesellschaft eines Gespenstes zu entgehen!! Ein Gesuch, das Gouvernement möge mir gnädigst gestatten, nach England reisen zu dürfen, um die Anwesenheit von fünf Gespenstern und einer aus Luft bestehenden Rikscha abzuschütteln! Ich beantwortete seine Zumutung mit einem fast hysterischen Gelächter und erklärte ihm, da wolle ich doch lieber das Ende in Simla abwarten. Und ich weiß: das Ende ist nicht mehr fern. Ich erwarte es mit einer Furcht, die tiefer ist, als daß ich sie mit Worten schildern könnte. Nacht für Nacht martere ich mich mit Vermutungen ab, auf welche Art ich wohl sterben werde.

Werde ich in meinem Bett sterben, anständig, wie es einem englischen Gentleman geziemt? Oder während eines Spazierganges auf der Hauptstraße? Wird meine Seele mir entrissen werden, um für immer und ewig an das grauenhafte Phantom gefesselt zu sein? Werde ich in die alte Heimat im Jenseits zurückkehren, oder werde ich Agnes drüben wieder hassen und dennoch für immer an sie gebunden sein? Oder sollen wir beide bis zum Ende aller Zeiten über dem Schauplatz unseres Lebens schweben? – Je näher der Tag meines Todes heranrückt, desto wilder packt mich das Grauen, das das lebendige Fleisch vor einem dem Grabe entstiegenen Schatten empfindet. Es ist traurig über alle Maßen, zu den Toten gehen zu müssen, wenn kaum noch die Hälfte des Lebens gelebt ist! Tausendmal trauriger noch, so, wie ich, mitten unter den Menschen unausdenkbare Schrecken kommen sehen zu müssen! Ihr, die ihr jetzt lest, was ich niedergeschrieben habe, bedauert mich wenigstens meiner – wie ihr es nennen werdet: Geistesverwirrung wegen! Glauben werdet ihr ja doch nie, was ich erlebt habe! Aber dennoch: so sicher, wie jemals ein Mensch durch das Eingreifen dunkler Mächte in den Tod getrieben wurde, so sicher bin ich ein solcher Mensch.

Um der Gerechtigkeit willen: gedenket in Mitleid auch ihrer! Denn, wenn jemals ein Mann eine Frau gemordet hat, so habe ich Mrs. Keith-Wessington gemordet. Ich gehe jetzt meinem letzten Strafgericht entgegen. Es schwebt über mir.

Morrowbie Jukes‘ Ritt zu den Toten

Auf Erfindung oder Erdichtung beruht diese Geschichte nicht; Jukes ist durch Zufall in ein Dorf geraten, von dem man weiß, daß es existiert, obwohl Jukes der einzige Engländer ist, der dort war. Eine ähnliche Einrichtung wie die, von der die Rede sein wird, soll einst in der Umgebung von Kalkutta bestanden haben; auch geht das Gerücht, im Herzen von Bikanir, tief im Innersten der Großen Indischen Wüste, läge eine Stadt – nicht etwa ein Dorf! –, in der Tote, nämlich solche, die zwar nicht gestorben sind, aber nicht leben dürfen, ihr Hauptquartier aufgeschlagen hätten. Da es außer jedem Zweifel steht, daß sich in ebenderselben Wüste eine prachtvolle Stadt befindet, in die sich reiche Leute zurückziehen, nachdem sie sich ein Vermögen gemacht haben (und zwar ein Vermögen, so groß, daß sie sich unter dem Schutze der Gouvernementsregierung nicht mehr sicher fühlen und als Wohnort die wasserlose Sandwüste vorziehen, wo sie in prunkvollen elastisch gefederten Kutschen fahren, sich schöne Mädchen kaufen und die Wände ihrer Paläste mit Gold, Elfenbein, kostbaren Minton-Kacheln und Perlmutter schmücken), so sehe ich nicht ein, warum Jukes‘ Erzählung nicht wahr sein sollte! Jukes ist Zivilingenieur, hat den Kopf voll mit Streckenmessungen, mit Entwürfen aller Art und ähnlichen Dingen; warum sollte er sich damit abgeben, Phantasien auszuhecken? Wenn er seinem Beruf nachgeht, verdient er auf weit leichtere Art sein Geld. Auch erzählt er die Geschichte immer gleich, fügt nichts hinzu und läßt auch nichts weg; und immer bekommt er einen roten Kopf, wenn er die unwürdige Behandlung schildert, die ihm in jenem Dorfe zuteil geworden ist.

Zuerst hat er die Geschichte in schlichten Worten, und offenbar für ihn allein bestimmt, niedergeschrieben, später hat er stellenweise im Stil nachgefeilt und persönliche Bemerkungen eingefügt. Sie lautet: Angefangen hat alles mit einem leichten Fieber. Mein Beruf zwang mich, einige Monate zwischen Pakpattan und Murbarakpur zu kampieren – eine trostlose, sandige Gegend, wie jeder weiß, der das Unglück gehabt, dort leben zu müssen. Meine Kulis waren weder besser noch schlechter als andere Arbeitertrupps dieser Art, und überdies nahm mich meine Aufgabe derart in Anspruch, daß mir zu Träumereien keine Zeit geblieben wäre, selbst wenn ich Neigung zu solch unmännlichen Schwächen verspürt hätte.

Am 23. Dezember 1884 fühlte ich das Fieber kommen. Es stand damals der Vollmond am Himmel, und sämtliche Hunde in der Nähe meines Zeltes bellten ihn ununterbrochen an, wie das bei ihnen üblich ist. Die Köter hatten sich zu zweien und dreien versammelt und brachten mich schier zur Verzweiflung. Einige Tage vorher hatte ich einen solchen lärmbeflissenen Sänger erschossen und seinen Leichnam als abschreckendes Beispiel ungefähr fünfzig Yards von meiner Zelttür entfernt aufgehängt. Leider verfehlte die Maßnahme ihren Zweck: seine Freunde fielen über ihn her, rauften sich um seinen Kadaver und verzehrten ihn schließlich; dann sangen sie, wie mir schien, Dankeshymnen. Mit verdoppelter Energie.

Die Benommenheit, die das Fieber begleitet, wirkt auf die verschiedenen Menschen verschieden; in mir ließ sie nach kurzer Zeit den Entschluß reifen, eine ungeheure schwarze und weiße Bestie, die beim nächtlichen Gesang, aber auch beim Ausreißen die erste war, zu ermorden, koste es, was es wolle. Dank meiner zitterigen Hand und meinem schwindligen Kopf, hatte ich sie bereits zweimal mit der Flinte gefehlt, und da kam mir der verrückte Gedanke, ich müsse sie niederreiten und mit der Saufeder erlegen. Es war das offensichtlich ein Einfall, wie ihn nur ein im Fieberdelirium befindlicher Kranker haben konnte, erschien mir aber damals als das einzig richtige und überaus leicht und einfach ausführbar.

Ich befahl demnach meinem Stallknecht, Pornic zu satteln und leise an die Rückseite meines Zeltes zu bringen. Als das Pony bereitstand, faßte ich die Zügel, entschlossen, sofort aufzuspringen und fortzusprengen, falls der Hund seine Stimme wieder erheben sollte. Nebenbei bemerkt: Pornic war einige Tage nicht aus dem Stall gekommen, die Nachtluft war erregend und kalt, und überdies trug ich ein paar besonders lange und scharfe Sporen, mit denen ich am Nachmittag ein faules Füllen aufgemuntert hatte; man kann sich also leicht vorstellen, wie Pornic losging, als der Moment gekommen war! Im Nu lag das Zelt hinter mir und wir flogen über den weichen sandigen Boden dahin, als gelte es, einen Rennpreis zu gewinnen. Der Hund rannte wie ein gehetztes Wild, aber schon im nächsten Augenblick waren wir an ihm vorbei und ich hatte bereits vergessen, weshalb ich eigentlich zu Pferde saß und den Sauspeer mitgenommen hatte.

Das Fieberdelirium und die Erregung infolge der schnellen Bewegung in der frischen Luft müssen mir den letzten Rest meiner Besinnung geraubt haben, denn ich erinnere mich nur dunkel, daß ich aufrecht in den Bügeln stand und mit meinem Sauspeer nach dem großen weißen Mond zielte, der ruhevoll auf meinen wahnwitzigen Galopp herniederschien. Schreiend forderte ich ein paar Kameldornbüsche, die gespenstisch an mir vorbeiflogen, zum Kampfe heraus. Einmal oder zweimal, so bedünkte mich, fiel ich vornüber auf Pornics Hals, und buchstäblich hing ich nur noch dank meinen Sporen im Sattel, wie die Spuren am nächsten Morgen zeigten.

Das arme Pferd raste dahin wie besessen über eine, wie ich mich zu erinnern glaube, grenzenlose mondlichtbeschienene Sandfläche. Sodann, das weiß ich genau, stieg der Weg vor mir plötzlich scharf aufwärts, und als wir den Gipfel des Hügels erreicht hatten, sah ich tief unten die Wasser des Sutlej schimmern wie ein silbernes Band. Gleich darauf fiel Pornic mit einem Ruck auf die Nase und wir rollten gemeinsam einen unsichtbaren Abhang hinunter.

Ich muß wohl das Bewußtsein verloren haben, denn als ich wieder zu mir kam, lag ich bäuchlings auf einem Haufen weichen, weißen Sandes, und die Morgendämmerung warf ihren verschwommenen Schein über den Rand des Abhanges, von dem ich herabgefallen war. Als es heller wurde, sah ich, daß ich mich am Fuße eines hufeisenförmigen Sandkraters befand, dessen offene Seite von den Ufern des Sutlej begrenzt war. Das Fieber hatte fast ganz aufgehört, und abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl im Kopf, fühlte ich keine schlimmen Folgen des nächtlichen Sturzes.

Pornic, der einige Meter entfernt stand, war zwar sehr erschöpft, aber nicht verwundet. Sein Sattel, ein richtiger Polosattel, war stark verrutscht und hing ihm am Bauch. Da das Riemenzeug arg verknotet war, dauerte es eine Zeit, bis ich alles wieder zurechtgebracht hatte; dabei blieb mir aber Muße genug, den Ort zu betrachten, in den ich so dummerweise gefallen war.

Auf die Gefahr hin, weitschweifig zu werden, muß ich ihn dennoch genau schildern, da nur ein scharfes Bild seiner Eigentümlichkeiten es dem Leser ermöglichen kann, die jetzt folgenden Begebnisse zu verstehen.

Man stelle sich also einen – wie schon vorhin bemerkt – hufeisenförmigen Krater aus Sand vor, dessen steil abfallende Seitenwände ungefähr fünfunddreißig Fuß hoch waren. Der Neigungswinkel betrug, schätze ich, ungefähr fünfundsechzig Grad. Dieser Krater schloß ein flaches Stück Boden ein von etwa fünfzig Meter Länge und dreißig an der breitesten Stelle, mit einem rohen Brunnen in der Mitte. Rund um diesen Boden des Kraters, ungefähr drei Fuß hochragend, zog sich eine Reihe von dreiundachtzig halbkreisförmigen, ovalen, viereckigen oder unregelmäßig geformten Höhlen hin, alle mit Eingängen oder Öffnungen von je drei Fuß im Ausmaß. Jede Höhle zeigte mir, als ich sie später besichtigte, eine sorgfältig hergestellte Innenverschalung aus Treibholz und Bambus und oberhalb der Eingangsöffnung eine hölzerne Wasserablaufsrinne, zwei Fuß breit und von der Form einer Jockeymütze. Dennoch war keine Spur von Lebewesen in diesen Höhlen bemerkbar. Nur ein Brechreiz erzeugender, scheußlicher Geruch durchdrang das ganze Amphitheater – ein Geruch, widerwärtiger noch, als ich ihn jemals auf meinen Wanderungen in irgendwelchen indischen Dörfern gefunden habe.

Ich bestieg Pornic, der ebenso wie ich heftige Sehnsucht nach den heimischen Zelten zu empfinden schien, und ritt rings um die Basis des hufeisenförmigen Kraters, um eine Stelle ausfindig zu machen, von der aus man am besten wieder ins Freie gelangen könnte. Da die Bewohner, wer sie auch immer sein mochten, es nicht für nötig hielten, sich sichtbar zu machen, so war ich auf meine eigenen Ratschlüsse angewiesen. Mein erster Versuch, Pornic die steile Sandbank »hinaufzustacheln«, brachte mir lediglich die Überzeugung, daß ich in eine Falle gestürzt war, ähnlich dem gewissen Sandtrichter, wie ihn der.sogenannte Ameisenlöwe im kleinen herstellt, um Insekten zu fangen. Bei jedem Schritt fiel der lockere Sand tonnenweise von oben herab und prasselte wie Schrotfeuer auf die Wasserablaufrinnen der Höhlendächer nieder. Noch einige erfolglose Versuche, und Pornic und ich rollten, halb erstickt von den Sandmassen, auf den Grund des Kraters zurück. Ich war also genötigt, meine Aufmerksamkeit dem Flußufer zuzuwenden.

Hier schien die Sache keine Schwierigkeiten zu bieten. Zwar reichten die Sandhügel bis dicht an den Flußrand, aber es schien genug seichte Stellen und Sandbänke zu geben, über die Pornic hinweggaloppieren konnte, so daß ich den Weg auf festen Boden finden mußte, wenn ich mich nur scharf nach rechts oder links hielt. Als ich aber mit Pornic dementsprechend auf den Sandgrund des Flusses zusteuerte, überraschte mich der matte Knall eines Flintenschusses, der vom jenseitigen Ufer kam; im selben Augenblick pfiff eine Kugel an Pornics Kopf vorbei.

Über die Art der Schußwaffe konnte kein Zweifel bestehen: es mußte ein Martini-Henry-Gewehr gewesen sein. Ungefähr hundert Schritt von mir entfernt lag, mitten im Strom verankert, ein plumpes Boot und eine aus seinem Bug in die stille Morgenluft aufsteigende Rauchwolke verriet mir, woher diese zartsinnige Aufmerksamkeit gekommen war. Hat man jemals einen ehrenwerten Gentleman auf derart rüde Weise behelligt? – Der tückische Sand gestattete kein Entrinnen von dem Ort, den ich so ganz gegen meinen Willen betreten hatte, und ein Spazierritt am Flußufer löste sofort ein Bombardement seitens irgendeines verrückten Eingeborenen drüben auf dem Boot aus. Ich gestehe, ich geriet ganz aus der Fassung.

Eine zweite Kugel belehrte mich, daß es am besten sei, meine Wut herunterzuschlucken und mich schleunigst von der Sandbank in das Hufeisen zurückzuziehen. Dort angelangt, sah ich, daß der Knall des Gewehrschusses etwa fünfundsechzig menschliche Wesen aus den Dachshöhlen, die ich bisher für unbewohnt gehalten, gelockt hatte. Ich fand mich umringt von ungefähr vierzig Männern, zwanzig Weibern und einem Kind, das kaum mehr als fünf Jahre zählen konnte. Alle waren spärlich bekleidet mit jenem lachsfarbigen Stoff, der die Hindubettler kennzeichnet, und machten mir beim ersten Anblick den Eindruck von ekelhaften Fakiren. Das abstoßende Äußere der Bande und ihre Schmutzigkeit spottete jeder Beschreibung; ich schauderte bei dem Gedanken, welches Leben sie in den Höhlen führen mußten.

Selbst heutzutage, wo die Selbstverwaltung der Distrikte dem Respekt der Eingeborenen vor einem Sahib stark Abbruch getan hat, war ich immer noch an einen gewissen Grad von Höflichkeit seitens meiner Untergebenen gewöhnt und erwartete demnach wenigstens eine zivilisierte Beachtung meiner Anwesenheit. Beachtung fand ich allerdings, aber in einer Weise, die mich enttäuschte.

Die zerlumpte Bande lachte mir buchstäblich ins Gesicht – es war eine Art Lachen, die ich nie mehr wieder in meinem Leben zu hören hoffe! Sie grunzten, schnatterten, schrien, pfiffen und heulten wie besessen, als ich unter sie trat. Einige von ihnen warfen sich auf die Erde und wanden sich in widerwärtigen Lachkrämpfen. Sofort sprang ich aus dem Sattel und boxte, aufgeregt wie ich war von den Abenteuern dieses Morgens, aus Leibeskräften auf die Bande ein. Die Jammergestalten fielen wie die Kegel um unter meinen Hieben, und ihr Hohngelächter verwandelte sich sofort in ein Gewinsel um Gnade. Die, die keine Püffe davongetragen hatten, umklammerten meine Knie und flehten mich mit den seltsamsten und fremdartigsten Lauten an, sie zu verschonen.

Mitten in diesem Tumult – und ich schämte mich bereits heftig, daß ich mich so hatte gehen lassen, krähte eine hohe dünne Stimme hinter mir auf englisch: »Sahib! Sahib! Erkennen Sie mich denn nicht? Sahib, ich bin doch Gunga Daß, der Telegraphenbeamte!«

Ich drehte mich rasch um und faßte den Sprecher ins Auge.

Gunga Daß – ich wüßte keinen Grund, seinen Namen zu verschweigen – war ein Brahmane aus dem Dekkan, und ich hatte ihn vor vier Jahren als einen Angestellten aus dem Punjab-Gouvernement in einem der Khalsia-Staaten flüchtig gekannt. Er war damals Vorsteher einer Zweigtelegraphenstation gewesen und lebte in meiner Erinnerung als ein geschickter, wohlbeleibter Distriktsbeamter, der die wunderbare Gabe besessen hatte, Kalauer in englischer Sprache zu machen – eine Eigenschaft, die mich an ihn länger als an seine mir geleisteten amtlichen Dienste hatte denken lassen. Ein Hindu, der englische Kalauer zum besten gibt, kommt nicht alle Tage vor.

Jetzt, als ich ihn wieder sah, war er bis zur Unkenntlichkeit verändert. Kastenabzeichen, Schmerbauch, die schieferfarbenen Hosen, die gewählte Sprache – alles war dahin. Ich erblickte statt dessen ein verwittertes Gerippe vor mir, fast nackt, ohne Turban, das Haar lang und verfilzt, tief eingesunkene Schellfischaugen!

Wäre nicht eine sichelförmige Narbe an seiner linken Wange gewesen – die Folge eines Unfalls, den ich seinerzeit verschuldet hatte –, ich hätte den Mann überhaupt nicht wiedererkannt. Aber es war zweifellos Gunga Daß, und – ich empfand es wie Dankbarkeit und Befriedigung in mir – ein englisch sprechender Eingeborener, der mir wenigstens klarmachen konnte, wie ich hoffte, wo ich mich eigentlich befand und wie ich mir die Vorgänge des Morgens zu deuten hätte.

Die Menge trat ein wenig zurück, als ich die jämmerliche Gestalt anredete und aufforderte, mir zu sagen, wie ich denn aus diesem Krater herauskommen könnte. Eine frischgerupfte Krähe in der Hand, kletterte er langsam auf eine Plattform aus Sand, die sich vor den Höhlen hinzog, und fing schweigend an, ein Feuer anzuzünden. Trockene Grashalme, Sandwicke und dürres Treibholz brennen schnell; es war mir in gewissem Sinne ein Trost, als ich sah, daß er sie mit einem gewöhnlichen Streichholz anzündete. Als das Feuer hell brannte und die Krähe davor aufgespießt war, entschloß sich Gunga Daß endlich zu einer Antwort. Ohne irgendwelche Einleitung ging er sofort zum eigentlichen Thema über:

»Es gibt nur zwei Arten von Menschen, Sar: die lebenden und die toten. Wenn Sie tot sind, Sar, dann sind Sie eben tot, und wenn Sie lebendig sind, nun, dann sind Sie ein Lebendiger.« Hier nahm die Krähe seine Aufmerksamkeit wieder voll in Anspruch, denn sie wirbelte vor dem Feuer herum und konnte jeden Augenblick zu Asche verbrennen. »Wenn Sie zu Hause sterben, aber noch nicht tot sind, und man Sie zum Verbranntwerden zu dem Ghaut trägt, so kommen Sie hierher an diesen Ort.«

Die Natur dieses stinkenden Dorfes war mir jetzt mit einem Schlage klar. Alles, was ich jemals an Schrecklichem und Groteskem über solche Einrichtungen gelesen oder gehört, verblaßte vor dem, was mir dieser ehemalige Brahmane soeben mit ein paar Worten angedeutet hatte. Als ich vor sechzehn Jahren zum erstenmal nach Bombay kam, erzählte mir ein wandernder Armenier von einem irgendwo in Indien existierenden Ort, an den man Hindus brächte, wenn sie das Unglück gehabt hatten, aus Trance oder Starrsucht wieder zu erwachen. Man hielte sie dort fest, damit sie nicht entkommen könnten. Damals lachte ich über die Geschichte und hielt sie für Reisendengeschwätz.

Jetzt, wo ich selber in dieser Menschenfalle aus Sand saß, tauchte die Erinnerung an Watsons Hotel mit seinen fächelnden Punkahs, den weißgekleideten Dienern und an das wachsgelbe Gesicht des Armeniers vor mir auf wie eine scharfentwickelte Photographie. Ich brach in ein krampfhaftes Lachen aus: der Kontrast war zu absurd!

Gunga Daß hatte sich über den unappetitlichen Vogel gebeugt, beobachtete mich jedoch dabei neugierig. Hindus lachen selten; überdies war die Umgebung auch nicht besonders geeignet, zum Lachen zu reizen. Er zog die gebratene Krähe mit feierlicher Miene von dem Holzspieß und verzehrte sie ebenso feierlich. Dann fuhr er in seiner Erklärung fort. Ich gebe sie hier mit seinen eigenen Worten wieder:

»Bei Choleraepidemien trägt man die Leute zum Scheiterhaufen, auch wenn sie noch nicht ganz tot sind. Werden sie nun ans Flußufer gebracht, so erwachen manche wieder durch die frische Luft. Werden sie nur ein wenig lebendig, so legt man ihnen Lehm auf Nase und Mund. Hilft das nicht, so legt man ihnen noch mehr Lehm auf; sie sterben dann meistens unter Zuckungen. Werden sie aber allzu lebendig, dann läßt man ›Das mit Lehm‹ sein und schleppt sie fort. Ich, zum Beispiel, war allzu lebendig und wehrte mich gegen solch unwürdige Behandlung, denn ich war damals noch ein Brahmane und ein stolzer Mann.

Jetzt freilich bin ich ein toter Mann und esse« – hier blickte er auf den abgenagten Brustknochen des Vogels mit dem ersten Zeichen innerer Bewegung, seit ich ihn gesehen – »Krähen und anderes Zeugs. Man nahm mich vom Scheiterhaufen herunter, als man sah, daß ich zum Verbrennen noch zu lebendig war, gab mir eine Woche lang Medizinen ein, und ich wurde wieder gesund. Dann schickte man mich per Eisenbahn mit einem Mann zur Aufsicht zu der Station Okara. Dort kamen noch zwei dazu, und wir wurden nachts auf Kamelen hierhergebracht. Dann warf man mich hier herunter in den Krater und die beiden andern hinterdrein. Jetzt bin ich hier seit zweieinhalb Jahren. Ja, ja, einst war ich eine Brahmane und ein stolzer Mann, und jetzt esse ich – Krähen.«

»Gibt es denn keinen Weg, hier herauszukommen?«

»Keinen. Als ich herkam, habe ich es oft versucht und die andern auch, aber wir sind jedesmal dem Sand unterlegen, der auf unsere Köpfe herabstürzte.«

»Aber«, unterbrach ich ihn, »die Flußseite ist doch offen und es lohnt sich, die Gefahr zu riskieren, vom Boot drüben aus erschossen zu werden; nachts zum Beispiel.« Ich sprach den Satz nicht zu Ende; ein natürlicher Instinkt hieß mich schweigen. Gunga Daß aber erriet meine unausgesprochenen Worte und brach zu meinem Erstaunen in ein Lachen aus – in ein so spöttisches Lachen, wie es sich nicht einmal ein mir im Range Höherstehender hätte erlauben dürfen.

»Sie werden (schon nach seinen ersten Sätzen hatte er unterlassen, mich mit dem Titel ›Sir‹ anzureden) auf diesem Weg nicht entkommen, mein Lieber. Sie können es ja versuchen, wenn Sie wollen. Ich hab’s auch versucht. Aber nur einmal.«

Das Gefühl eines unbeschreiblichen Schreckens, gegen das ich vergebens anzukämpfen versuchte, überfiel mich. Das lange Fasten – es war bereits zehn Uhr geworden –, dazu der aufregende nächtliche Ritt, kurz: ich war erschöpft; ich fürchte, ich habe mich damals eine Zeitlang wie ein Wahnsinniger gebärdet. Ich rannte gegen den Sandhügel an, lief im Kreis in dem Krater herum und betete und fluchte gotteslästerlich in einem Atem. Ich kroch zwischen Schilfgras hinaus auf die Flußufersandbänke, nur um immer wieder und wieder durch Flintenschüsse, die rings um mich herum Furchen in den Sand zogen, in die Agonie nervöser Angst versetzt und zurückgejagt zu werden. Ich wollte den Gedanken nicht dulden, wie ein toller Hund hier unter diesem gräßlichen Volk sterben zu müssen, und stürzte schließlich, erschöpft und rasend vor Wut, am Brunnen nieder. Niemand nahm die geringste Notiz von mir, und heute noch treibt es mir die Röte ins Gesicht, wenn ich mir vorstelle, wie ich mich damals gebärdet habe.

Zwei oder drei dieser Menschen traten auf meinen zuckenden Leib, als sie Wasser schöpfen kamen; sie schienen an derlei Vorgänge gewöhnt zu sein, und hatten keine Zeit für mich übrig. Nur Gunga Daß unterzog sich der Mühe, mir, nachdem er die glimmenden Kohlen seines Feuers mit Sand erstickt hatte, einen halben Becher fauligen Wassers über den Kopf zu gießen; ich hätte ihm dafür gerne auf den Knien gedankt, wenn er nur nicht immer mit demselben freudlosen keuchenden Ton, wie anfangs, als er mich erkannt hatte, gelacht hätte.

So lag ich, halb ohnmächtig, bis zum Nachmittag. Da ich auch nur ein Mensch bin, fühlte ich Hunger und sagte es Gunga Daß, in dem ich allmählich meinen natürlichen Beschützer zu sehen begann. An den Verkehr mit Eingeborenen gewöhnt, zog ich vier Annas aus der Tasche, um sie ihm zu geben; gleich darauf sah ich das Absurde einer solchen Gabe an einem Orte wie diesem ein und wollte das Geld wieder einstecken.

Aber Gunga Daß schrie: »Geben Sie mir das Geld! Alles, was Sie haben! Oder ich hole Hilfe, und wir schlagen Sie tot!«

Ich glaube, jedes Briten erster Impuls ist, den Inhalt seiner Tasche zu behüten; aber ein Augenblick der Überlegung sagte mir, wie töricht es wäre, mit dem einzigen Menschen, der mir mein Los erleichtern konnte, in Streit zu geraten. Ich gab ihm also alles Geld, das ich bei mir hatte: neun Rupien, acht Annas und fünf Pies. (Ich trug immer, wenn ich im Lager war, Kleingeld für Bakschisch bei mir.) Gunga Daß versteckte das Geld rasch in seinem zerlumpten Lendentuch und blickte sich scheu um, ob es auch niemand gesehen hätte.

»Gut, jetzt will ich Ihnen auch zu essen geben«, sagte er.

Welche Genüsse er sich für das Geld glaubte verschaffen zu können, bin ich außerstande zu sagen, aber ich gab es ihm, da ich sah, daß es ihm Freude machte; jedenfalls wäre ich umgebracht worden, wenn ich es ihm verweigert hätte. Man reizt wilde Bestien nicht unnötigerweise, und meine Gefährten standen tiefer als wilde Tiere. Sie ließen mich ruhig essen, was mir Gunga Daß gab: ein rohes Chapatti und einen Becher faules Brunnenwasser, und zeigten nicht die geringste Spur der in indischen Dörfern sonst so üblichen Neugier.

Ich hatte den Eindruck, als verachteten sie mich; jedenfalls brachten sie mir die kühlste Gleichgültigkeit entgegen, Gunga Daß sowohl, wie auch alle andern. Ich bestürmte ihn mit Fragen über das schreckliche Dorf, erhielt aber nur sehr ungenügende Antworten. Soviel ich mir zusammenreimen konnte, existierte es seit »unvordenklichen« Zeiten, woraus ich schloß, es müsse mindestens hundert Jahre alt sein – und niemals sei auch nur ein einziger daraus entkommen. (Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, damit mich nicht abermals das Entsetzen packte und mich wie vorhin in dem Krater umherrasen ließ.) Gunga Daß schien einen teuflischen Genuß dabei zu empfinden, diese Tatsache immer wieder zu unterstreichen, als er gesehen hatte, wie ich zusammengezuckt war. Sosehr ich auch in ihn drang, mir zu sagen, wer denn eigentlich diese geheimnisvollen »sie« seien, die ihn und die andern hierhergebracht hätten und ständig bewachten, nichts konnte ihn bewegen, es mir zu verraten.

»Es ist ihnen befohlen, so zu handeln«, antwortete er immer wieder, »und bis jetzt habe ich noch von keinem gehört, der dem Befehl nicht gehorcht hätte.«

»Warte nur«, entgegnete ich ihm, »wenn man im Lager mein Verschwinden bemerkt, werden meine Diener kommen. Ich verspreche dir, daß dieser Ort vom Antlitz der Erde verschwinden wird. Übrigens, eine Unterrichtsstunde in höflichem Benehmen werde ich dir dann auch erteilen, mein Freund!«

»Deine Diener würden in Stücke gerissen sein, längst bevor sie diesen Ort erreicht hätten! Aber abgesehen davon, sind Sie doch tot, mein Lieber! Freilich ist das nicht Ihre Schuld, aber tot und begraben sind Sie nichtsdestoweniger.«

In unregelmäßigen Zeitabschnitten, sagte er mir, würden von der Landseite her Nahrungsmittel in den Krater herabgeworfen; die Bewohner des Amphitheaters kämpften dann darum wie wilde Tiere. Wenn einer seinen Tod herannahen fühle, zöge er sich in eine Höhle zurück und stürbe darin. Später zöge man den Leichnam wieder heraus und würfe ihn auf den Sand. Bisweilen aber ließe man ihn auch verfaulen, wo er gerade läge.

Die Phrase »auf den Sand werfen« erweckte meine Aufmerksamkeit und ich fragte, ob dadurch nicht Pestilenz erzeugt würde.

»Sie werden das später ja selbst beobachten können«, meinte er und bekam wieder einen seiner keuchenden Lachanfälle. »An Zeit zum Beobachten wird es Ihnen nicht fehlen.«

Ich zuckte zu seiner großen Freude wieder zusammen; rasch, um den Eindruck zu verwischen, fuhr ich mit meinen Fragen fort: »Und wie lebt ihr eigentlich hier? Womit beschäftigt ihr euch?« Die Frage rief dieselbe Antwort hervor, nur mit dem Zusatz: »Dieser Ort ist wie euer europäisches Himmelreich; auch hier gibt es weder Heirat noch Hochzeitstag.«

Gunga Daß war in einer Missionsschule erzogen worden. »Wäre ich«, so sagte er, »ein kluger Mann gewesen und hätte die Religion gewechselt, so wäre ich dem Lebendigbegrabensein an diesem Ort, der jetzt mein Los geworden ist, entgangen.« Solange ich mit ihm in dem Krater beisammen war, hatte ich trotzdem die Empfindung, daß er sich ganz glücklich fühlte.

Er hatte in mir einen Sahib vor sich, einen Repräsentanten der herrschenden Rasse, hilflos wie ein Kind und in jeder Beziehung seiner Gnade und der seiner eingeborenen Gefährten ausgeliefert. In raffinierter und wohlüberlegter Weise pflegte er mich zu peinigen, wie etwa ein Schulknabe sich in einer freien halben Stunde an den Todesqualen eines aufgespießten Käfers weidet, oder ein Marder in einer verborgenen Höhle sich genußsüchtig an der Kehle eines Kaninchens festbeißt. Immer wieder kam er in seiner Rede auf die Betonung des Umstandes zurück, daß ein Entkommen unmöglich sei, und daß ich eben bis zu meinem Tode hierbleiben müsse, um schließlich »auf den Sand« geschmissen zu werden. Wäre es möglich, sich die Reden der Verdammten bei der Ankunft neuer Seelen im Abgrund der Hölle vorzustellen, so möchte ich sagen: sie müßten so sprechen, wie Gunga Daß zu mir sprach. Mir fehlte die Kraft, zu antworten oder dagegen Einwände zu erheben; ich mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um gegen das unbeschreibliche Entsetzen anzukämpfen, das mich wieder und wieder zu überwältigen drohte. Ich kann meinen Zustand nur mit dem würgenden Gefühl einer übermächtigen Seekrankheit vergleichen, die einen bei einer stürmischen Kanalüberfahrt befällt. Nur war meine Agonie geistiger Art und daher weit schrecklicher.

Als der Tag vorgerückt war, erschienen die Bewohner des Kraters vollzählig, um die Nachmittagssonne zu genießen, die jetzt bereits in schrägen Strahlen in das Amphitheater herabschien. Sie standen in kleinen Gruppen beisammen und sprachen miteinander, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war meiner Schätzung nach etwa vier Uhr, da erschien Gunga Daß, tauchte einen Augenblick in seiner Höhle unter und kam gleich darauf wieder hervor mit einer lebenden Krähe auf der Faust. Der arme Vogel starrte vor Schmutz und war auch sonst in jämmerlichem Zustand, dennoch schien er keine Furcht vor seinem Herrn zu haben. Dann ging Gunga Daß vorsichtig auf die Flußseite zu, wobei er von einem Grasbüschel auf das andere trat, bis er einen Sandfleck direkt in der Schußlinie des Bootsfeuers erreicht hatte. Die Wächter am andern Ufer nahmen jedoch anscheinend keine Notiz von ihm. Dort blieb Gunga Daß stehen, legte mit ein paar geschickten Handgelenkdrehungen den Vogel auf den Rücken und befestigte ihn irgendwie mit ausgespreizten Flügeln. Natürlich begann die Krähe sofort laut zu schreien und zu krächzen und mit den Klauen in die Luft zu krallen. In wenigen Sekunden hatte ihr Geschrei eine Schar wilder Krähen angelockt, die auf einer, mehrere Meter entfernten Sandbank über einem Etwas, das aussah wie ein Aas, eine Ratsversammlung abhielten. Ein halbes Dutzend flog sofort herbei, um zu sehen, was los sei, und um, falls die Sache ungefährlich, ihren wehrlosen Kameraden anzugreifen. Gunga Daß hatte sich auf ein Grasbüschel niedergelegt und winkte mir zu, ich solle mich ruhig verhalten, was ich übrigens sowieso getan hätte. Im Augenblick und ehe ich noch klar erkennen konnte, wie es zuging, hatte Gunga Daß eine wilde Krähe gepackt, die auf die Gefesselte herabgestoßen war und von dieser mit den Krallen festgehalten wurde. Im Nu hatte er sie gefesselt genau wie die Gezähmte. Neugier, so schien es, trieb auch den Rest der Schar herbei, und kaum hatten Gunga Daß und ich Zeit gefunden, uns zurückzuziehen, schon hatten sich wieder zwei in den aufwärts gekehrten Krallen der Lockvögel gefangen. So ging die Jagd – wenn ich diesem Treiben einen so edlen Namen geben darf – weiter, bis Gunga Daß sieben Krähen gefangen hatte. Fünf erwürgte er auf der Stelle, zwei hob er auf für den späteren Betrieb des Unternehmens. Diese Art, sich Nahrung zu verschaffen, imponierte mir einigermaßen, und ich beglückwünschte Gunga Daß zu seiner Geschicklichkeit.

»Es hat nicht viel auf sich«, wehrte er ab, »morgen sollen Sie es für mich tun; Sie sind stärker als ich.«

Dies freche Betonen seiner Überlegenheit ärgerte mich nicht wenig, und ich fuhr ihm sofort mit den Worten über den Mund: »So? Glaubst du? Wofür, du alter Schuft, meinst du eigentlich, habe ich dir mein Geld gegeben?«

»Auch recht«, war seine kaltblütige Antwort. »Vielleicht nicht morgen, vielleicht auch nicht in den nächsten Tagen oder in Wochen, aber später ganz bestimmt werden Sie Krähen fangen – und Krähen essen – und Ihrem europäischen Gott danken, daß Sie Krähen zu fangen und Krähen zu essen haben werden!«

Am liebsten hätte ich ihn wegen dieser Rede erdrosselt, aber in meiner Lage schien es mir vernünftiger zu sein, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Eine Stunde später aß ich denn auch richtig eine der Krähen und dankte meinem Gott, genau wie Gunga Daß gesagt hatte, daß ich eine zu essen hatte. Nie, solange ich lebe, werde ich dieses Abendessen vergessen! Die gesamte Einwohnerschaft hockte auf der Plattform aus hartem Sand gegenüber den Höhlen um kleine Feuer aus Binsen und Treibholz geschart. Der Tod, der einst Hand an diese Menschen gelegt, aber sie nicht hinweggerafft hatte, schien sie jetzt vergessen zu haben; der größte Teil dieser Elenden bestand aus alten Männern, gebeugt, abgemagert, zusammengeschrumpft unter der Last der Jahre; die Frauen schienen so alt zu sein wie die Nornen selber. So saßen sie beisammen, sprachen – Gott allein weiß, worüber sie wohl gesprochen haben mögen – sprachen in leisem, gleichmäßigem Ton, in auffallendem Kontrast zu dem überlautem Geschwätz, mit dem die indischen Eingeborenen die Zeit zu verscheußlichen pflegen. Bisweilen wurde ein Mann oder ein Weib plötzlich von derselben Art rasender Wut gepackt, die auch mich am Morgen überfallen hatte. Dann stürzten sich solche Unglückliche mit gellendem Geschrei und lauten Verwünschungen zu dem Sandhügel, wollten sich emporkrallen, rutschten zurück, immer wieder neue vergebliche Anstrengungen machend, um schließlich blutend und nicht mehr imstande, auch nur ein Glied zu rühren, auf die Plattform zurückzusinken. Die übrigen blickten nicht einmal auf, wenn dergleichen geschah, wie Menschen, die die Nutzlosigkeit solcher Versuche nur zu gut kennen und ihres Anblickes längst müde sind. Vier solcher Ausbrüche sah ich an jenem Abend!

Gunga Daß schätzte meine Lage, während wir dinierten, vom rein geschäftsmännischen Standpunkt aus ein; – heute kann ich darüber lachen, wenn ich mir die Situation vergegenwärtige, damals aber schien sie mir fürchterlich. – Er stellte die Bedingungen, unter denen er für mich sorgen wollte, folgendermaßen fest: Für meine neun Rupien und acht Annas sollte ich, den Tagespreis zu drei Annas berechnet, einundfünfzig Tage oder sieben Wochen lang verköstigt werden; das heißt, diese Zeit hindurch wolle er für meinen Lebensunterhalt sorgen. Nach Ablauf dieser Frist hätte ich mich selbst zu erhalten. Für ein weiteres Entgelt – nämlich meine Stiefel – würde er mir gestatten, die Höhle neben der seinigen zu beziehen, außerdem wolle er mir so viel von seinem Vorrat an getrocknetem Gras als Bettzeug überlassen, wie er gerade entbehren könne.

»Also gut, Gunga Daß«, erwiderte ich, »auf die erste Bedingung gehe ich ganz gerne ein, aber da mich nichts hindern kann, dir den Schädel einzuschlagen, so wie du da sitzt, und dir alles wegzunehmen, was du hast (ich dachte dabei an die zwei unschätzbaren Krähen), so weigere ich mich rundweg, dir meine Stiefel zu geben, und werde mir die Höhle nehmen, die mir am besten gefällt.«

Es war ein kühnes Wagnis, und ich war froh, daß es glückte. Gunga Daß schlug sofort einen andern Ton an und stellte alle bösen Absichten auf meine Stiefel in Abrede. – Damals schien es mir ganz in Ordnung, daß ich, ein Zivilingenieur, ein Mann von dreißig Jahren und Engländer von gut bürgerlichem Rang, einen Menschen, der mich unter seine Fittiche genommen hatte – wenn auch gegen Bezahlung –, ohne Skrupel mit Beraubung und Totschlag bedrohte. Die Welt, so schien es mir, lag seit Jahrhunderten hinter mir. Ich war damals so überzeugt, wie ich es jetzt von meiner Existenz bin, daß in dieser verfluchten Ansiedelung nur das Gesetz des Stärkeren Geltung haben konnte, daß die lebenden Toten alle Vorschriften einer Welt, die sie ausgestoßen hatte, mißachten mußten und daß mein Leben nur von meiner Kraft und meiner Wachsamkeit abhing. Die Männer eines ohne Segel hilflos auf dem Ozean treibenden Schiffes sind vielleicht die einzigen Menschen, die meinen damaligen Gemütszustand begreifen können. – >Heute noch< – sagte ich mir – >bin ich bei Kräften und kann es mit sechs dieser Elenden aufnehmen. Es ist meiner Sicherheit wegen unter allen Umständen eine zwingende Notwendigkeit für mich, daß ich mir Gesundheit und Kraft bewahre, bis die Stunde meiner Erlösung kommt, – wenn sie jemals kommt.«

Ich aß und trank also, soviel ich konnte, und gab Gunga Daß zu verstehen, daß ich von jetzt an sein Herr sei und ihn beim geringsten Zeichen von Ungehorsam strenge bestrafen – ihn, mit andern Worten, totschlagen würde. Kurz darauf legte ich mich schlafen.

Das heißt, ich ließ mir von Gunga Daß ein paar Arme voll trockenes Gras geben, warf es in den Schlund der Höhle, die rechts neben der seinigen lag, hinab und folgte dann selbst mit den Füßen voraus. Die Höhle erstreckte sich ungefähr neun Fuß in den Sand hinein, mit einem leichten Gefalle nach abwärts, und war ganz sauber mit Holz verkleidet. Von ihrem Innern aus konnte ich das Wasser des Sutlej sehen, wie es unter dem Licht des zunehmenden Mondes dahinfloß.

Ich wollte versuchen zu ruhen, so gut es eben ging; aber die Schrecken dieser Nacht werde ich nie vergessen! Die Höhle war eng wie ein Sarg und ihre Wände waren klebrig und glatt infolge der Berührung der unzähligen nackten Menschenleiber, die früher hier gelegen hatten. Dazu roch es abscheulich. Schlaf war also, zumal bei meiner Erregung, vollkommen ausgeschlossen. Als die Nacht zunahm, konnte ich die Empfindung nicht loswerden, Legionen unreiner Teufel stiegen aus den Niederungen, erfüllten das Amphitheater und verhöhnten die Unglücklichen in ihren Höhlen.

Ich bin nicht phantastisch veranlagt – sehr wenige Ingenieure sind es –, aber damals war ich wie ein Weib vor Schrecken und Entsetzen fast gelähmt. Erst nach ungefähr einer halben Stunde hatte ich mich soweit gefaßt, daß ich wieder ruhig überlegen konnte, auf welche Weise wohl ein Entkommen möglich wäre. Versuche, die steilen Sandwände zu erklimmen, waren vergeblich, das wußte ich. Möglich, aber auch nur eben möglich war es, daß mich die Flintenkugeln von drüben nicht treffen würden – denn das Mondlicht läßt die Umrisse der Dinge nicht klar erscheinen –, wenn ich mich zum Flußufer wagte. Aber der Krater hatte für mich so viel Schrecknisse, daß ich nichts unversucht lassen wollte. Man stelle sich meine Freude vor, als ich, vorsichtig ans Flußufer kriechend, bemerkte, daß das höllische Boot nicht mehr da war! Wenige Schritte und die Freiheit lag vor mir!

Wenn ich bis zu der nächsten seichten Pfütze ging, die am Fuß des vorspringenden linken Hufeisenschenkels lag, so konnte ich quer hinüberwaten, um die Flanke des Kraters biegen und – der Weg ins Land war offen. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, marschierte ich flott über die Grasbüschel, wo Gunga Daß die Krähen gefangen hatte, und betrat den weichen weißen Sand. Doch schon beim ersten Schritt von den Grasbüscheln weg, sah ich, daß jede Hoffnung auf ein Entrinnen auch hier vergeblich war; denn kaum hatte ich den Fuß niedergesetzt, da fühlte ich ein Nachgeben der Sandschicht, und eine saugende Bewegung machte mein Bein bis zum Knie einsinken. Im Mondlicht schien es mir, als tanze die ganze Sandfläche auf und ab, wie in teuflischem Entzücken über den Zusammenbruch meiner Hoffnung. Mit Aufgebot aller meiner Kräfte arbeitete ich mich heraus und zu den Grasbüscheln zurück. Dort fiel ich, in Schweiß gebadet, vor Anstrengung und Schrecken auf mein Gesicht.

Die letzte Möglichkeit, aus dem Hufeisen zu entkommen, war mir durch den Schwimmsand unmöglich gemacht.

Wie lange ich so gelegen haben mag, weiß ich nicht. Geweckt wurde ich durch Gunga Daß‘ glucksendes boshaftes Gelächter: »Ich würde Ihnen raten, o Sie Schirmherr der Unterdrückten (der Schuft verhöhnte mich auf englisch), in Ihre Wohnung zurückzukehren. Es könnte Ihrer Gesundheit schaden, wenn Sie hier lange liegen blieben. Überdies würde man auf Sie schießen, wenn das Boot zurückkehrt.« – Er stand da, über mich gebeugt, im Dämmerlicht des Morgengrauens und gluckste und gurgelte in sich hinein vor Freude. Meine erste Regung war, den Kerl am Genick zu packen und in den Sand zu schleudern, aber ich beherrschte mich, stand auf und folgte ihm schweigend auf die Plattform vor den Höhlen.

Plötzlich fragte ich ihn – es waren eigentlich eher lautwerdende Gedanken als eine Frage –: »Gunga Daß, wozu hat man das Boot nötig, wenn es doch sowieso keinen Weg über das Wasser gibt?« — Ich erinnere mich, daß ich trotz meiner Niedergeschlagenheit immerwährend daran denken mußte, welch überflüssige Maßnahme die Bewachung des Ufers sei.

Gunga Daß lachte wieder und erwiderte: »Sie haben das Boot nur bei Tage hier. Und zwar aus dem Grunde, weil es einen Weg gibt. Aber ich hoffe trotzdem, daß wir Ihre Gesellschaft hier noch recht lange genießen werden. Wenn Sie erst einige Jahre hier zugebracht und die entsprechende Menge Krähen verzehrt haben werden, wird Ihnen der Aufenthalt hier ein Vergnügen sein.«

Stumpf und gebrochen stolperte ich zu meiner Höhle und sank in Schlaf. Eine Stunde mochte vergangen sein, da weckte mich ein durchdringender Schrei — der schrille ohrenzerreißende Schrei eines zu Tode verwundeten Pferdes. Wer so etwas nur einmal im Leben gehört hat, wird es nie mehr vergessen. Mit einiger Anstrengung kroch ich aus der Höhle ins Freie und sah Pornic, meinen alten armen Pornic, tot auf dem sandigen Boden liegen. Auf welche Weise sie ihn getötet haben, kann ich mir nicht erklären. Gunga Daß meinte, Pferdefleisch sei besser als Krähen, und möglichst viel davon hier zu haben, hieße die soziale Frage am besten lösen. »Wir bilden hier eine Republik, Mister Jukes«, sagte er, »und Sie haben gewissermaßen ein Anrecht auf einen beträchtlichen Teil des Tieres. Wenn Sie es wünschen, werden wir Ihnen außerdem ein Dankesvotum ausstellen. Wollen Sie, daß ich diesbezüglich einen Antrag stelle?«

Ja, in der Tat, wir waren eine Republik! Eine Republik von wilden Tieren, gefesselt an den Boden eines Abgrundes, um bis zum Tode zu kämpfen, zu schlafen, zu essen. Ich erhob mit keinem Wort Protest, setzte midi nieder, starrte auf das gräßliche Bild nieder, das sich mir bot. Schneller, als ich es hier niederschreibe, war Pornics Leib in Stücke zerrissen. Männer und Weiber schleppten die Fleischfetzen auf die Plattform und begannen ihr Morgenmahl zu bereiten. Gunga Daß kochte die für mich bestimmte Portion. Wieder befiel mich der fast unwiderstehliche Drang, mich auf den Sandwall zu stürzen; mit aller Macht mußte ich dagegen ankämpfen. Gunga Daß machte immer boshaftere Spaße, bis ich ihm drohte, ihn auf der Stelle zu erdrosseln, wenn er nicht sofort aufhöre. Das brachte ihn denn auch zum Schweigen, aber dieses Schweigen wurde mir allmählich so unerträglich, daß ich ihm befahl zu reden.

»Sie werden hier leben, bis Sie sterben, wie – der andere Feringhi«, sagte er kühl und beobachtete mich dabei über den Knorpelrest, an dem er nagte, hinweg mit einem lauernden Blick.

»Welchen andern Sahib meinst du, du Schwein? Rede! Und untersteh dich nicht, mich anzulügen.«

»Da drüben liegt er«, antwortete Gunga Daß und deutete auf den Schlund einer Höhle, etwa die vierte links neben der meinigen. »Sie können ja selbst nachsehen. Er ist in dem Loch gestorben. So wie Sie sterben werden, wie ich, wie alle diese Männer, die Weiber und das Kind.«

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, erzähl mir alles, was du von ihm weißt! Wer war er? Wann ist er hierhergekommen und wann ist er gestorben?« schrie ich.

Meine Bitte war ein Fehler; Gunga Daß grinste nur und erwiderte: »Ich will nicht – erst müssen Sie mir etwas dafür geben!«

Das brachte mich zur Besinnung, wo ich war; ich versetzte ihm einen Hieb zwischen die Augen, der ihn fast betäubte. Er taumelte von der Plattform herunter und versuchte winselnd und schmeichelnd meine Füße zu umfassen, dann führte er mich zu der von ihm bezeichneten Höhle.

»Ich weiß nicht das geringste über den Gentleman. Euer Gott ist mein Zeuge, daß ich nichts weiß. Er war ebenso bedacht, zu entkommen, wie Sie, und wurde dann vom Boot aus drüben erschossen. Wir haben alles getan, ihn von Fluchtversuchen abzuhalten. Hier hat ihn die Kugel getroffen.« Gunga Daß legte die Hand auf seinen eingefallenen Bauch; verbeugte sich.

»Nun und weiter? Fahr fort!«

»Nun, und dann – und dann, Euer Gnaden, haben wir ihn in sein Haus getragen, ihm Wasser gegeben und nasse Lappen auf seine Wunde gelegt, aber er hat sich ausgestreckt und hat den Geist aufgegeben.«

»Wie lang hat das gedauert? Nun? Wie lang, will ich wissen!«

»Etwa eine halbe Stunde, nachdem er verwundet worden war. Ich – ich rufe den Gott Vishnu als Zeugen an«, beteuerte der elende Mensch, »daß ich alles für ihn getan habe! Alles, was möglich war, hab ich für ihn getan.«

Und Gunga Daß warf sich vor mir nieder und umfaßte meine Füße. Aber ich hatte meine Zweifel, was seine Güte betraf, und versetzte ihm einen Fußtritt – trotz seiner Beteuerungen.

»Ich glaube eher, du hast ihn beraubt und ihm alles genommen, was er besaß. Aber ich werde das in wenigen Minuten herausgefunden haben. Wie lange war der Sahib hier?«

»Ungefähr anderthalb Jahre. Ich glaube, er ist nach und nach wahnsinnig geworden. Aber hören Sie meinen Schwur, o Beschirmer der Unterdrückten! Niemals habe ich einen Gegenstand angerührt, der ihm gehört hat! Wollen Euer Gnaden doch anhören, wie ich es beschwöre! Was gedenken Euer Gnaden zu tun?«

Ich hatte Gunga Daß am Genick gepackt und zu der unbewohnten Höhle auf die Plattform gezerrt. Ich malte mir aus, wie unaussprechlich mein Unglücksgefährte die achtzehn Monate hindurch gelitten haben mußte unter den Schrecknissen hier, um schließlich wie eine Ratte in der scheußlichen Höhle mit einer Schußwunde im Leib zu sterben. Gunga Daß fürchtete wahrscheinlich, ich wolle ihn töten, und heulte ganz erbärmlich. Die übrige Bewohnerschaft, vollgefressen mit Pferdefleisch, betrachtete uns, ohne ein Glied zu rühren.

»Geh hinein, Gunga Daß«, befahl ich, »bring ihn heraus!«

Ich fühlte, wie mich das Grausen packte, so daß ich fast ohnmächtig wurde. Gunga Daß rollte beinahe die Plattform hinab vor Schrecken und heulte laut auf:

»Ich bin Brahmane, Sahib! — ein Brahmane, von hoher Kaste! Bei deiner Seele, Sahib, bei der Seele deines Vaters, Sahib, erlasse mir das!«

»Brahmane oder nicht Brahmane, bei meiner Seele und der Seele meines Vaters – hinein gehst du!« und ich packte ihn bei der Schulter, zwängte seinen Kopf in den Schlund der Höhle und gab dem Rest des Kerls einen nachhelfenden Fußtritt; dann setzte ich mich hin und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.

Nach einigen Minuten vernahm ich ein Rasseln und Schlürfen und hörte, wie Gunga Daß in schluchzendem Gemurmel und mit keuchendem Atem mit sich selbst redete. Dann ein leises Aufschlagen und ich nahm die Hand von den Augen.

Der trockene Sand hatte den Leichnam in eine gelbbraune Mumie verwandelt. Ich sagte Gunga Daß, er solle sich entfernen, und begann den Toten zu untersuchen.

Der Körper war mit einem olivgrünen Jagdanzug bekleidet, der stark abgetragen und beschmutzt, an den Schultern mit Lederaufschlägen versehen war. Der Tote schien ein Mann von vierzig bis fünfzig Jahren gewesen zu sein, war über Mittelgröße und hatte helles sandfarbiges Haar, einen langen Schnurrbart und einen rauhen ungepflegten Backenbart. Der linke Eckzahn des Oberkiefers fehlte, ebenso ein Teil des rechten Ohrläppchens. Am zweiten Finger der linken Hand stak ein Ring mit einem schildartig geformten, in Gold gefaßten Blutstein und einem Monogramm darin, das entweder B. K. oder B. L. sein konnte. Der dritte Finger der rechten Hand trug einen sehr abgenutzten silbernen Ring, der eine zusammengerollte Kobra darstellte. Gunga Daß hatte, bevor er gegangen war, eine Hand voll kleiner Gegenstände, die er offenbar in der Höhle zusammengerafft, zu meinen Füßen niedergelegt. Ich breitete mein Taschentuch über das Gesicht des Toten und machte mich daran, die Sachen zu prüfen. Ich gebe hier eine Liste von ihnen; vielleicht dient sie dazu, daß jemand dadurch instand gesetzt wird, die Person des Unglücklichen festzustellen:

1. Ein Pfeifenkopf aus Bruyereholz, am Rande ausgezackt, sehr verbraucht und beinahe schwarz geraucht, an der Schraube mit Spagat festgebunden.

2. Zwei Patentschlüssel mit abgebrochenen Barten.

3. Federmesser mit Schildkrotschale, Namenplatte aus Silber oder Nickel, Mongramm B. K.

4. Briefumschlag, Poststempel nicht mehr zu entziffern, Viktoriabriefmarke, adressiert an Miss Mon –(Rest unleserlich) — »ham« – »nt.«

5. Notizbuch aus imitiertem Krokodilleder mit Bleistift. Die ersten fünf Seiten leer, zwei und eine halbe unleserlich, fünfzehn weitere ausgefüllt mit privaten Aufzeichnungen, die sich hauptsächlich auf drei Personen bezogen: eine Mrs. Singleton, verschiedene Male abgekürzt durch »Lot Single«, Mrs. S. May und einem Mr. Garmison, der bisweilen auch »Jerr« oder »Jack« genannt wird.

6. Griff eines schmalen Jagdmessers, Klinge kurz abgebrochen, Hirschhorn, oben glatt geschliffen, mit Kette und Ring am Ende, Fragment einer Baumwollschnur angeknüpft.

Natürlich nahm ich dieses Verzeichnis nicht auf der Stelle so genau auf, wie ich es hier niederschrieb. Das Notizbuch fesselte zuerst meine Aufmerksamkeit; ich steckte es in die Tasche mit dem Vorsatz, es später durchzusehen. Die übrigen Gegenstände trug ich sicherheitshalber in meine Höhle, und dort erst fertigte ich als ordnungsliebender Mann das Verzeichnis an.

Ich kehrte sodann zu der Leiche zurück und befahl Gunga Daß, mir zu helfen, sie an die Flußseite zu tragen. Während wir damit beschäftigt waren, fiel die abgeschossene Hülse einer braunen Patrone aus einer Tasche des Toten vor meine Füße. Gunga Daß hatte es nicht bemerkt. Ich sagte mir sofort, daß ein Mann, der auf die Jagd geht, abgeschossene Patronenhülsen, zumal braune, die man nicht zweimal laden kann, nicht mit sich herumtragen wird. Ich schloß daraus, daß die Patrone innerhalb des Kraters abgeschossen worden war. Folglich mußte noch irgendwo die Flinte sein! Ich wollte schon Gunga Daß dieserhalb befragen, aber ich überlegte es mir noch rechtzeitig, denn ich nahm an, er würde mich bestimmt belügen. Wir legten die Leiche nahe den Grasbüscheln auf den Treibsand nieder. Meine Absicht war, sie weiter hinauszuschieben, damit sie der Schwimmsand verschlingen könne — die einzige hier mögliche Art eines Begräbnisses. Ich befahl Gunga Daß, sich zu entfernen.

Dann schob ich die Leiche behutsam auf den Schwimmsand. Dabei – sie lag mit dem Gesicht nach unten – zerriß der braune morsche Jagdrock und ein schreckliches Loch im Rücken des Toten wurde sichtbar. — Wie ich bereits erwähnt habe, hatte der trockene Höhlensand den Körper in eine Mumie verwandelt. Ein einziger Blick sagte mir, daß die weitklaffende Wunde von einem Flintenschuß herrühren mußte, aber, darüber konnte kein Zweifel herrschen: der Schuß war aus nächster Nähe abgefeuert worden! So zwar, daß der Gewehrlauf beinahe den Rücken des Unglücklichen berührt hatte. Der Jagdrock hingegen war unbeschädigt; offenbar hatte man ihn erst nachträglich der Leiche übergezogen. Der Tod mußte unmittelbar nach dem Schuß eingetreten sein. Die näheren Umstände waren mir sofort klar: irgend jemand von den Kraterbewohnern, vermutlich Gunga Daß, mußte den Unglücklichen mit dessen eigener Flinte – eben jener Flinte, zu der die braunen Patronen paßten – erschossen haben. Der Fremde hatte gar nicht versucht – angesichts der von dem verankerten Boot drohenden Gefahr — zu entkommen.

Ich schob den Leichnam weiter hinaus und sah, wie ihn der Treibsand in wenigen Sekunden verschluckte. Ich schauderte bei diesem gräßlichen Anblick. Betäubt und halb von Sinnen versuchte ich, das Notizbuch durchzulesen. Dabei schob sich ein vergilbter und beschmutzter Papierstreifen aus dem Einbandrücken, wo er offenbar versteckt gewesen, und fiel heraus, als ich umblättern wollte. Folgendes stand darauf: »Vier geradeaus vom Krähenplatz; drei links; vierzehn geradeaus; zwei links; drei rückwärts; neun geradeaus; zwei rechts; drei rückwärts; zwei links; vierzehn geradeaus; zwei links, sieben geradeaus, einer links, neun rückwärts; zwei rechts; sechs rückwärts; vier rechts; sieben rückwärts.« Das Papier war an den Ecken beschädigt und angebrannt; was die Schrift zu bedeuten hatte, konnte ich nicht verstehen. Ich setzte mich auf einen Sandhaufen und drehte den Papierstreifen hin und her, da bemerkte ich plötzlich, daß Gunga Daß hinter mir stand, mit glühenden Augen und die Hände ausgestreckt.

»Haben Sie es gefunden?« keuchte er. »Wollen Sie mich nicht einen Blick hineinwerfen lassen? Ich schwöre, daß ich es Ihnen zurückgebe.«

»Was soll ich gefunden haben? Was willst du mir zurückgeben?« fragte ich.

»Das, was Sie da in Ihren Händen halten! Es wird uns beiden helfen.« – Gunga Daß streckte zitternd vor Aufregung seine langen vogelklauenartigen Krallen aus.

»Ich habe es nie finden können«, fuhr er fort. »Er muß es an seinem Leib versteckt getragen haben. Deshalb hab ich ihn erschossen. Aber auch dann hab ich es nicht finden können.«

Offenbar hatte Gunga Daß ganz vergessen, was er mir von einem Schuß aus dem Boot vorgelogen hatte. Ich hörte ihn ruhig an: die sittliche Empörung kommt einem gar leicht abhanden, wenn man mit lebenden Toten verkehrt!

»Was redest du da für dummes Zeug zusammen? Was willst du, das ich dir geben soll?«

»Das Stück Papier aus dem Notizbuch! Es wird uns beiden helfen. O du Narr du! Du Narr! Siehst du denn nicht, was es wert ist?! Entkommen können wir von hier!«

Seine Stimme erhob sich bis zu wildem Gekreisch und er tanzte in höchster Aufregung vor mir herum. Ich muß gestehen, auch ich war tief erschüttert bei dem Gedanken an eine Möglichkeit zu entfliehen.

»Willst du vielleicht behaupten, daß dieser Fetzen Papier uns retten soll?« fragte ich. »Was hat er zu bedeuten?«

»Lies ihn laut vor«, schrie Gunga Daß. »Lies ihn vor! Ich bitte und beschwöre Sie, lesen Sie ihn laut vor!«

Ich tat es. Gunga Daß lauschte verzückt und zog mit den Fingern unregelmäßige Linien in den Sand.

»Sehen Sie! Hier! Die Länge des Flintenlaufs ohne Schaft ist das Längenmaß! Ich besitze den Flintenlauf! Vier Flintenläufe geradeaus vom Fleck, wo ich die Krähen zu fangen pflege – gradaus gemessen. Verstehen Sie jetzt? Dann drei nach links! Ich erinnere mich genau, wie der Mann sich abgearbeitet hat Nacht für Nacht. Dann: neun geradaus und so weiter. Geradaus: das heißt, immer direkt vorwärts über den Schwimmsand, nach Norden. Das hat er mir erklärt, bevor ich ihn erschoß.«

»Aber wenn du alles gewußt hast, weshalb bist du nicht längst entflohen?«

»Ich hab es eben nicht gewußt! Er sagte mir vor achtzehn Monaten, daß er es herausfinden wollte, und er hat Nacht für Nacht daran gearbeitet, sobald das Boot fort war. Er sagte, er würde bestimmt über den Schwimmsand hinweg entkommen können. Dann versprach er mir, wir wollten zusammen entfliehen, aber ich fürchtete, er werde mich im Stiche lassen, und deshalb schoß ich ihn tot, als er seinen Plan ausgearbeitet hatte. Außerdem ist es nicht ratsam, daß ein Mensch, der einmal hier war, entkommt – mich ausgenommen, denn ich bin ein Brahmane.«

Die Hoffnung auf Entrinnen hatte in Gunga Daß die Erinnerung an seine Kaste wieder wachgerufen; er erhob sich, ging auf und ab und gestikulierte heftig mit den Händen. Allmählich brachte ich ihn soweit, daß er wenigstens in zusammenhängenden Sätzen sprach. Er schilderte mir, wie dieser Engländer Nacht für Nacht und Zoll für Zoll festen Grund unter dem Schwimmsand ausgeforscht habe; es sei nunmehr eine Leichtigkeit, innerhalb zwölf Metern Entfernung vom Flußufer um den linken Hufeisenschenkel herumzuwaten, ohne Gefahr zu laufen, im Sand zu versinken. Offenbar aber hatte sich der Mann doch nicht ganz klar ausgesprochen gehabt, bevor Gunga Daß ihn niederschoß.

Außer mir vor Entzücken angesichts der Möglichkeit, entkommen zu können, schüttelte ich Gunga Daß wieder und wieder die Hände, und wir verabredeten, noch in derselben Nacht einen Fluchtversuch zu unternehmen. Ich konnte es kaum erwarten, bis es Abend wurde.

Es mochte meiner Schätzung nach etwa zehn Uhr geworden sein und der Mond tauchte gerade über dem Rande des Kraters auf, da stieg Gunga Daß in seine Höhle hinunter, um den Flintenlauf zu holen, der uns als Meßinstrument dienen sollte. Die übrigen elenden Bewohner des Dorfes hatten sich längst in ihre jämmerlichen Behausungen zurückgezogen; das Wachtschiff war schon vor einigen Stunden stromabwärts fortgeschwommen, und wir standen völlig unbeobachtet auf dem Krähenplatz. Gunga Daß nahm den Flintenlauf zur Hand und ließ dabei den Papierstreifen fallen, der unser Führer sein sollte. Schnell bückte ich mich, um ihn wieder aufzuheben, da sah ich an dem Schatten, der auf den Sand fiel, daß der Halunke im Begriffe war, mir mit dem Flintenlauf einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen. Umdrehen konnte ich mich nicht mehr —. Ich muß wahrscheinlich einen schweren Hieb ins Genick erhalten haben, denn ich fiel bewußtlos am Rande des Schwimmsandes nieder.

Als ich wieder zu Bewußtsein kam, stand der Mond bereits weit im Westen. Ich fühlte einen unerträglichen Schmerz im Hinterkopf. Gunga Daß war verschwunden und mein Mund voll Blut. Eine Weile lag ich so und betete, der Tod möge kommen und mich von meinen Leiden erlösen. Dann packte mich noch einmal jene besinnungslose Raserei, die ich schon einmal geschildert habe, und ich raffte mich auf und taumelte zurück zu den Kraterwänden. – Da schien es mir, als flüstere eine Stimme aus der Luft mir zu: »Sahib T Sahib! Sahib!« genau in dem Tonfall, in dem mich des Morgens mein Diener im Lager zu rufen pflegte. Zuerst glaubte ich, ich deliriere, dann, als eine Handvoll Sand zu meinen Füßen niederfiel, blickte ich in die Höhe und sah einen Kopf in das Amphitheater herabschauen – den Kopf Dunnoos, des Burschen, der für meine Hunde zu sorgen hatte. Als er bemerkte, daß ich ihn erblickt hatte, hielt er die Hand empor und zeigte mir einen Strick. Hin- und hertaumelnd, gab ich ihm ein Zeichen, er solle ihn herunterlassen. Ein paar lederne Punkah-Stricke waren zusammengeknotet und trugen am Ende eine Schlinge. Ich zog sie über Kopf und Arme, hörte Dunnoo etwas brummen, wurde mir bewußt, daß ich die steile Sandwand emporgezogen wurde, das Gesicht nach unten, und fand mich gleich darauf, halb erwürgt und beinahe ohnmächtig, oben auf dem Gipfel der Sandhügel, die den Krater umschlossen. Dunnoo, das Gesicht aschgrau im Mondlicht, bestürmte mich, keinen Augenblick verstreichen zu lassen und unverzüglich zurück zu den Zelten zu eilen.

Allem Anschein nach hatte er Pornics Hufspuren vierzehn Meilen weit über den Sand, der sich bis zu dem Krater erstreckte, verfolgt. Dann war er zurückgegangen, um meine Diener von dem Geschehnis in Kenntnis zu setzen. Aber sie hatten sich aufs entschiedenste geweigert, mit jemand – gleichgültig, ob es ein Weißer sei oder ein Schwarzer –, der in dieses grauenhafte Dorf der Toten gefallen war, jemals wieder in Berührung zu kommen. So nahm denn Dunnoo eins meiner Ponys und ein paar Punkah-Stricke, kehrte allein nach dem Krater zurück und zog mich heraus, so, wie ich es beschrieben habe.

Absatz fehlt in dieser Ausgabe.

Klein-Tobrah

»Der Kopf des kleinen Gefangenen reichte nicht einmal bis zur Anklagebank«, berichteten die Zeitungen; viel mehr stand nicht darin, denn wen hätte der Fall eingehend interessiert? Man kümmerte sich um Leben und Tod Klein-Tobrahs so wenig, wie um das Schicksal eines Strohhalms. Die Herren im Roten Hause saßen den ganzen, langen, heißen Nachmittag hindurch über ihn zu Gericht, und wenn sie eine Frage an ihn richteten, verbeugte er sich nur bis zur Erde und wimmerte. Das Urteil lautete auf Freispruch aus Mangel an Beweisen, und der Richter bestätigte es. Die Leiche der Schwester Klein-Tobrahs war allerdings auf dem Grunde des Brunnens gefunden worden, und Klein-Tobrah war zu jener Zeit das einzige menschliche Geschöpf auf eine halbe Meile im Umkreis gewesen, das als Täter in Betracht kommen konnte, aber immerhin schien es nicht unmöglich, daß das Mädchen durch Zufall verunglückt war. Deshalb wurde Klein-Tobrah freigesprochen, und man sagte ihm, daß er nunmehr gehen könne, wohin er wolle. Das klang sehr großmütig, war es aber nicht, denn wohin hätte Klein-Tobrah gehen sollen? Er hatte nichts zu essen und nichts anzuziehen.

Er trollte sich hinaus auf den umzäunten Hofplatz, setzte sich auf den Brunnenrand und dachte darüber nach, ob ein Sturz in das schwarze Wasser da unten, nebst darauffolgendem unfreiwilligem Tauchen, eine gewaltsame Reise über ein anderes, noch schwärzeres und wesentlich größeres Gewässer nach sich ziehen würde, da kam ein Stallknecht des Weges und legte einen leeren Futterbeutel auf die Steine. Klein-Tobrah war sehr hungrig und klaubte daher die wenigen feuchten Körner heraus, die das Pferd übriggelassen hatte.

»Oh, du Dieb du! Und eben erst den Schrecken des Gerichtes entronnen!« sagte der Stallknecht. »Komm her, Bursche!« Er nahm Klein-Tobrah am Ohr und führte ihn zu einem dicken, großen Engländer, der sich sogleich die Geschichte des Diebstahls ausführlich erzählen ließ.

»Hah!« rief der Engländer sodann dreimal hintereinander. Möglich auch, daß er einen stärkeren Ausdruck gebrauchte, »Steck ihn ins Netz und nimm ihn mit nach Hause.« So wurde denn Klein-Tobrah in einem Netz in einen Karren geworfen und in das Haus des Engländers gefahren; er zweifelte keinen Augenblick, daß er dort wie ein Schwein abgestochen werden sollte. Aber der Engländer sagte nur wie vorhin dreimal »Hah!« und fügte gleich darauf hinzu: »Nasses Getreide! Pfui Teufel. Man füttere den kleinen Bettler! Wir wollen einen Reitburschen aus ihm machen. Nasses Getreide! Sowas! Es schreit zum Himmel.«

»Erstatte Bericht über dich!« befahl der Oberstallknecht würdevoll, nachdem Klein-Tobrah die ihm vorgesetzte Mahlzeit verschlungen hatte und während die Dienerschaft in ihrem Quartier hinter dem Hause der Ruhe pflegte. »Du scheinst nicht der Zunft der Bereiter und Pferdepfleger anzugehören, trotzdem dein Appetit dafür spricht. Was hast du mit dem Gericht zu tun gehabt und warum? Heraus mit der Sprache, kleiner Teufelssprößling!«

»Ich hab nicht genug zu essen gehabt«, sagte Klein-Tobrah ruhig. »Hier aber ist es prachtvoll.«

»Mach keine Umschweife!« mahnte der Oberstallknecht, »sonst mußt du den Stall des großen Fuchshengstes ausputzen, und das Luder beißt wie ein Kamel.«

»Wir sind Telis«, [Ölpresser] berichtete Klein-Tobrah und scharrte dabei mit den Zehen im Sand. »Wir waren alle Telis, mein Vater, meine Mutter, mein vier Jahre älterer Bruder und die Schwester.«

»Dieselbe, die man tot im Brunnen gefunden hat?« fragte einer der Leute, der von der Verhandlung gehört hatte.

»Dieselbe, ja!« bestätigte Kleän-Tobrah ernst. »Dieselbe, die tot im Brunnen gefunden wurde. Einmal – ich weiß nicht mehr, wann – ist eine Krankheit in unser Dorf gekommen, wo die Ölpresse gestanden hat. Die Schwester hat es zuerst befallen, und als sie aufstand, hatte sie das Augenlicht verloren. Denn es war mata – die Blatternkrankheit – gewesen. Dann sind mein Vater und die Mutter dran gestorben. Nur wir sind übriggeblieben: mein Bruder, der damals zwölf Jahre alt war -, ich – acht Jahre – und meine Schwester, die nicht mehr hat sehen können, und der Ochse und die Ölpresse. Nach und nach haben wir es fertiggebracht, wieder Öl zu pressen wie früher. Aber Surjun Daß, der Kornhändler, hat uns beim Geschäft betrogen und dann war der Ochs immer so widerspenstig. Wir haben ihm Ringelblumen für die Götter auf den Nacken gelegt und auch auf den großen Mahlbalken unterm Dach, aber wir haben trotzdem nichts verdient. Surjun Daß war ein harter Mann.«

»Bapri-bap!« murrten die Frauen der Pferdeknechte, »ein Kind so zu betrügen! Aber wir kennen sie ja, diese Bunnialeute!«

»Die Presse war schon alt«, fuhr der Kleine fort, »und wir hatten nicht viel Kraft, mein Bruder und ich. Und wir konnten auch nie den Balken richtig im Bügel festmachen.«

»Das glaub ich gern«, fiel die aufgedonnerte Gattin des Oberstallknechts redselig ein und trat in den Kreis. »Das ist eine Arbeit für kräftige Männer. Als ich noch nicht verheiratet war und im Haus meines Vaters –«

»Still, Weib!« befahl der Oberstallknecht. »Fahr fort, Bursche!«

»No, weiter nichts!« sagte Klein-Tobrah. »Nur eines Tages – ich weiß nicht mehr, wann – da hat der große Balken das Dach heruntergerissen. Mit dem Dach ist ein großer Teil der Hauswand eingefallen und dem Ochsen auf den Rücken. Es hat ihm das Kreuz abgeschlagen. Wir hatten dann weder ein Haus mehr noch die Presse und auch den Ochsen nicht mehr – mein Bruder und ich und die Schwester, die blind war. Wir sind weinend fortgezogen, Hand in Hand, quer über die Felder und hatten nur sieben Annas und sechs Pies Geld. Dann sind wir in ein Land gekommen, da war Hungersnot. Ich weiß nicht mehr, wie das Land geheißen hat. Eines Nachts, als wir schliefen, hat mein Bruder die fünf Annas, die wir noch hatten, genommen und ist davon. Ich weiß nicht, wo hin er gelaufen ist. Der Fluch meines Vaters komme über ihn. Ich und meine Schwester sind in die umliegenden Dörfer betteln gegangen, aber niemand hat uns etwas gegeben. Immer hat’s geheißen: ›Geht zu den Engländern, die werden euch etwas geben.‹ Ich hab nicht gewußt, was Engländer sind; ich hab nur einmal sagen hören, sie seien weiß und lebten in Zelten. Wir sind dann weitergezogen, so ins Ungewisse hinein, aber meine Schwester und ich hatten nichts mehr zu essen. Einmal, in einer heißen Nacht, da sind wir an einen Brunnen gekommen, und sie hat geweint und nach Brot geschrien. Da hab ich ihr gesagt, sie solle sich an den Rand setzen, und dann hab ich sie hinuntergestoßen. Sie hat ja nicht sehen können. Es ist besser, so zu sterben, als zu verhungern.«

»Ai, Ai«, jammerten die Weiber im Chor; »er hat sie hinuntergestoßen! Es ist besser zu sterben, als zu verhungern!«

»Ich hab mich auch hinunterstürzen wollen, aber sie war noch nicht tot und hat vom Grund des Brunnens nach mir geschrien und da hab ich mich gefürchtet und bin davongelaufen. Und dann ist einer aus den Stoppelfeldern herausgekommen und hat gesagt, ich hätte sie getötet und den Brunnen verunreinigt, und sie haben mich vor einen Engländer gebracht – er war weiß und furchtbar – und dann hierher. Aber gesehen hat niemand, daß ich es getan habe, und es ist doch besser zu sterben, als zu verhungern. Und dann war sie ja ein Kind und hat nicht sehen können.«

»War nur ein Kind und hat nicht sehen können«, wiederholte die Frau des Oberstallknechtes. »Aber was bist du denn? Bist schwach wie ein Huhn und klein wie ein eintagaltes Füllen! Was bist denn du?«

»Ich? Ich hab einen leeren Magen gehabt, aber jetzt, jetzt bin ich – satt«, sagte Klein-Tobrah und streckte sich im Sand aus. »Schlafen möcht ich jetzt.«

Die Frau breitete eine Decke über Klein-Tobrah, und er schlief den Schlaf des Gerechten.

Der Mann, der König sein wollte

»Verkehre mit einem Fürsten wie mit einem Bruder und mit einem Bettler als Kamerad, vorausgesetzt, daß er es verdient.«

Eine schöne Lebensregel in der Tat, aber nicht leicht zu befolgen! Der Kamerad eines Bettlers war ich des öftern, aber die Umstände erlaubten beiden Teilen nicht, herauszufinden, auf wessen Seite die Würdigkeit lag. Der Bruder eines Fürsten zu werden steht mir noch bevor, obwohl ich einmal dicht daran war, in solche Verwandtschaft zu geraten, und nicht nur das: sondern auch Premierminister eines zu gründenden Königreichs zu werden mit der Armee unter mir, dem Staatssäckel, der Justiz und der gesamten Außenpolitik. Heute freilich habe ich allen Grund, anzunehmen, daß es Essig damit ist, denn der König ist bereits tot, und wenn ich Lust verspüren sollte, mir eine Krone zu ergattern, wird mir wohl nichts übrigbleiben, als mich selbst auf die Beine zu machen.

Begonnen hat die ganze Geschichte in einem Eisenbahnzug auf der Strecke von Ajmir nach Mhow. Ein spürbarer Mangel in meinen Finanzen zwang mich, nicht etwa zweiter Klasse, die immer noch die Hälfte der ersten kostet, zu reisen – Gott bewahre: nein, sondern direkt im Schindluder-Kupee, was eine scheußliche Angelegenheit ist. In diesen »Letzte-Klaß-Wägen« gibt es keine Kissen, und die Passagiere sind selbst so etwas wie Schindluder, nämlich Eurasier oder Eingeborene, was bei einer langen Fahrt sehr lästig werden kann, oder sie sind Vagabunden. Da letztere meistens betrunken sind, ist die Sache in diesem Fall bisweilen erheiternd. Letzte-Klaß-Passagiere kaufen grundsätzlich nicht in den Erfrischungsräumen; sie ziehen es vor, Nahrungsmittel in Bündeln und Töpfen mit sich herumzuschleppen, hie und da bei eingeborenen Zuckerbäckerständen einige Süßigkeiten zu erwerben und Wasser aus den Stationsbrunnen zu trinken. Kein Wunder daher, daß man dergleichen »Schindluder-Reisende« bisweilen als Leichen aus den Kupees herausholt, zumal wenn heißes Wetter herrscht; aber auch bei normaler Temperatur bieten sie einen seltsamen Anblick.

Zufälligerweise blieb der Letzte-Klaß-Wagen, in dem ich saß, leer bis Nasirabad, wo ein dicker Gentleman mit schwarzen Augenbrauen und aufgekrempelten Hemdärmeln einstieg. Der Sitte gemäß, die unter solchen Eisenbahnpassagieren eingebürgert ist, blieb er den ganzen Tag hindurch in diesem Aufzug sitzen. Er war ein Landstreicher – ein Vagabund – wie ich, hatte aber eine ausgesprochene Vorliebe für Whisky. Er erzählte eine Menge Geschichten von Erlebnissen, die er teils mit angesehen, teils selbst gehabt hatte, und wußte von Abenteuern zu berichten, bei denen er, lediglich der Nahrung für einige Tage wegen, sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.

»Wenn’s noch mehrer solche gäb, wie Sie und ich, die net wissen, wie die Raben, wo’s Fressen hernehmen für morgen, – net siebzig Millionen Refenüh könnt‘ das Land abwerfen, statt siebenhundert, wie jetzt«, sagte er; und ich stimmte ihm zu, nachdem ich einen Blick auf sein Kinn und seinen Mund geworfen hatte.

Wir schwätzten über Politik – über die Politik der Vagabunden nämlich, die gewohnt sind, offene Wunden zu sehen und nicht das hübsch glatte Pflaster darüber, schwätzten von der Post und ihren Einrichtungen, denn mein Freund gedachte, ein Telegramm von der nächsten Station nach Ajmir zurückzusenden, dem Umschlagplatz zwischen Bombay und Mhow, wenn man westwärts reist, hatte aber kein Geld, von acht Annas abgesehen. Ich selbst besaß ebenfalls keines, dank dem erwähnten Loch in meinem Budget, und konnte ihm daher nicht aushelfen.

»Bliebe nichts übrig, als einen Stationsvorstand mit dem Tod zu bedrohen, bis er ein Telegramm auf Kredit abschickt«, sagte mein Freund, »aber das könnte Scherereien nach sich ziehen für Sie und für mich, und ich habe gerade jetzt alle Hände voll zu tun. Sagen Sie mal, fahren Sie in den nächsten Tagen wieder zurück?«

»In zehn Tagen«, erwiderte ich.

»No und acht lassen sich nicht draus machen?« forschte er »Wann i bloß net so a Masse dringende Gschäft vorhätt!«

»Ich könnte Ihr Telegramm innerhalb dieser zehn Tage abschicken«, machte ich mich erbötig.

»I trau mi net recht mit einer solchen Depeschen«, meinte er. »Er fährt am 23sten von Delhi nach Bombay, das ist die Gschicht! Das heißt soviel wie: er kommt durch Ajmir durch in der Nacht vom 23sten.«

»Ich gehe nämlich in die Indische Wüste« erklärte ich.

»Ausgezeichnet«, rief mein Freund, »da müssen Sie in Marwar umsteigen; anders geht’s net – und ›er‹ kommt in der Früh durch am 24sten mit dem Bombayzug. Können Sie um diese Zeit auf ihn in Marwar warten? Es wird Ihnen nix ausmachen, denn ich weiß: aus diesen indischen Zentralstaaten dort in der Gegend läßt sich hübsch was rauszupfen, – gar wenn Sie sagen, Sie sind Korrespondent der Hinterwäldler-Zeitung.«

»Haben Sie dies Rezept schon ausprobiert?« fragte ich.

»No und wie oft!« war die Antwort. »Freilich, erwischen darf man sich nicht lassen, sonst werden Sie ins Loch gesteckt, bevor Sie noch Zeit haben, jemand das Messer in den Bauch zu rennen. Aber sprechen mir lieber von meinem Kollegen! Ich hab ihm mein Ehrenwort geben müssen, daß ich ihn auf dem laufenden halt und ihn wissen laß, wohin er sich wenden soll. Ich möcht es Ihnen hoch anrechnen, wenn Sie rasch von Zentralindien zurückkommen würden, damit Sie ihn noch in Marwar erwischen und ihm sagen: ›Er – (ich nämlich) ist diese Woche im Süden.‹ Er hat einen roten Bart, ist ein großer Mann und auch sonst ein Mordsgigerl.

Er wird natürlich schlafen, mit seinem ganzen Gepäck rundum, kurz: wie ein Gentleman und zwar in der zweiten Klaß.

Aber Sie brauchen sich deshalb nicht vor ihm zu fürchten. Lassen Sie ganz einfach das Kupeefenster herunter und sagen Sie ihm: ›Er ist im Süden diese Woche.‹ Er weiß nachher schon! Na, und Ihnen kost’s j a höchstens zwei Tage Aufenthalt, Ich bitte Sie also um die Gefälligkeit, wie man eben als Fremder bittet, der – nach dem Westen geht!«

»Und woher kommen Sie?« fragte ich.

»Aus dem Osten«, sagte er, »aber net wahr, Sie trichtern ihm ein, was ich gsagt hab? Ich dank Ihnen im voraus und im Namen Ihrer Mutter.«

Engländer haben’s im allgemeinen nicht gern, wenn man Erinnerungen an ihre Mütter weckt, aber ich sagte nichts und nickte nur zustimmend.

»Es handelt sich um eine nicht geringe Sache«, erklärte mein Freund, »sonst würde ich Sie nicht bemühen, aber ich seh ja, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Also passen S‘ noch mal auf: Zweites Klaß-Kupee in Marwar, und ein Mann mit einem roten Bart, der wo drin schläft! Werden Sie’s auch nicht vergessen? Ich steig bei der nächsten Station aus und muß dort warten, bis er kommt oder mir Nachricht gibt oder mir sonstwas schickt.«

»Ich werde ihm alles ausrichten, vorausgesetzt, daß ich ihn erwische«, versprach ich, »aber jetzt möchte ich Ihnen – auch im Namen Ihrer Mutter – einen Rat geben: Vermeiden Sie die zentralindischen Staaten, wenn Sie wieder mal, wie jetzt, als Korrespondent der Hinterwäldler-Zeitung reisen! Die Sache ist dort brenzlich, und es könnte für Sie schief ausgehen.«

»Ich dank Ihnen«, sagte er schlicht, »aber wo eine Sau sonst fangen? Soll der Mensch zusehen und verhungern, wann ihm eine übern Weg lauft? Ich möcht halt gar so gern den Degumber Radscha packen wegen der Gschicht mit der Witwe seines Vaters und ihm eins auswischen.«

»Was hat er denn mit der Witwe seines Vaters angefangen?« – wollte ich wissen.

»Ach Gott, mit rotem Pfeffer hat er sie halt angefüllt und dann, wie sie an einem Balken gehängt hat, totgeprügelt. Ich hab das herausgeschnüffelt; ich bin überhaupt der einzige Mensch, der’s weiß und sich getraut, hinzugehen in seinen Staat und ihm ein gehöriges Schweigegeld herauszuziehen. Man wird natürlich versuchen, mich zu vergiften, wie schon einmal in Chortumna, als ich Beute machen ging. Aber werden Sie meinen Auftrag in Marwar dem mit dem roten Bart auch gut ausrichten?«

In einer kleinen Station stieg er aus, und ich überließ mich meinen Gedanken. Des öftern schon hatte ich von Leuten gehört, die es lieben, sich als Zeitungskorrespondenten auszugeben, um kleinen Eingeborenenstaaten unter Androhung von allerhand skandalösen Enthüllungen zur Ader zu lassen, aber begegnet war ich bisher noch keinem aus dieser Kaste, Sie führen ein hartes Leben, das wußte ich, und erleiden oft einen schnellen Tod. – Die Eingeborenenstaaten haben nämlich einen heillosen Respekt vor englischen Zeitungen und leben beständig in der Furcht, durch sie könnten gewisse Regierungsmethoden an den Tag kommen, die das Licht nicht recht vertragen; deshalb tun solche Staaten ihr Bestes, sich Korrespondenten mit Champagner oder sonst welchen das Bewußtsein gründlich störenden Flüssigkeiten vom Halse zu schaffen; sie haben keine Ahnung, daß es niemand auch nur im Traume einfällt, sich um interne Staatsangelegenheiten zu kümmern, solange Unterdrückung und Verbrechen sich in verschämten Grenzen halten und der betreffende Regent nicht gerade vom 1. Januar bis 31. Dezember ohne Unterbrechung besoffen oder sonstwie unzurechnungsfähig ist. In diesen dunklen Flecken der Erde herrscht gewöhnlich eine alles Maß übersteigende Grausamkeit; auf der einen Seite laufen Eisenbahnen und Telegraph, auf der anderen Seite herrschen die Zustände aus den Tagen Harun al-Raschids. Bei mir standen die Sachen so: einmal hatte ich Geschäfte mit Königen, und in acht Tagen wechselte das Bild auf schier unglaubliche Weise. Einmal trug ich Abenddreß, verkehrte mit Fürsten und Politikern, trank aus Kristall und speiste aus Silber, das nächste Mal schlief ich auf dem Boden in Lumpen, wie ein Kuli, verschlang Kräuter und Quellwasser. Wie es eben der Tag so mit sich brachte.

Jetzt hatte ich mir die Große Indische Wüste auserkoren und die Eisenbahn setzte mich in Marwar ab – mitten in der Nacht – von wo eine winzige, lächerliche »Gehste-oder-gehste-nicht«-Lokalbahn, von einem Eingeborenenheizer gelenkt, nach Jodhpur rattert. Der Bombay-Expreß macht halt, wenn er von Delhi kommt, in Marwar. Er fuhr gerade ein, als ich ankam, ich fand kaum Zeit, übers Geleise zu laufen und die Kupees zu durchsuchen. Zum Glück gab es nur einen Zweiteklaß-Waggon. Ich zog das Fensterrouleau hoch und erblickte einen roten Bart, der wie eine Flamme leuchtete und zur Hälfte mit einer Eisenbahndecke verhüllt war. Kein Zweifel: das war mein Mann, tief schlafend, wie angekündigt. Ich versetzte ihm einen gelinden Rippenstoß, den er mit einem Grunzen quittierte, worauf sein Antlitz auftauchte. Es war groß und strahlend.

»Schon wieder die Billetten!« brummte er.

»Nein«, sagte ich. »Ich soll Ihnen ausrichten: er ist die Woche über im Süden!«

Der Zug begann sich wieder in Bewegung zu setzen. Der Rotbart rieb sich die Augen.

»Hm, also im Süden ist er diese Woche!« wiederholte er vor sich hin. »Das sieht ihm wieder mal ähnlich. Hat er gesagt, ich soll Ihnen was geben? Paßt mir gar nicht.«

»Hat nichts gesagt«, gab ich zur Antwort, sprang rasch ab und blickte den roten Lichtern des Zuges nach, wie sie rasch in der Ferne entschwanden. Es war schauderhaft kalt, denn der Wind wehte von der Wüste herüber; ich kletterte wieder in meinen eigenen Zug; diesmal war’s kein »Schindluder-Kupee«, und ich streckte mich zum Schlafen aus.

Hätte mir der Mann eine Rupie als Trinkgeld gegeben, ich würde sie als Erinnerung an dieses sonderbare Erlebnis mir aufgehoben haben, so aber mußte ich mich mit dem Bewußtsein als Lohn begnügen, mein Versprechen eingelöst zu haben.

Später sagte ich mir: Wenn zwei Gentlemen, wie meine beiden Freunde, sich, als Zeitungskorrespondenten verkleidet, auf die Walz und auf Schwarzfahrten nach Zentralindien und die kleinen Rattenfallenstaaten von Süd-Radschputana begeben, so wandeln sie wahrscheinlich nicht auf einwandfreien Wegen und müssen gewärtigen, daß ihnen allerhand ernste Unannehmlichkeiten zustoßen; ich wollte deshalb bei ihrer Personalitätsbeschreibung sehr vorsichtig sein – insbesondere Leuten gegenüber, von denen ich annehmen durfte, daß sie sich für sie interessierten. Wie ich später erfuhr, war es mir gelungen, sie von einem Ausflug ins Degumber-Gebiet abzuhalten.

Dann ging mir die Gelegenheit noch mehr im Kopf herum, und ich begab mich in die Redaktion meiner Zeitung, die sämtliche »königlichen« und sonstigen Tagesfragen in Evidenz hielt. Eine Zeitungsredaktion übt eine merkwürdige Anziehungskraft auf alle erdenklichen Arten von Menschen aus, die keine Ahnung von Disziplin haben. Zenana-Missionsdamen finden sich ein und verlangen, daß der Herausgeber des Blattes auf der Stelle alles stehen- und liegenläßt, um einen Artikel über ein Preisausschreiben der Christengemeinde in irgendeiner Religionsbude eines vollkommen unerreichbaren Gebirgsdorfes zu verfassen; Oberste, die das Kommando beim Avancement übergangen hat, sitzen herum und skizzieren Entwürfe für zehn, zwölf oder vierundzwanzig Leitartikel über das Thema: »Altersrangklasse oder willkürliche Beförderung?«; auf dem trockenen sitzende Theatergesellschaften treten vollzählig an und geben die Erklärung ab, sie könnten zur Zeit zwar nicht die Kosten eines Inserates bestreiten, interessierten sich jedoch brennend dafür, sobald sie von Neuseeland oder Tahiti zurückkämen; Erfinder- und Patentinhaber von selbsttätigen Punkah-Fächelmaschinen, Waggonkuppelungen, unzerbrechlichen Schwertern und Achsenwellen nehmen, alle Taschen voll mit Spezialzeichnungen, Stunden für sich in Anspruch; Teegesellschaften dringen in das Büro ein und arbeiten mit Redaktionsfedern Prospekte aus; Sekretäre von Ballkomitees wünschen dringend, daß der Glanz dieses oder jenes Schlußtanzes prunkvoller geschildert werde; fremde Ladys rauschen herein und zwitschern: »Ich muß sofort hundert Damenkarten haben!« – denn sie zu beschaffen, ist doch selbstverständlich die Aufgabe einer Zeitung! – zum Schluß verlangt dann irgendein streunender Berufsraufbold von der Gasse eine Anstellung als Korrekturenleser. Die ganze Zeit über klingelt rastlos das Telephon, Könige auf dem Kontinent werden ermordet, Kaiserreiche schmeißen um, Mister Gladstone bestreut die Britischen Dominions mit Bimssteinpulverphrasen, und die kleinen schwarzen Zeitungsjungen summen wie müde Bienen ihr kaa-pi chay-ha-ye?[Blatt gefällig?] durcheinander. Am nächsten Morgen aber ist die Zeitung so blank wie der Schild der Jungfrau von Orleans.

Doch dieses Treiben ist noch der weitaus unterhaltlichste Teil des Jahres. Es gibt nämlich noch sechs weitere Monate, wo zwar niemand erscheint und Wünsche vorträgt, aber das Thermometer Zoll um Zoll steigt, bis kein Platz mehr in der Röhre ist. Dann herrscht eine Dunkelheit im Redaktionszimmer, daß man kaum mehr lesen kann, die Druckereimaschinen fühlen sich an wie glühendes Eisen, und nur noch Berichte über Vergnügungsveranstaltungen in den Gebirgsstationen oder Todesanzeigen erscheinen. Zu solchen Zeiten wird das Telephon zum Schreckensverbreiter: man liest vom plötzlichen Hinscheiden von Männern und Frauen, die man genau gekannt hat, die herrschende Hitze ist so ziemlich die einzige Kleidung, die der Berichterstatter trägt, wenn er in seinem Stuhl sitzt und schreibt: »Aus dem Khuda-Janta-Khan-Distrikt wird gemeldet, daß die herrschende Krankheit in leichter Zunahme begriffen ist. Sie kommt meist sporadisch vor und dürfte dank den energischen Bemühungen der Distriktsautoritäten bald erlöschen, immerhin müssen wir mit Trauer feststellen, daß XYZ uns durch den Tod entrissen wurde, etc.«

Später bricht dann die gemeldete Epidemie mit Heftigkeit aus, und je weniger das Blatt darüber meldet, desto besser hat es der Leser, denn es stört seinen Frieden nicht. Die Könige und Kaiser hingegen verharren wie früher in Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit: sie sterben und schmeißen um; der Redakteur meint, öfter als einmal des Tages brauche das Blatt doch wahrhaftig nicht zu erscheinen, aber das Publikum in den Bergstationen ist anderer Ansicht – mitten im angeregtesten Lesen ruft es: »Gott im Himmel, warum bietet die Zeitung so wenig Anregung? Es muß doch in der Welt weit mehr vorgehen!«

Das ist die dunkle Seite des Mondes; man muß es an sich selbst erfahren haben, um es voll würdigen zu können!

In jener Saison – und es war eine besonders üble Saison – gab das Blatt seinen Schlußwochenbericht in der Nacht vorn Samstag auf den Sonntag heraus, wie das auch in London zu geschehen pflegt. Das war sehr angenehm, denn das Blatt wurde fertiggestellt zu einer Zeit, wo das Thermometer während einer halben Stunde von 96 Grad auf 84 Grad fällt, was einem vorkommt wie Eiseskälte. Es war eine pechschwarze Samstagnacht, so erstickend heiß, wie eben nur eine Juninacht sein kann, und der loo, der glühende Westwind, heulte in den zundertrockenen Bäumen und log uns vor, ein Regen folge ihm auf dem Fuße.

Hie und da fiel auch wirklich ein Tropfen beinahe heißen Wassers auf den Staub herab, patschend wie ein Frosch, aber es war, wie wir wußten, nur die Vorspiegelung eines leeren Versprechens. Im Redaktionszimmer war es um einen Schatten kühler als im Empfangsraum, und deshalb hatte ich mich hineinbegeben und saß dort, während die Maschinen klapperten, der Nachtwind an den Fenstern rüttelte und die fast nackten Schriftsetzer sich den Schweiß von der Stirne wischten oder nach Trinkwasser schrien. Irgend etwas war schuld, daß wir nicht Schluß machten – ich weiß nicht mehr, was; der loo begann einzuschlafen, die letzte Type war gesetzt und die ganze Erde schien stillstehen zu wollen, den Finger auf der Lippe, als erwarte sie irgendein plötzliches Begebnis. Ich döste, in Gedanken, ob der Telegraph wirklich ein Segen sei und ob diesem oder jenem Sterbenden, oder diesem oder jenem kriegführenden Volk auch zum Bewußtsein käme, welche Unannehmlichkeiten sie einem bereiteten. Es lag kein Grund vor – außer der Hitze und meiner Müdigkeit – Pausen in der Arbeit eintreten zu lassen, aber erst, als die Hände der Uhr zum Schlage der dritten Stunde ausholten und die Druckmaschinen ihre Schwungräder ein paar Probedrehungen machen ließen, zum Beweis, daß alles in Ordnung sei, konnte ich mich aufraffen und das Zeichen geben: los!

Gleich darauf zerbiß das Brüllen und Rasseln der Räder die Stille in kleine Stücke. Ich erhob mich, um zu gehen, da standen plötzlich zwei Männer in weißen Anzügen vor mir. Der eine sagte: »Des is er!« Der zweite: »No, freilich.« Dann lachten sie beide fast so laut, wie die Maschine brüllte, und kratzten sich die Stirnen. »Mir hamm gsehn, daß a Licht über d’Straßen nüberscheint, wie mir so im Graben gschlafen haben wegen der Kühle, und da hab ich zu meinem Freund gsagt: die Zeitung is noch offen. Geh mer nei und sprechen mer mit ihm, der wo uns vom Degumberstaat gewarnt hat«, sagte der Kleinere der beiden Männer. Es war derselbe, den ich im Mhow-Zuge getroffen hatte, und sein Gefährte war der Rotbart aus Marwar. Die Augenbrauen des einen und der Bart des andern ließen mir keinen Zweifel.

Erfreut war ich nicht, denn ich gedachte, zu schlafen und nicht mit Vagabunden zu quasseln. »Was wollen Sie?« fragte ich, kurz angebunden.

»A halbe Stund mit Ihna reden drin in der Kühlen und in bequeme Sessel«, sagte der Rotbärtige. »Wir hätten gern was zum Trinken – brauchst net so schauen, Peachey: der Kontrack is noch net unterschrieben! Was mir nämlich von Ihnen brauchten, is ein Rat. Geld brauchen mir net. Wir erbitten uns ein Gespräch mit Ihnen, weil mir herausgefunden hamm, daß Sie uns einen schlechten Rat gegeben haben, was den Degumberstaat betrifft.«

Ich führte die beiden in das erstickend heiße Wartezimmer, in dem große Karten an den Wänden hingen, und bot ihnen Stühle an. Der Rotbärtige rieb sich die Hände; »das laß ich mir gefallen!« sagte er, behaglich gestimmt, »einen bessern Laden hätten mir gar net finden können. Aber jetzt, Herr, wollen mir uns vorstellen: Bruder Peachey Carnehan, das is der da, und Bruder Daniel Dravot, das bin ich; je weniger wir über unsern Beruf sprechen, um so besser is es. Früher sin mir Soldaten gewesen, Seeleute, Komponisten, Photographen, Korrekturenleser, Straßenprediger und, wenns grad nötig war: Korrespondenten der Hinterwäldlerzeitung. Der Carnehan is vollkommen nüchtern und ich ebenfalls. Wann Sies nicht glauben, bitte, schauen S‘ uns an! Sie müssens schon an meiner Sprache merken. Mir nehmen uns jetzt jeder eine von Ihre Zigarren; Sie sollen sehen, wie mir dabei aufleben!« Ich machte die Probe: tatsächlich, beide waren nüchtern. Ich gab also jedem einen lauwarmen Whisky mit Soda.

»So weit gut«, sagte der Garnehan mit den Augenbrauen und wischte sich die Tropfen vom Schnurrbart, »laß jetzt mich reden, Dan! Wir haben ganz Indien bereist, meistens natürlich zu Fuß. Wir sind Kesselflicker gewesen, Lokomotivführer, Kleinlieferanten und so. Kurz: mir hamm herausgefunden, daß Indien für Leute wie wir nicht groß genug is.«

Allerdings, das Wartezimmer war für die beiden nicht groß genug; Carnehans Schultern füllten die eine Hälfte des Raumes aus, und Dravots Bart die andere, wie sie so um den Riesentisch herumsaßen. Carnehan fuhr fort: »Die halbe Gegend freilich is noch nicht ausgebeutet, denn die, wo die Regierung in der Hand haben, lassen einen nicht hinein. Sie verschwenden ihre ganze Zeit mit Regieren und lassen einen nicht das Schwarze unterm Nagel verdienen; nix kannst unternehmen, nicht einen Brocken kannst auflesen, ohne daß das Gouvernement nicht sofort schreit: ›Schau, daß d‘ weiterkommst! Regiern tun mir!‹ Daher ham mir beschlossen, wir kehren ihnen den Rücken und suchen uns einen Ort, wo der Mensch noch kein Herdentier ist und zu sich selber kommen kann. Wir sind keine Krüppel, in keiner Hinrichtung, und fürchten nichts auf der Welt außer das Saufen; aber diesbezüglich haben mir bereits einen Kontrack mit einander abgeschlossen. No, was soll ich lang reden: mir haben vor, Könige zu werden!«

»Könige nach unserer eigenen Verfassung!« murmelte Dravot.

»Wir sind weder betrunken, noch hamm mir den Sonnenstich. No und – überschlafen haben mir die Idee ein halbes Jahr lang. Was mir brauchen, sind Landkarten und Atlasse; mir hamm uns nämlich überlegt, daß es nur einen Ort auf der Erde gibt, wo zwei starke Männer wie wir ›sarawacken‹ können. Mer heißts im Volksmund: Kafiristan, Meiner Ansicht nach liegt’s gleich rechts von Afghanistan, höchstens dreihundert Meilen von Peshawur entfernt. Sie haben dort zweiunddreißig Götzenbilder, und wir werden das dreiunddreißigste und das vierunddreißigste sein. Es is eine gebirgige Gegend, und die Weiber sind wunderschön.« – »Halt!« rief Carnehan, »das ist gegen den Kontrack! Weiber und Schnaps gibt es nicht, Daniel!«

»Das is alles, was mir wissen«, fuhr Dravot fort, »außer höchstens, daß noch kein Mensch nicht dort war, und daß dort immer gekämpft wird. Aber, wo gekämpft wird, da is auch jemand nötig, der die Leute abrichtet, und das verstehen mir besser als irgendeiner. Wir werden also in diese Gegend gehen und, wenn wir dort einen König treffen sollten, ihm sagen: ›Willst d‘ deine Feinde schlagen?‹, und dann werden wir ihm zeigen, wie man Leute abrichtet. Dann werden wir ihn stürzen und selber den Thron besteigen und auf eigene Faust eine Dünastie gründen.«

»In Stücke wird man euch reißen, noch ehe ihr fünfzig Meilen über der Grenze seid!« rief ich. »Ihr müßt durch Afghanistan, um in jene Gegend zu gelangen. Es ist ein Gebiet voller Berge und Gletscher, und noch nie ist es einem Engländer gelungen, hinzukommen. Die Menschen sind dort wie die wilden Tiere, aber selbst, wenn ihr hinkämet, würdet ihr nichts ausrichten.«

»So was hör ich gern«, sagte Carnehan. »Halten S‘ uns nur für verrückt! Das macht uns einen Mordsspaß. Aber mir sind hier, damit Sie uns ein Buch über die Gegend zu lesen geben und uns Landkarten zeigen. Von mir aus sagen S‘: mir sin Narren, aber zeigen S‘ uns Ihre Bücher!« Und er stand auf und ging zum Bücherschrank.

»Ja, meinen Sie denn das alles im Ernst?« fragte ich erstaunt.

»Freilich, allerdings«, flötete Dravot. »Und eine recht große Landkarten muß es sein, auch wenn alles drauf weiß ist, wo Kafiristan liegt. Und bitte, alle Bücher, die Sie haben! Lesen können mir, wenns auch mit der Schulbildung hapert.«

Ich sperrte den Schrank auf, nahm die große Strategische Karte heraus und zwei kleinere Grenzgebietlandkarten, sowie den Band »Inf – Kan« der Encyclopädia Britannica und legte es den beiden vor.

»Da, hier!« sagte Dravot und preßte seinen Daumen auf die Karte. »Hinauf nach Jagdallak. – Peachey und ich kennen den Weg. Mir waren dort mit der Armee von Lord Roberts. – Mir müssen dann bei Jagdallak rechts nüber ins Laghmann-Territorium. Nachher gehts übers Gebirg – vierzehntausend Fuß – fufzehntausend Fuß -, eine kalte Gschicht wird des werden; aber nach der Karten scheints net sehr weit.«

Ich gab ihm Woods Werk über die Quellen des Oxus. Carnehan hatte sich in die Encyclopädia vertieft.

»Da steht eine Masse dummes Zeug drin«, sagte Dravot versonnen, »was brauchen mir wissen, wie die Volksstämme alle heißen! Kriegerisch sind’s, und mehr brauchts net für uns. – Von Jagdallak nach Ashang! Hm!«

»Alles, was da über die Gegend steht, ist doch nur skizzenhaft!« wendete ich ein. »Kein Mensch weiß etwas Genaues. Hier der Bericht der United Services Institution. Lesen Sie, was Bellew schreibt!«

»Ich pfeif auf den Bellew!« murrte Garnehan. »Dan! A stinkete Heidenbande sind’s, des is gwiß, aber da steht, sie bilden sich ein, daß sie mit die Engländer verwandt sin.«

Ich blies Tabakwolken vor mich hin, während die beiden unentwegt über den Werken von Raverty und Wood und den Landkarten hockten und in der Encyclopädia nachschlugen.

»Sie brauchen fein net warten!« sagte Carnehan aufblickend, »mir hamm jetzt vier Uhr. Vor sechse gehn mir net, und wenn Sie schlafen wollen – stehlen tun mir nix! Bleiben S‘ doch net auf! Mir san zwei harmlose Narren. Wann Sie morgen abend ins Serai kommen, werden mir uns von Ihnen verabschieden.«

»Weiß Gott, ihr seid wirklich zwei Narren!« sagte ich. »Man wird euch entweder gar nicht über die Grenze lassen oder euch die Kehle durchschneiden. Braucht ihr Geld oder eine Empfehlung bis Peshawur? Eine Woche kann ich euch schließlich durchhelfen.«

»Dank schön«, sagte Dravot, »die nächste Woche werden mir alle Hand voll zu tun haben: es ist nicht so leicht, König werden, wie sichs von weitem anschaut. Aber wenn wir unser Reich in Ordnung gebracht haben, dann schreiben wir Ihnen; Sie können nachher hinaufkommen und uns regieren helfen.«

»Glauben Sie vielleicht, daß zwei Narren einen solchenen Kontrack aufsetzen würden?« fragte Carnehan mit schlecht verhehltem Stolz und wies mir einen großen halben Bogen Schreibpapier, auf dem folgendes zu lesen stand. – Ich kopierte es wegen seiner Seltsamkeit:

»Diesen Kontrack ham mir aufgesetzt und unterschriehben, Gott zum Zeugen anruffend. Amen.

Erschtens: daß mir, er und ich, die Sache deichseln werden, nämlich Könige von Kafiristan zu werden.

Zweitens: daß mir, solange die Sache gedeichselt wird, keinen Schnaps und kein Weibsbild nicht anrühren werden weder ein weißes, noch ein schwarzes, oder ein braunes.

Drittens: daß mir uns mit Würde und Diskretion aufführen werden, und wenn einer von uns in den Saft kommt, muß ihm der ander beistehen.

Unterzeichnet von Dir und Mir am heutigen Tag.
Peachey Taliaferro Carnehan.
Daniel Dravot.
Beides Ehrenmänner in jeder Hinrichtung.

»Der Schlußsatz hätt natürlich gar nicht dastehen brauchen«, erklärte Carnehan und errötete züchtig; »denn so was versteht sich von selber. Sie wissen jetzt, was für eine Sorte Menschen die Landstreicher sind! Und mir sin Landstreicher, der Dan und ich, bis mir Indien im Rücken haben. Glauben Sie noch immer, daß mir einen solchen Kontrack unterzeichnet hätten, wann mirs nicht im Ernst meinen täten? Mir hamm auf die zwei Dinge verzichtet, die wo das Leben lebenswert machen!«

»Ihr werdet euch des Lebens nicht lang erfreuen, wenn ihr nicht bald euer verrücktes Vorhaben aufgebt!« sagte ich. »Setzt die Bude gefälligst nicht in Brand und geht noch vor neun Uhr weg.«

Dann ließ ich sie allein mit den Landkarten und störte sie nicht weiter im Notizenmachen, wobei sie die Rückseite auf ihrem »Kontrack« beschmierten. »Vergessen S‘ nicht, morgen auf den Serai zu kommen!« waren ihre Abschiedsworte.

Der Kumharsen-Serai ist der große viereckige Menschheitsschmutzwinkel, auf dem ganze Herden von Kamelen und Pferden aus dem Norden beladen und entladen werden. Alle Nationen Zentralasiens kann man dort vertreten finden; Balkh und Buchara kommt dort mit Bengalen und Bombay zusammen, um sich gegenseitig übers Ohr zu hauen, bis die Augen triefen. Die meisten sind natürlich Inder. Man kann im Serai Ponys kaufen, Türkise, persische Katzen, Satteltaschen, Fettschwanzschafe und Moschus, auch allerhand sonderbare Dinge – für fast nichts. Am Nachmittag ging ich hin, um zu sehen, ob meine Freunde wirklich Wort zu halten gedächten, oder es vorzögen, betrunken dort herumzuliegen.

Ein Priester, gehüllt in Fragmente aus Bändern und Lumpen, in der Hand eine papierene Kinderwindmühle, stelzte mit feierlicher Miene umher. Hinter ihm sein Diener, keuchend unter der Last eines Packkorbes, gefüllt mit schmutzigem Spielzeug. Dann beluden sie damit ein Kamel, während ihnen die Leute des Serais zusahen und vor Lachen brüllten.

»Der Priester ist verrückt«, schrie mir ein Pferdehändler zu, »er will nach Kabul, um dem Emir Spielzeug zu verkaufen. Er glaubt, man wird ihm dort eine Ehrenstelle geben. Den Kopf werden sie ihm abschneiden! In der Früh ist er hergekommen und hat sich seitdem wie ein Narr benommen.«

»Wahnsinnige stehen unter dem Schütze Gottes!« stam melte ein flachwangiger Usbeg in gebrochenem Hindi, »sie können die Zukunft voraussagen.«

»Warum haben sie mir denn dann nicht vorausgesagt, daß meine Karawane von den Shinwaris abgefangen werden würde, gerade in dem Augenblick, als ich fast schon in dem schützenden Schatten des Passes angelangt war!« – grunzte der Eusufzai eines Radschputana-Warenhauses, dessen ganzes Hab und Gut einst in die Hände von Räubern, knapp an der Grenze, gefallen war und der seitdem die Zielscheibe des Bazars geworden war. »Ohé, Priester, woher kommst du und wohin ziehst du?«

»Von Roum bin ich gekommen«, gellte der Priester und ließ seine Papierwindmühle spielen, »von Roum, wo der Atem von hundert Teufeln über den See bläst! O ihr Diebe, ihr Räuber, ihr Lügner, der Segen Pir Khans ruht auch auf Säuen, auf Hunden, auf Beschwörern! Wer von euch nimmt den Schützling Gottes mit sich nach Norden, damit er dem Emir Zauberamulette verkaufen kann? Seine Kamele sollen nicht wund werden und seine Söhne nicht krank; seine Weiber sollen ihm treu bleiben, solange er fort ist! Das wird mein Segen sein für den, der mich mitnimmt. Wer will mir beistehen, dem König der Roos goldene Pantoffel zu bringen mit silberner Ferse? Der Segen Pir Khans wird auf seinem Unternehmen sein!« – und feierlich breitete er die Ärmel seines »Regenmantels« aus und vollführte mitten unter den aneinandergekoppelten Pferden einen phantastischen Tanz.

»In zwanzig Tagen geht eine Karawane vonPeshawur nach Kabul ab, Huzrut!« sagte der Eusufzai. »Meine Kamele gehen mit. Tue desgleichen und bring uns Glück!«

»Jetzt auf der Stelle will ich gehen!« schrie der Priester. »Reisen werde ich auf meinen beschwingten Kamelen und in einem Tage in Peshawur sein! Ho! Hazar Mir Khan«, gellte er seinen Diener an, »treib die Kamele heraus, aber zuerst will ich mein eigenes besteigen.«

Da erst ging mir ein Licht auf, und ich folgte den beiden Kamelen aus dem Serai hinaus, bis wir die offene Straße erreichten, wo der Priester Halt machte.

»No, was sagen S‘ jetzt?«, fragte er mich auf englisch. »Der Carnehan kann die Sausprach net, drum hab ich ihn zu meinem Diener gemacht. Fein schaut er aus, was? Ja, so ganz umsonst hab ich mich nicht vierzehn Jahr lang in der Gegend herumgeschlagen! Mir werden uns einer Karawane in Peshawur anschließen, bis mir nach Jagdallak kommen, dort wollen mir schauen, ob mir unsere Kamel gegen Esel vertauschen können, und nach Kafiristan nüber rutschen. Kinderwindmühlen für den Emir, Himmel Sakra! Stecken S‘ amal die Hand unter den Kamelsattel und sagen S‘, was S‘ dort spüren!«

Ich fühlte den Kolben eines Martini-Stutzens und noch einen und noch einen.

»Zwanzg Stück hamm mir«, sagte Dravot ruhevoll, »und an Haufen Munition zum ›korrespondieren‹ unter dene Windmühlen und die Dreckpuppen.«

»Gott steh euch bei«, rief ich, »wenn man das Zeug bei euch findet! Ein Martini ist sein Gewicht in Silber wert bei den Pathans.«

»Fufzehnhundert Rupien Kapital – jede Rupie zsamm gebettelt, zsamm geborgt oder zsamm gestohlen – sin jetzt infestiert in zwei Kamelen und der Last!« sagte Dravot stolz. »Uns derwischens net! Mir gehen übern Khaiberpaß mit einer Karawane. Wer wird einen armen Priester anrühren?!«

»Habt ihr auch alles, was ihr braucht?« fragte ich, jetzt wirklich von Staunen erfüllt.

»Heut noch nicht, aber mir Werdens schon kriegen. Geben S‘ uns eine Erinnerung an ihre Freundlichkeit, Bruder! Sie haben mir gestern eine Gefälligkeit erwiesen und damals eine in Marwar. Mein halbes Königreich steht zu Ihrer Verfügung, wie man so sagt.« Ich löste einen kleinen Anhängekompaß von meiner Uhrkette und reichte ihn dem Priester.

»Servus!« sagte Dravot und reichte mir vorsichtig die Hand. »So bald werd‘ ich wohl keinem Engländer die Hand schütteln können! Gib auch du ihm die Hand, Carnehan!« schrie er, als das zweite Kamel an mir vorüberkam.

Carnehan beugte sich herab, und wir reichten uns die Hand. Dann zogen die Tiere die staubige Straße weiter, und ich blickte ihnen verwundert nach. – Der Plan ist tadellos ausgeheckt, sagte ich mir; ich konnte keinen Fehler entdecken. Die Szene im Serai war dem Verständnis und der Denkungsweise der Eingeborenen ausgezeichnet angepaßt gewesen. Carnehan und Dravot hatten wirklich alle Chancen, unbehelligt und unerkannt durch Afghanistan hindurchzuommen; darüber hinaus, freilich –, ich war überzeugt: sie würden einen sichern und schrecklichen Tod finden.

Zehn Tage später berichtete mir ein eingeborener Korrespondent aus Peshawur: »Großes Gelächter erregt hier ein verrückter Priester, der die fixe Idee hat, Spielzeug und andern Plunder Seiner Königlichen Hoheit, dem Emir von Buchara, als Amulette zu verkaufen. Er kam durch Peshawur und schloß sich einer Sommerkarawane an, die nach Kabul geht. Die Kaufleute freuen sich darüber, denn sie meinen in ihrem Aberglauben, solche Wahnsinnige brächten Glück.«

Waren die beiden also doch heil über die Grenze gekommen! Wer weiß, vielleicht hätte ich nachts für sie gebetet, aber da kam die Nachricht, ein König – ein wirklicher nämlich – sei in Europa gestorben, und das bannte mich an den Schreibtisch.

Immer die gleichen Phasen durchläuft das Rad der Welt; der Sommer schwand, der Winter kam, schwand ebenfalls dahin. Die Zeitung lebte, und ich lebte mit ihr. Im Laufe des dritten Sommers senkte sich wieder einmal eine heiße Nacht hernieder, und abermals galt es, eine Abendausgabe des Blattes fertigzustellen; wiederum ein müdes Warten auf irgendein Telegramm von der andern Hälfte des Erdballes. Alles spielte sich ab genau wie damals: ein paar große Männer waren im Verlauf der letzten zwei Jahre gestorben, die Druckmaschinen ratterten, und man schwitzte. Nur die Bäume draußen waren ein paar Fuß höher geworden; das war der einzige Unterschied. Ich ging hinüber in die Druckerei; genau dasselbe Bild, wie einst! Die Nervenanspannung war noch größer als damals; ich fühlte die Hitze womöglich noch quälender als vor zwei Jahren. Um drei Uhr schrie ich: Fertig? Los! und wandte mich zum Gehen, da kroch an meinen Stuhl heran das Überbleibsel eines Menschen.

Es war zusammengekrümmt wie ein Bogen, der Kopf lag zwischen den Schultern und seine Füße traten übereinander, wie die eines Bären; ich konnte kaum unterscheiden, ob er ging oder kroch – dieser in Lumpen gehüllte, winselnde Krüppel, der mich mit meinem Namen ansprach und mir vorgreinte, er sei – zurückgekommen. »Können Sie mir einen Schnaps geben?« wimmerte er, »um Gotteswillen, geben Sie mir was zu trinken!«

Ich ging in die Kanzlei hinüber; der Mann folgte mir, stöhnend vor Schmerzen, und ich schraubte den Docht der Lampe hoch.

»Kennen Sie mich nicht mehr?« keuchte er und ließ sich in einen Sessel fallen; dabei drehte er sein von einem wirren Schopf grauer Haare fast gänzlich bedecktes Gesicht in den Schein des Lichtes.

Ich musterte ihn scharf. Einmal im Leben hatte ich bei jemand Augenbrauen gesehen, dicht über der Nase und fast einen Zoll breit, aber wann und wo konnte das gewesen sein?

»Nein, ich kenne Sie nicht«, sagte ich und reichte ihm einen Whisky hin. »Was kann ich für Sie tun?«

Er stürzte den Inhalt des Glases hinunter und – schauderte trotz der fürchterlichen Hitze im Zimmer.

»Ich bin zurückgekommen«, wiederholte er; »und ich bin König von Kafiristan gewesen – ich und der Dravot; gekrönte Könige sin mir gewesen. Hier in dieser Stube haben mir’s gedeichselt, und Sie sin hier gsessen und haben uns die Bücher gegeben. Ich bin der Peachey Taliaferro Carnehan, und – und Sie sin die ganze Zeit über hier gsessen – o Gott, barmherziger!«

Ich war nicht wenig erstaunt und gab meinen Gefühlen in diesem Sinne Ausdruck.

»Ja, wahr is«, sagte Carnehan und hustete trocken, seine in Lumpen gewickelten Füße streichelnd, »wahr wie’s Evangelium. Könige sin mir gwesen und Kronen hamm wir auf die Köpf ghabt – ich und der Dravot, armer Dan – oh, armer, armer Dan; er hat keinen Rat annehmen wollen, sosehr ich ihn auch angefleht hab!«

»Trinken Sie noch Whisky!« redete ich ihm zu, »und lassen Sie sich Zeit. Erzählen Sie mir alles, an das Sie sich erinnern können, in Ruhe von Anfang bis zu Ende, Sie sind damals über die Grenze hinüber mit den Kamelen; Dravot war als verrückter Priester verkleidet und Sie als sein Diener. Entsinnen Sie sich noch?«

»Damals war ich nicht verrückt, aber – ich werds bald sein. Natürlich erinner ich mich. Schauen S‘ mich immer fest an, sonst verlier ich den Faden und weiß dann nix mehr.«

Ich beugte mich vor und faßte ihn, so unverwandt ich konnte, ins Auge. Er ließ eine seiner Hände auf den Tisch fallen, und ich ergriff sie am Gelenk: sie war verkrümmt wie eine Vogelklaue und trug eine zerrissene, rote rautenförmige Narbe.

»Nicht dorthin schauen! Mich anschauen!« sagte Carnehan schnell. »Das kommt später dran; um Gotteswillen, lenken S‘ mich net ab! Also, mir sin losgezogen mit der Karawane, ich und der Dravot, und haben allerhand dummes Zeug gemacht zur Unterhaltung unserer Begleiter. Der Dravot hat alle zum Lachen bracht am Abend, wanns ihr Essen kocht ham – ihr Essen kocht ham – ja – aber was hams nachher gmacht? Ja, sie haben kleine Span anzünden – und die haben s‘ dem Dravot in den Bart gsteckt, und dann haben mir alle glacht, wie verrückt. Kleine rote Feuer warens, die haben den roten Bart vom Dravot ergriffen – es war zum Lachen.« Seine Augen schweiften von den meinigen weg, und er lächelte irr.

»Sie sind also bis Jagdallak mit der Karawane gezogen«, half ich nach, »als Sie die Feuer – angezündet hatten? Ich verstehe zwar nicht recht, was Sie sagen, aber Sie hatten doch gewiß vor, in Kafiristan einzudringen?«

»Nein, wir wollten das nicht. Wovon sprechen Sie überhaupt? Mir sin noch vor Jagdallak abgebogen, denn mir haben gehört, daß die Straßen gut sin. Aber sie waren doch nicht gut genug für unsere Kamele – das meinige und das vom Dravot. Wie mir dann fort waren von der Karawane, hat der Dravot alle seine Kleider weggeschmissen und die meinigen dazu und hat gsagt, wir müßten jetzt Heiden sein, denn die Kafirs reden net mit die Muhamedaner. Mir ham uns nachher anders anzogen und hergricht, und der Dravot hat ausgschaugt, na sowas! Ich möcht’s gar nimmer sehen. Er hat sich den halben Bart abbrennt und sich über die Schul tern ein Schafsfell gegeben und sich den Schädel büschelweis rasiert. Mich hat er auch rasiert und mir ganz verrückte Sachen umghängt, damit ich ausschau wie ein Heide. Das war in einer furchtbar gebirgigen Gegend; unsere Kamele haben nimmer mitkönnen, so steil war’s. Sie sin groß und schwarz gwesen, und wie ich wieder heimgekommen bin, da hab ich gsehen, wie sie gekämpft haben wie die wilden Ziegen – und – und ja – ’s gibt eine Masse wilde Ziegen in Kafiristan. Und auch die Berg halten net amal still, net mehr als die Ziegen. Alleweil rumorens und lassen einen in der Nacht net schlafen.«

»Trinken Sie noch einen Whisky!« ermahnte ich ihn, damit er wieder klarer rede, »was haben Sie getan, als die Kamele wegen der schlechten Straßen, die nach Kafiristan führen, nicht mehr weiter konnten?«

»Was mir dann getan haben? No, da war doch der Peachey Taliaferro Carnehan, der mit dem Dravot ausgezogen war auf die Expedition. Von ihm soll ich Ihnen erzählen? Krepiert is er da droben in der Kälten! Von der Gletscherbrücken is er runtergfallen, der alte Peachey, und hat mit die Hand um sich gschlagen wie eine Kinderwindmühle, die man dem Emir verkauft. Zwei Stück haben drei halbe Pence gekostet oder‘ ich müßte mich irren –. Und da die Kamele für uns nutzlos waren, hat der Peachey zum Dravot gsagt: um Gotteswillen, kehrn mir um, bevors uns die Köpf abschneiden! Und dann haben die zwei die Kamele gschlachtet mitten in den Bergen, da s‘ nix mehr zu essen ghabt haben. Aber vorher habens die Koffer mit den Gewehren und der Munition heruntergnommen. Und da sin zwei Menschen dahergekommen, die haben vier Maulesel ghabt. Sofort is der Dravot aufgsprungen und hat zum Singen angfangt vor ihnen. ›Verkaufts uns eure vier Mulis !‹ hat er gsagt. ›So, so? A Geld habts?‹ hat der Vorderste von die Leut gsagt, ›da werden mir euch berauben !‹ Aber bevor er noch hat zu seiner Flinten greifen können, hat ihn der Dravot beim Hals ghabt und hat ihm’s Genick übers Knie brochen. Dann hat der Carnehan, da der andere Eseltreiber davon glaufen is, die Mulis mit den Martini-Stutzen beladen. So sin mir dann zusamm in die bitterkalten Berge hinein, wo kein Weg breiter is als Ihr Handrücken.«

Er hielt einen Augenblick inne, und ich fragte, ob er sich an die Gegend genauer erinnern könnte.

»Ich erzähl‘ Ihnen, so gut ich kann«, war die Antwort, »aber mein Kopf ist nicht in Ordnung; sie haben mir Nägel hineingschlagen, damit ich mich besser erinnere, wie der Dravot gstorben is. Die Gegenden waren gebirgig und die Mulis widerspenstig und die Bewohner spärlich und Einsiedler. Mir sind einmal hinauf und dann wieder heruntergstiegen und nochmal runter und der Carnehan hat zum Dravot gsagt, er soll doch net immer pfeifen und singen, damit net was Schreckliches passiert. Aber der Dravot hat gmeint, wenn ein König net amal mehr singen kann, stünds überhaupt net dafür, König zu sein. Er hat die Mulis angspornt, aber mir ham für zehn kalte Tage keine Hütten mehr zu sehen gekriegt. Dann sin mir in eine tiefe Schlucht gekommen, aber die Mulis waren so hin, daß mir sie geschlachtet haben, weil mir ihnen nix mehr haben zum fressen geben können. Mir ham da auf unsere Koffer gsessen und ham mit die Patronen, die rausgfallen sin, ›gradungrad‹ gspielt.

Nacher sin zehn Mann gekommen mit Pfeil und Bogen un sin durch die Schlucht geloffen; zwanzig Mann hinterdrein. Es war eine mordsmäßige Verfolgung.

Es waren prachtvoll schöne Leut, schöner noch als Sie oder ich, mit blondem Haar und großartig gewachsen. ›Jetzt geht unser Gschäft an‹, hat der Dravot gsagt und hat die Gewehre ausgepackt, ›mir werden für die zehn Mann kämpfen.‹ Einen hat er auf zweihundert Meter gleich runtergschossen von dem Felsen aus, auf dem er gsessen is. Die andern haben zum laufen angfangt, aber der Carnehan und der Dravot haben sie – einen nach dem andern – von ihre Koffer aus erlegt. Dann sin mir auf die zehn Mann zu, die auch übern Schnee gelaufen sin, und da habens einen Pfeil auf uns abgschossen. Der Dravot hat über ihre Köpf hinübergfeuert und da sins vor Schrecken umgfallen. Dann is er hingangen, hat sie mit dem Fuß gstoßen, hat sie dann aufghoben und einem nach dem andern die Hand gschüttelt, um sie freundlich zu stimmen. Er hat ihnen die Koffer zum tragen geben und hat gnädig mit der Hand gewunken, als ob er schon König war. Sie haben die Koffer genommen und ham uns über die Schlucht hinübergeführt auf einen Hügel in ein Kieferngehölz; dort ham sechs große Steingötzen gstanden. Dravot ist zu dem ersten Götzen hingegangen, Imbra heißt der Kerl oder so, hat eine Flinten vor ihm niederglegt und eine Patrone, hat dann die Nasen an der seinigen grieben und vor ihm salutiert. Dann hat er sich zu die Leut umdreht, hat mit dem Kopf gnickt und gsagt: ›So is recht! Ich kenn ihn schon lang und die andern alten Vogelscheuchen auch; sie sin meine Freunde!‹ Dann hat er ’s Maul aufgrissen und mit die Finger hineinzeigt. Wie ihm der erste Mann was zum essen bracht hat, hat er gsagt: ›Nein!‹ und wie ihm der zweite was zum essen bracht hat, hat er auch gsagt: ›Nein!‹; erst, als der alte Priester aus dem Dorf und der Bürgermeister was zum essen bracht ham, hat er gsagt: ›Ja!‹ und hats langsam gfressen. Des war, bevor mir in unser erstes Dorf gekommen sin; man hat uns kein Haar gekrümmt, als ob mir vom Himmel gfallen wären. Mir sin aber net vom Himmel gfallen gewesen, sondern nur einmal von einer von die verdammten Hängeseilbrücken im Gebirg. Aber da gibt’s nix zum lachen, wanns auch noch so lang her is.«

Ich ermunterte den Mann, noch einen Whisky zu trinken und fortzufahren. »Das war also das erste Dorf, in das Sie kamen! Wie aber sind sie König geworden?«

»Ich war nie König«, erklärte Garnehan, »der Dravot war König, und fein hat er ausgschaut mit der goldenen Krone auf dem Kopf und so. Er und der Carnehan sin dann eine Zeit lang in dem Dorf geblieben und der Dravot hat sich jeden Morgen neben den Imbra gesetzt und das Volk hat anbeten kommen müssen. Eines Tags sin eine Masse Kerle angerückt gekommen, aber der Carnehan und der Dravot haben sie mit dem Gewehr empfangen, bevor sie noch gemerkt haben, was eigentlich los is, und dann sin mir in die Schlucht hinein und auf der andern Seiten wieder hinauf und haben noch ein Dorf gefunden, dort ist das Volk gleich auf das Gesicht gefallen, und der Dravot hat gesagt: ›Warum bekämpft ihr euch eigentlich?‹ Da ham die Leut auf ein blondes Weib gedeutet, die wo geraubt worden war. Der Dravot hat sie wieder zurückgeführt und auf die Toten gedeutet – es waren acht Stück. Für jeden Toten hat er ein bissel Milch auf die Erde gegossen, hat die Arme bewegt wie eine Windmühle und hat gesagt: ›So, jetz is recht! ‹ Dann ham mir die beiden dicken Bürgermeister der beiden Dörfer beim Arm gepackt, sin in die Schlucht hinunter und ham mit einem Speer in den Sand eine Grenze gezogen und jedem von ihnen einen Batzen Erde gegeben zum Zeichen, wem das Land gehört. Da sin die Bewohner herbeigeströmt und ham gschrien wie die Teufel, und der Dravot hat gsagt: ›Gehet hin und pflüget die Erde; seid fruchtbar und vermehret euch!‹ Des ham sie dann gmacht, wenn sie seine Worte auch nicht verstanden haben. Dann ham mir gfragt, wie die Sachen in ihrem Kauderwelsch heißen: Brot, Wasser, Feuer, Götzenbilder und so, und der Dravot hat die Priester von jedem Dorf zu die Götzen geführt und ihnen befohlen, dort Gericht zu halten über das Volk, und wann einer net folgen möcht, so würde er erschossen.

Schon in der Woche drauf haben alle das Land im Tal umgepflügt so still wie die Bienen, und die Priester ham die Beschwerden der Leute angehört und dem Dravot in stummer Zeichensprache erzählt, worum sichs dreht. ›Der Anfang macht sich‹, hat der Dravot gsagt, ›sie halten uns für Götter!‹ Dann ham mir zwanzig stramme Burschen ausgesucht und ihnen gezeigt, wie man eine Flinten abschießt und sich zu viert anstellt und in einer Linie vorrückt; sie habens auch gleich begriffen und sich mordsmäßig gfreut. Sodann hat er seine Pfeife herausgezogen und seinen Tabaksbeutel und hat das eine in dem einen Dorf und das andere im andern Dorf gelassen und mir sin zu zweit losgezogen, obs nicht sonst noch Ansiedelungen gab. Mir ham bald eine gfunden, aber es war alles kahler Fels, und da hat derCarnehan gsagt: ›Man sende die Leute in das fruchtbare Tal, auf daß man ihnen Land gebe, das noch keinem nicht gehört, und sie es bebauen.‹ Es waren blutarme Teufel, und mir ham ihnen einen Hammel abgstochen als Fest, bevor sie in das neue Königreich einzogen. Mir ham des gmacht von wegen dem guten Eindruck und damit sich die Leut besser vertragen beim Ansiedeln. Dann is der Carnehan dem Dravot nach in ein anders Tal, da war lauter Eis und Schnee und überhaupt nur Gebirge.

Menschen waren keine dort, und unsere Armee hat net weiter wollen, aber der Dravot hat einen von ihnen zsammgschossen und mir sin dann weitergezogen, bis der Dravot auf Leute gestoßen is in einem Dorf; und die Armee hat ihnen bedeutet, daß sie alle umgebracht würden, wenn sie sich unterstehen sollten zu schießen, diese Leut ham nämlich Luntengewehre gehabt. Mir haben dann bald mit den Priestern der Gegend Freundschaft geschlossen und der Carnehan is allein zurückgeblieben und hat jeden einzelnen Mann zum Soldaten abgerichtet, bis ein Mordskerl von einem Häuptling über den Schnee herübergekommen is mit Kesselpauken und Hörnerblasen, denn es hat sich herumgesprochen gehabt, daß ein neuer Gott auf die Erde herabgekommen sei. Da hat dann der Carnehan dem Häuptling einen Boten entgegengeschickt und ihm sagen lassen, er soll sofort ohne Waffen kommen und mit ihm sich die Hände schütteln, sonst gehts um seinen Kopf. Der Häuptling is auch gleich gekommen, und der Garnehan hat ihm die Hand geschüttelt und mit den Armen gefuchtelt, wie er es vom Dravot gelernt hatte. Der Häuptling war darüber damisch erstaunt und hat seine Augenbrauen angestarrt. Dann hat der Carnehan den Häuptling beiseite genommen und hat ihn in der Taubstummensprache gefragt, ob er nicht einen Feind hat. ›Ja, natürlich‹ hat der Häuptling gsagt, und dann hat der Carnehan ihm seine Leute gedrillt, bis sie nach vierzehn Tagen haben manövrieren können wie Freiwillige. Dann bin ich mit ihm auf ein großes Bergplateau hinauf, und seine Armee hat ein Dorf erstürmt; ich und meine zwei Leibsoldaten haben mit den Martinis mitten hineingepfeffert und haben so mit das Dorf erobert. Nacher hab ich dem Häuptling einen Fetzen von meinem Rock gegeben und ihm gsagt: ›Du bist jetzt hier Statthalter, bis ich wiederkomm!‹ Mir ham des schriftlich abgmacht. Ja, da fallt mir grad ein: Ich und die Armee waren noch keine achtzehnhundert Yard weg, da hab ich ihm eine Kugel vor die Fuß gschossen, wie er so auf dem Schnee gstanden is, und seine Leut sind sofort flach aufs Gsicht gefallen. Dann hab ich dem Dravot einen Brief geschrieben und ihm nachgeschickt.«

Auf die Gefahr hin, den armen Teufel aus dem Konzept zu bringen, unterbrach ich ihn mit der Frage: »Wie konnten Sie denn dort oben etwas schriftlich abmachen oder gar einen Brief schreiben?«

»Einen Brief? Brief!?« war die verwirrte Gegenfrage. »Bitte, schauen Sie mir immer fest zwischen die Augen! – Ja, ich weiß jetzt: es war ein Strick mit Knoten drin als Brief; mir haben das gelernt unterwegs von einem blinden Bettler im Punjab.«

Ich erinnerte mich: Eines Tages war in die Kanzlei ein blinder Mann gekommen, der wickelte auf besondere Weise einen Strick um einen mit Knorren versehenen Stock und hatte sich damit eine Art Schrift zurechtgelegt. Nach Stunden und Tagen konnte er daraus ganze Sätze wieder herunterlesen, die wir ihm diktiert hatten.

Sein Alphabet bestand aus elf primitiven Lauten; er versuchte mir sein System begreiflich zu machen, damals – aber ich konnte es nicht verstehen.

»Ich hab also dem Dravot einen Brief geschrieben«, fuhr Carnehan fort, »und darin gesagt, er soll sofort zurückkommen, denn das Königreich wird mir zu groß und ich kenn mich nicht mehr aus, wie mirs weiterregieren. Ich bin dann wieder in das erste Tal heim, um nachzusehen, ob die Priester auch ihre Pflicht tun; das Dorf, das ich mit dem Häuptling erobert hab, hat Bashkai geheißen, und das erste Dorf: Er-Heb. Die Priester in Er-Heb ham tadellos funktioniert, aber sie ham eine Masse Fälle zu erledigen gehabt, und in der Nacht, so haben sie mir berichtet, hätten Männer aus dem Nachbardorfe Pfeile herübergeschossen. Ich bin auch gleich hin und hab mir das Nachbardorf angeschaut und auf tausend Meter vier Salven drauf abgeben lassen. Das hat den Rest meiner Munition gekostet, aber es hat meine Leute beruhigt. Ich hab dann warten müssen auf den Dravot, der zwei oder drei Monate fort war.

No, und eines Morgens hab ich einen Höllenspektakel gehört von Pauken und Hörnern, und der Dravot ist mit seiner Armee anmarschiert den Berg herunter und hinter ihm eine Menge Menschen – viele hundert; aber was das erstaunlichste war: er hat eine goldene Krone auf dem Kopf ghabt! ›Mein Gott, Carnehan,‹ hat er zu mir gsagt, ›das ist ein Riesengeschäft, und ich bin so weit vorgedrungen, als es sich verlohnt hat. Ich bin der Sohn des Alexander mit der Königin Semiramis, hab ich ihnen eingeredet, und du bist mein jüngerer Bruder und ein Gott, wie ich. Es ist die allergrößte Sache, die mir jemals gedeichselt ham; sechs Wochen bin ich mit meiner Armee marschiert, und jedes kleine Drecknest auf fufzig Meilen in der Runde ist gekommen, um mir zu huldigen. Aber das ist noch gar nix: ich hab den Schlüssel in der Hand zu dem ganzen Gemurx, wie du gleich sehen wirst; und ich hab dir auch eine Krone mitgebracht. Ich hab zwei Stück davon machen lassen in Shu, wie der Ort heißt; ich sag dir: Gold liegt dort im Gestein, wie Fett im Hammelfleisch. Gold hab ich dir gsehn! Mit dem Absatz hab ich Türkisen aus dem Felsen getreten und im Flußsand liegen die Granaten nur so umanand. Da hast ein Trumm Ambra! Ein Kerl hat mirs gebn. Ruf jetzt die Priester zusammen, Peachey, und da hast deine Krone!‹ hat er gesagt.

Und sofort is einer von den Leuten des Dravot vorgetreten und hat mir einen schwarzen Haarbeutel hinghalten und ich hab die Krone herausgefischt. Sie war zu klein und zu schwer für mich, aber ich hab sie doch aufgesetzt, des Ruhmes wegen. Aus gehämmerten Gold is sie gwesen, fünf Pfund schwer und wie der Ring von einem Geschützlauf.

›Du Peachey‹, hat mir der Dravot noch gsagt, ›weißt d‘, daß mir gar nimmer kämpfen brauchen? Mit der Freimaurerei können mirs be-streiten‹ – und dabei schleppte er den Häuptling heran, den ich in Bashkai zurückgelassen hab. Billy Fish ham wir ihn später genannt, weil er so ausgsehen hat wie der Billy Fish, der damals in alten Tagen in Mach am Bholanfluß die große Dampfwalze geführt hat. ›Gib ihm die Hand!‹ sagt der Dravot, und ich geb ihm die Hand – und fall fast um: er macht mir den ›Lehrlingsgriff‹! Ich sag kein Wort und Versuchs mit dem ›Gesellengriff‹. Er kennt auch den, und ich mach den ›Meistergriff‹, aber da hats net gstimmt! ›Geselle‹, sagt der Dravot, ›is er.‹ – ›Kennt er das Wort?‹ – ›Er weiß es‹, sagt der Dravot, ›und alle Priester wissens. Es ist ein Wunder! – Die Häuptlinge und die Priester können eine Gesellenloge abhalten, genau nach unserm Ritus, und haben die ›Zeichen‹ auf den Felsen eingegraben; aber den dritten Grad, den kennen sie nicht, möchten ihn aber gar zu gern wissen. Bei Gott, es is die Wahrheit! Ich habe schon vor vielen Jahren gehört, daß die Afghanen alles wissen bis zum Gesellengrad; es is das reinste Wunder! Ich hab ihnen gsagt: ich bin ein Gott und ein Großmeister in der ›Kunst‹, und daß ich eine Loge im dritten Grad errichten will und die Oberpriester und Häuptlinge der Dörfer einweihen.‹

›Aber das is gegen das Gesetz, Daniel‹, sag ich, ›eine ungedeckte Loge abhalten ohne Bewilligung! Und du weißt doch, wir ham von keiner Loge eine solche Bewilligung erhalten!‹

›Ach was!‹ sagt der Dravot, ›ein politisches Meisterstück is es aber! Des heißt soviel, wie die ganze Gegend einseifen, wie der Barbier die Kundschaft. Auch können mir jetzt gar nimmer einhalten, oder das Volk steht gegen uns auf. Ich hab vierzig Häuptlinge auf dem Buckel, hab sie fallenlassen oder ausgezeichnet je nach Verdienst. Fang deine Leute in den Dörfern ein und schau, daß mir rasch irgendeine Loge zusammkriegen. Der Tempel von dem Imbra langt schon für ein Logenzimmer. Und die Weiber sollen Freimaurerschürzen machen, wies du ihnen angibst. Ich halt diese Nacht a Häuptlingsversammlung ab und morgen eröffne ich die Loge.‹

No, und ich bin gleich davon gestürzt, so schnell ich hab können, denn ich bin net so dumm, daß ich nicht gsehen hätt, was für einen Mordsvorteil uns so ein Freimaurergschäft eintragen tat. Also, ich zeig den Priesterfamilien, wie die Schürzen für die verschiedenen Grade ausschauen; nur für die vom Dravot haben die blauen Borten und Zeichen aus Türkisen sein müssen auf weißer Menschenhaut statt auf Stoff. Dann ham mir einen großen vierecketen Stein in den Imbratempel hineingeschafft als Sessel für den Meister vom Stuhl und kleinere Steine für die Beisitzer und ham den schwarzen Fußboden mit weiße Quadraten bemalt und ham uns eine damische Müh gebn, daß alles schön ausfallt.

Bei dem Leweh, was der Dravot abends gegeben hat oben auf dem Berg mitten unter großen Festfeuern, hat er verkündigt, daß mir Götter sin und Söhne vom Alexander und Großmeister in der ›Kunst‹ und gekommen sind, auf daß Kafiristan ein Land werde, in dem jeder in Frieden essen kann und in Ruhe trinken und uns gehorchen darf. Dann sind die Häuptlinge aufgestanden und haben uns die Hand geschüttelt, und sie waren alle so haarfein und weiß und blond, daß mir war, als seien sie alte Freunde mit mir. Mir ham ihnen dann Namen gegeben, je nachdem sie Leuten ähnlich gsehen haben, die mir früher gekannt ham: Billy Fish, Holly Dilworth und Pikky Kergan, der wo Bazarmeister gwesen is, als ich noch in Mhow war, und so weiter und so weiter.

Aber die allergrößten Wunder sind in der Nacht darauf in der Loge geschehen. Einer von die alten Priester hat uns nicht aus den Augen gelassen und mir is schon recht schwummrig zumut geworden, denn ich hab gewußt, irgendwie müssen mir jetzt die Loge windbeuteln, aber ich hab doch nicht gewußt, wie weit die Leute die Sache kennen und wie weit nicht. Der alte Priester war ein Priester von weit her jenseits des Dorfes Bashkai. In dem Augenblick zieht der Dravot die Meisterschürze an, die ihm die Mädeln gemacht ham, und da stößt der alte Priester einen Schrei aus und ein Mordsgebrüll und versucht, sich zu dem Stein hinzudrängen, auf dem der Dravot sitzt. ›Jetz is alles aus‹, sag ich, ›das kommt davon, wenn man in die Maurerei hineinpanscht und kennt sich net recht aus!‹ Aber der Dravot zuckt nicht mit der Wimper, wie zehn Leut Miene machen, über den Meisterstuhl herzufallen – das heißt: eigentlich über den Steinsockel vom Imbra. Gleich darauf wischt der alte Priester am untern Ende von dem Sockel den schwarzen Schmutz weg und da wird das Meisterzeichen – dasselbe, das der Dravot auf der Schürzen hat – sichtbar; die andern haben gar nicht gewußt, daß es in den Stein eingemeißelt war! Und sofort fällt der Alte vor dem Dravot aufs Gesicht und küßt ihm die Füße. ›Glück ham mir wieder gehabt!‹ sagt der Dravot zu mir hinüber über die Loge, ›sie sagen: es ist das ›verlorengegangene Wort‹, dessen Sinn keiner versteht.

Jetzt sin mir ganz sicher!‹ Dann stößt er den Gewehrkolben auf den Boden, verschafft sich Ruhe und spricht: ›Dank der Würde – die ich mir selbst mit meiner Rechten erworben und mit Hülfe von dem Peachey – ernenne ich mich selber zum Großmeister aller Freimaurer in Kafiristan in dieser Mutterloge des Landes und zum König so wie auch den Peachey !‹ Dabei setzt er sich die Krone auf, und ich setz die meinige auf – ich war Senior-Türhüter – und mir eröffnen die Loge in aller Form. Es war ein Wunder! Die Priester gingen die zwei ersten Grade durch, fast ohne ein Wort zu sprechen; sie wußten alles auswendig. Dann hat der Peachey und der Dravot die, wo würdig waren, im Rang erhoben – die hohen Priester und die Häuptlinge aus den fernen Dörfern. Billy Fish war der erste, und ich kann Ihnen sagen: mir ham die Seele aus ihm herausge scheucht! Im ganzen harn mir bloß zehn von die Wichtigsten im Rang erhoben, denn mir ham net wollen, daß der Meistergrad vulgär wird. Es war natürlich ein Mordsgereiß um die Würde.

›In sechs Monaten«, sagt der Dravot zu ihnen, ›werden mir wieder eine Versammlung abhalten und schauen, wie ihr gearbeitet habt!‹ Dann fragt er sie aus nach ihre Dörfer und erfährt, daß sie alle im Krieg miteinander sin, es aber schon dick satt haben. Und wenn sie nicht grad selber miteinander raufen, nacher kämpfens mit die Muhammedaner. ›Wenn die Muhammedaner kommen‹, sagt der Dravot, ›ja dann könnts kämpfen! Nehmts jeden zehnten Mann aus euern Stämmen und bildets eine Schutztruppe, und schickts jetzt immer zweihundert her ins Tal, damit mir sie abrichten. Keiner wird erschossen oder aufgespießt, solang er pariert, und ich verlaß mich drauf, daß ihr mich net anschmiert, denn ihr seid Weiße – Söhne vom Alexander – und nicht wie die gemeinen schwarzen Muhammedaner! Ihr seid: Mein Volk! Und bei Gott‹, – des hat er auf englisch gesagt – ›ich will eine verdammt feine Nation aus euch machen, oder darüber verrecken!‹

Ich kann Ihnen nicht erzählen, was mir noch alles gemacht haben in den nächsten sechs Monaten, weil der Dravot so viel zu tun ghabt hat, daß ich es mir nicht gemerkt hab, aber er hat ihre Sprache so gründlich gelernt, wie ich es nicht imstande war. Meine Aufgabe war, den Leuten das Pflügen beizubringen und hie und da mit meiner Armee in den Dörfern nach Ordnung zu sehen und dafür zu sorgen, daß Hängeseilbrücken über alle Abgründ angelegt werden, die dort einfach schauerlich sin.

Der Dravot war immer sehr freundlich zu mir, aber wenn er so auf und ab gegangen is im Kiefernwald und hat sich sein feuerroten Bart mit beide Pratzen zerwühlt, da hab ich gespannt: er denkt über Pläne nach, für die er meinen Rat nicht braucht, und hab gschwiegen und auf seine Befehle gewartet. Vor dem Volk hat er mich nie in Mißreschpekt gesetzt. Vor mir haben sie sich gfürcht und vor der Armee, aber ihn hams geliebt. Mit den Priestern und den Häuptlingen war er auf dem freundschaftlichsten Fuß, und keiner is über die Berge gekommen mit einer Bitte, die der Dravot nicht geduldig angehört hätt; dann hat er immer die Priester versammelt und ihnen gesagt, was zu geschehen hat.

Meistens hat er den Billy Fish aus Bashkai kommen lassen und den Pikky Kergan aus Shu und einen alten Häuptling, den mir Kafuzelum geheißen ham, weil des so ziemlich sein wirklicher Name war, und mit ihnen Beratungen abgehalten, wenn das Raufen in den kleinen Dörfern wieder angfangt hat. Das war sein Kriegsrat und die vier Priester aus Bashkai, Shu, Khawak und Madora waren sein Privatkonzil. Nachher bin ich mit zwanzig Mann und Gewehren und sechzig Trägern, beladen mit Türkisen, in die Ghorband-Gegend marschiert, um die handgemachten Martinistutzen einzukaufen, die aus der Werkstatt vom Emir in Kabul kommen und den Herati-Regimentern gehören, die sich die Zähn ausm Maul rausreißen, wanns Türkisen derwischen können.

In Ghorband bin i an Monat bliem und hab dem Gufernöhr einen Batzen aus meiner Taschen gebn als Bestechung und dem Oberschten vom Regiment grad soviel, und dafür ham mir hundert Martinis kriegt, weitere hundert gute Kohat Jezails, die auf sechshundert Meter noch eine damische Durchschlagskraft ham, und vierzig Trägerlasten Munition von einer hundsmiserabeln Beschaffenheit. Wie ich heimkommen bin, hab ich alles unter die Leut verteilt, die wo uns die Häuptlinge zum Abrichten geschickt haben. Der Dravot hat viel zuviel zu tun ghabt, als daß er auf alles des hätt achten können, aber die alte Armee, die wir gegründet hatten, hat mir beim Drillen geholfen, so daß mir bald fünfhundert Mann ghabt ham, die selber haben abrichten können, und zweihundert, die alles in Ordnung ghalten ham. Sogar die Stöpselzieher von handgemachten Flinten waren für sie das reinste Wunder. Der Dravot hat nacher immer das Maul voll ghabt von zu gründenden Pulvermagazinen und Gewehrfabriken, wenn er auf und abgloffen is im Kiefernwald, wie der Winter kommen is. ›

Nicht nur eine Nation solls werden‹, hat er gsagt, ›nein, ein Kaiserreich! Diese Leute sind keine Nigger nicht, sie sind Engländer! Schau bloß hin, wies dastehn, schau auf ihren Mund! Schau ihnen in die Augen! Auf Sesseln sitzens in ihre Häuser! Sie sin die verschollenen Stämme, oder so was, – aber auswachsen tun sie sich als Engländer! Ich werd eine Volkszählung veranstalten im Frühjahr, wanns die Priester nicht stiert. Zwei Millionen wirds von ihnen gebn in diesen Bergen! In den Dörfern wurlns nur so umanand – die kleinen Kinder! Denk amal: zwei Millionen Leut! Das sin zweihunderttausend Krieger und lauter Engländer! Sie brauchen bloß Flinten und den Drill. Zweihunderttausend Mann, fertig, um den Russen in die rechte Flanke zu fallen, wanns in Indien eindringen wollen! Peachey!‹ hat er gsagt und ganze Bissen von sein roten Bart zerkaut, ›Peachey! Mensch! Kaiser werdn mir noch werdn – Kaiser der ganzen Erde! Der Radscha Brooke is ein Dreck dagegen. Mit dem Vizekönig werd ich auf ›Du und Servus‹ stehn. Ich werd ihm sagen lassen, er soll mir zwölf Engländer schicken – ausgsuchte -, die wo ich selber persönlich kenn, damits uns ein bissel regieren helfen. Da war, zum Beispiel, gleich der Madkray, der pensionierte Sergeant in Segowlie; manches feine Mittagessen hat er mir gebn und seine Frau ein paar Hosen. Dann war da noch der Donkin, der Portier von Tounghoo Jail, und hundert andere, auf die ich mich hab verlassen können, als ich noch in Indien war. Der Vizekönig soll das für mich besorgen. Ich werd einen Mann hinunterschicken im Frühjahr, und mir die Leute bringen lassen. Ich werd ihm einen Brief an die Großloge mitgeben um Dispens für das, was ich als Großmeister hier angestellt hab. Und alle die alten Snidergewehre braucht ich, die weggeschmissen werden, wenn die Eingeborenentruppen in Indien die Martinis fassen. Sie werden voller Dreck sein, aber für den Krieg in den Bergen hier reichts noch. Zwölf Engländer, hunderttausend Sniders, und mir zerlegen die Untertanen vom Emir in kleine Bestandteile – ich begnüg mich mit zwanzigtausend Menschen im Jahr – und bald sin mir dann ein Kaiserreich.

Wenn nacher alles klappt, dann überreich ich der Königin Viktoria auf den Knien die Krone – die Krone, die wo ich jetzt auf dem Haupte trage – und sie wird sagen: ›Erheben Sie sich, Sir Daniel Dravot!‹ Ja, das is eine dicke Sache! Eine ganz dicke Sache, sag ich dir! Wenn nur net soviel zu tun wäre überall – in Bashkai, in Khawak, in Shu und überall da drüben!‹ ›No, is denn weiter soviel zu tun?‹ sag ich. ›

Diesen Herbst kommen keine Leut mehr zum Abrichten. Da schau: die fetten schwarzen Wolken am Himmel! Sie bringen Schnee.‹

›Darum handelt es sich jetzt nicht‹, sagt der Dravot und legt mir die Hand schwer auf die Schulter, ›und ich will auch nichts gegen dich sagen, denn kein anderer Mensch war mir gefolgt und hätt so viel für mich gewagt, wie du, Peachey! Du bist Oberbefehlshaber über die Armee, und das Volk weiß das; aber es is ein riesiges Land, und in allem kannst du mir nicht helfen, so, wie ich gern möcht!‹

›Geh halt zu deine damischen Priester!‹ sag ich, gleich drauf hats mich greut, daß ichs gsagt hab, aber es hat mich halt gfuchst, daß der Daniel so von obenrunter gsprochen hat; wo ich doch die Leut drillt hab und alles tan hab, was er mir angschafft hat.

»Streiten mer uns net, Peachey«. sagt der Daniel und bleibt ganz ruhig, ›du bist auch ein König, und die Hälfte von dem Reich ghört dein; aber einsehen mußt: mir brauchen geschicktere Leut, als mir selber sin, drei oder viere, die wo mir rumschicken können als Deputierte. Es is halt ein ungeheurer Staat und ich kann net überall nach dem Rechten sehen und hab auch die Zeit nicht dazu, alles so zu machen, wies sein sollt, gar jetzt, wo der Winter kommt.«

Und dabei hat er sein halbeten Bart – so rot war er wie das Gold seiner Krone – in den Mund genommen und zerkaut. ›

Es tut mir leid, Daniel‹, sag ich, ›aber ich hab alles getan, was ich hab können: ich hab die Leut gedrillt und ihnen gezeigt, wie der Weizen besser geschobert wird, und hab Flinten verschafft aus Ghorband rüber – aber ich kann mir schon denken, was mit dir los is: ich glaub, es sin die Sorgen, die alle Könige haben!‹

›Es is noch was anders«, sagt der Dravot und geht dabei auf und ab. ›der Winter kommt, und die Leut werden uns jetzt wenig Arbeit machen; und wenns auch war, mir können nicht rumreisen wegen dem Schnee. Was ich brauch, is -: ein Weib!‹

›Um Gotteswillen!‹ schrei ich, ›laß die Weibsbilder steh! Wir ham alls gmacht, was mir ham können, oder ich bin ein Narr. Denk an den Kontrack und halt dich von die Weibsen fern!‹

›Der Kontrack hat bloß Gültigkeit ghabt‹ sagt der Dravot und wiegt seine Krone in der Hand, ›solang mir noch keine Könige waren; nimm dir halt auch ein Weib, Peachey, – a hübschs, stämmigs, fleischigs Mädel, die dich schön warm hält im Winter. Sie sin hier netter als die englischen Mädeln, und mir ham a feine Auswahl. Kochs a paarmal in heißem Wasser aus und sie kommen raus wie die Hähndeln.‹

-›Führe mich nicht in Versuchung!« sag ich. ›Ich will mit die Frauenzimmer nix zu tun ham, selbst wenn mir noch viel sicherer wären als jetzt. Ich hab gschafft für zwei Männer und du für drei. Laß mer die Weiber Weiber sein und schau mer liaber, daß mir an bessern Tawack kriagn aus Afghanistan und an Schnaps, – bloß kane Weiber net!‹ –

›Wer redt denn glei von mehrere Weiber?‹ sagt der Dravot. ›Ich rede von einer Gemahlin – einer Königin, die wo einen Königsohn ausbrütet für den König! Eine Königin aus dem stärksten Stamme, wodurch dann eine Blutsverwandtschaft geschaffen wird – eine, die einem an der Seite liegt und berichtet, wie das Volk denkt, und seine Bedürfnisse kennt. Sowas braucht ich!‹

›Denk an die Bengalin‹, sag ich, ›die, wo ich mir aufzwickt hab im Mogul Serai, wie ich noch Schienenleger gwesen bin! A gut unterspickts Trumm Mensch is’s gwesen, freilich, und hat mir den Eingeborenendialekt beigebracht und noch a paar solchene Sachen, aber was is nachher gescheh? Davon gloffen is’s mer mit dem Diener vom Stationsmoaster und mit meim halben Monatslohn. Und dann in Dadur hat sie sich rumtriebn mit einem Mischling und hat noch die Frechheit gehabt zu sagen, sie sei meine angetraute Gemahlin! Und noch dazu bei die Maschinenführer in der Werkstatt !‹

›Des paßt net her«, sagt der Dravot, ›die Weiber hier sin weißer, als du und ich; a Königin will ich ham für die Wintermonate!‹

›Zum letzten Mal bitt ich dich, Dan‹, sag ich, ›laß des bleibn! Es wird uns nur Unglück bringen! In der Bibel steht: Könige sollen ihre Kräfte nicht an Weiber verschwenden, gar, wenns ein neues, noch nicht recht fertiges Königreich unter sich ham.‹ –

›Und ich sag dir zum letztenmal: ich will!‹ schreit der Dravot, und davon is er durch den Kiefernwald wie a roter Teifel, den Glanz der Sonne auf seinem Bart und auf der Krone und so.

Aber es war nicht so leicht, ein Weib kriegn, wie der Dan gmeint hat. Er hats in der Versammlung vorgetragen, und alle ham gschwiegen, bis der Billy Fish gmeint hat, es war des gscheiteste, er fraget halt die Mädeln selber. Der Dravot hat gflucht wie narrisch.

›Was is denn an mir schlechts?‹ hat er geschrien und sich neben den steinernen Imbra gstellt, – ›bin ich ein Hund oder bin ich leicht nicht Mann genug für eure Schlampen? Hab ich nicht den Schatten meiner Hand gehalten über dieses Land? Wer hat denn den letzten Afghaneneinfall abgewehrt, was? (Eigentlich bin i des gwesen, aber der Dravot in seiner Wut hats halt vergessen.) Und euch Flinten bracht, was? Und wer hat die Brücken repariert, was? Und wer is denn nachher der Großmoaster mit dem Zeichen da auf dem Steinsockel, was?‹ und dabei hat er auf den Stein gewiesen, auf dem er immer gsessen is, wann grad eine Loge abgehalten wurde. Der Billy Fish hat nix mehr gsagt und die andern scho gar net. ›Gib halt nach, Dan‹, sag ich, »und frag halt die Mädeln! Drüben is ja auch Sitte, daß mer in aller Form anhalten tut, und hier is das Volk so gut wie englische ›

Die Heirat des Königs ist eine Staatsangelegenheit!‹ sagt der Dravot, rotglühend vor Zorn, denn er hat natürlich innerlich gespürt, daß er gegen seine bessere Überzeugung spricht. Dann is er hinaus aus dem Beratungszimmer, und die andern sin still dagsessen und ham auf den Boden gschaut.

›Billy Fish‹, sag ich zu dem Häuptling aus Bashkai, ›woran haperts eigentlich? Gib einem treuen Freund eine offene Antwort!‹

»Du weißt es‹, sagt der Billy Fish, »wie kann ich einem, der alles weiß, etwas sagen? Können denn die Töchter der Menschen Götter oder – Teufel heiraten? Es geht nicht an!‹

Mir is eingefallen, daß etwas ähnliches in der Bibel steht; aber, solang sie uns für Götter halten, hab ich mir denkt, kann ich sie doch nicht aufklären. »Ein Gott kann alls‹, sag ich; ›wenn ein Gott ein Mädel gern hat, wird sie nicht dran sterben.‹

›Doch! Sie wird! ‹ sagt der Billy Fish. ›Es gibt alle Arten Götter und Teufel hier in den Bergen und bisweilen erwählen sie sich ein Mädchen, aber es verschwindet für immer aus unserer Mitte. Und dann: Ihr beide kennet die Bedeutung des Zeichens hier auf dem Stein! Nur Götter kennen sie. Wir hielten euch für Menschen, bis ihr das Meisterzeichen uns gewiesen habt.‹

›Hätten mir doch nur alles gesagt – damals – über das verlorene Geheimnis der Freimaurerei!‹ denk ich bei mir und schweig. Die ganze Nacht hindurch war Hörnergeblase in einem kleinen dunkeln Tempel auf einem Bergabhang, und ich hab ein Mädchen schreien hören in Todesangst; einer der Priester hat gsagt; man bereitet sie vor, den König zu heiraten.

›Ich will diesen Unsinn nicht‹, sagt der Dravot; ›ich misch mich nicht in eure Sitten, aber ich will mir ein Weib nehmen, wie mirs paßt!‹ ›Das Mädchen fürchtet sich‹, sagt der Priester; ›sie glaubt, sie muß sterben. Sie – ermuntern sie drüben im Tempel.‹

›Ermuntert sie aber gefälligst zart und freundlich!‹ sagt der Dravot. ›Oder ich werd euch mit dem Flintenkolben ermuntern, daß euch Hören und Sehen vergeht!‹

Und er leckt sich die Lippen, der Dravot, und geht die halbe Nacht erregt auf und ab und denkt wahrscheinlich an das Weib, das ihm am Morgen zugeführt wird. Mir war nicht recht geheuer zumut, aber ich hab mir denkt: was kann denn viel geschehen, wann ein anerkannter gekrönter König in einer fremden Gegend sich mit einem Frauenzimmer einlaßt?! In der Früh bin ich zeitlich aufgstanden, während der Dravot noch gschlafen hat, und da hab ich gsehen, wie die Priester mit einander geflüstert ham und die Häuptlinge, und wie sie mich aus die Augenwinkel heraus belauert haben.

›Was gibts denn eigentlich‹ frag ich den Billy Fish; er hat prachtvoll ausgschaut in seinem Pelz.

›Ich weiß es selbst nicht recht‹, sagt er, ›aber, wenn du dem König den Unsinn mit der Heirat ausreden könntest, so erwiesest du ihm und dir und mir einen großen Dienst!‹

›Des glaub i net‹, sag ich, ›aber hör jetzt zu, Billy Fish: mir ham doch gegeneinander gekämpft und für einander! Ich versicher dir: der König und ich sin nicht mehr und nicht weniger als die zwei allerfeinsten Burschen, die der allmächtige Gott erschaffen hat, sonst aber auch nix! Kannst es mir glauben !‹

›Kann sein‹, sagt der Billy Fish, ›und doch wäre ich traurig, wenn es so wäre!‹ Und dann läßt er seinen Kopf auf seinen großen Pelzmantel sinken und denkt nach – eine Minuten lang. ›König‹, sagt er, ›ob du nun ein Mensch bist, oder ein Gott, oder ein Teufel, ich harre heute bei dir aus. Ich habe zwanzig Mann bei mir, die mir treu ergeben sind. Wir werden nach Bashkai gehen, wenn es zu stürmen beginnt.‹

Ein wenig Schnee war gefallen in der Nacht, und alles war weiß bis auf die grauen schweren Wolken, die herangejagt sin aus dem Norden, eine nach der ändern. Dann kommt der Dravot heraus mit der Krone auf dem Kopf, windmühlt mit die Hand und stampft mit die Fuß, – fideler hat er ausgschaut wie der Hanswurst selber.

›Zum letztenmal warn ich dich, Dan, laß die Gschicht fallen!‹ flüster ich ihm zu. ›Der Billy Fish meint, es gibt einen Tanz!‹

›Einen Tanz? Unter meinem Volk?!‹ lacht der Dravot. ›Das gibts nicht. Peachey, du bist ein Narr, daß du dir nicht auch ein Weib nimmst! – Wo ist das Mädchen?‹ brüllt er mit einer Stimme, so laut wie das Heulen eines Schakals. ›Man rufe die Priester und die Häuptlinge herbei und lasse den Kaiser sehen, ob sein Weib ihm gefällt!‹

Die Leut zu rufen war nicht nötig; sie sin in der Lichtung von dem Kiefernwald umeinandgstanden, auf ihre Gewehre und ihre Speere gelehnt. Dann sin mehrere Priester in den kleinen Tempel hinuntergeloffen, um das Mädel zu bringen, und ham auf den Hörnern geblasen, als möchten sie die Toten erwecken. Und da macht sich der Billy Fish verstohlen an den Daniel heran, ganz in seine Nähe, und hinter ihm stehen die zwanzig mit ihren Steinschloßgewehren. Alles Männer von sechs Fuß. Auch ich war in der Nähe vom Dravot mit zwanzig Leuten der regulären Armee. Da kommt das Mädchen, und ein strammes Mensch wars, über und über behängt mit Silber und Türkisen, aber so weiß wie der Tod; zurückgschaut hats alle Augenblicke nach die Priester.

›Sie gefällt mir‹, sagt der Dan und er frißt sie mit die Augen. ›Komm her, Mädel, gib mir einen Kuß!‹ Und er umschlingt sie mit den Armen. Sie schließt die Augen, quietscht ein bissel auf und begräbt ihr Gesicht von der Seiten in dem Dravot seinen feuerroten Bart.

›Das Luder hat mich gebissen!‹ schreit der Dravot, fahrt mit der Hand ins Genick und zieht sie gleich darauf blutbedeckt wieder zurück – und sofort reißen ihn der Billy Fish und zwei von seinen Leuten zu sich in die Mitte der Bashkaisoldaten. Aber schon brüllen die Priester in ihrem Kauderwelsch: ›Kein Gott, kein Teufel, ein Mensch ist er!‹ Auch ich werd zurückgestoßen, ein Priester pflanzt sich vor mich hin und meine Armee fangt zum schießen an, aber – auf die Bashkaileute!

›Gott, Allmächtiger !‹ sagt der Dravot, ›was geht hier vor?‹

›Zurück! Fort! Fort!‹ sagt der Billy Fish. ›Verderben und Meuterei, das geht hier vor! Wir müssen nach Bashkai durchbrechen, wenns möglich ist!‹

Ich such noch Befehle an meine Leute von der regulären Armee zu geben, aber es is umsonst, und so pfeifet ich halt mit meinem Martini mitten unter das Gesindel hinein, schlag drei von den Viechern zu Boden. Das ganze Tal is erfüllt von heulenden, gellenden Kreaturen, und ein jeder schreit: ›Kein Gott, kein Teufel, nur ein Mensch ist er!‹ Die Bashkais halten treu zu Billy Fish, aber was können sie machen mit ihren Steinschloßgewehren gegen die KabulHinterlader! Und viere von ihnen fallen. Der Dan brüllt wie ein Ochs und is außer sich vor Wut, und der Billy Fish kann ihn kaum zurückhalten, daß er sich nicht mitten in die Menge stürzt.

›Wir können nicht mehr standhalten‹ sagt der Billy Fish, ›brechen wir durch ins Tal hinunter; alles ist gegen uns.‹ Da sin dann seine Leut hinunter und wir mit, sosehr sich der Dravot auch gsträubt hat. Gschworen und gflucht hat er wie ein Wahnsinniger und immerfort gschrien, er ist ein König. Die Priester haben große Steine auf uns herabgerollt und die reguläre Armee hat fest gefeuert, und so sin nur sechs Mann lebendig unten angekommen außer dem Dan, dem Billy Fish und mich.

Dann hams zum feuern aufghört, und die Hörner in die Tempel ham zum blasen angfangt.

›Kommt fort um Gotteswillen, kommt fort!‹ schreit da der Billy Fish, ›sie werden Eiltruppen in alle Dörfer schicken, ehe wir nach Bashkai kommen! Dort kann ich euch beschützen; hier ist alles umsonst.‹

Ich glaub, der Dan is von jener Stund an nicht mehr recht im Kopf gwesen; er hat um sich gstarrt wie ein abgestochenes Schwein. Dann wieder hat er umkehren wollen, ganz allein, und die Priester mit die bloßen Hand erdrosseln, und er wärs auch imstand gwesen. ›Ein Kaiser bin ich‹, hat er immerfort gsagt, ›und nächstes Jahr ein Baronet der Königin!‹

›Schon recht, Dan‹, sag ich, ›aber jetzt komm mit, solangs noch Zeit is!‹

›Deine Schuld is‹, schreit er; ›hättst besser Obacht gebn auf deine Armee! Die Meuterei hat in ihnen gsteckt, aber du hast nix gmerkt. Du verdammter Hans Dampf, du Schienenleger, du Hund von einem Pfaffenspeichellecker!‹ Dabei is er auf einem Felsen gsessen und hat mich mit jedem Schimpfnamen belegt, der ihm grad auf die Zungen kommen is; ich war viel zu todtraurig, als daß ich mich drum kümmert hätt. Seine Schuld wars doch, daß mir so in den Saft kommen sin!

›Tut mir leid, Dan, sag ich, ›aber was hilft das Schimpfen? Mit unsern Gschäft is gar und aus! Kann sein, mir derfangens noch und richtens wieder auf, wenn mir in Bashkai sin!‹

›Also geh mer halt nach Bashkai‹, sagt der Dan, ›aber wenn ich jemals wieder hierher zurückkomme, so will ich dieses Tal wegfegen, daß auch nicht eine Wanze mehr am Leben bleibt!‹

Wir sin marschiert den ganzen Tag und die ganze Nacht, und der Dan is durch den Schnee gstampft und hat vor sich hinbrummt.

›Keine Hoffnung mehr!‹ sagt der Billy Fish plötzlich. ›Die Priester haben Eilboten in die Dörfer geschickt mit der Nachricht, daß ihr nur Menschen seid. Warum habt ihr euch nicht noch eine Zeit lang als Götter aufgespielt, bis jede Gefahr ausgeschaltet war! Jetzt bin ich ein toter Mann!‹ und damit wirft er sich in den Schnee und fangt zum beten an zu seine Götter.

Am nächsten Morgen waren mir in einer schauderhaften Gegend, alles drunter und drüber, kein fester Boden nicht unter den Füßen und nix zum fressen. Die sechs Bashkais ham den Billy Fish hungrig angschaut, als möchtens ihn um was bitten, aber keiner hat kein Wort nicht gsagt. Am Nachmittag sin mir auf den Gipfel von einem flachen Berg gekommen, aber was sagst: wie mir naufkrallen durch den Schnee, wer steht dort? Die ›Armee‹ und erwartet uns!

›Die Eilboten sind uns zuvorgekommen‹ sagt der Billy Fish und lacht kurz auf. ›Sie erwarten uns.‹

Da eröffnen drei oder vier Mann drüben das Feuer und eine Kugel trifft den Daniel ins Bein. Das bringt ihn zu sich; er schaut hinüber und sieht die Martinistutzen, die mir ins Land gebracht ham.

›Aus is mit uns‹, sagt er, ›die Leut sin wie die Engländer – mein verfluchter Unverstand hat euch in den Saft gebracht. Geh zurück, Billy Fish, und nimm deine Leute mit; du hast alles getan, was möglich war. Jetz geh! Und du, Carnehan‹, sagt er, ›reich mir die Hand und zieh mit Billy! Vielleicht kommst du mit dem Leben durch. Ich geh ihnen allein entgegen. Ich hab alle Schuld; ich allein, der König!‹

›Was?‹ schrei ich, ›was? Fahr zur Hölle, Dan! Ich bin und bleib bei dir! Billy Fish, schau daß d‘ weiterkommst; mir zwei gehen dem Gesindel entgegen.‹

›Ich bin ein Häuptling‹, sagt der Billy Fish kalt und ruhig, ›ich bleibe bei euch; meine Leute können gehen.‹

Die Bashkais ham sich des net a zweitsmal sagen lassen und sin auf und davon. Dann sin mir nüber – der Dan und ich und der Billy Fish -, wo die Trommeln trommelt ham und die Hörner blasen. Es war kalt – ganz entsetzlich kalt. Ich hab die Kälten jetzt noch im Genick; ich hab einen Eisklumpen im Kopf.«

Die Punkah-Kulis waren schlafen gegangen. Zwei Kerosin-Lampen blakten in dem Office, und der Schweiß strömte mir übers Gesicht, fiel in Tropfen auf das Schreibpapier, als ich mich vorbeugte. Trotz der fürchterlichen Hitze schauderte Carnehan, und ich fürchtete, er werde jeden Augenblick das Bewußtsein verlieren. Ich wischte mir das Gesicht ab, faßte die verstümmelte Hand des Unglücklichen und fragte: »Was ist dann geschehen?«

Mein Wegschauen hatte ihn bereits den Faden verlieren lassen.

»Was, bitte, haben Sie gesagt?« greinte er. »Ja, ja -. No, sie ham uns mit sich genommen, stumm, ohne Laut. Totenstill is alles bliebn – in dem Schnee, trotzdem der König den ersten niederschlagen hat, der Hand an ihn hat legen wollen – trotzdem der alte Peachey seine letzte Patrone mitten unter sie neigfeuert hat. Nicht einen Laut hams ausgstoßen, die Sau! Sie ham uns gleich fest in die Mitte gnommen. Es war net zum Aushalten, so ham ihre Pelz gstunken. Was der Mann gwesen is, der wo Billy Fish gheißen hat – der gute Freund von uns -, dem hams die Gurgel durchgschnitten, Herr, von da bis da, wie einem Schwein. No, und der König, der hat mit dem Fuß in dem blutigen Schnee gscharrt und hat gsagt: ›Eine verdammt feine Reise ham mir gemacht für unser Geld. Wohin gehts jetzt?‹ Er hat seinen Kopf eingebüßt – das sagt Ihnen der Peachey Taliaferro aber nur ganz im Vertrauen, denn eigentlich is es anders. Also: der König hat seinen Kopf eingebüßt auf einer von die verfluchten Seilbrücken. Borgen S‘ mir amal Ihr Papiermesser, Herr! Die Gschicht is so gangen: sie sin mit ihm über den Schnee gangen bis zu einer Seilbrücken, die wo über einen Abgrund gspannt war mit einem Fluß tief unten. So was ham Sie schon gsehn! Von hint hams ihn vorwärts gstoßen wie einen Ochsen. ›Gott verdamm eure Augen!‹ hat der König gsagt, ›glaubts vielleicht, ich könnt nicht sterben wie ein Gentleman?‹

Und umdreht hat er sich nach dem Peachey – der Peachey hat gflennt wie a Kind! ›Ich habe dich in diese Lage gebracht, Peachey‹, sagt der König, Herausgerissen aus der Sonne des Lebens, auf daß du hier sterben mußt in Kafiristan! Wo du einst der Befehlshaber gewesen bist von des Kaisers Streitkräften! Sag, daß du mir verzeihst, Peachey!‹ -›Ich verzeih dir‹, sagt der Peachey, ›voll und von selbst verzeih ich dir, Dan!‹ – ›Reich mir die Hand, Peachey !‹ sagt er. ›Ich gehe jetzt.‹ – Und vorwärts is er gangen; hat weder rechts noch links gschaut. Und wie er nachher mitten auf dem schwankenden Seil gstanden is, da hat er laut geschrien: ›Losschneiden, ihr Bettlersklaven!‹ – Da hams das Seil durchgschnitten, und – und der alte Dan is gefallen, rundumadum und rundumadam hat er sich dreht, zwanzigtausend Meilen tief! Eine halbe Stund hats braucht, bis er unten angekommen is; ich hab seinen Leib noch sehen können, wie er zerfetzt an einem Felsen gehängt hat, die goldene Krone neben ihm.

Aber wissens, was sie mit dem Peachey gemacht ham zwischen zwei Föhren? Gekreuzigt ham sie ihn, Herr! Sie sehens jetzt an seiner Hand. Sie ham ihm hölzerne Pflöck durch die Hand und die Fuß getrieben. Ham ihn aufgehängt und gegeißelt, aber er hat nicht sterben können. Wie sie am nächsten Tag nach ihm geschaut ham, da hats geheißen, es is ein Wunder, daß er nicht tot is. Dann hams ihn heruntergenommen – den – armen, alten Peachey, der ihnen doch nie kein Leid nicht zugefügt hat – nein, nein, nie–mals k-kein L-leid nicht —.«

Er rückte hin und her auf seinem Sessel und weinte bitterlich, wischte sich mit seiner verkrüppelten Hand die Tränen aus den Augen und schluchzte wie ein Kind, wohl zehn Minuten lang. Dann fuhr er fort:

»Sie sin grausam genug gwesen, ihn wieder aufzupäppeln im Tempel, denn sie ham gsagt, er sei eher noch ein Gott als der alte Daniel, der bloß ein Mensch war. Dann ham sie ihn in den Schnee hinausgejagt und ham ihm gsagt, er soll heimgehn. Und er is heimgekommen, der Peachey, in einem Jahr. Er hat sich auf den Straßen durchgebettelt und nix is ihm gschehn, denn der Daniel Dravot is immer vor ihm hergeschritten und hat gesagt: ›Komm, Peachey‹, hat er gesagt, ›komm! Wir haben eine große Tat vollbracht! ‹ Die Berge ham über dem Peachey getanzt in der Nacht, aber wenn sie ham auf ihn fallen wollen, da hat der Dan die Hand über ihn gehalten und er is heil hinübergekommen. Niemals hat der Peachey die Hand von dem Dan losgelassen und hat auch seinen Kopf nicht hergegeben! Die Priester im Tempel ham dem Peachey den Kopf geschenkt zum Gedächtnis, daß er niemals nicht wiederkommen darf, und dazu die Krone aus lauterem Golde; und obgleich sie aus lauterem Golde war und der Peachey oft beinahe verhungert wäre, hat er sie dennoch nie nicht verkauft. Und nie würde sie der Peachey nicht verkaufen. Sie ham den Dravot gekannt, Herr! Den verehrungswürdigen Bruder Dravot! Wollen Sie ihn sehen?«

Carnehan wühlte in seinen Lumpen, zog einen schwarzen, silberdurchwirkten Roßhaarbeutel hervor und schüttete auf die Tischplatte: den verwitterten, vertrockneten Kopf Daniel Dravots! Die Strahlen der Morgensonne hatten längst das Licht der Lampen verdrängt, sie fielen jetzt auf den roten Bart und die eingesunkenen Augen des Schädels, fielen auf einen breiten goldenen Reifen, verziert mit Türkisen! Zärtlich drückte Carnehan die Krone über die eingefallenen Schläfen des Totenkopfs.

»Schauen Sie jetzt!« sagte er, »so hat er ausgesehen, der Kaiser, als er noch am Leben war – der König von Kafiristan mit der Krone auf dem Haupte. Armer, alter Daniel, ein Monarch bist du einst gewesen!«

Ich schauderte, denn trotz der furchtbaren Entstellung erkannte ich deutlich den Kopf des Mannes aus Marwar. Carnehan wollte aufbrechen. Ich versuchte ihn zurückzuhalten; er schien mir noch nicht fähig, gehen zu können. »Geben S‘ mir den Wisky mit und ein bissel Geld!« keuchte er. »Auch ich war einst ein König! Ich will zum Deputatskommissär gehen und ihn bitten, daß ich im Armenhaus unterkommen kann, bis ich wieder gesund bin. Nein, dankschön, ich kann nicht warten, bis Sie mir einen Wagen holen! Ich hab dringende Privatgeschäfte – im Süden – in Marwar.«

Und er tastete sich hinaus aus dem Office und schlich in der Richtung zum Deputatshaus fort. Am Nachmittag mußte ich über die glühheiße Promenade fahren, und da sah ich einen Krüppel durch den weißen Staub des Wegrandes kriechen, den Hut in der Hand; er summte kläglich vor sich hin, wie es die Straßenbettler in der Heimat zu tun pflegen. Weit und breit war keine Seele zu sehen und nirgends ein Haus in Hörweite! Dennoch sang er – durch die Nase und dabei den Kopf hin und herwiegend. Ich verstand:

»Des Menschen Sohn zieht in den Krieg,
Eine Krone aus Gold zu erringen;
Das blutrote Banner weht zum Sieg –
Kommt mit: es muß gelingen!«

Ich hörte das Lied nicht bis zu Ende an, lud das arme Geschöpf in meinen Wagen und fuhr mit ihm zum nächsten Missionshaus, damit man ihn von dort in ein Asyl schaffe. Er wiederholte die Strophe noch ein paarmal und schien nicht die leiseste Ahnung zu haben, wer ich war. Noch im Missionshaus sang er weiter.

Zwei Tage später erkundigte ich mich nach seinem Befinden im Spital bei dem Superintendenten.

»Als man ihn herschaffte, hatte er den Sonnenstich«, hieß es. »Gestern früh ist er gestorben«, sagte der Superintendent. »Ist es wahr, daß er eine halbe Stunde lang barhäuptig mittags umherging?«

»Ja«, sagte ich; »aber, bitte, hat man bei ihm nichts gefunden?«

»Nein«, sagte der Superintendent, »nicht daß ich wüßte.«

Damit endete die Geschichte.

»Der Pfad zum Lachenden Brunnen«

Nimmt man eine große Landkarte zur Hand, so findet man etwa fünfzehn Meilen oberhalb der Stelle, wo sich der Chenab-Fluß in den Indus ergießt, ein Dorf angegeben, das den Namen Chachuran trägt. Fünf Meilen westlich von Chachuran liegt der »Pfad zum Lachenden Brunnen« und die Behausung des Gosains oder Priesters von Arthi-goth. Er hat mir zwar den Pfad gezeigt, aber, daß ich die Geschichte erzählen kann, verdanke ich ihm wahrhaftig nicht.

Fünf Meilen westlich von Chachuran befindet sich ein Stück Land, drei bis vier Meilen breit im Quadrat und bestanden mit gefiedertem Dschungelgras, das sich in Silber verwandelt, wenn der Wind weht, und zehn bis zwanzig Fuß hoch wird. Im Herzen dieses Landstrichs haust der Gosain des »Pfades zum Lachenden Brunnen«. Die Dorfbewohner werfen mit Steinen nach ihm, wenn er sich bei Tag blicken läßt, obwohl er ein Priester ist; und dann rennt er zurück in die dichten hohen Halme wie ein schweifender Wolf. Er hat nur ein Auge und trägt zwischen den Brauen das Brandmal von zwei Kupfermünzen. Es heißt, er sei vor langer, langer Zeit von einem eingeborenen Fürsten gefoltert worden, aber er ist so alt, daß ihn dies Mißgeschick in den Tagen Rundjit Singhs betroffen haben muß. Was er zur Zeit besonders nötig zu haben scheint, ist – außer einer Galgenschlinge – der Zugriff der Britischen Regierung.

Damals stand das Dschungelgras schon hoch, und die Dorfbewohner von Chachuran erzählten mir, eine Herde Wildschweine hätte sich ins Arthi-goth begeben. Wiesen mit Dschungelgras zu betreten, ist immer eine mißliche Sache, aber ich tat es dennoch – einesteils, weil ich nichts von der Wildsaujagd verstand, und andererseits, weil es hieß, der große Eber der Herde trage fußlange Hauer. Es reizte mich, sie zu besitzen, um sie in spätern Jahren zeigen zu können und mich zu brüsten, sie mit eigener Hand erbeutet zu haben. Ich nahm eine Flinte und ging in den heißen, dichten Dschungel hinein, wähnend, nichts sei leichter, als eine Wildsau in einem Gebiet von zehn Quadratmeilen aufzuspüren. Mister Wardle, mein Terrier, ging mit, denn er war offenbar der festen Überzeugung, ich könnte auch nicht eine Stunde seinen Rat und Beistand entbehren. Ihm war’s freilich leicht, zwischen den riesigen Halmen durchzuschlüpfen, ich jedoch mußte mir mit Gewalt einen Weg bahnen. Trotzdem sah ich mich schon nach zwanzig Minuten derart von der Außenwelt abgeschnitten, als befände ich mich mitten im Herzen von Zentralafrika. Ich merkte es erst, als ich bereits so müde geworden war, daß ich nur noch vorwärts stolpern und taumeln konnte, und überdies daran, daß Mister Wardle sich alle Augenblicke niedersetzte und die Zunge so weit herausstreckte, als es nur gehen wollte. Nichts als Halme ringsum; keine zwei Meter nach irgendeiner Richtung hin konnte ich sehen. Dazu glühten die Grasstengel wie Heizkörperröhren.

Nach einer halben Stunde war ich soweit, daß ich aus der Tiefe meines Herzens wünschte, den Eber für immer in Ruhe gelassen zu haben, da stieß ich auf einen schmalen Pfad, der sich ansah wie ein Mittelding zwischen Eingeborenenfußsteig und Sauspur. Er war höchstens sechs Zoll breit, aber immerhin geeignet, mir zu meinem Zweck zu dienen. Das Gras wuchs hier ganz besonders dicht und dick, und wo der Pfad stellenweise verschwand, blieb mir nichts übrig, als mit den Händen vor dem Gesicht mich vorwärts zu zwängen, oder rücklings – um das Gewehr frei zu bekommen -, in das Gestrüpp zu dringen. Aber ich war froh, denn schließlich mußte der Pfad doch irgendwie ins Freie führen.

Am Ende eines etwa fünfzig Meter langen, ein wenig erträglicher gewesenen Weges angelangt, blickte ich mich um, ehe ich mich entschloß, ein besonders dichtes Gestrüpp anzugehen, da bemerkte ich, daß mir Mister Wardle abhanden gekommen war. An sich schon ein ungemein frivoler Hund, hatte er offenbar meine Fährte verloren. Ich rief ihn dreimal und sagte dann laut: »Wo das kleine Biest nur stecken mag?« Ich ging ein paar Schritte zurück, da wiederholte, dicht vor meinen Füßen, eine tiefe Stimme: »Wo das kleine Biest nur stecken mag?« Um richtig einschätzen zu können, was es heißt, die Stimme eines unsichtbaren Sprechers zu hören, muß man sich in dem steifen Gras eines Dschungels verirrt haben! Wiederum rief ich Mister Wardle, und jedesmal half mir das unterirdische Echo dabei. Da ließ ich das Schreien bleiben und horchte aufmerksam; siehe da: ich hörte einen Menschen lachen, und zwar in einer geradezu beleidigenden Weise. Die Hitze machte mich schwitzen, das Gelächter aber schaudern. Es ist doch wahrhaftig nicht nötig, daß jemand im dichten Dschungel lacht! Erstens ist es unschicklich und dann eine Anmaßung sondergleichen! Plötzlich verstummte es, und ich faßte Mut und fing wieder an, zu rufen, bis ich mir einbildete, die Stelle unter oder zwischen den Riesenhalmen ausfindig gemacht zu haben, wo das Echo wohnte. Es kam aus dem Gestrüpp, in das ich hatte eindringen wollen, bevor ich Mister Wardle verlor. Ich schob meine Flinte bis zum Drücker nach vorwärts und abwärts gerichtet zwischen die Grasstengel und wackelte damit hin und her. Aber ich konnte keinen festen Boden finden. Sooft dabei ein Geräusch entstand, so oft gab es das Echo unter der Erde zurück; stand ich jedoch still, um mir das Gesicht abzutrocknen, so ertönte wieder das tiefe Lachen; ich konnte mich darüber keinem Zweifel mehr hingeben.

Das Gesicht voraus, den Mund offen und den Blick gespannt, und auf alles gefaßt, drang ich behutsam, Zoll für Zoll, in das Gestrüpp vor. Als ich den Widerstand des Grases glücklich überwunden hatte, sah ich mich einem tiefen, schwarzen Loch im Boden gegenüber, das heißt, besser: ich lag auf der Brust, über die Mündung eines Brunnens gebeugt, der so tief war, daß ich kaum das Wasser unten sehen konnte.

Dunkle Gegenstände schwammen darauf; und das Wasser selbst war so schwarz wie Pech und stellenweise mit einem blauen Schaum bedeckt. Das lachende Geräusch kam von einer kleinen Quelle, die aus halber Höhe der Brunnenwand hinabsprudelte. Bisweilen, wenn die schwarzen Gegenstände, sich um sich selbst drehend, in die Nähe kamen, fiel der Wasserstrahl auf ihre trommelartig gespannten Häute, und dann ging das Lachen in ein fröhliches Prusten über. Plötzlich sah ich, wie sich eins der schwarzen Dinger auf den Rücken legte, rund um die bemoosten Brunnenwände kreiste, eine Hand und einen halben Menschenarm über die Wasserfläche emporgestreckt, als wolle mir ein bis zu Tode ermüdeter Führer die Schönheit der Umgebung weisen.

Länger als eine halbe Stunde brauchte ich, um den Brunnen zu umkriechen und den Weg auf der andern Seite zu finden. Den Schluß der Reise vollbrachte ich damit, jeden Fußbreit vor mir vorsichtig abzutasten, mich vorwärts windend wie eine Schlange. Ich trug den wiedergefundenen Mister Wardle im Arm, und er leckte mir rastlos die Nase. Entsetzt war er keineswegs, nur wünschte er sichtlich, wieder freien Grund zu gewinnen, um die Aussicht besser genießen zu können. Mir aber schlotterten die Knie und mein Adamsapfel in der Kehle ließ sich weder aufwärts noch abwärts bewegen. Der Weg jenseits des Brunnens wurde immer besser, wenn er auch noch von dichtem Gras flankiert war, und führte mich schließlich zu einer Priesterhütte, die in einer kleinen Lichtung stand. Als der Gosain mein totenbleiches Gesicht erblickte, heulte er auf vor Schrecken, fiel nieder und umklammerte meine Stiefel. Ich taumelte auf die Lagerstätte zu, die vor seiner Hütte stand, und ließ mich darauffallen, Mister Wardle sprang ebenfalls hinauf, um mich zu bewachen. Ich selbst fühlte mich außerstande, Sorge um mich zu tragen.

Als ich aus meiner Betäubung erwachte, befahl ich dem Priester, mich ins Freie zu führen und langsam vor mir herzugehen – hinaus aus dem Arti-goth. Mister Wardle haßt Eingeborene, und der Gosain fürchtete sich vor ihm mehr als vor mir, trotzdem ich grimmig genug dreinschaute. Ganz langsam schritt er vor mir her den schmalen Pfad entlang, der mit einem Mal in drei Richtungen abzweigte; alle drei liefen dem Lachenden Brunnen zu! Einmal, als ich stehenblieb, um Atem zu schöpfen, hörte ich deutlich wieder das höllische Kichern. Am liebsten hätte ich dem Priester die beiden Flintenläufe in den Rücken geschossen, aber ich brauchte seine Dienste zu nötig!

Als wir dann ins Freie gelangten, stürzte der Gosain schnell wieder in sein Gestrüpp zurück, und ich ging in das Dorf bei Arti-goth, um mir etwas zu trinken zu verschaffen. Ich fühlte mich überglücklich, wieder den freien Horizont sehen zu können und festen Boden unter meinen Füßen zu wissen.

Die Dorfbewohner sagten mir, das ganze Dschungelgrasland sei bewohnt von Teufeln und Geistern, die sämtlich im Dienste des Gosains stünden, und daß häufig Männer, Weiber und Kinder verschwänden, wenn sie das Dickicht betreten hätten, um nie mehr wiederzukehren. Der Priester brauche ihre Leber, behaupteten sie, um Hexerei damit zu treiben. Als ich sie fragte, warum sie mir das nicht gleich gesagt hätten, meinten sie, es wäre ihnen dann das Trinkgeld für weitere Nachrichten über den Verbleib der Wildsau entgangen.

Bevor ich ging, versuchte ich noch mein bestes, das Dschungel in Brand zu stecken, aber das Gras war noch zu grün. Ein paar heiße Sommertage und ein günstiger Wind, und ich werde mittels einiger Bogen Zeitungspapier und einer Schachtel Streichhölzer das Geheimnis des Pfades zum Lachenden Brunnen enthüllen können!