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Eine liebenswürdige junge Frau war mit zweiundzwanzig Jahren, nach sechsmonatlicher Ehe mit einem Achtzigjährigen, Witwe geworden, sie wurde von den Erben angeklagt, sie habe den Tod ihres alten Verwandten beschleunigt. Diese Anklage war ebenso lächerlich als unanständig: hatte die Schöne wirklich das Ende des alten Herren beschleunigt, so mußte man ihre Reize beschuldigen, die die eingeschlummerten Naturkräfte wieder zu neuem Leben aufgeweckt hatten, der Greis zeigte sich dadurch neu belebt, wie Funken, die noch unter der Asche glimmen, ein wenig aufglühen, um dann schnell und ohne Wiederkehr ganz zu verschwinden. Obwohl man keine Beweise hatte, setzten doch allerlei Ränke es durch, daß die junge Witwe ihrer Erbschaft verlustig erklärt wurde und dadurch wieder in die Armut zurücksank, aus der die Heirat sie gezogen hatte.

Ihr Prozeß hatte einigen Lärm verursacht. Ein junger, nicht sehr reicher Edelmann war dadurch neugierig geworden, Circe de Q**, Marquise de Conighan kennen zu lernen. Er sah sie und fand sie so reizend, daß er beschloß, sich ihr zu nähern. Sie war eine Blondine mit feinen weichen Flachshaaren, deren Farbe fast ans Weiße grenzte, und zwar ungewöhnlich, aber sehr vorteilhaft wirkte, sie hatte lebhafte, bewegliche Augen, und ein Lächeln umspielte ihren Mund, als ob sie eben aufgehört hätte zu weinen. Gerade dieses Lächeln machte sie interessant und unwiderstehlich. Sie war groß und herrlich gewachsen, schlank, ohne mager zu erscheinen, und hatte besonders schöne Arme und Hände, ein nicht sehr feines, aber wohlgeformtes Bein und einen zierlichen kleinen Fuß, – kurz, sie war eine reizende Person, obwohl gewisse Einzelheiten sonderbar anmuteten. Chevalier de Ch** verliebte sich beim ersten Anblick in sie und konnte ihr auch nach der ersten Unterhaltung mit ihr, die ungefähr eine Stunde dauerte, seine Hochachtung nicht versagen. Er hatte sich Zutritt bei ihr unter dem Vorwande verschafft, er wolle ihr seinen Einfluß bei den Mitgliedern des Gerichtshofes zur Verfügung stellen, um das ungerechte Urteil kassieren zu lassen, das sie der Schenkung ihres Gatten für verlustig erklärt hatte.

Am nächsten Tage stellte er sich wieder bei ihr ein. Sie fragte ihn sofort:

»Nun Herr Chevalier, haben Sie jemanden gesehen?«

»Nein, verehrteste Frau, aber wenn Sie nur Vermögensfragen im Auge haben, dann ist es ganz unnötig, daß ich überhaupt jemanden sehe, denn ich biete Ihnen mein ganzes Vermögen an, allerdings nicht meine Hand, denn einer Heirat würden sich zu große Schwierigkeiten entgegenstellen, aber meine Freundschaft wird Ihre Zukunft sicherstellen.«

»Und meine Ehre?«

»Das Urteil könnte immerhin, obwohl es ungerecht ist, doch bestätigt werden. Geben Sie daher lieber diese unangenehme Sache gänzlich auf.«

»Das fällt mir nicht im geringsten ein.«

»Nun, dann müssen wir eben tun, was in unseren Kräften steht.«

In der Tat wurde der Fall nochmals vor das Gericht gebracht, der ungerechte Urteilsspruch kassiert und die Sache an einen höheren Gerichtshof verwiesen. Indessen übten wiederum die Verwandten ihre weitreichende Macht aus, so daß das gleiche Urteil gefällt wurde. Nun blieb der Witwe nichts anderes übrig, als sich darein zu ergeben.

Die junge Witwe war verzweifelt. Sie fand ihren einzigen Trost in der Hingabe des Chevaliers de Ch**. Sie zog sich in eine kleine, nett möblierte Wohnung im Faubourg Saint Honoré zurück, die er ihr zu freier Verfügung als Eigentum überließ. So verdankte sie alles diesem zuvorkommenden Mann, der weit entfernt, nun mit den Rechten, die ihm ihre Abhängigkeit zu gewähren schien, Mißbrauch zu treiben, jetzt erst recht ritterlich gegen sie auftrat. Er übergab der liebenswürdigen Wittib ein Drittel seines ganzen Vermögens in Gestalt einer Rente von sechstausend Franken als feste Schenkung und kam alle Tage zu ihr, um ihr den Hof zu machen und ihr unschuldige, wenn auch oft teure Vergnügungen zu verschaffen, nach denen sie etwa Lust verspürte. Er lud sie zu Ausflügen ein, führte sie auf die Promenade und ins Theater. Für die Spaziergänge wählte die junge Frau meistens die entlegensten Punkte aus und im Theater ging sie in Logen des zweiten Ranges, in deren Hintergrunde sie sich versteckte, um nicht bemerkt zu werden. Zu Hause unterhielten sie sich über interessante Gegenstände, und der Chevalier schien mehr ein liebevoller Verwandter für sie zu sein, der von ihrem Unglück gerührt war, als ein Liebender, der ihre Zuneigung zu gewinnen suchte.

Aber eine solche Haltung war ganz dazu geeignet, ihn in den Augen der Witwe noch liebenswürdiger erscheinen zu lassen. Sie war bald von Achtung und Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen, und so konnte es denn nicht ausbleiben, daß sich ihr Herz der Liebe öffnete. Doch schwieg sie, um ihrem Freunde das Vergnügen des Inkognito zu wahren, das er ihr gegenüber beobachtete. Die Gewißheit, ihre Zukunft gesichert zu sehen und von diesem Manne ehrlich geliebt zu werden, gaben ihr ihren ganzen Frohsinn wieder. Sie zeigte sich liebenswürdiger denn je und fand sich sogar mit ihrem Unglück ab, dem sie ja doch zwei große Güter verdankte: einen Freund und einen tugendsamen Geliebten.

Sie beschäftigte sich nur noch damit, Mittel zu finden, ihren Reiz zu erhöhen und ihn ewig wirksam zu gestalten. Sie wurde zärtlicher, vertrauter und freier mit ihm. Da sie sah, daß der Chevalier sich stets der gleichen Zurückhaltung befliß, wagte sie einige unschuldige Liebkosungen, um ihm ihr ganzes Vertrauen zu bezeigen. Der Chevalier schien ihr dafür dankbar zu sein und gestand ihr, daß er sie anbete. Aber wenn seine Worte auch ganz den leidenschaftlichen Charakter wahrer Liebe trugen, so ging seine Haltung über das vertrauliche Verhältnis zwischen Bruder und Schwester nicht hinaus. Die junge Witwe war darüber entzückt und vergötterte ihrerseits den Chevalier, indem sie jede Zurückhaltung beiseite ließ, die sie in diesem Falle für unnötig hielt: sie warf sich ohne Umstände in seine Arme, sie küßte ihn, sie setzte sich bisweilen auf seinen Schoß, sie sprach zu ihm in zärtlichsten Worten. Der Chevalier war darüber außer sich vor Freude und erklärte sich für den glücklichsten aller Sterblichen.

Nachdem das Verhältnis zwischen ihnen in dieser Weise zwei Jahre gedauert hatte, meinte die junge Witwe, daß der Chevalier sie nunmehr heiß genug liebte, um sie zu seinem Weibe zu machen oder ihr wenigstens die Gründe anzuvertrauen, die ihre Verbindung verhinderten. Sie suchte ihn daher zu einer Erklärung zu drängen, was ihr nicht schwer werden konnte, da sie die Hälfte ihrer Zeit in traulichem Verein zubrachten. Als sie sich eines Tages wieder über das Unglück der Marquise unterhielten, sagte diese zu ihm: »Lieber Freund, die schönen Zeiten schwinden, und bald wird einsame Zurückgezogenheit das Los von Leuten sein, die in der Blüte ihrer Jahre nur sich allein leben wollten wie wir.«

»Wir werden uns stets genügen,« war seine Antwort, »denn nie werde ich aufhören, Sie zu lieben.«

»Aber könnten wir denn nicht diese uns drohende Vereinsamung vermeiden, die ich fürchte? Sie lieben mich doch, mein Freund?«

»Ich bete Sie an.«

»Sie wollen Ihre Tage zusammen mit mir zubringen?«

»Die Hoffnung darauf macht mein ganzes Glück aus.«

»Tausend Zufälle können uns trennen!«

»Von meiner Seite droht nur einer: der Tod.«

»Ach, Chevalier! es gibt noch unzählige andere, unvorhergesehene, von denen wir überrascht werden können, und dann werden wir erstaunt sein, nicht daran gedacht zu haben.«

»Fürchten Sie keinen: ich bin mein freier Herr.«

»Aber nicht Herr Ihres Geschicks.«

»Warum quälen Sie sich mit Schimären, angebetetes Weib?«

»Lieber Chevalier, es gäbe ein Mittel, mich ein für allemal zu beruhigen.«

»Ah! und dies wäre?«

»Sie finden es nicht selber?«

»Nein, auf Ehre nicht!«

»Dann zwingen Sie mich also, zuerst zu sprechen?«

»Wenn ich nur im geringsten wüßte, was Sie meinen, würde ich Ihnen gern diese Mühe ersparen, schöne Freundin.«

»Die … Heirat!«

»Ach! schöne Circe! Was sagen Sie da? Wenn das Band der Ehe zu Ihrem Glück notwendig ist …, dann machen Sie mich unglücklich! Denn es ist mir nicht erlaubt, es mir anzulegen.«

»Gehören Sie zum Malteserorden? … In diesem Falle, teurer Freund, kein Wort mehr davon, denn Unmögliches will ich nicht verlangen. Dann bleibt uns nur übrig, das Band der Liebe und Zärtlichkeit, das uns vereinigt, noch enger anzuziehen, da ein anderes zwischen uns unmöglich ist.«

Damit beruhigte die junge Witwe sich. Die beiden schworen sich ewige Zuneigung, die unabhängig von den Sinnen und nur auf die Regungen des Herzens begründet sei. Sie betrachtete sich von nun an als die Schwester des Chevaliers, nahm seinen Ton und seine Manieren an und nannte ihn Bruder. Ihre Liebkosungen wurden noch süßer für ihn, denn die Geliebte war unter der Maske der Schwester desto zärtlicher.

»Wie glücklich bin ich!« dachte der Chevalier, »es gibt auf der ganzen Welt keine zweite Frau wie diese, sie ist ein wahres Wunder. Und sie haben diese Barbaren so ungerecht behandelt!«

Auch er gab sich nun seiner Neigung hin und dachte nicht daran, daß er durch zu lebhafte Liebkosungen die Sinne des geliebten Weibes wachrufen könnte.

»Sie ist eine himmlische Seele, und ich bin sicher: wenn ich sie auf die schlimmste Probe stellen würde, sie würde mich darum nicht weniger lieben!«

Indessen täuschte er sich doch in gewisser Beziehung: die junge Witwe wurde von Wünschen verzehrt, die zu befriedigen sie nicht mehr hoffen konnte, Liebessehnen zeigten ihre Blicke und alle ihre Handlungen trugen den Stempel solcher Sehnsucht. Ihre Küsse wurden zärtlicher, häufiger, und stundenlang fand sie Vergnügen daran, in den Armen des Geliebten zu liegen, und oft die wollüstigsten Stellungen einzunehmen. Die feurigen Liebkosungen des Chevaliers bewiesen ihr, daß er nicht unempfindlich war, aber sofort nach jeder solchen Liebkosung trat er sofort in die Grenzen der strengsten Wohlanständigkeit zurück, und wenn, nach einem Kuß, den der Geliebte ihr raubte, die junge Schöne sich schon trügerischen Hoffnungen hingab, so fand sie danach in ihm nur den zurückhaltenden Bruder wieder, dessen keusche Blicke ihr sagten, daß seine Sinne kalt geblieben seien.

»Er hat Gewissensbedenken,« sagte sie sich dann, »offenbar hat er Gelöbnisse getan, die sein ehrlicher Charakter nicht verletzen will. So ehrenwerte Grundsätze muß ich achten und mich mit dem Glück begnügen, das er mir gewähren darf.«

Sie versuchte nun, sich durch eine platonische Liebe beglückt zu fühlen, und da sie nun von jeher mehr an das Glück ihres Geliebten gedacht hatte als an das ihrige, so kehrte ihr die Ruhe wieder zurück. Ihre Intimität wurde noch größer, beide hatten keine Zurückhaltung mehr voreinander und vertrauten sich gegenseitig ihre innersten Gedanken und Gefühle an. Die liebenswürdige Witwe hatte zu diesem Mittel gegriffen, um sich gegen sich selbst zu schützen, und wandte es anfangs in gutem Glauben an. So diskutierte sie bisweilen mit dem Chevalier über die Nichtigkeit der sinnlichen Genüsse und über das geringe Maß von Glück, das diese den Freuden zweier Herzen, die füreinander schlugen, noch hinzuzufügen vermöchten. Der Chevalier behandelte dieses Thema mit Begeisterung und ließ sich darüber folgendermaßen aus:

»Welches ist der größte Reiz der Liebe? Es ist der Wunsch. Ist dieser fort, dann gibt’s keine Liebe mehr. Ein Mann, der in die Unmöglichkeit versetzt ist, den letzten seiner Wünsche zu befriedigen, würde stets glücklich sein, weil der Durst nach dem Glück ewig der gleiche bliebe, und das Glück von ihm stets mit derselben Glut herbeigesehnt werden würde. Die Geliebte würde in seinen Augen stets den göttlichen Reiz behalten, der dem Genuß vorhergeht. Hat man aber genossen, dann schwindet der Wunsch; die Geliebte verliert an Reiz, der sie vorher verschönte, und da sie mit jedem neuen Genuß etwas mehr davon einbüßt, ohne jemals wieder den Höhepunkt zu erreichen, so wird mit der Zeit der Reiz, und damit Liebe und Glück, auf ewig verschwinden, denn die Liebe ist die reinste Quelle des Glückes.«

»Aber, lieber Freund,« erwiderte darauf die hübsche Witwe, »liegt darin nicht ein wenig Sophismus? Was du da sagst, kann sich doch auch auf alle anderen Wünsche und Bedürfnisse beziehen, und du mußt doch zugeben, daß, wenn nun sie sich alles versagte, zum Beispiel Essen und Trinken …«

»Der Vergleich hinkt,« unterbrach sie der Chevalier, der die Richtigkeit des Einwandes herausfühlte, »die Liebe gleicht nicht … in allem … den gewöhnlichen Bedürfnissen des Leibes. Sie ist ein reines Gefühl, das sozusagen materielle Freuden begleiten können, die aber doch dabei nur Nebensache sind. Damit der Vergleich vollkommen richtig sei, müßte man die Ehe ins Auge fassen, nicht die Liebe.«

»Der Unterschied ist sehr fein, lieber Freund, doch will ich zugeben, daß er richtig ist. Ach, Chevalier, wie glücklich sind doch die …«

»Die in Liebe und Ehe verbunden sind! nicht wahr, Teuerste?«

»Das war mein Gedanke. Aber das trifft leider nicht auf uns zu!«

»Nein, liebste Freundin. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich dich anbete. Du bist mir teurer als mein Leben, aber die bestehenden Hindernisse sind unübersteiglich!«

Die junge Witwe schwieg, nahm sich aber vor, doch hinter sein Geheimnis zu kommen.

Eines Tages sagte sie zum Chevalier:

»Es genügt nicht, lieber Freund, zu meinem Glück, daß du weißt, wie ich heute denke. Ich will, daß du alles wissen sollst, was ich getan, gesagt oder gedacht habe, seitdem ich mich selbst kenne. Du bist mein anderes Ich, und es ist nur recht und billig, daß ich es dir ermögliche, dir ins Gedächtnis zurückrufen zu können, was deine zweite Hälfte erlebt hat.«

Dem Chevalier war es recht, die liebenswürdige Marquise bat um einige Tage Zeit, und nach Ablauf derselben sagte sie endlich zu ihm, als sie von Tisch aufstanden:

»Chevalier, hier ist meine Lebensgeschichte, die ich mit ruhigem Kopfe niedergeschrieben habe. Ich will sie Ihnen dalassen.«

»Ein kostbares Geschenk für mich, Teuerste.«

»Ich will Sie nicht verpflichten, mir ein Gleiches zu machen.«

»Oh, bitte, ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, aber das hier möchte ich gern in Ihrer Gegenwart lesen oder es mir von Ihnen vorlesen lassen.«

»Ich bin für letzteres.«

Sie gingen in ein anderes Zimmer, wo sie nicht gestört werden konnten, und die schöne Witwe begann:

Meine Lebensgeschichte.

»Ich heiße Victoria-Julia Gomand de ***. Meine Eltern von altem Adel, aber arm, ließen sich meine Erziehung sehr am Herzen liegen. Ich erwähne dies nur ganz kurz, weil es angeführt werden muß. Meine Kindheit verbrachte ich im elterlichen Hause und meine erste Jugend im Kloster. Als Kind war ich lebhaft und fröhlich, aber herrisch. Ich zog die Gesellschaft von Knaben dem Umgange mit meinen Gefährtinnen vor, weil die ersteren mir schon den Hof machten. Im Kloster langweilte ich mich. Doch schloß ich mit einem der Mädchen Freundschaft. Allerdings wäre es für mich besser gewesen, wenn ich mich weiter gelangweilt hätte. Clara de Montbrun war eine junge Pensionärin des Klosters, die in dasselbe später einzutreten bestimmt war. Die Eltern hatten sie dazu verdammt, um die anderen Kinder, einen Sohn und die jüngere Schwester, ihr Nesthäkchen, leichter vorwärts bringen zu können. Das Schwesterchen war allerdings reizend. Als Clara sah, daß an ihrem Schicksal nichts zu ändern war, suchte sie den fatalen Augenblick so lange als möglich hinauszuziehen und sich vorher für ihre traurige Zukunft zu entschädigen. Sie hatte die Bekanntschaft verschiedener Männer gemacht, der Ärzte, des Vikars und eines jungen Abbés, eines Verwandten von ihr, den sie sehr gern hatte. Er war der Liebling ihres Herzens. Er lieh ihr Bücher, deren Inhalt das Zügelloseste war, was italienische und französische Phantasie hervorbringen konnte. Sie verschlang diese gefährlichen Werke und lieh sie mir, nachdem ich ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Ich war noch zu unschuldig, um den giftigen Inhalt zu verstehen, aber doch zu neugierig, um nicht mit Vergnügen die Bücher zu lesen. Bald gerieten meine Sinne in die größte Aufregung, doch weigerte ich mich verschiedentlich dem Ansinnen, der etwas zu freien Clara Folge zu geben …

Diese Periode meines Lebens, lieber Chevalier, war sehr stürmisch. Meine Phantasie bewegte sich in rosenfarbenen Schimären. Ich fühlte mein Herz in Zärtlichkeit aufgehen und sah mich selbst als Heldin von tausend Abenteuern. Immer spielte ein schöner junger Mann darin eine Rolle, meistens ein ungezähmter Wüstling, den nichts rührte und den ich dann durch meinen Anblick zu meinen Füßen niederzwang. Dann ließ ich mich rühren, stellte ihn auf die Probe und gestand ihm schließlich meine Liebe. Danach gaben wir uns unserer Zärtlichkeit hin. Er wurde kühner, ich verteidigte mich mutig. Er seufzte, klagte – bleicher wurden seine Wangen, und meine Strenge war daran schuld, daß er dem Grabe zuwankte. Dieses Bild rührte mich und ich gab ein wenig nach, er nutzte die Lage aus, wurde dreister, kühner … und dann verlor sich meine Phantasie in einem Meer von Liebestrunkenheit … Nach meinem Fall sah ich ihn zu meinen Füßen, wie er mich zu beruhigen und zu trösten suchte. Ich verzieh ihm, er trocknete mir die Tränen und unsere Intimität wurde köstlich. Doch habe ich stets beobachtet, daß mich, wenn ich auf diesem Punkt angelangt war, mein eignes Glück zu langweilen anfing, und dann mußte ich mich in eine neue Schimäre hineindenken. Geht es im Leben ebenso? Ich fürchte so nach dem, was Sie mir auseinandergesetzt haben. Wie dem auch sei, meine Phantasie kam nicht zur Ruhe, drehte sich aber stets um denselben Punkt: die Liebe und ihre Trunkenheit. Bisweilen erfaßte mich der Wunsch, Clara möchte dringlicher in ihren Bitten werden, aber dieses Gelüste dauerte nicht an. Sobald die leidenschaftliche Ekstase vorbei war, fand ich meine Widerstandskraft zurück.

Ein anderes Lieblingsbild meiner Einbildungskraft war es, mir vorzustellen, daß ich von einem jungen Manne geliebt würde, daß unsere Eltern uns trennen wollten, daß wir uns ewige Treue schwörten, uns insgeheim sähen, und daß mein Geliebter in einer Nacht von meinen Eltern erwischt würde, die ihn dann als Mörder anklagten. Er wurde ins Gefängnis geworfen, und ich entfloh. Ich warf mich den Richtern zu Füßen und erklärte, daß der Geliebte meinetwegen des Nachts ins Haus gekommen sei, und um die Wahrheit meiner Behauptung zu beweisen, führte ich an, ich sei in der Hoffnung. Dadurch wurden sie gerührt und empfahlen unseren Eltern, uns zusammenzutun.

Solche Phantasien beschäftigten mich Tag und Nacht. Stets gab ich meiner Schwäche nach, und die Sache endete mit einer Heirat. Im Schlafe träumte ich weiter von dem, was mich wachend beschäftigte und die Träume erhitzten mich noch mehr als meine Schimären.

Als ich zwanzig Jahre alt war, sprach man davon, mich zu verheiraten. Meine Eltern verhehlten mir nicht, daß es sich um einen Greis handle, der mich einige Male im Sprechzimmer des Klosters gesehen habe. Ich erinnerte mich seiner und wurde über diese Aussicht von tiefer Traurigkeit erfaßt. Ich klagte Clara mein Leid und schilderte ihr meinen Widerwillen gegen eine Verbindung mit dem alten Manne. Sie brach darüber in Lachen aus und äußerte:

›Aber, liebe Freundin, wie bist du doch naiv! Wollte Gott, man machte mir einen solchen Vorschlag! … Sei vernünftig, und wenn man dich einem Scheusal mit Klauen, Hörnern, einem stinkenden, ekelhaften Wesen ausliefern wollte, dann müßtest du es dennoch nehmen. Man wird sich viel aus einem Ehemann machen! Aber ewig hier in der Hölle zu bleiben, das ist das wahre Unglück! … Heirate, liebe Victoria, und sieh zu, für mich eben so einen Affen zu finden, der mich ohne Mitgift nimmt. Und wenn er noch älter und tausendmal häßlicher ist, dann will ich dennoch in seine Arme fliegen.‹

›Und ihn lieben?‹

›Das gewiß nicht, aber ihn rasend machen, mir gleich, ob er es aushält oder daran stirbt. Nur meine Verachtung will ich ihm schenken, während ein schöner Jüngling alles andere besitzen wird! Folge meinem Rat, liebe Freundin, mach‘ dir meine traurigen Erfahrungen zunutze und heirate. Ich verschmachte hier seit zehn Jahren und bin erst dreiundzwanzig alt. Wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, ich würde mich schon hundert Male dem ersten besten, der mich hätte entführen wollen, an den Hals geworfen haben, trotz den schweren Folgen eines solchen Streiches! Und wenn er mich dann hätte sitzen lassen, so wäre meine Lage immer noch nicht so traurig gewesen, als der Aufenthalt in diesem verfluchten Gefängnis, in das mich verruchte und entartete Eltern geworfen haben, damit ich bei langsamem Feuer verbrenne. Unsere Natur lechzt nach Vergnügen und Freiheit: man gebe mir die Freiheit, das Vergnügen werde ich mir schon zu verschaffen wissen!‘

Noch viele andere Dinge sagte Clara mir und stimmte mich endlich für die Heirat. Ich versprach ihr, ihrer nicht zu vergessen.

So wurde ich denn verheiratet. Ich empfand einen wahren Abscheu vor meinem alten Mann, da ich aber kein Ungeheuer bin, so konnte ich mich dem Gefühle der Dankbarkeit nicht verschließen. Herr de C** bezeigte mir so viele freundliche Rücksichten, daß ich davon gerührt wurde. Aus Dankbarkeit gab ich mich ihm hin und hob ihn auf den Gipfel der Freude. Er wollte … was er nicht konnte. Da mich aber meine glühende Phantasie für seine Liebkosungen empfänglich machte, so verdoppelte er seinen Eifer und verschaffte mir die Illusion …

Indessen hatte ich Clara nicht vergessen. Ich wandte mich ihretwegen an meinen Gatten, erzählte ihm, daß ich eine Freundin im Kloster hätte, die auch gern einen Gatten reiferen Alters haben möchte und bat ihn, sich dafür zu verwenden und meiner lieben Clarissa Befriedigung ihres Wunsches zu verschaffen. Meine Wünsche waren meinem Manne Befehle. Einer seiner Freunde, der sehr reich war, ließ sich von dem Bilde, das ihm mein Mann von seiner Glückseligkeit entwarf, blenden und dazu bestimmen, um die Hand Claras zu bitten, die ihm ihre Familie ohne Schwierigkeit gewährte. Der Greis suchte sie dann auf und war entzückt von ihr. Die Hochzeit fand sofort statt. Aber wie verändert war es nach vierzehn Tagen! … Der arme Mann beklagte sich bitter bei einem Freunde. Ich war zugegen und ließ mich durch so viel Schmerz rühren. Ich konnte mich nicht enthalten, sofort meine Freundin aufzusuchen und ihr Vorwürfe zu machen. Die beiden Ehemänner hatten mein Verschwinden bemerkt und waren mir gefolgt. Sie horchten und konnten daher von der Lektion Kenntnis nehmen, die ich meiner Freundin erteilte. Zuerst antwortete sie mir spöttisch, als sie aber in ihrer Schlauheit merkte, daß wir belauscht wurden, änderte sie ihren Ton und schien Reue zu empfinden. Nur äußerte sie den Wunsch nach mehr Freiheit. In diesem Augenblick kamen die Greise zu uns herein und umarmten uns. Mein Mann besonders strahlte vor Freude.

Nun baten sie uns, doch soviel wie möglich miteinander zu verkehren. Ich war von Herzen gern dazu bereit, aber Clara war, sobald wir wieder allein waren, wie ausgewechselt. Sie erzählte mir von ihrem Verhältnis mit einem jungen Manne und wollte mich dazu verführen, es ihr nachzutun. Sie nannte mir einen sehr liebenswürdigen Kavalier, und mein Hang für die Männer trug den Sieg über meine Pflicht davon. Meine Freundin machte ihm einige Avancen, worauf er nicht einging, mich aber schien er gern zu sehen …«

»Aber,« unterbrach hier der Chevalier die Lektüre, »dieser Kavalier war ja ich!«

»Ganz recht. Und ich muß Ihnen gestehen, lieber Freund, daß ich mich nach Ihrer Liebe sehnte. Die Bücher, Claras Gebaren und mein eignes Herz …

Mein Gatte starb, und Claras Gemahl folgte ihm bald nach. Ihre Aufführung wurde darauf bald so skandalös, daß ich trotz den Lockungen, die sie meiner leicht erregbaren Sinnlichkeit darbot, mit ihr brach. Indessen wurde ihre Aufführung und unsere frühere Freundschaft gerade von meinen Feinden ausgenutzt, um als Beweis gegen mich zu dienen, und falsche Zungen haben mir Verfehlungen aufgehalst, die ganz allein auf Claras Rechnung kamen. Ich weiß nicht, ob Sie ihren schlimmsten Streich kennen, der mir am meisten schadete. Acht Tage vor dem Tode meines Mannes war sie in einem befreundeten Hause und klagte dort über ihr Unglück, die Frau eines ekelhaften alten Mannes, eines Leichnams zu sein. Sie achtete wenig auf ihre Ausdrücke. Einer der Anwesenden äußerte lachend: ›Nun, er steht ja schon am Rande des Grabes.‹ Und die Unbesonnene antwortete:

›Man müßte ihn hineinstoßen!‹

Darauf fragte ein anderer, ob die Dame nicht Frau de C** sei, und sei es nun aus Bosheit oder Unachtsamkeit, die Frage wurde bejaht. So glaubte man denn in der Gesellschaft, ich sei es gewesen, die sich in dieser Weise ausgelassen hätte. Nach dem Tode ihres Mannes fürchtete Clara Unannehmlichkeiten für sich, falls sie sich als Urheberin dieser Äußerung bekannt hätte, und bewahrte deswegen Stillschweigen, obwohl ich sie wiederholt ersuchen ließ, mich rein zu waschen, nicht, indem sie sich selbst anklagte, sondern nur, indem sie versicherte, ich sei nicht in der Gesellschaft gewesen, in welcher der Ausdruck gefallen. Doch sie war darum nicht glücklicher. Wie Sie wissen, verliebte sie sich in einen Wüstling, der sie in kurzer Zeit ruinierte, sie kam so tief herunter, daß sie jetzt ein verrufenes Haus hält. Ihre Aufführung, nicht ihr Unglück, wird mich stets verhindern, sie wieder aufzusuchen.

Nun war ich mir allein überlassen und der Verzweiflung nahe, da ich von seiten meiner Eltern nichts zu hoffen hatte. Doch da sah ich gerade zu dieser Zeit Sie wieder, lieber Freund. Sie wurden mein Trost, meine Stütze … mein Geliebter. Sie ersetzten mir alles, was ich verloren hatte. In Ihrer Person habe ich wieder»gefunden, was die Traumbilder meiner ersten Jugend mir vorspiegelten, und besseres noch. Sie besitzen alle guten Eigenschaften, mit denen ich meine Helden ausrüstete, ohne deren Unvollkommenheiten, Ihre stets gleichbleibende gute Laune, Ihr ehrlicher Charakter, Ihr mir bewiesener Edelmut, alles das trägt dazu bei, Ihnen über mich eine Macht ohne Grenzen zu verleihen. Teurer Geliebter, gebrauche deine Rechte, was könnte ich dir verweigern? Sei aus Edelmut anspruchsvoll und lasse mich nicht allein das Gewicht einer unendlichen Dankbarkeit tragen! Gewähre mir die Freude, mir sagen zu können, daß auch ich etwas für dein Glück getan, dir etwas geopfert habe … Also zögere nicht länger, Geliebter, laß dich durch keine Erwägung zurückhalten, höre im Gegenteil auf die Tausende von Erwägungen, die dich alle darauf führen müssen, Gebrauch zu machen von deinem Eigentum, deiner Freundin, deiner Geliebten, deiner Gemahlin, deiner Schutzbefohlenen … Mein lieber Chevalier, wie viele Titel darf ich Ihnen verleihen! … Sie sind alles für mich. Ich bin keine dieser … Frauen, die das Physische vom Gefühl trennen … Ich will beides … und beides … dem göttlichen Manne verdanken, den ich in meine Arme schließe.«

Als die junge Witwe mit dem Vorlesen fertig war, hatte sie sich wirklich in die Arme des Chevaliers geworfen. Aber obwohl er sie zärtlich an sich drückte und küßte, ging er doch nicht weiter und verstieg sich nicht einmal zu einem Wort, das auf andere Gelüste hätte deuten können.

»Wäre es möglich,« dachte da die junge Witwe, »daß ich ein Weib oder einen Zwitter liebte? Ich möchte wahrhaftig wissen, ob er ein Mann ist! … Ich muß ihn dazu bringen, mir auch seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, vielleicht finde ich darin einige Aufklärung.«

Am anderen Morgen sagte sie zum Chevalier:

»Lieber Freund, werden Sie mir nicht auch beichten? Ich habe es bereits getan, und meine innersten Gedanken sind für Sie kein Geheimnis mehr. Ich habe Ihnen freimütig meine Wünsche offenbart, aber seien Sie darüber beruhigt, daß diese stets den Ihrigen untergeordnet sein werden.«

»Das beruhigt mich allerdings,« erwiderte der Chevalier errötend, »aber ich will mich nicht der versprochenen Beichte entziehen und bin im Gegenteil froh, Ihnen mein Herz ausschütten zu können. Doch verlange ich vorher einen Schwur von Ihnen, daß Sie, was ich Ihnen auch eröffnen werde, nicht aufhören werden, mich zu lieben.«

»Ich schwöre es Ihnen. Meine Gefühle für Sie werden sich nie ändern können, denn sie sind aus Achtung und Dankbarkeit hervorgegangen!«

Geschichte des Chevaliers de Ch**.

»Ich bin der Sohn des Herrn de Ch** …«

»Ah! Desto besser,« unterbrach ihn die junge Witwe, »dieses Wort erwartete ich mit Ungeduld!« (das Wort Sohn meinte sie). Der Chevalier verlangte keine Erklärung und fuhr fort:

»In meiner Kindheit erlitt ich einen grausamen Unfall, der eine schmerzhafte Operation notwendig machte … Ein Truthahn – wer sollte so etwas von einem so harmlosen Tier für möglich halten – brachte mich an den Rand des Grabes. Ich wurde gerettet. Ich verdanke mein Leben braven Leuten, denen man mich als Kind anvertraut hatte. Ich habe sie seitdem nicht im Stich gelassen und werde es auch nie tun. Ich habe tüchtige Studien gemacht. Der Eifer, womit ich mich diesen ergab, machte mir meine Lehrer zu Freunden, denn, glücklicher veranlagt als meine Mitschüler, tat ich aus Neigung, was sie nur gezwungen taten und die ihnen verhaßten Arbeiten waren meine größte Freude.

Nachdem ich das Kolleg verlassen hatte, ging ich auf Reisen. Da mich keine Leidenschaft blendete, wurde ich ein guter Beobachter, ich betrieb alle Wissenschaften, machte große Fortschritte, zeichnete mich aus; ganz Europa kennt meinen Namen.«

»Ich weiß es,« unterbrach ihn die hübsche Witwe, »aber wie war es mit der Liebe?«

»Ich habe niemals geliebt. Ihnen war es vorbehalten, Liebesgefühle in mir wachzurufen.«

»Wie? nicht ein ganz klein wenig geliebt? Nicht einmal ein kleines Grisettchen?«

»Nein, ganz und gar keine. Um mich in Glut zu versetzen, waren Ihre Vorzüge notwendig.«

»Schade, da wird Ihre Lebensgeschichte bald zu Ende sein!«

»Sie ist es mit den zwei Worten: ich sah Sie und liebte Sie trotz allen grausamen Hindernissen. Den Rest kennen Sie …«

»Mit Ausnahme von einem Punkt, den zu wissen ich vor Verlangen brenne.«

»Und der wäre?«

»Mich plagen gewisse Zweifel, und seit gestern geht mir der Gedanke nicht aus dem Kopf: Sie könnten ein Weib sein?«

»Ich ein Weib? Nein, meine Teuerste, das bin ich nicht.«

»Und das ist der Punkt, über den ich Klarheit haben möchte. Sie lieben mich also immer noch so heiß wie früher?«

»So heiß wie früher, teuerste Freundin.«

»Sie beruhigen mich … halb. Warum, Geliebter, scheust du denn davor zurück, zu erproben, wie weit meine Zärtlichkeit geht?«

Statt jeder Antwort schloß er sie in seine Arme und ließ ihr die zärtlichsten Liebkosungen zuteil werden.

»Ach, mein Herzensgeliebter, jetzt fühle ich endlich, daß du mich liebst!« …

»Circe! teuerste Circe! Ist deine Liebe zu mir über alles erhaben?«

»Mein Leben, Geliebter, mein Lieben gehört dir! Sprich!«

»Ich verlange nicht dein Leben, nur deine Liebe!«

»Mein ganzes Herz gehört dir!«

»Ich werde es kennen lernen. So vernimm denn Schreckliches: der Truthahn …«

»Nun?«

»Hat mich …«

»Was hat er?«

»Der Macht beraubt … dich zu hindern … spröde zu sein …«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich bin wie die Wächter der Frauen im Serail des Großtürken! Ich bin ein Eunuche! ein Eunuche!«

»Ach, großer Gott im Himmel!« …

Er wirft sich in ihre Arme, sie stößt ihn zurück und stammelt:

»Oh! Lassen Sie mich, lassen Sie mich! Setzen Sie sich dahin. Beruhigen Sie sich … Oh! welch ein Unglück!«

»Das größte von allen!«

»Sie sprechen das Wort aus!« …

»Indessen, seitdem ich Sie kenne, fühle ich es erst recht … Denn worin besteht mein Verdienst, daß ich vernünftig war? Ach, liebe Seele, ich liebe deine Tugend darum um so mehr! … Aber wohin führt uns unser Gespräch? Das Theater fängt gleich an, wollen wir hingehen?«

»Gern.«

Es geht über meine Kräfte, zu schildern, wie nach dem falschen Geständnis die hübsche Witwe, die vorher so liebevoll und dankbar gegen ihren Wohltäter war, diesen jetzt behandelte. Er erschien ihr nun als ein Wesen ohne Existenzberechtigung, wie ihr Hündchen oder ihr Papagei. Sie amüsierte sich bisweilen über ihn, aber bald langweilte er sie. Was ihn dabei am schmerzlichsten traf, waren ihre Manieren, wenn sie mit anderen Männern in der Gesellschaft zusammentraf: für diese hatte Sie ein liebenswürdiges Lächeln, strahlende Blicke, angenehme Worte, während sie ihn nur voller Mitleid ansah. Indessen lebte sie mit ihm weiter zusammen, sie empfing niemand, und ihre Aufführung war so tadellos wie früher. Der arme Chevalier hatte auf so viel Gefälligkeit ihrerseits nach dem, was er von ihr sah und was er von der Denkungsart der Frauen im allgemein wußte, nicht gerechnet. Er machte sich in ihrer Gegenwart ganz klein und wäre lieber vor Schmerz gestorben, als eine Klage laut werden zu lassen.

Aber schließlich konnte er es nicht mehr aushalten und eines Tages, als sie miteinander allein waren, sagte er zu ihr: »Madame, ich sehe, daß Sie mir Ihre schönsten Tage opfern, und kann das nicht mehr mit ansehen. Verlassen Sie einen Unglücklichen, den zwar keine Schuld trifft, der aber doch zu nichts mehr taugt.«

»Ich glaube nicht, Chevalier, Ihnen durch mein Betragen Anlaß zu diesem Vorschläge gegeben zu haben, antwortete sie ihm darauf, »liebe ich einen anderen? Nein. Trotz Ihrem Unglück sind Sie noch immer der einzige Mann, der mir am besten gefällt, und zudem, Chevalier, haben Sie Anrechte auf mich, die mir aber, das versichere ich Ihnen, nicht drückend sind. Im Gegenteil: alles, was ich Ihnen danke, ist mir lieb und wert gerade, weil es von Ihnen kommt.«

»Ach! Madame, aus Ihrer Haltung mir gegenüber in der letzten Zeit konnte ich nicht schließen …«

»Ich mag unrecht gehabt haben, Chevalier. Aber glauben Sie mir, ich werde trotz einer Art von Verachtung, die begreiflicherweise alle Frauen für Männer in gleicher Lage wie der Ihrigen naturgemäß hegen müssen, Sie stets allen anderen vorziehen werde.«

»Würden Sie mich heiraten, Madame?«

»Ohne eine Sekunde zu zaudern, Chevalier.«

»Daran, schöne Circe, erkenne ich meine alte und liebevolle Freundin wieder. Es besteht gegen unsere Heirat kein anderes Hindernis mehr, als was Ihnen bekannt ist.«

»Dann, Chevalier, verfügen Sie über mein Schicksal.«

»Aber Teuerste, bedenken Sie noch eins: ich werde sehr eifersüchtig sein!«

»Darüber sei ruhig, teuerster Freund. Wenn ich gegen meinen ersten greisenhaften Mann meine Pflicht nicht verletzte, der weit unter dir stand, so hast du nicht nötig, mich ungerecht zu verdächtigen. Doch ich verzeihe dir.«

»Und willigst ein, schöne Circe?«

»Von ganzem Herzen, und ich werde niemals Herren empfangen, nur meine Freundinnen. Was dir in meinem Benehmen unangenehm aufgefallen ist, war nur eine natürliche Folge des Vorhergegangenen. Meine zukünftige Haltung wird nur bestimmt werden durch meine Freundschaft für dich, meine Dankbarkeit und meine Einsicht, die ganz zu deinen Gunsten spricht und darum nur um so fester begründet ist.« Und lachend schloß sie:

»Ich werde in Zukunft die Lust, über die Geschichte mit dem Truthahn zu lachen, unterdrücken, denn wahrhaftig, ihre Folgen sind nichts weniger als lustig.«

So war man also wieder einig. Die nächsten Tage schien die hübsche Witwe von selber den Liebkosungen des Chevaliers entgegenzukommen, aber es war doch zu merken, daß sie sich Zwang auferlegte. Herr de Ch** rechnete es ihr trotzdem hoch an, daß sie den guten Willen bezeigte. Darüber verstrichen acht Tage.

Am neunten brachte ein Mann einen Brief. Der Chevalier war gerade nicht zu Hause, und der Bote übergab ihn daher der Witwe. Er bemerkte dazu:

»Ich überbringe dem Herrn Chevalier da traurige Nachrichten von seinem Sohne.«

»Von seinem Sohne! Sie sind im Irrtum, mein Freund.«

»I bewahre, Madame, ich irre mich nicht. Er war so niedlich! Er hat seiner Mutter das Leben gekostet und hat sie nur getötet, um dann später selber zu sterben.«

»Welch sonderbare Nachricht!« dachte Circe bei sich, »ein Sohn! Und der Truthahn? Und seine Versicherung, er habe nie geliebt?… Der Mann muß sich irren!«

»Sagen Sie mir, mein Bester, wie heißt der Chevalier?«

»Na, Chevalier de Ch**, Madame, jedes Kind kennt ihn.«

»Und er hatte eine Frau?«

«Und was für eine schöne Frau, Madame!«

»Mit der er richtig verheiratet war?«

»Und wie verheiratet! Das war sehr komisch! Sie würden sich krank lachen, wenn ich Ihnen die Geschichte erzählen würde! Haha!«

»Nun, dann lassen Sie mal hören!«

»Also, mit Respekt zu melden: der Herr Chevalier kam auf einem Pferd in unser Dorf, wo beide beim Herrn Pfarrer abstiegen, wo eine schöne Nichte war, die, wie gesagt, sehr schön war. Der Herr Chevalier also, ein höflicher Mann, machte ihr Komplimente, und das Fräulein, was ein wenig eitel war, war sehr zufrieden und sagte zu ihrem Onkel, der Herr habe sie sehr lieb, so lieb, daß der Pfarrer erwartete, er wolle sie zur Frau nehmen. Aber, prost Mahlzeit, der Herr Chevalier dachte nicht daran. Und als nun das Abendessen aufgetragen wurde, da wurde gegessen, und dann ging’s ins Bett, und mitten in der Nacht da wurde geschrien: ›Zu Hilfe, Diebe, Feuer!‹ Als der Herr Chevalier das hörte, stand er auf, und da er ein braver Mann ist, sah er zuerst mal nach, ob der Herr Pfarrer und das Fräulein nicht seine Hilfe nötig hätten. Da lief ihm das Fräulein im Hemd entgegen und stürzte in sein Zimmer und schrie :

›Retten Sie mich, Herr Chevalier!‹

Der Herr Chevalier rettete sie und dann wollte er auch den Herrn Pfarrer retten. Aber das Fräulein hielt ihn zurück und sagte, sie würde vor Angst sterben, wenn er sie allein ließe, und sie zitterte am ganzen Körper. Da legte er sie in sein Bett und bat sie, ihn um Gottes willen nach dem Herrn Pfarrer sehen zu lassen. Und sie gab es zu, bat ihn aber, nicht zu lange auszubleiben. Als er dann ins Eßzimmer trat, warfen zwei große Burschen sich auf ihn, setzten ihm ihre Pistolen auf die Brust und schrien: ›Wo ist das Fräulein?‹

›In meinem Bett‹, antwortete er.

›Ah! Verdammt! Wenn sie in Ihrem Bett ist, dann werden Sie sie auf der Stelle heiraten!‹ Dann schleppten sie ihn, den Pfarrer und das Mädchen in die Kirche neben dem Pfarrhaus und zwangen den Pfarrer, ihnen das Benedicat vos zu erteilen. Als das geschehen war, stahlen sie dem Herrn Pfarrer all sein Geld und sagten dann, er könne sich glücklich schätzen, daß sie seine Weiber im Hause nicht geschändet hätten. Die Nichte legte sich wieder ins Bett zum Herrn Chevalier, und damit war alles zu Ende. Am anderen Morgen stand der Herr Chevalier auf, sah die Nichte an, die reizend war, und sagte zu ihr, er verzeihe ihr. Und dann ging er zum Herrn Pfarrer und schloß sich mit ihm eine Stunde lang ein. Was sie da gemacht haben, weiß man nicht. Aber jedenfalls blieb die Nichte beim Onkel und der Herr Chevalier kehrte nach Hause zurück, vorher hatte er aber bei einem Hochzeitsmahl von zwölf Personen gesagt, sie sei seine Frau. Aus dieser Heirat stammt das Kind, das seine Mutter getötet hat, und von dessen Tode ich nun den Herrn Chevalier benachrichtigen will.«

Die junge Witwe zerbrach sich den Kopf über diese Erzählung. Als der Chevalier nach Hause kam, gab sie ihm den Brief und sagte dann zu dem Bauern:

»Sieh dir den Herrn genau an, ist es derselbe?«

»Er ist es, Madame.«

»Sie haben einen Sohn, Herr Chevalier?«

»Ja, liebste Freundin, aber nicht aus einem liederlichen Verhältnis, sondern aus einer heimlichen Ehe.«

»Das wäre also vor dem Unfall mit dem Truthahn gewesen?«

»Nein, Geliebte, das Abenteuer mit dem Truthahn ist ein falsches Gerücht, das über mich umläuft. Ich habe es benutzt, um mich von der Wahrheit einer Behauptung zu überzeugen, die ich oft gehört hatte, und deren Richtigkeit mir durch Sie bestätigt worden ist. Doch haben Sie, die liebenswürdigste und tugendhafteste der Frauen, bald wieder den Weg des Naturtriebes verlassen, um den der zärtlichen Freundschaft wieder zu betreten. Ich hätte diese Probe noch weiter fortsetzen können, dann würde ich aber gegen Sie gesündigt haben. Nun nehmen Sie anstatt eines Schattens einen Gatten hin, der Sie liebt und Ihnen mit allen Mitteln der Natur und der Liebe beweisen wird, wie heiß er Sie liebt!«

»Oh, Chevalier! …« erwiderte darauf die schöne Witwe, rot vor Scham, »wie werden Sie über mich gespottet haben! … Können Sie mir verzeihen?«

»Was denn verzeihen? Daß Sie vernünftig und natürlich handelten?«

»Aber was ist an der unwahrscheinlichen Geschichte, die der Bote erzählt hat?«

»Er hat alle Einzelheiten ausgelassen, die er nicht kennt. Ich habe alles mit angehört. Ich kannte den Pfarrer und seine Nichte schon seit langem und empfand große Zuneigung zu dem jungen Mädchen, das sich in mich verliebt hatte. Ich wußte es und war versucht, sie aus Erkenntlichkeit für ihre Liebe zu mir zu heiraten. Ich ließ mich über meine Absichten einem Schurken gegenüber aus und sprach von der Sache, nicht als ob ich bereits entschlossen wäre, sondern als ob ich sie mir noch überlegte. Dieser Mann, ein Freund des Pfarrers, überredete diesen, mich in eine schiefe Stellung zu bringen, da er meine Denkungsart kannte, war er überzeugt, daß ich dann das Mädchen sicherlich heiraten und ihr dadurch eine Zukunft bereiten würde, die ihre kühnsten Hoffnungen überträfe. Der schwache Mann tat alles, was man ihm einflüsterte, und die Heirat wurde vollzogen, wie der Bauer es erzählt hat. Mit dem Pfarrer setzte ich mich am nächsten Morgen etwas lebhaft auseinander, aber der Nichte sagte ich kein böses Wort, sondern erwies ihr im Gegenteil alle Achtung, die man seiner Frau schuldig ist, denn ich wußte, daß sie nur aus Liebe zu mir so gehandelt hatte. Ich ging noch einen Schritt weiter, indem ich sie in aller Form heiratete, weil ich mich dazu verpflichtet glaubte. Ich wollte es indessen andererseits nicht mit meinem Oheim verderben, der damals noch lebte und dem ich jeden Kummer ersparen wollte. Ich verlangte daher, daß die Heirat geheim bleiben sollte und bestand so energisch auf meinem Willen, daß den anderen jede Lust verging, sich mir mißfällig zu erweisen. Der Himmel hat unsere erzwungene Ehe getrennt, die ich nach dem Tode meines Oheims und, wenn mein Sohn am Leben geblieben wäre, sicherlich öffentlich eingestanden haben würde.«

Diese Erklärung beruhigte die schöne Circe vollends und erhöhte noch ihre Hochachtung vor dem Chevalier, dessen Güte, Ehrlichkeit und edle Gesinnung auch bei dieser Gelegenheit bei weitem alles übertrafen, was man sonst wohl von einem Mann in gleicher Lage hätte erwarten können. Und sonderbar, nachdem sie sich nunmehr über seine traurige Lage keine schlimmen Gedanken mehr zu machen brauchte, da schien es ihr, als ob die Vorzüge, deren der Chevalier doch nicht beraubt war, ihre warmen Gefühle für ihn nicht im geringsten vermehren könnten.

Indessen mißtraute sie doch nach dem, was ihr geschehen war, solchem Platonismus. Im Grunde ihres Herzens fand sie es doch natürlich, daß auch die ehrbarste Frau, die sich von allen Liebesabenteuern fernhält und treu alle ihre Pflichten erfüllt, dennoch eine gewisse Verachtung Männern entgegenbringt, die es nicht vermögen, sie in den Abgrund zu stürzen, vor dem sie Furcht hat. So ist nun einmal das Frauenherz, und vielleicht ist es am besten so!

Acht Tage darauf heiratete der Chevalier seine schöne Witwe. Die Achtung, die Frau de Ch** heute ihrem Gatten bezeigt, beweist zur Genüge das Unsinnige der lächerlichen Gerüchte, die über diesen ehrenwerten Mann im Umlauf waren. Wenn sie bei ihm ist, sieht sie stets so glücklich und zufrieden aus, daß man schon daraus ersehen kann, daß ihr Mann würdig ist, den Namen Mann zu führen. Trotzdem wurde ihre Ehe geheimgehalten. Sie beabsichtigen, sie erst dann öffentlich zu verkünden, wenn ihnen ein Sohn geboren wird, und da dieses noch nicht der Fall ist, so wird ihre Verbindung bis zu diesem glücklichen Zeitpunkte noch in den Schleier des Geheimnisses gehüllt bleiben.