Nachrichten aus meiner Familie – Meine Kindheit
Don Jacob Casanova, geboren zu Saragossa, der Hauptstadt von Aragonien, natürlicher Sohn Don Franciscos, entführte im Jahre 1428 Donna Anna Palafor aus dem Kloster; dies geschah einen Tag, nachdem sie ihr Gelübde abgelegt hatte. Er war Geheimschreiber des Königs Alfonso. Er floh mit ihr nach Rom, wo Anna ein Jahr im Gefängnis zubringen mußte; nach Verlauf dieser Zeit entband Papst Martin der Dritte sie von ihrem Gelübde und gab ihrer Ehe seinen Segen auf Empfehlung des Don Juan Casanova, Haushofmeisters des Allerheiligsten Palastes und Oheims des Don Jacob. Die aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder starben sämtlich in zartem Alter mit Ausnahme Don Juans, der im Jahre 1475 Donna Eleonora Albini heiratete und von ihr einen Sohn, Namens Marco Antonio, hatte.
Im Jahre 1481 tötete Don Juan einen Offizier des Königs von Neapel und mußte deshalb Rom verlassen; er floh mit seiner Frau und seinem Sohn nach Como; später verließ er diese Stadt wieder, um sein Glück in der Ferne zu suchen, und starb im Jahre 1493 als Reisegefährte von Christof Columbus.
Marco Antonio wurde ein guter Dichter im Martialschen Stil; er war Sekretär des Kardinals Pompeo Colonna. Die Satire gegen Giulio de Medici, die wir in seinen gesammelten Dichtungen lesen, zwang ihn zur Flucht nach Rom; er kehrte nach Como zurück und heiratete hier Abondia Rezzonica.
Als Giulio de‘ Medici Papst Clemens der Siebente geworden war, verzieh er ihm und ließ ihn mit seiner Frau nach Rom kommen. Kurz nach der Einnahme und Plünderung der Stadt durch die Kaiserlichen im Jahre 1526 starb Marco Antonio an der Pest; sonst wäre er im Elend gestorben, denn die Soldaten Karls des Fünften hatten ihm alles genommen, was er besaß. Pietro Valeriano spricht von ihm ausführlich in seinem Buch De infelicitate literatorum.
Drei Monate nach seinem Tode brachte seine Witwe einen Sohn zur Welt, Giacomo Casanova; er starb in sehr hohem Alter in Frankreich als Oberst in dem Heere, das von Farnese gegen König Heinrich von Navarra, später Heinrich der Vierte von Frankreich, befehligt wurde. Giacomo hatte in Parma einen Sohn hinterlassen, der sich mit Teresa Conti vermählte. Aus dieser Ehe entsprang ein Sohn, Giacomo, der im Jahre 1680 Anna Roli heiratete. Giacomo hatte zwei Söhne, Giambattista und Gaetano Giuseppe Giacomo. Der Ältere verließ Parma 1712 und ist verschollen, der Jüngere trennte sich als Neunzehnjähriger im Jahre 1715 ebenfalls von seiner Familie.
Diese dürftigen Nachrichten fand ich in einem Notizbuch meines Vaters. Das folgende habe ich aus dem Munde meiner Mutter erfahren.
Gaetano Giuseppe Giacomo verließ sein elterliches Haus, bezaubert von den Reizen einer Schauspielerin, der sogenannten Fragoletta, die die Rollen der munteren Liebhaberin spielte. Ebenso verliebt wie mittellos, entschloß er sich, seinen Lebensunterhalt sich mit Hilfe seiner persönlichen Vorzüge zu verdienen. Er wurde Tänzer und fünf Jahre später Schauspieler, als welcher er sich noch mehr durch seinen tadellosen Charakter als durch sein Talent auszeichnete.
Vielleicht weil er ihrer überdrüssig, vielleicht weil er eifersüchtig war – genug, er verließ die Fragoletta und wurde in Venedig Mitglied einer Schauspielertruppe, die im Theater San Samuele spielte. Gegenüber dem Zimmer, worin er hauste, wohnte ein Schuhmacher, Namens Geronimo Farusi, mit seiner Frau Marzia und ihrer einzigen Tochter Zanetta, einer vollkommenen Schönheit von sechzehn Jahren. Der junge Schauspieler verliebte sich in das Mädchen; er wußte ihre Zärtlichkeit zu erwecken und überredete sie dazu, sich von ihm entführen zu lassen. Dies war das einzige Mittel in ihren Besitz zu gelangen: dem Schauspieler würde Marzia niemals ihr Kind gegeben haben, noch weniger Geronimo; denn in ihren Augen war ein Komödiant eine höchst verabscheuenswerte Person. Die jungen Liebenden versahen sich mit den nötigen Papieren und begaben sich in Begleitung von zwei Zeugen zum Patriarchen von Venedig, der ihrer Ehe seinen Segen erteilte. Zanettas Mutter Marzia jammerte und fluchte über dies Unglück, und der Vater starb vor Gram. Dieser Ehe entstamme ich; neun Monate nach der Hochzeit, am 2. April 1725, wurde ich geboren.
Im nächsten Jahre übergab mich meine Mutter der Pflege Marzias, die ihr verziehen hatte, als sie erfuhr, daß mein Vater ihr versprochen habe, sie niemals zum Auftreten auf der Bühne zu zwingen. Dieses Versprechen geben alle Schauspieler, wenn sie ein Mädchen aus bürgerlichen Familien heiraten; das Versprechen wird aber niemals gehalten, weil ihre Frauen selber sich wohl hüten, auf Einhaltung ihres Wortes zu dringen. Übrigens war es für meine Mutter ein großes Glück, daß sie gelernt hatte, Komödie zu spielen; denn sie würde sonst, als sie neun Jahre darauf als Witwe mit sechs Kindern dastand, nicht die Mittel gehabt haben, ihre Kinder aufzuziehen.
Ich war also ein Jahr alt, als mein Vater mich in Venedig zurückließ, um ein Engagement in London anzunehmen. In dieser großen Stadt betrat meine Mutter zum erstenmale die Bühne, und hier brachte sie im Jahre 1727 meinen Bruder Francesco zur Welt, der jetzt als berühmter Schlachtenmaler in Wien lebt, wo er seit 1783 seinem Beruf obliegt.
Gegen Ende des Jahres 1728 kehrte meine Mutter mit ihrem Gatten nach Venedig zurück, und da sie nun einmal Schauspielerin war, so blieb sie es auch.
Im Jahre 1730 gebar sie meinen Bruder Giovanni, der Ende 1795 als Direktor der kurfürstlichen Malerakademie in Dresden gestorben ist. In den nächsten drei Jahren wurde sie dann noch Mutter von zwei Töchtern, von denen die eine als kleines Kind starb, die andere als verheiratete Frau noch jetzt, 1798, in Dresden lebt. Endlich hatte ich einen nachgeborenen Bruder, der Priester wurde und vor fünfzehn Jahren in Rom gestorben ist.
Doch kommen wir jetzt zum Beginn meiner Existenz als denkendes Wesen.
Das Organ des Gedächtnisses entwickelte sich bei mir Anfang August 1733; ich war also damals acht Jahre und vier Monate alt. Ich habe nicht die geringste Erinnerung an Ereignisse, die vor dieser Zeit liegen. Meine erste Erinnerung betrifft folgendes:
Ich stand in der Ecke eines Zimmers gegen die Wand gebeugt; meinen Kopf hielt ich in den Händen und blickte unverwandt auf das Blut, das mir in Strömen aus der Nase floß und auf die Erde rieselte.
Meine Großmutter Marzia, deren Liebling ich war, kam zu mir heran, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, ließ mich, ohne daß im Hause jemand etwas davon merkte, mit sich in eine Gondel steigen und führte mich nach der sehr volkreichen Insel Murano, die nur eine halbe Meile von Venedig liegt.
Hier stiegen wir aus und gingen in eine Spelunke, wo wir ein altes Weib fanden, das mit einem schwarzen Kater in den Armen auf einem schmutzigen Bett saß und noch fünf oder sechs Katzen um sich hatte. Es war eine Hexe. Die beiden alten Frauen hatten ein langes Gespräch miteinander, das wahrscheinlich mich betraf. Zum Schluß dieser Zwiesprach, die in Friauler Mundart abgehalten wurde, bekam die alte Hexe von meiner Großmutter einen Silberdukaten. Sie öffnete eine Kiste, nahm mich auf die Arme, legte mich hinein und schloß den Deckel, indem sie mir sagte, ich solle keine Angst haben. Diese Bemerkung wäre nun gerade genug gewesen, um mir Angst zu machen, wenn ich überhaupt irgendwelche Denkkraft besessen hätte; aber ich war ganz betäubt. Ich lag ruhig in einer Ecke zusammengekauert, hielt mir das Taschentuch unter die Nase, weil ich immer noch blutete, und kümmerte mich übrigens nicht im geringsten um den Lärm, den ich draußen machen hörte. Ich hörte abwechselnd lachen, weinen, singen, schreien und an die Kiste klopfen; mir war das alles gleichgültig. Endlich holen sie mich aus der Kiste hervor, mein Blut ist gestillt. Das sonderbare Weib macht mir hundert Liebkosungen, entkleidet mich, legt mich auf das Bett, verbrennt Kräuter, fängt den Rauch davon mit einem Tuch auf, wickelt mich in dieses ein, macht Beschwörungen, wickelt mich darauf wieder aus und gibt mir fünf sehr angenehm schmeckende Zuckerplätzchen. Gleich darauf reibt sie mir Schläfen und Nacken mit einer lieblich duftenden Salbe ein und dann kleidet sie mich wieder an. Sie sagte mir, meine Blutungen würden ganz allmählich aufhören; nur dürfte ich niemandem erzählen, was sie gemacht hätte, um mich zu heilen; sie drohte mir, ich würde all mein Blut verlieren und sterben, wenn ich es wagte, zu irgendeinem Menschen von ihren Geheimnissen zu sprechen. Nachdem sie mir dies alles eingeprägt hatte, sagte sie noch, eine reizende Dame würde mir nächste Nacht einen Besuch machen und von dieser würde mein Glück abhängen, wenn ich nur soviel Willenskraft hätte, niemandem von diesem Besuch zu erzählen. Hierauf nahmen wir Abschied und kehrten nach Hause zurück.
Kaum lag ich im Bett, so schlief ich ein, ohne wieder an den schönen Besuch zu denken, der mir bevorstand; aber als ich einige Stunden später auswachte, sah ich – oder glaubte wenigstens sie zu sehen – eine blendend schöne Frau, die aus dem Kamin kam. Sie war im Reifrock, trug ein prachtvolles Kleid und hatte auf dem Kopf eine mit Edelsteinen besetzte Krone, von der – wie es mir vorkam – Funken sprühten. Sie kam langsamen Schrittes mit majestätischer und sanfter Miene auf mein Bett zu und setzte sich auf dieses; dann zog sie aus ihrer Tasche kleine Büchschen, die sie über meinen Kopf ausleerte, wobei sie Worte flüsterte. Nachdem sie mir eine lange Ansprache gebalten hatte, von der ich nichts verstand, küßte sie mich und verschwand auf demselben Wege, auf dem sie gekommen war. Hierauf schlief ich wieder ein.
Am anderen Morgen kam meine Großmutter mich ankleiden; kaum an mein Bett antreten, sagte sie, ich müsse unbedingt schweigen; ich sei des Todes, wenn ich über das von mir in der Nacht Gesehene zu sprechen wage. Diese Rede aus dem Munde der einzigen Frau, die auf mich einen unbeschränkten Einfluß hatte und die mich gewöhnt hatte, allen ihren Befehlen blindlings zu gehorchen, bewirkte, daß ich mich der Erscheinung wieder erinnerte und daß ich sie unter Siegel im geheimsten Winkel meines eben erwachenden Gedächtnisses aufbewahrte. Übrigens fühlte ich mich gar nicht versucht, das Begebnis irgendeinem Menschen zu erzählen; zunächst weil ich nicht wußte, was man überhaupt daran interessant finden könnte, dann aber auch weil ich niemand kannte, an den ich mich mit meiner Erzählung hätte wenden können; denn da meine Krankheit mich trübsinnig und nicht im geringsten unterhaltend machte, so bedauerten mich alle Leute und ließen mich in Ruhe; man glaubte, ich würde nicht lange leben, und meine Eltern sprachen niemals ein Wort mit mir.
Nach der Reise nach Murano und dem nächtlichen Besuch der Fee blutete ich zwar noch, aber die Blutungen wurden von Tag zu Tag geringer und allmählich entwickelte sich mein Gedächtnis. In weniger als einem Monat lernte ich lesen.
Ohne Zweifel wäre es lächerlich, meine Heilung diesem tollen Zauber zuzuschreiben; ich glaube aber auch, daß man unrecht hätte, wollte man rundweg leugnen, daß er vielleicht dazu beigetragen. Die Erscheinung der schönen Königin habe ich immer für einen Traum gehalten – wenn es nicht etwa ein zu meinem Besten veranstalteter Mummenschanz war; die Heilmittel für die schwersten Krankheiten sind ja nicht immer in Apotheken zu finden. Tagtäglich tut irgendein Phänomen uns unsere Unwissenheit dar, und ich glaube, dies ist der Grund, warum wir so selten einen Gelehrten finden, dessen Geist von jedem Aberglauben frei ist. Ganz gewiß hat es auf dieser Welt niemals Hexen und Hexenmeister gegeben; aber ebenso unleugbar haben zu allen Zeiten Leute an Betrüger geglaubt, die das Talent besaßen, als Zauberer aufzutreten: Somnio nocturnos lemures portentaque Thessalia vides. – Im Traum siehst du Nachtgespenster und thessalische Ungeheuer.
Manches, was zunächst nur in der Phantasie vorhanden ist, wird allmählich zur Tatsache; folglich ist es wohl möglich, daß diese oder jene Wirkung, die man nur dem Glauben zuschreibt, kein eigentliches Wunder ist, obgleich sie denen, die dem Glauben eine schrankenlose Macht zuschreiben, als ein wirkliches Wunder erscheint. –
Das zweite mir widerfahrene Ereignis, dessen ich mich erinnere, passierte mir drei Monate nach der Reise nach Murano und sechs Wochen vor dem Tode meines Vaters. Ich teile es dem Leser nur mit, um ihm einen Begriff zu geben, in welcher Weise sich mein Charakter entwickelte.
Eines Tages, um die Mitte des Novembers, befand ich mich zusammen mit meinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Francesco im Zimmer meines Vaters und sah ihm aufmerksam bei seinen optischen Arbeiten zu.
Ein großes Stück Kristall, rund und in Facetten geschliffen, fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm es in die Hand, hielt es vor meine Augen und war wie bezaubert, als ich alle Gegenstände vervielfältigt sah. Sofort bekam ich Lust, mir diesen Kristall anzueignen, und da ich mich unbeachtet sah, so benutzte ich den Augenblick, ihn in die Tasche zu stecken. Gleich darauf stand mein Vater auf, um den Kristall zu benutzen; da er ihn nicht fand, sagte er zu uns, einer von uns beiden müßte ihn genommen haben. Mein Bruder versicherte ihm, er habe ihn nicht angerührt, und hierauf sagte ich trotz dem Bewußtsein meiner Schuld ihm dasselbe. Mein Vater war aber seiner Sache sicher und drohte uns, er würde unsere Taschen durchsuchen, und wer gelogen hätte, würde Prügel bekommen. Ich tat, als suchte ich den Kristall in allen Zunmerecken, und hierbei gelang es mir in einem günstigen Augenblick, das Ding geschickt meinem Bruder in die Rocktasche gleiten zu lassen. Dies tat mir sofort leid, denn ich hätte ja tun können, als hätte ich den Kristall irgendwo gefunden; aber die Schlechtigkeit war nun einmal begangen. Mein Vater wurde schließlich ungeduldig, als wir nichts fanden; er durchsuchte uns, entdeckte die verhängnisvolle Kugel in der Tasche des Unschuldigen und gab ihm die verheißene Tracht Prügel. Drei oder vier Jahre später war ich so dumm, mich meinem Bruder gegenüber dieses Streiches zu rühmen; er verzieh ihn mir niemals und versäumte keine Gelegenheit, sich dafür zu rächen.
Als ich in einer Generalbeichte mich dieser Sünde mit allen Nebenumständen anklagte, erhielt ich eine Belehrung, die mir Spaß machte. Mein Beichtvater, ein Jesuit, sagte mir, da ich Giacomo heiße, so hätte ich mit dieser Tat der Bedeutung meines Namens entsprechend gehandelt. Denn im Hebräischen bedeutet Jakob Verdränger. Deshalb gab Gott dem Patriarchen für seinen alten Namen den neuen Israel, das heißt: Der Sehende. Er hatte seinen Bruder Esau hintergangen.
Sechs Wochen nach diesem Vorfall bekam mein Vater im Innern des Kopfes ein Geschwür, das ihn binnen acht Tagen ins Grab brachte. Der Arzt Zambelli gab dem Kranken zunächst verstopfende Heilmittel und glaubte dann diese Dummheit mit der Verabreichung von Bibergeil wieder gutzumachen. Mein Vater starb infolgedessen an Krämpfen. Eine Minute nach seinem Tode barst das Geschwür und floß durchs Ohr ab; es entfernte sich, nachdem es ihn getötet hatte, wie wenn es nun nichts mehr bei ihm zu tun hätte.
Mein Vater schied im blühendsten Alter aus dem Leben; er zählte nur 36 Jahre. In sein Grab folgte ihm das Bedauern des Publikums, besonders des Adels, der in ihm einen Mann achtete, der sich durch seine Lebensführung wie durch seine Kenntnisse in der Mechanik über seinen Stand erhob.
Zwei Tage vor seinen Tode fühlte mein Vater sein Ende nahen; er ließ seine Frau und uns alle an sein Bett kommen und bat die edlen Herren Grimani, unsere Beschützer zu werden.
Nachdem er uns seinen Segen gegeben hatte, verlangte er von meiner in Tränen zerfließenden Mutter, daß sie ihm schwöre, keins von seinen Kindern für die Bühne zu erziehen, die er selber niemals würde betreten haben, wenn ihn nicht eine unglückliche Leidenschaft dazu gezwungen hätte. Sie tat den Schwur, und die drei Patrizier bürgten für dessen Unverletzlichkeit. Die Umstände halfen ihr, dieses Versprechen halten zu können.
Da meine Mutter damals im sechsten Monat schwanger war, wurde sie bis nach Ostern vom Auftreten befreit. Schön und jung wie sie war, schlug sie alle Heiratsanträge aus; auf die Vorsehung vertrauend, hoffte sie selber imstande zu sein, uns großzuziehen.
Zunächst glaubte sie sich mit mir beschäftigen zu sollen; nicht so sehr aus besonderer Vorliebe für mich als wegen meiner Krankheit, die mich in einen solchen Zustand versetzte, daß man nicht mehr wußte, was man mit mir anfangen sollte. Ich war sehr schwach, hatte keinen Appetit, war zu keiner Anstrengung fähig und sah aus wie ein Blödsinniger. Die Arzte stritten sich um die Ursache meines Leidens. Er verliert, sagten sie, wöchentlich zwei Pfund Blut, während er doch im ganzen nur sechzehn bis achtzehn haben kann. Woher kann also eine so überreichliche Abgabe von Blut kommen? Der eine sagte, mein ganzer Speisesaft verwandle sich in Blut, der andere behauptete, die von mir eingeatmete Luft müsse bei jedem Atemzuge die Menge des in meinen Lungen vorhandenen Blutes vermehren und darum hielte ich fortwährend den Mund offen. Dies wurde mir sechs Jahre später von Herrn Baffo, einem vertrauten Freunde meines seligen Vaters, erzählt.
Baffo konsultierte schließlich in Padua den berühmten Arzt Macopo, der ihm seine Meinung schriftlich mitteilte. In diesem Gutachten, das ich aufbewahrt habe, heißt es, unser Blut sei eine dehnbare Flüssigkeit, die an Dicke, niemals aber an Menge sich vermindern oder vermehren könne; meine Blutungen könnten nur davon herrühren, daß die Blutmenge zu dick sei. Sie mache sich auf natürlichem Wege Luft, um den Umlauf zu erleichtern. Er sagte, ich würde bereits gestorben sein, wenn nicht die Natur, die leben will, sich selber geholfen hätte. Er kam zu dem Schluß: da die Ursache dieser Dicke nur in der von mir eingeatmeten Luft gesucht werden könne, so müsse man mir Luftveränderung verschaffen oder sich darauf gefaßt machen, mich zu verlieren. Nach seiner Meinung war ferner an dem dummen Ausdruck, den meine Züge trugen, ebenfalls nur die Dicke meines Blutes schuld.
Dieser Herr Baffo, ein erhabener Geist und ein Poet, der sich nur in Gedichten der schlüpfrigsten Art versuchte, in dieser aber groß und einzig war – Baffo also veranlaßte, daß meine Familie sich entschloß, mich nach Padua in Pension zu geben; folglich verdanke ich ihm mein Leben. Er ist zwanzig Jahre später gestorben, der letzte seiner alten patrizischen Familie; aber seine Gedichte, sind sie gleich schmutzig, werden seinen Namen niemals untergehen lassen. Die venezianischen Staatsinquisitoren werden aus einer gewissen Pietät zu seinem Ruhme beigetragen haben; denn indem sie seine in Abschriften umlaufenden Werke verfolgten, machten sie sie kostbar; sie hätten wissen müssen, daß spreta exolescunt – was nicht beachtet wird, fällt der Vergessenheit anheim.
Sobald der Orakelspruch des Professors Macopo als zutreffend erachtet war, übernahm es Herr Abbate Grimani, mit Hilfe eines in Padua wohnenden ihm bekannten Chemikers, für mich eine gute Pension zu finden. Er hieß Ottaviani und war zugleich auch Antiquar. In ein paar Tagen war die Pension gefunden und an meinem neunten Geburtstag, den 2. April 1734 brachte man mich in einem Burchiello auf dem Brentakanal nach Padua. Der Burchiello kann für ein kleines schwimmendes Haus gelten. Es befindet sich darauf ein Saal mit einem Kabinett am oberen und unteren Ende, und für die Dienerschaft ist Unterkunft am Bug und am Stern des Fahrzeugs vorhanden; die Form des Saales ist ein Rechteck; er ist mit Glasfenstern und Holzläden versehen, und darüber befindet sich noch ein Sitzdeck. Die Dauer der Reise beträgt acht Stunden. Abbate Grimani, Herr Baffo und meine Mutter begleiteten mich; ich schlief mit meiner Mutter im Saal und die beiden Freunde verbrachten die Nacht in einem der beiden Kabinette. Mit Tagesanbruch stand meine Mutter auf und öffnete ein Fenster gegenüber dem Bett; die Strahlen der aufgehenden Sonne trafen mein Gesicht, so daß ich die Augen aufschlug. Das Bett war so niedrig, daß ich das Land nicht sehen konnte; ich sah durch das Fenster nur die Wipfel der Bäume, die den Fluß umsäumen. Die Barke bewegte sich, aber so gleichmäßig und ruhig, daß ich davon nichts merkte; es überraschte mich daher aufs höchste, daß ein Baum nach dem anderen meinen Blicken entschwand. »O, liebe Mutter!« rief ich, »was ist denn das? Die Bäume laufen ja!« Im selben Augenblick traten die beiden Herren ein und fragten mich, als sie mein verdutztes Gesicht sahen, woran ich denn dächte. »Woher kommt es,« wiederholte ich, »daß die Bäume laufen?«
Sie lachten; meine Mutter aber stieß einen Seufzer aus und sagte ganz traurig: »Das Schiff bewegt sich, und nicht die Bäume. Zieh dich an!« Ich begriff, dank meiner erwachenden, sich immer mehr entwickelnden und noch gar nicht voreingenommenen Vernunft sofort den Grund der Erscheinung. »Dann ist es also möglich,« sagte ich zu meiner Mutter, »daß auch die Sonne sich nicht bewegt, und daß im Gegenteil unsere Erde von Westen nach Osten rollt.« Meine gute Mutter entsetzte sich über diesen Unsinn, Herr Grimani beklagte meine Dummheit, und ich stand da ganz verdutzt, traurig und dem Weinen nahe. Herr Baffo schenkte mir neues Leben! Er schloß mich in seine Arme, küßte mich zärtlich und sagte: »Du hast recht, mein Kind; die Sonne bewegt sich nicht, sei getrost! Brauche immer deine Vernunft und laß die Leute lachen!«
Meine Mutter fragte ihn überrascht, ob er toll wäre, daß er nur solche Ratschläge gäbe; der Philosoph antwortete ihr gar nicht, sondern fuhr fort, mir in Umrissen eine Erklärung zu geben, wie sie meiner einfachen und reinen Vernunft angemessen war. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich eine wirkliche Freude kostete! Wäre Herr Baffo nicht gewesen, so hätte dieser Augenblick genügt, meine Erkenntnis zu erniedrigen; denn die Feigheit der Leichtgläubigkeit würde sich hineingeschlichen haben. Ganz bestimmt hätte die Unwissenheit der beiden anderen die Schärfe meiner Denkfähigkeit abgestumpft. Ob ich es in dieser Fähigkeit sehr weit gebracht habe, weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß ich ihr allein alles Glück verdanke, dessen ich genieße, wenn ich mich mit mir allein befinde.
Wir kamen bei guter Zeit in Padua an und gingen zu Ottaviani, dessen Frau mich mit Liebkosungen überhäufte. Ich sah in ihrem Hause fünf oder sechs Kinder, unter ihnen ein achtjähriges Mädchen, namens Maria, und ein anderes siebenjähriges, namens Rosa, hübsch wie ein Engel. Zehn Jahre später wurde Maria die Frau des Maklers Colonda, und einige Jahre darauf wurde Rosa an den Patrizier Pietro Marcello verheiratet, dem sie einen Sohn und zwei Töchter schenkte; von diesen wurde die eine die Gattin des Herrn Pietro Mocenigo; die andere heiratete einen Nobile aus der Familie Carraro; doch wurde diese Ehe später für nichtig erklärt. Ich werde von allen diesen Personen zu sprechen haben, darum erwähne ich sie hier.
Ottaviani führte uns sofort nach dem Hause, wo ich in Kost gegeben werden sollte. Es lag nur fünfzig Schritt von dem seinigen entfernt, in Santa Maria da Banzo, Gemeinde San Michele, und gehörte einer alten Slavonierin, die den ersten Stock an Signora Mida, die Frau eines slavonischen Obersten, vermietet hatte. Man öffnete vor ihr mein Köfferchen und gab ihr ein Verzeichnis des gesamten Inhalts; hierauf zählte man ihr sechs Zechinen auf, womit Kost und Wohnung für mich auf ein halbes Jahr bezahlt waren. Für diese geringe Summe sollte sie mich beköstigen, meine Wäsche sauber halten und mir Schulunterricht geben lassen. Man ließ sie reden, es sei nicht genug; man umarmte mich, befahl mir, immer ihren Befehlen recht artig nachzukommen, und ließ mich in dem Hause. So entledigte man sich meiner.