Die Purpurmauern.

Als aus dem Munde der Hierodulen das Volk nochmals die Tempelschändung mit Sicherheit erfahren hatte, verlief es sich langsam durch die Gärten.

Die Hetären des Tempels drängten sich zu hunderten längs der mit schwarzen Olivenbäumen bestandenen Wege. Einige streuten Asche auf ihr Haupt. Andere wälzten ihre Stirne in dem Staube, oder rauften sich die Haare aus, oder zerfleischten sich die Brüste zum Zeichen der Trauer. Viele schluchzten, die Augen auf den Arm gedrückt.

Schweigend stieg die Menge in die Stadt hinunter, durch die Strandallee, oder längs des Meeresufers. Ein allgemeines Leid hielt die Bevölkerung der Straßen in Bestürzung. Die Handelsleute hatten in Angst ihre bunten Schaukästen hastig in ihre Buden gezogen, und die mit Stäben befestigten hölzernen Schutzdächer folgten, wie einförmige Palissaden an den Erdgeschoßen der blinden Häuser nacheinander.

Das Leben am Hafen stand stille. Die Matrose saßen unbeweglich auf Ecksteinen, die Wangen auf die Hände gestützt. Die zur Abfahrt bereiten Schiffe hatten ihre langen Ruder in die Höhe gehoben und ihre spitzen Segel längs der vom Winde geschaukelten Masten aufgeien lassen. Diejenigen Schiffe, welche in den Hafen einfahren wollten, erwarteten auf offener See die Zeichen, und einige der Reisenden, die Verwandte im Palaste der Königin hatten, brachten, an eine blutige Revolution glaubend, den Göttern der Unterwelt Opfer dar.

An der Ecke der Insel des Leuchtthurms und des Strandes erkannte Rhodis in der Menge Chrysis, die in ihrer Nähe stand.

– Ach! Chryse! beschütze mich, ich habe Furcht. Myrto ist da, aber die Volksmenge ist so groß … ich fürchte, daß man uns trennt. Nimm uns bei der Hand.

– Du weißt, sagte Myrtocleia, Du weißt was geschehen ist? Kennt man den Schuldigen? Ist er auf der Folter? Seit Herostrates hat man nichts Ähnliches gesehen. Die Olympier verlassen uns. Was wird aus uns werden?

Chrysis antwortete nicht.

»Wir hatten Tauben geopfert, sagte die kleine Flötenspielerin. Wird sich die Göttin daran erinnern? Die Göttin muß erzürnt sein. Und Du, und Du, meine arme Chrysis, die Du heute entweder sehr glücklich, oder sehr mächtig sein solltest …«

– Alles ist geschehen, sagte die Hetäre.

– Was sagst Du?

Chrysis that zwei Schritte rückwärts und hob die rechte Hand an den Mund.

»Schau mir gut zu, meine Rhodis, schau Myrtocleia. Was ihr heute sehen werdet, haben menschliche Augen noch nie gesehen, seit dem Tage wo die Göttin vom Berge Ida herabgestiegen ist. Und bis zum Ende der Welt wird man es nicht mehr auf der Erde sehen.«

Die beiden erstaunten Freundinen traten zurück; sie hielten Jene für toll. Doch Chrysis, in ihrem Traume verloren, schritt bis zum ungeheuren Leuchtthurm hin, zu diesem Marmorberg mit seinen acht Feuerherden in acht sechseckigen Stockwerken. Sie öffnete das eherne Thor, und die Unachtsamkeit der Menge benützend, schloß sie dasselbe, indem sie innen die laut rasselnden Barren herunterließ.

Einige Augenblicke vergingen.

Das Grollen des Volkes dauerte fort. Das lebende Gewoge fügte seine Bewegung dem regelmäßigen Aufruhr der Gewässer hinzu.

Auf einmal erhob sich ein Schrei, den hunderttausend Kehlen wiederholten:

»Aphrodite!!«

– Aphrodite!!!

Ein Donner von Schreien brach los. Die Freude, die Begeisterung eines ganzen Volkes jubelte in einem unbeschreiblichen Freudentumulte zu Füßen der Mauer des Leuchtthurms.

Die Menge, die den Strand bedeckte, strömte plötzlich der Insel zu und überfluthete die Felsen, stieg auf die Häuser, auf die Signalmasten, auf die befestigten Thürme. Die Insel war voll, übervoll und die Menge kam noch immer dichter heran; es war das Drängen eines Flusses, der über seine Ufer getreten und lange Menschenreihen von den steilen Klippen schleudert.

Man sah das Ende dieser Menschen-Ueberschwemmung nicht. Von dem Palaste der Ptolemäer bis zur Mauer des Kanals waren die Ufer des königlichen Hafens, des großen Hafens, des Eunostus mit einer gedrängten Menschenmasse bedeckt, die sich durch neu Ankommende aus den Straßen immer mehr verdichtete. Ueber diesem stürmisch bewegten Ocean von Händen und Gesichtern schwankte wie ein Schiff in der Noth die Sänfte der Königin Berenike mit ihren gelben Vorhängen. Und von Augenblick zu Augenblick vergrößerte sich durch neue Stimmen das furchtbar gewordene Getöse.

Weder Helena am skäischen Thore, noch Phryne in den Fluthen zu Eleusis, noch Thais, als sie den Brand van Persepolis anzünden ließ, haben erfahren, was Triumph bedeutet.

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Chrysis war am westlichen Thor erschienen, auf der ersten Terrasse des rothen Monumentalbaues.

Sie war nackt wie die Göttin, sie hielt mit beiden Händen die Zipfel ihres scharlachrothen Schleiers, den der Wind gegen den Abendhimmel blies, und in ihrer rechten Hand den Spiegel, wo die untergehende Sonne widerstrahlte.

Langsam, mit gebeugtem Haupte, in einer Bewegung von unendlichem Reiz und Majestät stieg sie die äußere Rampe empor, welche den hohen purpumen Thurm spiralförmig umgab. Ihre halbgeschlossenen Augen flammten. Die glühende Abendröthe färbte das Perlen-Halsband wie eine Rubinenschnur. Sie stieg immer weiter und in dieser Glorie zeigte ihre strahlende Haut alle Pracht des Fleisches, das Blut, das Feuer, das bläuliche Carmin, das sammtweiche Roth, das lebhafte Rosenroth und sich mit den großen Purpurmauern drehend schritt sie dem Himmel zu.