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980. Nacht
„Entgehst Du dieser Gefahr,“ fuhr der Weise
fort, „so wirst Du sehr glücklich sein, und das Reich deines Vaters
ungestört besitzen. Unterliegst Du aber, so bedenke, dass man Gottes Ratschluss
nicht entgehen kann.“ – “ Du hast aber,“ erwiderte der Prinz,
„darin gefehlt, dass Du so geeilt hast, meinen Vater von meinen
Fortschritten zu benachrichtigen, ehe Du die Sterne um Rat gefragt hattest.
Hättest Du alsdann die sieben Tage abgewartet, so wäre es besser
gewesen.“ – Da antwortete sein Lehrer: „Mein Sohn, was geschehen ist,
ist geschehen! Meine Freude, Dich so unterrichtet zu sehen, ist Ursache, dass
ich so geeilt habe, Deinen Vater davon zu benachrichtigen. Indessen sei
geduldig, vertraue auf Gott, und lasse Dich um keinen Preis zum Sprechen
verleiten.“
Der junge Prinz begab sich hierauf zum Vater, und die
Wesire beeilten sich, ihm entgegen zu gehen. Als er beim König angekommen war,
empfing dieser ihn aufs freundlichste, und redete ihn an, erhielt aber keine
Antwort von ihm. Der König war darüber sehr besorgt, und befahl, seinen
Lehrer, den Sindbad, vor sich zu rufen. Dieser indessen hatte sich verborgen,
und niemand konnte ihn finden. Die Meinungen über diesen Zufall des Prinzen
waren sehr verschieden. Doch diejenigen, die da behaupteten, er wäre so
verlegen, und von Ehrfurcht für den König und die Versammelten so
durchdrungen, dass ihm die Scheu die Zunge lähmte, behielten die Oberhand, und
daher wurde denn auch ihr Rat befolgt, dass man ihn in das Frauengemach bringen
sollte, wo er hoffentlich den Gebrauch der Sprache wiedererhalten würde. Er
wurde nun sogleich in das königliche Schloss zu den Frauen gebracht. Hier sah
ihn eine der Lieblingsfrauen des Königs. Diese wurde von seiner Schönheit ganz
bezaubert. Sie näherte sich ihm, und grüßte ihn, er aber antwortete ihr
nicht. Sie wurde indessen immer zärtlicher, und sprach: „Schenke mir Deine
Liebe, so will ich Dir bald zum Besitz des Reiches Deines Vaters verhelfen. Ich
will ihm nämlich Gift geben, dann kannst Du Dein Reich in aller Ruhe
besitzen.“ Darüber ergrimmte der Prinz, empfand einen schrecklichen
Abscheu gegen diesen Frau, und dachte bei sich selbst: „O Du verworfene, Du
sollst Deinen Lohn erhalten, wenn die Zeit kommen wird, dass ich wieder werde
reden können.“ Zugleich eilte er zornig aus ihrem Gemach. Die Frau aber
fürchtete für sich selbst, schlug sich ins Gesicht, zerriss ihre Kleider, und
zerraufte ihr Haar, und begab sich in diesem Zustand zum König. „Wer ist
mit Dir so umgegangen?“, fragte dieser sie grimmig. — „Da ist Dein
Sohn gewesen,“ erwiderte sie, „von welchem Dein Hofstaat sagt, dass er
stumm sei. Dieser hat mir nämlich Anträge gemacht, vor denen ich schauderte.
Vor Grimm, dass ich seinen Wünschen nicht Genüge leisten wollte, hat er mich
so behandelt, wie Du hier siehst.“ Im Zorn befahl der König sogleich, ihn
zu töten.
Als das seine sieben Wesire hörten, beratschlagten sie
sich, und sprachen: „Wie kann der König seinen Sohn auf die bloße Anklage
einer seiner Frauen töten lassen, da ihm diese Handlung die größte Reue
verursachen wird. Hier gilt’s, irgend etwas aufzufinden, um den Prinzen zu
retten,“ sagte einer unter ihnen, „ich will durch irgend ein Mittel
ihn nötigen, seinen Tod zu verschieben.“ – „Tue das,“ erwiderten
die anderen, „und jeder von uns wird dasselbe die folgenden Tage über
versuchen, bis es Gott gefallen wird, den Prinzen zu retten.“ Da trat den
ersten Tag ein Wesir zum König, und bat ihn um die Erlaubnis, ihm einen Vortrag
halten zu dürfen. Der König erlaubte es ihm, und der Wesir sprach: „Wenn
Du tausend Kinder hättest, so würde es mich nicht wundern, dass es Dir ein
leichtes ist, einen wegen der bloßen Beschuldigung einer Frau, zu töten, ohne
zu untersuchen, ob sie gelogen hat. Du hast aber nur ein Kind, und es ist
möglich, dass sie die Unwahrheit gesagt hat. überhaupt sind von den Frauen so
viele listige Streiche bekannt, woraus man ihre Gewandtheit sehr gut abnehmen
kann. Erlaube mir, dass ich Dir ein Beispiel erzähle.
Geschichte
des Königs, des Wesirs und dessen Frau
Ein König, der große Macht besaß, aber der Liebe zu den
Frauen sehr ergeben war, sah einst auf dem Dach eines Hauses ein Mädchen von
besonderer Schönheit, und beschloss, ihr seine Liebe zu entdecken. Er
erkundigte sich daher, wer sie wäre? Und als man ihm berichtete, sie wäre
bereits verheiratet, und zwar an seinen Wesir, so benutzte er die erste
Gelegenheit, die sich ihm darbot, diesen auf unbestimmte Zeit in eine entfernte
Gegend seines Reiches zu schicken. Kaum war dieser abgereist, als der König
sich Zutritt bei seiner Frau zu verschaffen wusste. Sie erkannte den König
sogleich, warf sich ihm zu Füßen, und sprach. „Welch einem Umstand
verdanke ich Deinen gnädigen Besuch?“ Jener erwiderte unbefangen:
„Der Stärke meiner Liebe zu Dir, und der Sehnsucht, Dich zu sehen.“
Sie warf sich ihm hierauf zum zweiten mal zu Füßen, und sprach. „Ich
fühle, dass ich nicht wert bin, eine Sklavin der geringsten Deiner Dienerinnen
zu sein. Es ist daher ein außerordentliches Glück, dass Du mich in diesem
Maße eines Blicks gewürdigt hast.“ Der König wollte sie wegen dieser
freundlichen Antwort küssen. Sie aber antwortete: „Unterlasse dieses noch,
wir haben Zeit, es entgeht uns nicht. Ich bitte nur den König, mir, seiner
Sklavin, die Gnade zu erweisen, diesen Tag bei mir zu bleiben, um ihn bewirten
zu dürfen.“ Der König setzte sich hierauf, und sie überreichte ihm
unterdessen ein Buch, worin Warnungen, Vorschriften der Weisheit, und
Anempfehlungen der Sittlichkeit enthalten waren. Während der König diese
Lehren las, welche ihn von seinem Vorhaben abbrachten, bereitete die Frau
Speisen zu, und ließ nach einer Weile dieselben in neunzig Schüsseln
auftragen. Der König aß von jeder Schüssel etwas, und so verschiedenartig
auch das Ansehen der Speisen war, so bemerkte er doch mit Erstaunen, dass sie
alle denselben Geschmack hatten. Als er der Frau darüber sein Befremden
bezeigte, erwiderte sie: „Ich habe Dir hierdurch nur ein kleines Gleichnis
darstellen wollen. Die neunzig Schüsseln bedeuten die neunzig Mädchen, die Du
in Deinem Schloss hast. Dem Ansehen nach sind sie verschieden, aber ihre Küsse
sind sich alle gleich.“ Da schämte sich der König, ließ von seinem
Vorhaben ab, und ging in sein Schloss. Er hatte indessen seinen Siegelring bei
ihr vergessen, und als er es bemerkte, trug er Bedenken, ihr denselben
abzufordern. Während der Zeit kehrte ihr Mann zurück, und als er sich auf das
Sofa setzte, fand er einen Ring unter dem Kissen, den er sogleich für den Ring
des Königs erkannte. Er schöpfte sogleich Verdacht auf seine Frau, und hielt
sich deshalb ein ganzes Jahr lang von ihr entfernt, bis sie sich darüber bei
ihrem Vater beschwerte.