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964. Nacht

Durch diese Drohung beunruhigt, ging der Greis aus seinem
Haus, und begegnete auf der Straße einem Juden, der sein Nachbar war. „Was
fehlt Dir?“, fragte ihn dieser, „Du siehst heute so betrübt aus, auch
geht es in Deinem Haus viel lebhafter als gewöhnlich zu, denn ich höre laut
reden, was ich sonst nie bei Dir bemerke.“ – „Das Mädchen, welches
bei mir ist,“ antwortete der Greis, „sagt, sie sei eine Frau des
Kalifen. Sie hat soeben gegessen, und nun verlangt sie Wein in meinem Haus, das
habe ich ihr nun zwar verweigert, aber sie besteht darauf, und sagt, dass sie
krank wäre, und dass es ihr Tod sein könnte, wenn sie keinen bekäme, weshalb
sie mich vor dem Zorn des Kalifen warnte. Dieses macht mich natürlich
bestürzt.“ – „Lieber Nachbar,“ erwiderte der Jude, „die
Frauen des Kalifen sind gewohnt, Wein zu trinken, und es ist ganz natürlich,
dass, wenn sie zu viel gegessen haben, und keinen Wein darauf trinken, sie
gefährlich krank werden können. Ich fürchte daher selbst, dass ihr etwas
zustoßen möge, und dann bist Du freilich vor dem Zorn des Kalifen nicht
sicher.“ – „Was ist denn hier zu tun?“, sagte jener. – „Ich
habe alten Wein bei mir, der wird ihr sehr dienlich sein.“ – „Bei den
Frauen des Kalifen beschwöre ich Dich,“ sagte hierauf der Greis,
„dass Du mir etwas davon ablässt.“ – „In Gottes Namen,“
antwortete der Jude, ging in sein Haus, und brachte eine Karaffe Wein, die der
Alte nahm, zu der Sittulmulach ging, und sie vor sie hinsetzte. Sie kostete ihn,
und fand ihn vortrefflich. „Woher hast Du diesen Wein?“, fragte sie
den Alten hierauf. – „Von einem Juden, meinem Nachbar, dem habe ich meinen
ganzen Kummer wegen Dir erzählt. Da hat er mir denn dies hier gegeben.“
Sie füllte nunmehr einen Becher und trank ihn, dann einen zweiten, und noch
einen dritten, und leerte sie jedes Mal. Nun goss sie einen vierten ein, und
überreichte ihn dem Greis. Dieser nahm ihn aber nicht an. Da beschwor sie ihn
bei ihrem Leben, und bei dem Haupt des Fürsten der Gläubigen, dass er diesen
Becher von ihrer Hand annehmen möge. Er nahm ihn also von ihr an, küsste ihn,
und wollte ihn wieder wegsetzen. Da beschwor sie ihn nochmals, dass er
wenigstens riechen möge. Das tat er denn auch. „Nun, wie findest Du
ihn?“, fragte sie ihn darauf. – „Sehr angenehm,“ war seine
Antwort. Dann beschwor sie ihn bei dem Leben des Kalifen, dass er ihn wenigstens
kosten möchte. Dazu ließ er sich auch bereden, und brachte den Becher an
seinen Mund. Sie aber stand auf, und bog ihm den Becher so, dass der Wein in
seinen Mund laufen musste, wobei er sagte: „O Sittulmulach, das ist, ich
muss es gestehen, etwas sehr gutes.“ – „Das denke ich auch,“
erwiderte sie, „übrigens hat Gott ja den Wein im Paradies versprochen,
denn er sagt: Ströme von Wein sollt ihr dort haben, zur Wonne der Trinkenden.
Siehe,“ fügte sie dann hinzu, „wie gut haben wir es, wir können ihn
in dieser Welt und in jener trinken.“ Sie schenkte sich hierauf wieder
einen Becher ein, trank ihn, füllte noch einen, und ließ ihn den Greis
austrinken. „O Sittulmulach,“ sagte dieser nun zu ihr, „Du bist
sehr zu entschuldigen, dass Du dieses Getränk liebst.“ Er nahm nunmehr
gutwillig einen, und dann noch einen Becher an, so dass er trunken wurde, und
viel zu schwatzen anfing. Das hörten die Vorübergehenden, und versammelten
sich unter seinem Fenster. Als der Greis sie bemerkte, sah er hinaus, und schrie
ihnen zu: „Schämt Ihr Euch nicht, Ihr Leute? Jeder von Euch macht in
seinem Haus, was er will, und niemand legt ihm etwas in den Weg. Wir aber haben
kaum heute, diesen einzigen Tag etwas getrunken, und sogleich versammelt Ihr
Euch hier?“ Da lachten sie über ihn, und gingen auseinander. Sittulmulach
trank hierauf noch etwas, und sie selbst wurde trunken. Da erinnerte sie sich an
Nureddin, und weinte. „Warum weinst Du?“, fragte sie der Greis. –
„Ach,“ erwiderte sie, „ich liebe, und ich bin getrennt.“ –
„Was ist das, Liebe?“, fragte er sie. – „Hast Du in Deinem Leben
nicht geliebt?“, entgegnete sie ihm. – „Bei Gott, in meinem Leben habe
ich nie dieses Wort aussprechen hören, und ich weiß nicht, ob das eine Eigenschaft
der Menschen oder der Geister ist.“ Da lachte sie über seine Einfalt, und
sprach: „Wenn dem also ist, so bist Du, wie der Dichter spricht:

„Wie oft werdet ihr gewarnt, aber jede Aufforderung
ist vergebens, während dass doch die Tiere, wenn ihnen der Hirte zuruft, dem
Zuruf Gehör geben!
Seid ihr nicht auch Menschen, für welche die Liebe ein Gegenstand der Wünsche
sein sollte? Aber weder liebe noch Wein erregt Eure Begierde.
Menschen gleicht ihr zwar Eurer Gestalt nach, aber Eure Bestimmung erfüllt ihr
nicht.“

Als Sie diese Verse geendet hatte, lachte er, und hatte
Wohlgefallen an ihrer Rede, und da sie ihn hierauf um eine Laute1)
bat, so stand er auf, und brachte ihr ein Stück Holz. „Was ist das?“,
sagte sie, „habe ich Dir nicht gesagt, Du solltest mir eine Laute
bringen?“ – „Wie? Ist denn die Laute etwas anderes, als was ich dir
hier gebracht habe?“ – Da lachte sie über ihn, und sprach: „Die Laute
ist ein musikalisches Instrument, wozu ich singen will.“ – „Wo werde
ich das finden?“, antwortete er hierauf. – „Bei dem,“ erwiderte
sie, „der Dir den Wein gegeben hat.“ Er machte sich also auf, ging zu
seinem Nachbar, dem Juden, und bat ihn um ein Ding, was man Laute nennte. Dieser
war sogleich bereit, und übergab ihm eine, welche der Greis sofort dem Mädchen
brachte. Der Jude aber setzte sich mit einem Krug Wein an ein Fenster, welches
der Wohnung des Greises gegenüber war, um den Gesang zu hören. Als das
Mädchen die Laute erblickte, freute sie sich außerordentlich, nahm sie aus den
Händen des Greises, stimmte sie, und sang:

„Kaum habe ich, seitdem ihr mir fehlt, noch einen
erkennbaren Körper, bloß die Hoffnung erhält ihn aufrecht.
Ach, sobald ihr mir entschwunden wart, war die Welt mir entfremdet, nun ist mir
nichts zum Ersatz für Euch, und ich fühle mich zu schwach, dies zu ertragen.
Berauscht aber werde ich vor Vergnügen, wenn Lüfte aus Euren Gegenden wehen,
als hätte ich den stärksten Wein getrunken.
Nach allen Gegenden habe ich mich bereits hingewendet, um Euch zu suchen, allein
so oft ich ein Haus betrete, höre ich leider, dass ihr es schon verlassen habt.
Ach meine Freude! Die Liebe ist schwer zu ertragen, denn ist nicht der Kummer
ihr Begleiter, so ist es der Tadel der Neider.“

Als sie geendet hatte, überließ sie sich ihrer
Betrübnis. Hierauf bemächtigte sich ihrer der Schlaf, und sie ruhte bis an den
Morgen, wo sie den Greis wieder beauftrage, zum Wechsler zu gehen, und das
Nötige für den Tag zu besorgen. Als er zurückgekommen war, verlangte sie
Wein, den er ihr auch sogleich von dem Juden brachte. Sie setzten sich zum
Trinken hin, und als sie etwas fröhlich geworden war, nahm sie die Laute und
sang:

„Wie lange soll ich noch das Herz meines Geliebten
suchen, während das meinige in Kummer versunken ist. Ob ich gleich mich nicht
laut beklage, so sprechen doch meine Tränen deutlich genug.
Sie hindern mich, seine Gestalt im Traum zu sehen. Wie gut wäre es doch, wenn
er mich besuchte, wäre es auch nur ein Traumbild.“

Als sie geendet hatte, überließ sie sich von neuem ihrer
Betrübnis. Aber Nureddin hatte ihre Stimme jetzt gehört. Nur zweifelte er
noch, ob es wirklich seine Geliebte wäre. Sie aber nahm nochmals die Laute, und
sang:

„Vergiss ihn, rieten sie mir, Du hast nichts mehr zu
hoffen. Möge sich Gott nie meiner erinnern, wenn ich ihn zu vergessen sollte,
antwortete ich ihnen.
Wie könnte ich auch in der Welt seine Liebe vergessen? Wehe dem Knecht, der die
Liebe seines Herrn nicht im Andenken behält!
Um alle meine Sünden bitte ich Gott um Vergebung, nur nicht deshalb, dass ich
ihn liebe, denn dieses halte ich für eines meiner guten Werke, an jenem Tage,
wo ich zu Gott kommen werde.“

Als sie geendet hatte, trank sie drei Becher, und gab dem
Greis ebenfalls drei Mal zu trinken, welches er auch jedes mal tun musste. Sie
sang hierauf wieder einige Verse, worauf sie über ihr Geschick zu weinen
anfing. Der gute Greis weinte, ohne die Ursache zu wissen, aus Teilnahme mit
ihr. Nachdem sie beide wieder einige Becher geleert hatten, sang sie folgendes
Gedicht:

„Mögen sie auch Deine Person meinen Blicken
vorenthalten, Dein Andenken können sei doch nicht aus meinem Gedächtnis
verbannen.
Magst Du nun in meiner Nähe sein, so lasse ich mein Leben für Dich. Für Dich
lasse ich es aber auch, wenn Du fern von mir bist.
Mein äußeres gibt Kunde von meinem Innern, und mein Inneres bestätigt das,
was mein äußeres anzeigt.“

Als sie geendet hatte, warf sie die Laute weinend und
schluchzend von sich, und ruhte eine Zeit lang aus. Endlich verlangte sie zu
essen. Aber der Greis antwortete, dass er nichts, als das von der letzten
Mahlzeit übrig gebliebene im Haus hätte. Darauf erwiderte sie, sie äße nie
etwas, was übrig geblieben wäre. „Gehe aber,“ fügte sie hinzu,
„auf den Markt , und besorge etwas.“ – „Ach,“ sagte er zu
ihr, „Gütigste, entschuldige mich, ich kann vor Taumel kaum stehen, aber
ich habe einen Moscheendiener, einen ganz rechtlichen und verständigen jungen
Mann, den will ich rufen, damit er Dir alles, was Du verlangst, kaufen
möge.“ Da sprach sie zu ihm: „Woher ist dieser junge Mann?“ –
„Er ist aus Damaskus,“ erwiderte er. Als sie von Damaskus reden
hörte, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, und sank in Ohnmacht.


1) Die
Laute heißt auf arabisch Alaud (woher auch das deutsche Wort Laute kommen
soll), aber das gleiche Wort bedeutet aber auch Holz.