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520. Nacht

Die Königin versprach, die Anweisung der Alten zu
befolgen, und diese begab sich hierauf zu dem König, um den Anschlag, welchen
sie ersonnen hatte, auszuführen. Sie fand ihn einsam und traurig in einer Laube
tief im Garten seines Palastes sitzen. Sie nahte sich ihm und sprach:
„Herr, die Einsamkeit ziemt nicht denen, die zum Herrschen berufen sind,
denn sie bringt Traurigkeit hervor, und die Traurigkeit gebiert Unmut. Auch
scheint Ihr schon ganz schwermütig: Was kann Euch so sehr betrüben? Teilt mir
Euren Kummer mit, vielleicht weiß ich ein Mittel dagegen zu finden.“

„Ach, meine gute Mutter,“ antwortete ihr der
König, „es ist nicht die Einsamkeit, welche in mir die Traurigkeit erregt,
und da ich kein Geheimnis für Dich habe, so sollst Du erfahren, was mich
trostlos macht. Du hast wohl von dieser Prinzessin von Persien gehört, für
welche ich alles aufgeopfert und der ich für immer mein Herz geschenkt hatte:
Ich habe sie mit Wohltaten, Ehren und Reichtümern überschüttet, und durch
ihre Dringenden Bitten bewogen, ließ ich den jungen Sklaven an meinen Hof
kommen, welchen ich nicht minder liebreich behandelte. Und nun, die eine wie der
andere haben mich betrogen! Zur Bestrafung seines Verbrechens befahl ich
Fareksads Hinrichtung: Aber, soll ich’s Dir gestehen, seit dieser Zeit nagen
mich Gewissensbisse, ich fürchte, einen Unschuldigen gestraft zu haben, und die
Ungewissheit, in welcher ich deshalb schwebe, quält mich jetzt Nacht und
Tag.“

„Herr,“ sagte hierauf die Alte, „Ihr könnt
getrost diese Sorgen verbannen und Euer Herz der Freude überlassen. Eure
Beunruhigung soll ein Ziel haben, denn es hängt von mir ab, sie zu endigen. Ich
besitze einen Talisman, welcher vom Propheten Salomon herkommt: Er ist mit
griechischen Schriftzügen in syrischer Sprache verfasst. Um nun die geheimen
Gedanken eines Menschen zu erfahren, darf man ihm diesen Talisman nur auf die
Brust legen und dabei folgende Worte aussprechen: ‚Bei dem hohen lebendigen
Gott, dessen Name auf diesem Talisman geschrieben steht, gebiete ich Dir, mir
Deine tiefsten Geheimnisse zu enthüllen.‘ Alsbald offenbart derjenige, bei dem
man dieses Mittel anwendet, alle seine tiefsten Geheimnisse, sowohl im Guten als
im Bösen, und vergisst danach wieder, was er im Schlaf gesagt hat. Wenn Euer
Majestät diese Zauberformel versuchen will, so will ich sie Euch bringen, und
Ihr könnt dadurch die Geheimnisse der Königin erfahren.“

Der König von Abessinien ergriff mit lebhaftem Dank das
ihm von der Alten erbotene Hilfsmittel, welches ihm Hoffnung gab, die grausame
Ungewissheit, in welcher er schwebte, verschwinden zu sehen.

Die Alte lief nach ihrem Zimmer, kritzelt ein der Eile
einige bedeutungslose Schriftzüge, faltete das Papier und umwickelte es mit
einer Schnur, auf welche sie ein Siegel drückte. So brachte sie es dem König
als eine große Kostbarkeit. „Geruhe Euer Majestät, sich zu erheben,“
sprach sie zu ihm, indem sie es ihm überreichte, „um mit der gebührenden
Ehrerbietung ein Kleinod zu empfangen, welches unmittelbar vom König Salomon
kommt.“

Der König stand sogleich auf, nahm ehrerbietig das ihm
von der Alten überreichte in Empfang, verbarg es sorgfältig und erwartete mit
Ungeduld den Augenblick, wo er davon Gebrauch machen könnte.

Als endlich die Nacht gekommen war, begab er sich in das
Gemach der Königin und nahte sich leise ihrem Bett, wo sie scheinbar in tiefem
Schlaf lag, legte ihr den Talisman auf die Brust und sprach dabei: „Bei dem
hohen lebendigen Gott, dessen Name hier in geheimnisvollen Zügen geschrieben
steht, gebiete ich, dass diese hier schlafende Frau sogleich alles offenbare,
was ihr Verhältnis zu Fareksad betrifft.“