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349. Nacht

Ganem, der oben auf dem Palmbaum alles, was die Sklaven
sprachen, gehört hatte, wusste nicht, was er von diesem Abenteuer denken
sollte. Er mutmaßte, der Kasten müsse wohl etwas kostbares enthalten, und die
Person, welcher er gehöre, müsse ihre Gründe haben, ihn auf dem Totenacker
verstecken zu lassen. Er beschloss, sich auf der Stelle hierüber Aufklärung zu
verschaffen, und stieg von Palmbaum herab. Der Weggang der Sklaven hatte ihm
jede Furcht benommen. Er fing an, an dem Grabhügel zu arbeiten, und wusste so
gut seine Hände und Füße zu benutzen, dass er in kurzer Zeit den Kasten von
der Erde entblößt hatte. Indessen er fand ihn durch ein großes Vorlegeschloss
verschlossen. Er ärgerte sich außerordentlich über dies neue Hindernis,
welches ihn abhielt, seine Neugierde zu befriedigen. Indessen er verlor den Mut
nicht, und als unterdessen der Tag anbrach, so entdeckte er auf dem
Begräbnisplatz mehrere große Kieselsteine. Er suchte sich einen derselben aus
und zersprengte ohne sonderliche Mühe das Vorlegeschloss. Hierauf öffnete er
voll Ungeduld den Kasten. Allein, wie groß war Ganems Erstaunen, als er,
anstatt, wie er erwartet hatte, Geld darin zu finden, ein junges Mädchen von
unvergleichlicher Schönheit darin antraf. An ihrer frischen und rosigen
Gesichtsfarbe, und mehr noch an ihrem sanften und regelmäßigen Atemholen
erkannte er, dass sie noch voll Leben sei. Nur konnte er nicht begreifen, warum
sie doch, im Fall sie bloß schlief, bei dem Geräusch, das er beim Aufsprengen
des Vorlegeschlosses gemacht hatte, nicht erwacht war. Sie hatte ein so
prächtiges Kleid, diamantene Armbänder und Ohrgehänge, nebst einem Halsband
von so großen und seinen Perlen, dass er keinen Augenblick zweifelte, es müsse
eine von den vornehmsten Frauen des Hofes sein. Beim Anblick einer solchen
Schönheit wurde Ganem nicht bloß von Mitleid und jener natürlichen Neigung,
andern in Gefahr beizustehen, sondern von einem stärkeren Gefühl, welches er
sich nicht erklären konnte, angetrieben, dieser jungen Schönen alle die Hilfe
zu leisten, die in seiner Macht stand.

Vor allen Dingen verschloss er die Tür des
Begräbnisortes, welche die Sklaven offen gelassen hatten. Sodann kehrte er
zurück, fasste die Dame unter den Armen, zog sie aus dem Kasten heraus und
legte sie auf die frisch aufgewühlte Erde hin. Sie war kaum in diese Lage
gebracht und der frischen Luft ausgesetzt, als sie nieste und, nach einer
kleinen Anstrengung mit dem Kopf, durch den Mund eine Flüssigkeit von sich gab,
die ihr, wie es schien, bisher den Magen beschwert hatte. Sodann blinzelte sie,
rieb sich die Augen, und rief mit einer Stimme, wovon Ganem, den sie nicht sehen
konnte, ganz bezaubert wurde: „Gartenblume, Korallenzweig, Zuckerrohr,
Tageslicht, Morgenstern, Zeitvertreib, so redet doch, wo seid ihr?“ Dies
waren nämlich die Namen von Sklavinnen, die ihr gewöhnlich aufwarteten. Sie
rief nach ihnen, und wunderte sich sehr, dass niemand antwortete. Endlich schlug
sie die Augen auf, und als sie sich auf einem Totenacker erblickte, wurde sie
von Furcht ergriffen. „Was ist das?“, rief sie, noch stärker als
zuvor. „Stehen die Toten auf? Sind wir schon am jüngsten Tag? Welch eine
seltsame Veränderung seit gestern Abend!“

Ganem wollte die junge Schöne nicht länger in dieser
Unruhe lassen. Er trat mit aller nur möglichen Ehrerbietung und auf die
artigste Weise vor sie hin und sagte zu ihr: „Edle Frau, ich kann euch nur
sehr schwach die Freude schildern, die ich darüber empfinde, dass ich hier
zugegen war und euch diesen Dienst leisten konnte, und dass ich euch alle die
Hilfe anbieten kann, deren ihr in eurem jetzigen Zustand bedürfet.“

Um der schönen Frau Zutrauen zu sich einzuflößen, sagte
er ihr zuerst, wer er wäre, und durch welchen Zufall er auf diesen
Begräbnisort geraten sei. Sodann erzählte er ihr die Ankunft der drei Sklaven
und wie sie den Kasten vergraben hätten. Die Frau, welche sich beim Anblick
Ganems das Gesicht mit ihrem Schleier verhüllt hatte, wurde von lebhaftem
Dankgefühl gegen ihn ergriffen, und sagte: „Ich danke Gott, dass er mir
einen so wackern Mann, wie ihr seid, zugesandt hat, um mich vom Tod zu befreien.
Doch da ihr ein so mildtätiges Werk einmal angefangen habt, so beschwöre ich
euch, es nicht unvollendet zu lassen. Geht, ich bitte euch darum, in die Stadt
und holt einen Mauleseltreiber, der mich hier wegholt und in demselben Kasten
nach eurer Wohnung führe. Denn wenn ich mit euch zu Fuße von hier wegginge, so
könnte jemandem unterwegs meine Kleidung, die sich von der Kleidung de übrigen
Frauen in der Stadt, unterscheidet, auffallen und ihn bewegen, mir nachzugehen,
was ich aber um äußerst wichtiger Gründe willen zu vermeiden suchen muss.
Sobald ich in eurem Haus bin, werdet ihr aus der Erzählung meiner Geschichte
erfahren, wer ich bin. Unterdessen aber seid versichert, dass ihr nicht eine
Undankbare zu Dank verpflichtet habt.“

Der junge Kaufmann zog, bevor er sie schöne Frau
verließ, den Kasten aus der Grube heraus, schüttete diese mit Erde wieder zu,
legte die Frau dann wieder in den Kasten, und machte diesen wieder so zu, dass
man nicht merkte, dass das Schloss daran zersprengt sei. Damit indessen die Frau
nicht ersticken konnte, ließ er einen kleinen Ritz offen, durch welchen sie
frische Luft schöpfen konnte. Beim Weggehen aus dem Begräbnisplatz zog er die
Tür hinter sich zu, und da das Stadttor bereits offen war, so fand er bald, was
er suchte. Er kehrte nun nach dem Totenacker zurück, half dem Maultiertreiben
den Kasten auf seinen Maulesel laden, und sagte, um ihm jeden Verdacht zu
nehmen: Er sei in der Nacht mit einem anderen Maultiertreiber hier angekommen,
und dieser hätte in der Eile, um schnell umkehren zu können, den Kasten auf
dem Begräbnisplatz abgeladen.

Ganem, der seit seiner Ankunft in Bagdad sich nur mit
seinem Handel beschäftigt hatte, hatte noch nie die Macht der Liebe empfunden.
Jetzt fühlte er sie zum ersten Mal. Er hatte die junge Schöne nicht ansehen
können, ohne von ihrer Schönheit ganz geblendet zu werden, und die Unruhe, die
er empfand, als er von fern dem Maultiertreiber folgte, so wie die Besorgnis,
dass ihm unterwegs irgend etwas zustoßen könnte, was ihm seine Eroberung
entreißen könnte, gaben ihm über seinen innern Zustand Aufschluss. Seine
Freude war unbeschreiblich, als er glücklich bei seiner Wohnung angelangt war
und den Kasten abladen sah. Nachdem er den Maultiertreiber entlassen, und durch
einen seiner Sklaven die Haustür hatte verschließen lassen, öffnete er den
Kasten, half der jungen Schönen heraus steigen, bot ihr die Hand, und führte
sie nach seinem Zimmer, indem er sie wegen dessen bedauerte, was sie in diesem
engen Verschluss ausgestanden habe. „Wenn ich etwas ausgestanden
habe,“ sagte sie hierauf, „so bin ich durch das, was ihr für mich
getan, und durch das Vergnügen, das ich empfinde, mich in Sicherheit zu sehen,
hinlänglich dafür entschädigt.

Das Zimmer Ganems, so reich möbliert es auch war, zog
minder die Aufmerksamkeit der Schönen auf sich, als der schlanke Wuchs und der
edle Anstand ihres Befreiers, dessen Artigkeit und verbindliches Wesen ihr das
lebhafteste Dankgefühl einflößten. Sie setzte sich auf ein Sofa, und um dem
Kaufmann an den Tag zu legen, wie sehr sie den ihr geleisteten Dienst anerkenne,
nahm sie ihren Schleier ab. Ganem fühlte seinerseits die Gunst, die eine so
liebenswürdige Dame ihm dadurch erzeigte, dass sie ihn ihr entschleiertes
Gesicht sehen ließ, in ihrer ganzen Größe, oder vielmehr er fühlte, dass er
für sie bereits die leidenschaftlichste Zuneigung hegte. Wie viel
Verbindlichkeiten sie ihm auch schuldig sein mochte, er fühlte sich durch eine
so köstliche Gunstbezeigung nur zu sehr belohnt.

Die Schöne erriet Ganems Gesinnungen, wurde aber darüber
nicht unruhig, weil er sich in ehrerbietiger Ferne hielt. Da er mutmaßte, dass
sie wohl zu essen wünschen möge, und keinem andern das Geschäft übertragen
wollte, einen so reizenden Gast zu bewirten, so ging er in Begleitung eines
Sklaven zu einem Speisenwirt und bestellte eine Mahlzeit. Von dem Speisewirt
begab er sich dann zu einem Obsthändler, wo er sich die schönsten und
vortrefflichsten Früchte auslas. Ebenso kaufte er sich von dem köstlichsten
Wein und von demselben Brot, das der Kalif auf seiner Tafel speiste.

Sobald er in seine Wohnung zurückgekehrt war, errichtete
er mit eigener Hand von den eingekauften Früchten eine Pyramide, und setzte
diese selber in einer Schüssel von dem feinsten Porzellan vor sie hin, indem er
zu ihr sagte: „Edle Frau, unterdessen, bis eine nahrhaftere und eurer
würdige Mahlzeit bereitet sein wird, wählt und nehmt, ich bitte euch, einige
von diesen Früchten hier.“ Er wollte vor ihr stehen bleiben, doch sie
erklärte, dass sie nicht eher etwas anrühren würde, als bis er sich gesetzt
haben und mit ihr essen würde. Er gehorchte, und als sie einige Stücke
gespeist hatten, bemerkte Ganem, dass der Schleier, den die Dame neben sich aufs
Sofa hingelegt, mit einem Saume aus Gold gestickten Buchstaben gefasst war, und
bat um die Erlaubnis, diese Stickerei sehen zu dürfen. Die schöne Frau nahm
und überreichte ihm den Schleier, mit der Frage, ob er auch wohl  lesen
könne? „Verehrungswürdige Frau,“ erwiderte er mit Bescheidenheit,
„ein Kaufmann, der nicht wenigstens lesen und schreiben kann, würde sehr
schlecht seine Geschäfte betreiben.“ – „Nun gut,“ erwiderte sie,
„so lest die Worte, die hier in den Schleier gestickt sind. Es ist dies
zugleich ein Anlass für mich, euch meine Geschichte zu erzählen.“

Ganem nahm den Schleier und las folgende Worte: „Ich
gehöre dir und du gehörst mir, o Abkömmling von dem Oheim des
Propheten!“ Dieser Abkömmling von dem Oheim des Propheten war der Kalif
Harun Arreschyd, der damals regierte und von Abbas, dem Oheim Mohammeds,
abstammte.

Als Ganem den Sinn dieser Worte begriffen hatte, rief er
traurig aus: „Ach, gnädige Frau, ich habe euch so eben das Leben wieder
gegeben, und diese Schrift gibt mir den Tod! Ich verstehe die geheime Bedeutung
derselben zwar nicht ganz, doch sehe ich nur zu wohl ein, dass ich der
unglückseligste aller Menschen bin. Verzeiht mir, edle Frau, die Freiheit, die
ich mir nehme, es euch zu sagen: Ich konnte euch nicht sehen, ohne euch mein
Herz zu schenken, ihr selber wisst, wie wenig es in meiner Macht stand, es euch
zu versagen, und das ist es, was meiner Verwegenheit zur Entschuldigung
gereichen wird. Ich nahm mir vor, das eurige durch meine Verehrung, meine
Sorgfalt, meine Gefälligkeiten, meinen Eifer, meine Unterwürfigkeit und meine
Beharrlichkeit zu rühren, und kaum habe ich diesen schmeichelhaften Plan
gefasst, als ich auch schon meine Hoffnungen wieder dahin sinken sehe. Ich kann
nicht dafür stehen, dass ich ein so großes Unglück lange zu ertragen im Stand
sein werde. Allein, was auch immer daraus entstehen mag, ich werde wenigstens den
Trost haben, für euch zu sterben. Gebt mir, edle Frau, ich beschwöre euch,
völlige Aufklärung über mein trauriges Schicksal.“

Er konnte diese letzten Worte nicht ohne Tränen
aussprechen. Die schöne Frau wurde davon gerührt. Anstatt über die
Erklärung, die sie so eben vernommen, sich zu beklagen, empfand sie vielmehr
eine geheime Freude darüber, denn ihr Herz hatte sich bereits von ihm einnehmen
lassen. Jedoch verhehlte sie es, und als ob sie auf Gamens Rede gar nicht Acht
gegeben, antwortete sie ihm: „Ich hätte mich wohl gehütete, euch meinen
Schleier zu zeigen, wenn ich geglaubt hätte, dass er euch so großes
Missvergnügen machen würde, und ich sehe nicht ab, wie das, was ich euch
gesagt, euer Los so beklagenswert machen könne, als ihr euch einbildet. Ihr
müsst nämlich wissen,“ fuhr sie fort, „um euch meine Geschichte zu
erzählen, dass ich Herzenspein1)
heiße, – ein Name, der mir bei meiner Geburt gegeben wurde, weil man glaubte,
dass mein Anblick dereinst viel Leid verursachen würde. Er wird euch nicht
unbekannt sein, da in ganz Bagdad niemand ist, der nicht wüsste, dass der Kalif
Harun Arreschyd eine Favoritin hat, die so heißt. Man brachte mich schon in
meiner frühsten Jugend in den Palast, und erzog mich mit aller Sorgfalt, die
man nur irgend auf Personen meines Geschlechts, die darin zu bleiben bestimmt
sind, zu verwenden pflegt. Ich machte in alle dem, was man mich lehrte, nicht
üble Fortschritte, und dies, nebst einem Zug von Schönheit, erwarb mir die
Freundschaft des Kalifen, der mir ein besonderes Zimmer neben dem seinigen
einräumte. Der Kalif ließ es bei dieser Auszeichnung nicht bewenden. Er
ernannte zwanzig Frauen mir zur Aufwartung, nebst eben so vielen Verschnittenen,
und machte mir seitdem so ansehnliche Geschenke, dass ich mich bald reicher sah,
als irgend eine Königin auf der Welt. Ihr könnt leicht denken, dass Sobe