2. Kapitel


2. Kapitel

Die ältesten Einwanderungen in Italien

Keine Kunde, ja nicht einmal eine Sage erzählt von der ersten Einwanderung des Menschengeschlechts in Italien; vielmehr war im Altertum der Glaube allgemein, daß dort wie überall die erste Bevölkerung dem Boden selbst entsprossen sei. Indes die Entscheidung über den Ursprung der verschiedenen Rassen und deren genetische Beziehungen zu den verschiedenen Klimaten bleibt billig dem Naturforscher überlassen; geschichtlich ist es weder möglich noch wichtig festzustellen, ob die älteste bezeugte Bevölkerung eines Landes daselbst autochthon oder selbst schon eingewandert ist.

Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob, die sukzessive Völkerschichtung in dem einzelnen Lande darzulegen, um die Steigerung von der unvollkommenen zu der vollkommneren Kultur und die Unterdrückung der minder kulturfähigen oder auch nur minder entwickelten Stämme durch höher stehende Nationen soweit möglich rückwärts zu verfolgen. Italien indes ist auffallend arm an Denkmälern der primitiven Epoche und steht in dieser Beziehung in einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Kulturgebieten. Den Ergebnissen der deutschen Altertumsforschung zufolge muß in England, Frankreich, Norddeutschland und Skandinavien, bevor indogermanische Stämme hier sich ansässig machten, ein Volk vielleicht tschudischer Rasse gewohnt oder vielmehr gestreift haben, das von Jagd und Fischfang lebte, seine Geräte aus Stein, Ton oder Knochen verfertigte und mit Tierzähnen und Bernstein sich schmückte, des Ackerbaues aber und des Gebrauchs der Metalle unkundig war. In ähnlicher Weise ging in Indien der indogermanischen eine minder kulturfähige dunkelfarbige Bevölkerung vorauf. In Italien aber begegnen weder Trümmer einer verdrängten Nation, wie im keltisch-germanischen Gebiet die Finnen und Lappen und die schwarzen Stämme in den indischen Gebirgen sind, noch ist daselbst bis jetzt die Verlassenschaft eines verschollenen Urvolkes nachgewiesen worden, wie sie die eigentümlich gearteten Gerippe, die Mahlzeit- und Grabstätten der sogenannten Steinepoche des deutschen Altertums zu offenbaren scheinen. Es ist bisher nichts zum Vorschein gekommen, was zu der Annahme berechtigt, daß in Italien die Existenz des Menschengeschlechts älter sei als die Bebauung des Ackers und das Schmelzen der Metalle; und wenn wirklich innerhalb der Grenzen Italiens das Menschengeschlecht einmal auf der primitiven Kulturstufe gestanden hat, die wir den Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon doch jede Spur schlechterdings ausgelöscht.

Die Elemente der ältesten Geschichte sind die Völkerindividuen, die Stämme. Unter denen, die uns späterhin in Italien begegnen, ist von einzelnen, wie von den Hellenen, die Einwanderung, von anderen, wie von den Brettiern und den Bewohnern der sabinischen Landschaft, die Denationalisierung geschichtlich bezeugt. Nach Ausscheidung beider Gattungen bleiben eine Anzahl Stämme übrig, deren Wanderungen nicht mehr mit dem Zeugnis der Geschichte, sondern höchstens auf aprioristischem Wege sich nachweisen lassen und deren Nationalität nicht nachweislich eine durchgreifende Umgestaltung von außen her erfahren hat; diese sind es, deren nationale Individualität die Forschung zunächst festzustellen hat. Wären wir dabei einzig angewiesen auf den wirren Wust der Völkernamen und der zerrütteten, angeblich geschichtlichen Überlieferung, welche aus wenigen brauchbaren Notizen zivilisierter Reisender und einer Masse meistens geringhaltiger Sagen, gewöhnlich ohne Sinn für Sage wie für Geschichte zusammengesetzt und konventionell fixiert ist, so müßte man die Aufgabe als eine hoffnungslose abweisen. Allein noch fließt auch für uns eine Quelle der Überlieferung, welche zwar auch nur Bruchstücke, aber doch authentische gewährt; es sind dies die einheimischen Sprachen der in Italien seit unvordenklicher Zeit ansässigen Stämme. Ihnen, die mit dem Volke selbst geworden sind, war der Stempel des Werdens zu tief eingeprägt, um durch die nachfolgende Kultur gänzlich verwischt zu werden. Ist von den italischen Sprachen auch nur eine vollständig bekannt, so sind doch von mehreren anderen hinreichende Überreste erhalten, um der Geschichtsforschung für die Stammverschiedenheit oder Stammverwandtschaft und deren Grade zwischen den einzelnen Sprachen und Völkern einen Anhalt zu gewähren.

So lehrt uns die Sprachforschung drei italische Urstämme unterscheiden, den iapygischen, den etruskischen und den italischen, wie wir ihn nennen wollen, von welchen der letztere in zwei Hauptzweige sich spaltet: das latinische Idiom und dasjenige, dem die Dialekte der Umbrer, Marser, Volsker und Samniten angehören.

Von dem iapygischen Stamm haben wir nur geringe Kunde. Im äußersten Südosten Italiens, auf der messapischen oder kalabrischen Halbinsel, sind Inschriften in einer eigentümlichen verschollenen SpracheMan hat, freilich auf überhaupt wenig und am wenigsten für eine Tatsache von solcher Bedeutung zulängliche sprachliche Vergleichungspunkte hin, eine Verwandtschaft zwischen der iapygischen Sprache und der heutigen albanesischen angenommen. Sollte diese Stammverwandtschaft sich bestätigen und sollten anderseits die Albanesen – ein ebenfalls indogermanischer und dem hellenischen und italischen gleichstehender Stamm – wirklich ein Rest jener hellenobarbarischen Nationalität sein, deren Spuren in ganz Griechenland und namentlich in den nördlichen Landschaften hervortreten, so würde diese vorhellenische Nationalität damit als auch voritalisch nachgewiesen sein; Einwanderung der Iapyger in Italien über das Adriatische Meer hin würde daraus zunächst noch nicht folgen.. Die Lücke ist indes nicht sehr empfindlich; denn nur weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Beginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volksstamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Nationalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation paßt wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische Lage wahrscheinlich gemacht wird, daß dies die ältesten Einwanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind. Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker alle zu Lande erfolgt; zumal die nach Italien gerichteten, dessen Küste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deshalb noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war. Kamen aber die früheren Ansiedler über den Apennin, so kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre Entstehung erschließt, auch der Geschichtsforscher die Vermutung wagen, daß die am weitesten nach Süden geschobenen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und eben an dessen äußerstem südöstlichen Saume begegnen wir der iapygischen Nation.

Die Mitte der Halbinsel ist, soweit unsere zuverlässige Überlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in dem indogermanischen Volksstamm sich mit größerer Sicherheit bestimmen läßt, als dies bei der iapygischen Nation der Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heißen, da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel beruht; es teilt sich in die beiden Stämme der Latiner einerseits, anderseits der Umbrer mit deren südlichen Ausläufern, den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die sprachliche Analyse der diesen Stämmen angehörenden Idiome hat gezeigt, daß sie zusammen ein Glied sind in der indogermanischen Sprachenkette, und daß die Epoche, in der sie eine Einheit bildeten, eine verhältnismäßig späte ist. Im Lautsystem erscheint bei ihnen der eigentümliche Spirant f, worin sie übereinstimmen mit den Etruskern, aber sich scharf scheiden von allen hellenischen und hellenobarbarischen Stämmen, sowie vom Sanskrit selbst. Die Aspiraten dagegen, die von den Griechen durchaus und die härteren davon auch von den Etruskern festgehalten werden, sind den Italikern ursprünglich fremd und werden bei ihnen vertreten durch eines ihrer Elemente, sei es durch die Media, sei es durch den Hauch allein f oder h. Die feineren Hauchlaute s, w, j, die die Griechen soweit möglich beseitigen, sind in den italischen Sprachen wenig beschädigt erhalten, ja hie und da noch weiter entwickelt worden. Das Zurückziehen des Akzents und die dadurch hervorgerufene Zerstörung der Endungen haben die Italiker zwar mit einigen griechischen Stämmen und mit den Etruskern gemein, jedoch in stärkerem Grad als jene, in geringerem als diese angewandt; die unmäßige Zerrüttung der Endungen im Umbrischen ist sicher nicht in dem ursprünglichen Sprachgeist begründet, sondern spätere Verderbnis, welche sich in derselben Richtung wenngleich schwächer auch in Rom geltend gemacht hat. Kurze Vokale fallen in den italischen Sprachen deshalb im Auslaut regelmäßig, lange häufig ab; die schließenden Konsonanten sind dagegen im Lateinischen und mehr noch im Samnitischen mit Zähigkeit festgehalten worden, während das Umbrische auch diese fallen läßt. Damit hängt es zusammen, daß die Medialbildung in den italischen Sprachen nur geringe Spuren zurückgelassen hat und dafür ein eigentümliches, durch Anfügung von r gebildetes Passiv an die Stelle tritt; ferner daß der größte Teil der Tempora durch Zusammensetzungen mit den Wurzeln es und fu gebildet wird, während den Griechen neben dem Augment die reichere Ablautung den Gebrauch der Hilfszeitwörter großenteils erspart. Während die italischen Sprachen wie der äolische Dialekt auf den Dual verzichteten, haben sie den Ablativ, der den Griechen verlorenging, durchgängig, großenteils auch den Lokativ erhalten. Die strenge Logik der Italiker scheint Anstoß daran genommen zu haben, den Begriff der Mehrheit in den der Zweiheit und der Vielheit zu spalten, während man die in den Beugungen sich ausdrückenden Wortbeziehungen mit großer Schärfe festhielt. Eigentümlich italisch und selbst dem Sanskrit fremd ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst irgendwo durchgeführte Substantivierung der Zeitwörter.

Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausgewählten Beispiele genügen, um die Individualität des italischen Sprachstammes jedem anderen indogermanischen gegenüber darzutun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geographisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grieche und der Italiker sind Brüder, der Kelte, der Deutsche und der Slave ihnen Vettern. Die wesentliche Einheit aller italischen wie aller griechischen Dialekte und Stämme unter sich muß früh und klar den beiden großen Nationen selbst aufgegangen sein; denn wir finden in der römischen Sprache ein uraltes Wort rätselhaften Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeichnet, und ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Οπικός, die von allen, den Griechen in älterer Zeit bekannten latinischen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern oder Etruskern gebraucht wird.

Innerhalb des italischen Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen bestimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten. Allerdings sind von diesen nur zwei, der umbrische und der samnitische oder oskische Dialekt, einigermaßen, und auch diese nur in äußerst lückenhafter und schwankender Weise bekannt; von den übrigen Dialekten sind die einen, wie der volskische und der marsische, in zu geringen Trümmern auf uns gekommen, um sie in ihrer Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten selbst mit Sicherheit und Genauigkeit zu klassifizieren, während andere, wie der sabinische, bis auf geringe, als dialektische Eigentümlichkeiten im provinzialen Latein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind. Indes läßt die Kombination der sprachlichen und der historischen Tatsachen daran keinen Zweifel, daß diese sämtlichen Dialekte dem umbrisch-samnitischen Zweig des großen italischen Stammes angehört haben, und daß dieser, obwohl dem lateinischen Stamm weit näher als dem griechischen verwandt, doch auch wieder von ihm aufs bestimmteste sich unterscheidet. Im Fürwort und sonst häufig sagte der Samnite und der Umbrer p, wo der Römer q sprach – so pis für quis; ganz wie sich auch sonst nahverwandte Sprachen scheiden, zum Beispiel dem Keltischen in der Bretagne und Wales p, dem Gälischen und Irischen k eigen ist. In den Vokalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben; womit verwandt ist, daß in der Zusammensetzung der Römer den sonst so streng bewahrten Grundvokal abschwächt, was nicht geschieht in der verwandten Sprachengruppe. Der Genetiv der Wörter auf a ist in dieser wie bei den Griechen as, bei den Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern ei; der Lokativ tritt bei diesen im Sprachbewußtsein mehr und mehr zurück, während er in den andern italischen Dialekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus ist nur im Lateinischen vorhanden. Der umbrisch-samnitische Infinitiv auf um ist den Römern fremd, während das oskisch-umbrische, von der Wurzel es gebildete Futur nach griechischer Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Römern fast, vielleicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In vielen dieser Fälle, zum Beispiel in den Kasusformen, sind die Unterschiede indes nur vorhanden für die beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zusammenfallen. Wenn also die italische Sprache neben der griechischen selbständig steht, so verhält sich innerhalb jener die lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten des Oskischen und des Umbrischen und der verwandten Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sizilien und in Sparta.

Jede dieser Spracherscheinungen ist Ergebnis und Zeugnis eines historischen Ereignisses. Es läßt sich daraus mit vollkommener Sicherheit erschließen, daß aus dem gemeinschaftlichen Mutterschoß der Völker und der Sprachen ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der Italiker gemeinschaftlich in sich schloß; daß aus diesem alsdann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den westlichen und östlichen Stamm, der östliche noch später in Umbrer und Osker auseinander gingen.

Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht lehren, und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen, diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühesten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung stattfanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenninen führte. Dagegen kann die Vergleichung der Sprachen, richtig und vorsichtig behandelt, von demjenigen Kulturgrade, auf dem das Volk sich befand, als jene Trennungen eintraten, ein annäherndes Bild und damit uns die Anfänge der Geschichte gewähren, welche nichts ist als die Entwicklung der Zivilisation. Denn es ist namentlich in der Bildungsepoche die Sprache das treue Bild und Organ der erreichten Kulturstufe; die großen technischen und sittlichen Revolutionen sind darin wie in einem Archiv aufbewahrt, aus dessen Akten die Zukunft nicht versäumen wird, für jene Zeiten zu schöpfen, aus welchen alle unmittelbare Überlieferung verstummt ist.

Während die jetzt getrennten indogermanischen Völker einen gleichsprachigen Stamm bildeten, erreichten sie einen gewissen Kulturgrad und einen diesem angemessenen Wortschatz, den als gemeinsame Ausstattung in konventionell festgestelltem Gebrauch alle Einzelvölker übernahmen, um auf der gegebenen Grundlage selbständig weiter zu bauen. Wir finden in diesem Wortschatz nicht bloß die einfachsten Bezeichnungen des Seins, der Tätigkeiten, der Wahrnehmungen wie sum, do, pater, das heißt den ursprünglichen Widerhall des Eindrucks, den die Außenwelt auf die Brust des Menschen macht, sondern auch eine Anzahl Kulturwörter nicht bloß ihren Wurzeln nach, sondern in einer gewohnheitsmäßig ausgeprägten Form, welche Gemeingut des indogermanischen Stammes und weder aus gleichmäßiger Entfaltung noch aus späterer Entlehnung erklärbar sind. So besitzen wir Zeugnisse für die Entwicklung des Hirtenlebens in jener fernen Epoche in den unabänderlich fixierten Namen der zahmen Tiere: sanskritisch gâus ist lateinisch bos, griechisch βούς; sanskritisch avis ist lateinisch ovis, griechisch όις; sanskritisch açvas, lateinisch equus, griechisch ίππος; sanskritisch hansas, lateinisch anser, griechisch χήν; sanskritisch âtis, griechisch νήσσα, lateinisch anas; ebenso sind pecus, sus, porcus, taurus, canis sanskritische Wörter. Also schon in dieser fernsten Epoche hatte der Stamm, auf dem von den Tagen Homers bis auf unsere Zeit die geistige Entwicklung der Menschheit beruht, den niedrigsten Kulturgrad der Zivilisation, die Jäger- und Fischerepoche, überschritten und war zu einer wenigstens relativen Stetigkeit der Wohnsitze gelangt. Dagegen fehlt es bis jetzt an sicheren Beweisen dafür, daß schon damals der Acker gebaut worden ist. Die Sprache spricht eher dagegen als dafür. Unter den lateinisch-griechischen Getreidenamen kehrt keiner wieder im Sanskrit mit einziger Ausnahme von ζέα, das sprachlich dem sanskritischen yavas entspricht, übrigens im Indischen die Gerste, im Griechischen den Spelt bezeichnet. Es muß nun freilich zugegeben werden, daß diese von der wesentlichen Übereinstimmung der Benennungen der Haustiere so scharf abstechende Verschiedenheit in den Namen der Kulturpflanzen eine ursprüngliche Gemeinschaft des Ackerbaues noch nicht unbedingt ausschließt; in primitiven Verhältnissen ist die Übersiedelung und Akklimatisierung der Pflanzen schwieriger als die der Tiere, und der Reisbau der Inder, der Weizen- und Speltbau der Griechen und Römer, der Roggen- und Haferbau der Germanen und Kelten könnten an sich wohl alle auf einen gemeinschaftlichen ursprünglichen Feldbau zurückgehen. Aber auf der andern Seite ist die den Griechen und Indern gemeinschaftliche Benennung einer Halmfrucht doch höchstens ein Beweis dafür, daß man vor der Scheidung der Stämme die in Mesopotamien wildwachsenden Gersten- und SpeltkörnerNordwestlich von Anah am rechten Euphratufer fanden sich zusammen Gerste, Weizen und Spelt im wilden Zustande (Alphonse de Candolle, Géographie botanique raisonnée. Paris 1855. Bd. 2, S. 934). Dasselbe, daß Gerste und Weizen in Mesopotamien wild wachsen, sagt schon der babylonische Geschichtschreiber Berosos (bei Georgios Synkellos p. 50 Bonn.). sammelte und aß, nicht aber dafür, daß man schon Getreide baute. Wenn sich hier nach keiner Seite hin eine Entscheidung ergibt, so führt dagegen etwas weiter die Beobachtung, daß eine Anzahl der wichtigsten hier einschlagenden Kulturwörter im Sanskrit zwar auch, aber durchgängig in allgemeinerer Bedeutung vorkommen: agras ist bei den Indern überhaupt Flur, kûrnu ist das Zerriebene, aritram ist Ruder und Schiff, venas das Anmutige überhaupt, namentlich der anmutende Trank. Die Wörter also sind uralt; aber ihre bestimmte Beziehung auf die Ackerflur (ager), auf das zu mahlende Getreide (granum, Korn), auf das Werkzeug, das den Boden furcht wie das Schiff die Meeresfläche (aratrum), auf den Saft der Weintraube (vinum) war bei der ältesten Teilung der Stämme noch nicht entwickelt; es kann daher auch nicht wundernehmen, wenn die Beziehungen zum Teil sehr verschieden ausfielen und zum Beispiel von dem sanskritischen kûrnu sowohl das zum Zerreiben bestimmte Korn als auch die zerreibende Mühle, gotisch quairnus, litauisch girnôs ihre Namen empfingen. Wir dürfen darnach als wahrscheinlich annehmen, daß das indogermanische Urvolk den Ackerbau noch nicht kannte, und als gewiß, daß, wenn es ihn kannte, er doch noch in der Volkswirtschaft eine durchaus untergeordnete Rolle spielte; denn wäre er damals schon gewesen, was er später den Griechen und Römern war, so hätte er tiefer der Sprache sich eingeprägt, als es geschehen ist.

Dagegen zeugen für den Häuser- und Hüttenbau der Indogermanen sanskritisch dam(as), lateinisch domus, griechisch δόμος; sanskritisch vêças, lateinisch vicus, griechisch οίκος; sanskritisch dvaras, lateinisch fores, griechisch θύρα; ferner für den Bau von Ruderbooten die Namen des Nachens – sanskritisch nâus, griechisch ναύς, lateinisch navis – und des Ruders – sanskritisch aritram, griechisch ερετμός, lateinisch remus, tri-res-mis; für den Gebrauch der Wagen und die Bändigung der Tiere zum Ziehen und Fahren sanskritisch akshas (Achse und Karren), lateinisch axis, griechisch άξων, αμ-αξα; sanskritisch iugam, lateinisch iugum, griechisch ζυγόν. Auch die Benennungen des Kleides – sanskritisch vastra, lateinisch vestis, griechisch εςθής – und des Nähens und Spinnens – sanskritisch siv, lateinisch suo; sanskritisch nah, lateinisch neo, griechisch νήθω – sind in allen indogermanischen Sprachen die gleichen. Von der höheren Kunst des Webens läßt dies dagegen nicht in gleicher Weise sich sagenWenn das lateinische vieo, vimen, demselben Stamm angehört wie unser weben und die verwandten Wörter, so muß das Wort, noch als Griechen und Italiker sich trennten, die allgemeine Bedeutung flechten gehabt haben, und kann diese erst später, wahrscheinlich in verschiedenen Gebieten unabhängig voneinander, in die des Webens übergegangen sein. Auch der Leinbau, so alt er ist, reicht nicht bis in diese Zeit zurück, denn die Inder kennen die Flachspflanze wohl, bedienen sich ihrer aber bis heute nur zur Bereitung des Leinöls. Der Hanf ist den Italikern wohl noch später bekannt geworden als der Flachs; wenigstens sieht cannabis ganz aus wie ein spätes Lehnwort.. Dagegen ist wieder die Kunde von der Benutzung des Feuers zur Speisenbereitung und des Salzes zur Würzung derselben uraltes Erbgut der indogermanischen Nationen und das gleiche gilt sogar von der Kenntnis der ältesten zum Werkzeug und zum Zierat von dem Menschen verwandten Metalle. Wenigstens vom Kupfer (aes) und Silber (argentum), vielleicht auch vom Gold kehren die Namen wieder im Sanskrit, und diese Namen sind doch schwerlich entstanden, bevor man gelernt hatte, die Erze zu scheiden und zu verwenden; wie denn auch sanskritisch asis, lateinisch ensis auf den uralten Gebrauch metallener Waffen hinleitet.

Nicht minder reichen in diese Zeiten die Fundamentalgedanken zurück, auf denen die Entwicklung aller indogermanischen Staaten am letzten Ende beruht: die Stellung von Mann und Weib zueinander, die Geschlechtsordnung, das Priestertum des Hausvaters und die Abwesenheit eines eigenen Priesterstandes sowie überhaupt einer jeden Kastensonderung, die Sklaverei als rechtliche Institution, die Rechtstage der Gemeinde bei Neumond und Vollmond. Dagegen die positive Ordnung des Gemeinwesens, die Entscheidung zwischen Königtum und Gemeindeherrlichkeit, zwischen erblicher Bevorzugung der Königs- und Adelsgeschlechter und unbedingter Rechtsgleichheit der Bürger gehört überall einer späteren Zeit an. Selbst die Elemente der Wissenschaft und der Religion zeigen Spuren ursprünglicher Gemeinschaft.

Die Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, ékaçatam, lateinisch centum, griechisch ε-κατόν, gotisch hund); der Mond heißt in allen Sprachen davon, daß man nach ihm die Zeit mißt (mensis). Wie der Begriff der Gottheit selbst (sanskritisch devas, lateinisch deus, griechisch θεός) gehören zum gemeinen Gut der Völker auch manche der ältesten Religionsvorstellungen und Naturbilder. Die Auffassung zum Beispiel des Himmels als des Vaters, der Erde als der Mutter der Wesen, die Festzüge der Götter, die in eigenen Wagen auf sorgsam gebahnten Gleisen von einem Orte zum andern ziehen, die schattenhafte Fortdauer der Seele nach dem Tode sind Grundgedanken der indischen wie der griechischen und römischen Götterlehre. Selbst einzelne der Götter vom Ganges stimmen mit den am Ilissos und am Tiber verehrten bis auf die Namen überein – so ist der Uranos der Griechen der Varunas, so der Zeus, Jovis pater, Diespiter der Djâus pitâ der Veden. Auf manche rätselhafte Gestalt der hellenischen Mythologie ist durch die neuesten Forschungen über die ältere indische Götterlehre ein ungeahntes Licht gefallen. Die altersgrauen geheimnisvollen Gestalten der Erinnyen sind nicht hellenisches Gedicht, sondern schon mit den ältesten Ansiedlern aus dem Osten eingewandert. Das göttliche Windspiel Saramâ, das dem Herrn des Himmels die goldene Herde der Sterne und Sonnenstrahlen behütet und ihm die Himmelskühe, die nährenden Regenwolken zum Melken zusammentreibt, das aber auch die frommen Toten treulich in die Welt der Seligen geleitet, ist den Griechen zu dem Sohn der Saramâ, dem Saramêyas oder Hermeias geworden, und die rätselhafte, ohne Zweifel auch mit der römischen Cacussage zusammenhängende hellenische Erzählung von dem Raub der Rinder des Helios erscheint nun als ein letzter unverstandener Nachklang jener alten sinnvollen Naturphantasie.

Wenn die Aufgabe, den Kulturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so ist es dagegen speziell Aufgabe der italischen Geschichte, zu ermitteln, soweit es möglich ist, auf welchem Stande die graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker sich voneinander schieden. Es ist dies keine überflüssige Arbeit; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der italischen Zivilisation, den Ausgangspunkt der nationalen Geschichte.

Alle Spuren deuten dahin, daß, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hirtenleben führten und nur etwa die wilde Halmfrucht kannten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht sogar schon ein weinbauendes Volk waren. Dafür zeugt nicht gerade die Gemeinschaft des Ackerbaues selbst, die im ganzen noch keineswegs einen Schluß auf alle Völkergemeinschaft rechtfertigt. Ein geschichtlicher Zusammenhang des indogermanischen Ackerbaus mit dem der chinesischen, aramäischen und ägyptischen Stämme wird schwerlich in Abrede gestellt werden können; und doch sind diese Stämme den Indogermanen entweder stammfremd oder doch zu einer Zeit von ihnen getrennt worden, wo es sicher noch keinen Feldbau gab. Vielmehr haben die höher stehenden Stämme vor alters wie heutzutage die Kulturgeräte und Kulturpflanzen beständig getauscht; und wenn die Annalen von China den chinesischen Ackerbau auf die unter einem bestimmten König in einem bestimmten Jahr stattgefundene Einführung von fünf Getreidearten zurückführen, so zeichnet diese Erzählung im allgemeinen wenigstens die Verhältnisse der ältesten Kulturepoche ohne Zweifel richtig. Gemeinschaft des Ackerbaus wie Gemeinschaft des Alphabets, der Streitwagen, des Purpurs und andern Geräts und Schmuckes gestattet weit öfter einen Schluß auf alten Völkerverkehr als auf ursprüngliche Volkseinheit. Aber was die Griechen und Italiker anlangt, so darf bei den verhältnismäßig wohlbekannten Beziehungen dieser beiden Nationen zueinander die Annahme, daß der Ackerbau, wie Schrift und Münze, erst durch die Hellenen nach Italien gekommen sei, als völlig unzulässig bezeichnet werden. Anderseits zeugt für den engsten Zusammenhang des beiderseitigen Feldbaus die Gemeinschaftlichkeit aller ältesten hierher gehörigen Ausdrücke: ager αγρός, aro aratrum αρόω άροτρον, ligo neben λαχαίνω, hortus χόρτος, hordeum κριθή, milium μελίνη, rapa ραφανίς, malva μαλάχη, vinum οίνος, und ebenso das Zusammentreffen des griechischen und italischen Ackerbaus in der Form des Pfluges, der auf altattischen und römischen Denkmälern ganz gleich gebildet vorkommt, in der Wahl der ältesten Kornarten: Hirse, Gerste, Spelt, in dem Gebrauch, die Ähren mit der Sichel zu schneiden und sie auf der glattgestampften Tenne durch das Vieh austreten zu lassen, endlich in der Bereitungsart des Getreides: puls πόλτος, pinso πτίσσω, mola μύλη, denn das Backen ist jüngeren Ursprungs, und wird auch deshalb im römischen Ritual statt des Brotes stets der Teig oder Brei gebraucht. Daß auch der Weinbau in Italien über die älteste griechische Einwanderung hinausgeht, dafür spricht die Benennung „Weinland“ (Οινοτρία), die bis zu den ältesten griechischen Anländern hinaufzureichen scheint. Danach muß der Übergang vom Hirtenleben zum Ackerbau oder, genauer gesprochen, die Verbindung des Feldbaus mit der älteren Weidewirtschaft stattgefunden haben, nachdem die Inder aus dem Mutterschoß der Nationen ausgeschieden waren, aber bevor die Hellenen und die Italiker ihre alte Gemeinsamkeit aufhoben. Übrigens scheinen, als der Ackerbau aufkam, die Hellenen und Italiker nicht bloß unter sich, sondern auch noch mit anderen Gliedern der großen Familie zu einem Volksganzen verbunden gewesen zu sein; wenigstens ist es Tatsache, daß die wichtigsten jener Kulturwörter zwar den asiatischen Gliedern der indogermanischen Völkerfamilien fremd, aber den Römern und Griechen mit den keltischen sowohl als mit den deutschen, slawischen, lettischen Stämmen gemeinsam sindSo finden sich aro aratrum wieder in dem altdeutschen aran (pflügen, mundartlich eren), erida, im slawischen orati, oradlo, im litauischen arti, arimnas, im keltischen ar, aradar. So steht neben ligo unser Rechen, neben hortus unser Garten, neben mola unsere Mühle, slawisch mlyn, litauisch malunas, keltisch malirr.

Allen diesen Tatsachen gegenüber wird man es nicht zugeben können, daß es eine Zeit gegeben wo die Griechen in allen hellenischen Gauen nur von der Viehzucht gelebt haben. Wenn nicht Grund-, sondern Viehbesitz in Hellas wie in Italien der Ausgangs- und Mittelpunkt alles Privatvermögens ist, so beruht dies nicht darauf, daß der Ackerbau erst später aufkam, sondern daß er anfänglich nach dem System der Feldgemeinschaft betrieben ward. Überdies versteht es sich von selbst, daß eine reine Ackerbauwirtschaft vor Scheidung der Stämme noch nirgends bestanden haben kann, sondern, je nach der Lokalität mehr oder minder, die Viehzucht damit sich in ausgedehnterer Weise verband, als dies später der Fall war.

Wie der Ackerbau selbst beruhen auch die Bestimmungen der Flächenmaße und die Weise der Limitation bei beiden Völkern auf gleicher Grundlage; wie denn das Bauen des Bodens ohne eine wenn auch rohe Vermessung desselben nicht gedacht werden kann. Der oskische und umbrische Vorsus von 100 Fuß ins Gevierte entspricht genau dem griechischen Plethron. Auch das Prinzip der Limitation ist dasselbe. Der Feldmesser orientiert sich nach einer der Himmelsgegenden und zieht also zuerst zwei Linien von Norden nach Süden und von Osten nach Westen, in deren Schneidepunkt (templum, τέμενος von τέμνω) er steht, alsdann in gewissen festen Abständen den Hauptschneidelinien parallele Linien, wodurch eine Reihe rechtwinkeliger Grundstücke entsteht, deren Ecken die Grenzpfähle (termini, in sizilischen Inschriften τέρμονες, gewöhnlich όροι) bezeichnen. Diese Limitationsweise, die wohl auch etruskisch, aber schwerlich etruskischen Ursprungs ist, finden wir bei den Römern, Umbrern, Samniten, aber auch in sehr alten Urkunden der tarentinischen Herakleoten, die sie wahrscheinlich ebensowenig von den Italikern entlehnt haben als diese sie von den Tarentinern, sondern es ist altes Gemeingut. Eigentümlich römisch und charakteristisch ist erst die eigensinnige Ausbildung des quadratischen Prinzips, wonach man selbst, wo Fluß und Meer eine natürliche Grenze machten, diese nicht gelten ließ, sondern mit dem letzten vollen Quadrat das zum Eigen verteilte Land abschloß.

Aber nicht bloß im Ackerbau, sondern auch auf den übrigen Gebieten der ältesten menschlichen Tätigkeit ist die vorzugsweise enge Verwandtschaft der Griechen und Italiker unverkennbar. Das griechische Haus, wie Homer es schildert, ist wenig verschieden von demjenigen, das in Italien beständig festgehalten ward; das wesentliche Stück und ursprünglich der ganze innere Wohnraum des lateinischen Hauses ist das Atrium, das heißt das schwarze Gemach mit dem Hausaltar, dem Ehebett, dem Speisetisch und dem Herd, und nichts anderes ist auch das homerische Megaron mit Hausaltar und Herd und schwarzberußter Decke. Nicht dasselbe läßt sich von dem Schiffbau sagen. Der Rudernachen ist altes indogermanisches Gemeingut; der Fortschritt zu Segelschiffen aber gehört der graecoitalischen Periode schwerlich an, da es keine nicht allgemein indogermanische und doch von Haus aus den Griechen und Italikern gemeinsame Seeausdrücke gibt. Dagegen wird wieder die uralte italische Sitte der gemeinschaftlichen Mittagsmahlzeiten der Bauern, deren Ursprung der Mythus an die Einführung des Ackerbaues anknüpft, von Aristoteles mit den kretischen Syssitien verglichen; und auch darin trafen die ältesten Römer mit den Kretern und Lakonen zusammen, daß sie nicht, wie es später bei beiden Völkern üblich ward, auf der Bank liegend, sondern sitzend die Speisen genossen. Das Feuerzünden durch Reiben zweier verschiedenartiger Hölzer ist allen Völkern gemein; aber gewiß nicht zufällig treffen Griechen und Italiker zusammen in den Bezeichnungen der beiden Zündehölzer, des „Reibers“ (τρύπανον, terebra) und der „Unterlage“ (στόρευς εσχάρα, tabula, wohl von tendere, τέταμαι). Ebenso ist die Kleidung beider Völker wesentlich identisch, denn die Tunika entspricht völlig dem Chiton, und die Toga ist nichts als ein bauschigeres Himation; ja selbst in dem so veränderlichen Waffenwesen ist wenigstens das beiden Völkern gemein, daß die beiden Hauptangriffswaffen Wurfspeer und Bogen sind, was römischerseits in den ältesten Wehrmannsnamen (pilumniarquites) deutlich sich aussprichtUnter den beiderseits ältesten Waffennamen werden kaum sicher verwandte aufgezeigt werden können: lancea, obwohl ohne Zweifel mit λόγχη zusammenhängend, ist als römisches Wort jung und vielleicht von den Deutschen oder Spaniern entlehnt. und der ältesten nicht eigentlich auf den Nahkampf berechneten Fechtweise angemessen ist. So geht bei den Griechen und Italikern in Sprache und Sitte zurück auf dieselben Elemente alles, was die materiellen Grundlagen der menschlichen Existenz betrifft; die ältesten Aufgaben, die die Erde an den Menschen stellt, sind einstmals von beiden Völkern, als sie noch eine Nation ausmachten, gemeinschaftlich gelöst worden.

Anders ist es in dem geistigen Gebiet. Die große Aufgabe des Menschen, mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit dem Ganzen in bewußter Harmonie zu leben, läßt so viele Lösungen zu, als es Provinzen gibt in unsers Vaters Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiellen, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich scheiden. In der graecoitalischen Periode müssen die Anregungen noch gefehlt haben, welche diesen innerlichen Gegensatz hervortreten machten; erst zwischen den Hellenen und den Italikern hat jene tiefe geistige Verschiedenheit sich offenbart, deren Nachwirkung noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat, Religion und Kunst sind in Italien wie in Griechenland so eigentümlich, so durchaus national entwickelt worden, daß die gemeinschaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fußten, dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz entzogen ist. Jenes hellenische Wesen, das dem Einzelnen das Ganze, der Gemeinde die Nation, dem Bürger die Gemeinde aufopferte, dessen Lebensideal das schöne und gute Sein und nur zu oft der süße Müßiggang war, dessen politische Entwicklung in der Vertiefung des ursprünglichen Partikularismus der einzelnen Gaue und später sogar in der innerlichen Auflösung der Gemeindegewalt bestand, dessen religiöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem Spiel der nackten Knaben und dem Gedanken in aller seiner Herrlichkeit und in aller seiner Furchtbarkeit freie Bahn gab; und jenes römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht der Götter bannte, das nichts forderte und nichts ehrte als die nützliche Tat und jeden Bürger zwang, jeden Augenblick des kurzen Lebens mit rastloser Arbeit auszufüllen, das die keusche Verhüllung des Körpers schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem, wer anders sein wollte als die Genossen, ein schlechter Bürger hieß, in dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der einzige nicht verpönte hohe Gedanke – wer vermag diese scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ursprüngliche Einheit, die sie beide umschloß und beide vorbereitete und erzeugte? Es wäre törichte Vermessenheit, diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeutungen soll es versucht werden, die Anfänge der italischen Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.

Alles, was man das patriarchalische Element im Staate nennen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und ehrbare Gestaltung des gesellschaftlichen LebensSelbst im einzelnen zeigt sich diese Übereinstimmung, z. B. in der Bezeichnung der rechten Ehe als der „zur Gewinnung rechter Kinder abgeschlossenen“ (γάμος επί παίδων γνησίων αρότω – matrimonium liberorum quaerendorum causa)., welche dem Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau schwer ahndet und welche in der hohen Stellung der Mutter innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtslose Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väterlichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; die sittliche Untertänigkeit hat erst in Italien sich zur rechtlichen Knechtschaft umgestaltet. In derselben Weise wurde die vollständige Rechtlosigkeit des Knechts, wie sie im Wesen der Sklaverei lag, von den Römern mit erbarmungsloser Strenge festgehalten und in allen ihren Konsequenzen entwickelt; wogegen bei den Griechen früh tatsächliche und rechtliche Milderungen stattfanden und zum Beispiel die Sklavenehe als ein gesetzliches Verhältnis anerkannt ward.

Auf dem Hause beruht das Geschlecht, das heißt die Gemeinschaft der Nachkommen desselben Stammvaters; und von dem Geschlecht ist bei den Griechen wie den Italikern das staatliche Dasein ausgegangen. Aber wenn in der schwächeren politischen Entwicklung Griechenlands der Geschlechtsverband als korporative Macht dem Staat gegenüber sich noch weit in die historische Zeit hinein behauptet hat, erscheint der italische Staat sofort insofern fertig, als ihm gegenüber die Geschlechter vollständig neutralisiert sind und er nicht die Gemeinschaft der Geschlechter, sondern die Gemeinschaft der Bürger darstellt. Daß dagegen umgekehrt das Individuum dem Geschlecht gegenüber in Griechenland weit früher und vollständiger zur innerlichen Freiheit und eigenartigen Entwicklung gediehen ist als in Rom, spiegelt sich mit großer Deutlichkeit in der bei beiden Völkern durchaus verschiedenartigen Entwicklung der ursprünglich doch gleichartigen Eigennamen. In den älteren griechischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjektivisch zum Individualnamen hinzu, während umgekehrt noch die römischen Gelehrten es wußten, daß ihre Vorfahren ursprünglich nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in Griechenland der adjektivische Geschlechtsname früh verschwindet, wird er bei den Italikern, und zwar nicht bloß bei den Römern, zum Hauptnamen, so daß der eigentliche Individualname, das Praenomen, sich ihm unterordnet. Ja es ist, als sollte die geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen Fülle der griechischen, uns wie im Bilde zeigen, wie dort die Nivellierung, hier die freie Entwicklung der Persönlichkeit im Wesen der Nation lag.

Ein Zusammenleben in Familiengemeinden unter Stammhäuptern, wie man es für die graecoitalische Periode sich denken mag, mochte den späteren italischen wie hellenischen Politien ungleich genug sehen, mußte aber dennoch die Anfänge der beiderseitigen Rechtsbildung notwendig bereits enthalten. Die „Gesetze des Königs Italus“, die noch in Aristoteles‘ Zeiten angewendet wurden, mögen diese beiden Nationen wesentlich gemeinsamen Institutionen bezeichnen. Frieden und Rechtsfolge innerhalb der Gemeinde, Kriegsstand und Kriegsrecht nach außen, ein Regiment des Stammhauptes, ein Rat der Alten, Versammlungen der waffenfähigen Freien, eine gewisse Verfassung müssen in denselben enthalten gewesen sein. Gericht (crimen, κρίνειν), Buße (poena, ποινή), Wiedervergeltung (talio, ταλάω τλήναι) sind graecoitalische Begriffe. Das strenge Schuldrecht, nach welchem der Schuldner für die Rückgabe des Empfangenen zunächst mit seinem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam. Die Grundgedanken der römischen Verfassung – Königtum, Senat und eine nur zur Bestätigung oder Verwerfung der von dem König und dem Senat an sie gebrachten Anträge befugte Volksversammlung – sind kaum irgendwo so scharf ausgesprochen wie in Aristoteles‘ Bericht über die ältere Verfassung von Kreta. Die Keime zu größeren Staatenbünden in der staatlichen Verbrüderung oder gar der Verschmelzung mehrerer bisher selbständiger Stämme (Symmachie, Synoikismos) sind gleichfalls beiden Nationen gemein. Es ist auf diese Gemeinsamkeit der Grundlagen hellenischer und italischer Politie um so mehr Gewicht zu legen, als dieselbe sich nicht auch auf die übrigen indogermanischen Stämme mit erstreckt; wie denn zum Beispiel die deutsche Gemeindeordnung keineswegs wie die der Griechen und Italiker von dem Wahlkönigtum ausgeht. Wie verschieden aber die auf dieser gleichen Basis in Italien und in Griechenland aufgebauten Politien waren und wie vollständig der ganze Verlauf der politischen Entwicklung jeder der beiden Nationen als Sondergut angehörtNur darf man natürlich nicht vergessen, daß ähnliche Voraussetzungen überall zu ähnlichen Institutionen führen. So ist nichts so sicher, als daß die römischen Plebejer erst innerhalb des römischen Gemeinwesens erwuchsen, und doch finden sie überall ihr Gegenbild, wo neben einer Bürger- eine Insassenschaft sich entwickelt hat. Daß auch der Zufall hier sein neckendes Spiel treibt, versteht sich von selbst., wird die weitere Erzählung darzulegen haben.

Nicht anders ist es in der Religion. Wohl liegt in Italien wie in Hellas dem Volksglauben der gleiche Gemeinschatz symbolischer und allegorisierter Naturanschauungen zugrunde; auf diesem ruht die allgemeine Analogie zwischen der römischen und der griechischen Götter- und Geisterwelt, die in späteren Entwicklungsstadien so wichtig werden sollte. Auch in zahlreichen Einzelvorstellungen, in der schon erwähnten Gestalt des Zeus-Diovis und der Hestia-Vesta, in dem Begriff des heiligen Raumes (τέμενος, templum), in manchen Opfern und Zeremonien, stimmten die beiderseitigen Kulte nicht bloß zufällig überein. Aber dennoch gestalteten sie sich in Hellas wie in Italien so vollständig national und eigentümlich, daß selbst von dem alten Erbgut nur weniges in erkennbarer Weise und auch dieses meistenteils unverstanden oder mißverstanden bewahrt ward. Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern selbst die großen Gegensätze sich schieden, welche die graecoitalische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammengehalten hatte, so schied sich auch in ihrer Religion Begriff und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, daß die Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Herde zusammentreibe; der Grieche vergaß es, daß die Kühe eigentlich die Wolken waren, und machte aus dem bloß für einzelne Zwecke gestatteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen; wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das glänzende Auge der Tochter des Zeus, Athenaia; und so mächtig lebten ihm die Gestalten, die er sich geschaffen, daß er bald in ihnen nichts sah als vom Glanze der Naturkraft strahlende und getragene Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit bildete und umbildete. Wohl anders, aber nicht schwächer offenbarte sich die innige Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt und es nicht litt, daß die Form ihn verdunkelte. Wie der Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt, so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist Anschauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen wie dem Baum, dem Staat wie der Vorratskammer, ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet; dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Juno, der Grenze der Terminus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Vertumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in den Handlungen der einzelne Moment der Tätigkeit vergeistigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens, Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Einfahrens, Rufspeicherns und des Öffnens der Scheuer; und in ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische Ereignis mit heiligem Leben ausgestattet. Je größere Kreise indes die Abstraktion beschreibt, desto höher steigt der Gott und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Jupiter und Juno die Abstraktionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Dea Dia oder Ceres die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea bona oder, bei den Samniten, Dea cupra die gute Gottheit. Wie den Griechen alles konkret und körperlich erschien, so konnte der Römer nur abstrakte, vollkommen durchsichtige Formeln brauchen; und warf der Grieche den alten Sagenschatz der Urzeit deshalb zum größten Teil weg, weil in deren Gestalten der Begriff noch zu durchsichtig war, so konnte der Römer ihn noch weniger festhalten, weil ihm die heiligen Gedanken auch durch den leichtesten Schleier der Allegorie sich zu trüben schienen. Nicht einmal von den ältesten und allgemeinsten Mythen, zum Beispiel der den Indern, Griechen und selbst den Semiten geläufigen Erzählung von dem nach einer großen Flut übriggebliebenen gemeinsamen Stammvater des gegenwärtigen Menschengeschlechts, ist bei den Römern eine Spur bewahrt worden. Ihre Götter konnten nicht sich vermählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des Nektars. Aber daß sie dennoch in ihrer Geistigkeit, die nur der platten Auffassung platt erscheint, die Gemüter mächtig und vielleicht mächtiger faßten als die nach dem Bilde des Menschen geschaffenen Götter von Hellas, davon würde, auch wenn die Geschichte schwiege, schon die römische, dem Worte wie dem Begriffe nach unhellenische Benennung des Glaubens, die „Religio“, das heißt die Bindung, zeugen. Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstraktionen des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die Freiheit, hier die Notwendigkeit.

Endlich gilt, was von dem Ernst des Lebens, auch von dessen Nachbild in Scherz und Spiel, welche ja überall, und am meisten in der ältesten Zeit des vollen und einfachen Daseins, den Ernst nicht ausschließen, sondern einhüllen. Die einfachsten Elemente der Kunst sind in Latium und in Hellas durchaus dieselben: der ehrbare Waffentanz, der „Sprung“ (triumpus, θρίαμβος, δι-θύραμβος); der Mummenschanz der „vollen Leute“ (σάτυροι, satura), die, in Schaf- und Bockfelle gehüllt, mit ihren Späßen das Fest beschließen; endlich das Instrument der Flöte, das den feierlichen wie den lustigen Tanz mit angemessenen Weisen beherrscht und begleitet. Nirgends vielleicht tritt so deutlich wie hier die vorzugsweise enge Verwandtschaft der Hellenen und der Italiker zu Tage; und dennoch ist die Entwicklung der beiden Nationen in keiner anderen Richtung so weit auseinandergegangen. Die Jugendbildung blieb in Latium gebannt in die engen Schranken der häuslichen Erziehung; in Griechenland schuf der Drang nach mannigfaltiger und doch harmonischer Bildung des menschlichen Geistes und Körpers die von der Nation und von den Einzelnen als ihr bestes Gut gepflegten Wissenschaften der Gymnastik und der Paedeia. Latium steht in der Dürftigkeit seiner künstlerischen Entwicklung fast auf der Stufe der kulturlosen Völker; in Hellas ist mit unglaublicher Raschheit aus den religiösen Vorstellungen der Mythos und die Kulturfigur und aus diesen jene Wunderwelt der Poesie und der Bildnerei erwachsen, derengleichen die Geschichte nicht wieder aufzuzeigen hat. In Latium gibt es im öffentlichen wie im Privatleben keine anderen Mächte als Klugheit, Reichtum und Kraft; den Hellenen war es vorbehalten, die beseligende Übermacht der Schönheit zu empfinden, in sinnlich idealer Schwärmerei dem schönen Knabenfreunde zu dienen und den verlorenen Mut in den Schlachtliedern des göttlichen Sängers wiederzufinden.

So stehen die beiden Nationen, in denen das Altertum sein Höchstes erreicht hat, ebenso verschieden wie ebenbürtig nebeneinander. Die Vorzüge der Hellenen vor den Italikern sind von allgemeinerer Faßlichkeit und von hellerem Nachglanz; aber das tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der ernste Glaube an die eigenen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation. Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener schmähen, weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Es war eben das Beste und Eigenste des griechischen Volkes, was es ihm unmöglich machte, von der nationalen Einheit zur politischen fortzuschreiten, ohne doch die Politie zugleich mit der Despotie zu vertauschen. Die ideale Welt der Schönheit war den Hellenen alles und ersetzte ihnen selbst bis zu einem gewissen Grade, was in der Realität ihnen abging; wo immer in Hellas ein Ansatz zu nationaler Einigung hervortritt, beruht dieser nicht auf den unmittelbar politischen Faktoren, sondern auf Spiel und Kunst: nur die olympischen Wettkämpfe, nur die Homerischen Gesänge, nur die Euripideische Tragödie hielten Hellas in sich zusammen. Entschlossen gab dagegen der Italiker die Willkür hin um der Freiheit willen und lernte dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen verstände. Mochte der Einzelne bei dieser Untertänigkeit verderben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern; er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl, wie der Grieche es nie gekannt hat, und errang allein unter allen Kulturvölkern des Altertums bei einer auf Selbstregiment ruhenden Verfassung die nationale Einheit, die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und über den ganzen Erdkreis die Botmäßigkeit in die Hand legte.

3. Kapitel


3. Kapitel

Die Ansiedlungen der Latiner

Die Heimat des indogermanischen Stammes ist der westliche Teil Mittelasiens; von dort aus hat er sich teils in südöstlicher Richtung über Indien, teils in nordwestlicher über Europa ausgebreitet. Genauer den Ursitz der Indogermanen zu bestimmen, ist schwierig; jedenfalls muß er im Binnenlande und von der See entfernt gewesen sein, da keine Benennung des Meeres dem asiatischen und dem europäischen Zweige gemeinsam ist. Manche Spuren weisen näher in die Euphratlandschaften, so daß merkwürdigerweise die Urheimat der beiden wichtigsten Kulturstämme, des indogermanischen und des aramäischen, räumlich fast zusammenfällt – eine Unterstützung für die Annahme einer allerdings fast jenseits aller verfolgbaren Kultur- und Sprachentwicklung liegenden Gemeinschaft auch dieser Völker. Eine engere Lokalisierung ist ebensowenig möglich, als es möglich ist, die einzelnen Stämme auf ihren weiteren Wanderungen zu begleiten. Der europäische mag noch nach dem Ausscheiden der Inder längere Zeit in Persien und Armenien verweilt haben; denn allem Anschein nach ist hier die Wiege des Acker- und Weinbaus. Gerste, Spelt und Weizen sind in Mesopotamien, der Weinstock südlich vom Kaukasus und vom Kaspischen Meer einheimisch; ebenda sind der Pflaumen- und der Nußbaum und andere der leichter zu verpflanzenden Fruchtbäume zu Hause. Bemerkenswert ist es auch, daß den meisten europäischen Stämmen, den Lateinern, Kelten, Deutschen und Slawen der Name des Meeres gemeinsam ist; sie müssen also wohl vor ihrer Scheidung die Küste des Schwarzen oder auch des Kaspischen Meeres erreicht haben. Auf welchem Wege von dort die Italiker an die Alpenkette gelangt sind und wo namentlich sie, allein noch mit den Hellenen vereinigt, gesiedelt haben mögen, läßt sich nur beantworten, wenn es entschieden ist, auf welchem Wege, ob von Kleinasien oder vom Donaugebiet aus, die Hellenen nach Griechenland gelangt sind. Daß die Italiker eben wie die Inder von Norden her in ihre Halbinsel eingewandert sind, darf auf jeden Fall als ausgemacht gelten. Der Zug des umbrisch-sabellischen Stammes auf dem mittleren Bergrücken Italiens in der Richtung von Norden nach Süden läßt sich noch deutlich verfolgen; ja die letzten Phasen desselben gehören der vollkommen historischen Zeit an. Weniger kenntlich ist der Weg, den die latinische Wanderung einschlug. Vermutlich zog sie in ähnlicher Richtung an der Westküste entlang, wohl lange bevor die ersten sabellischen Stämme aufbrachen; der Strom überflutet die Höhen erst, wenn die Niederungen schon eingenommen sind, und nur, wenn die latinischen Stämme schon vorher an der Küste saßen, erklärt es sich, daß die Sabeller sich mit den rauheren Gebirgen begnügten und erst von diesen aus, wo es anging, sich zwischen die latinischen Völker drängten.

Daß vom linken Ufer des Tiber bis an die volskischen Berge ein latinischer Stamm wohnte, ist allbekannt; diese Berge selbst aber, welche bei der ersten Einwanderung, als noch die Ebenen von Latium und Kampanien offenstanden, verschmäht worden zu sein scheinen, waren, wie die volskischen Inschriften zeigen, von einem den Sabellern näher als den Latinern verwandten Stamm besetzt. Dagegen wohnten in Kampanien vor der griechischen und samnitischen Einwanderung wahrscheinlich Latiner; denn die italischen Namen Novla oder Nola (Neustadt), Campani Capua, Volturnus (von volvere wie Iuturna von iuvare), Opsci (Arbeiter) sind nachweislich älter als der samnitische Einfall und beweisen, daß, als Kyme von den Griechen gegründet ward, ein italischer und wahrscheinlich latinischer Stamm, die Ausōner, Kampanien innehatten. Auch die Urbewohner der später von den Lucanern und Brettiern bewohnten Landschaften, die eigentlichen Itali (Bewohner des Rinderlandes), werden von den besten Beobachtern nicht zu dem iapygischen, sondern zu dem italischen Stamm gestellt; es ist nichts im Wege, sie dem latinischen Stamm beizuzählen, obwohl die noch vor dem Beginn der staatlichen Entwicklung Italiens erfolgte Hellenisierung dieser Gegenden und deren spätere Überflutung durch samnitische Schwärme die Spuren der älteren Nationalität hier gänzlich verwischt hat. Auch den gleichfalls verschollenen Stamm der Siculer setzten sehr alte Sagen in Beziehung zu Rom; so erzählt der älteste italische Geschichtschreiber Antiochos von Syrakus, daß zum König Morges von Italia (d. h. der Brettischen Halbinsel) ein Mann Namens Sikelos auf flüchtigem Fuß aus Rom gekommen sei; und es scheinen diese Erzählungen zu beruhen auf der von den Berichterstattern wahrgenommenen Stammesgleichheit der Siculer, deren es noch zu Thukydides‘ Zeit in Italien gab, und der Latiner. Die auffallende Verwandtschaft einzelner Dialektwörter des sizilischen Griechisch mit dem Lateinischen erklärt sich zwar wohl nicht aus der alten Sprachgleichheit der Siculer und Römer, sondern vielmehr aus den alten Handelsverbindungen zwischen Rom und den sizilischen Griechen; nach allen Spuren indes sind nicht bloß die latinische, sondern wahrscheinlich auch die kampanische und lucanische Landschaft, das eigentliche Italia zwischen den Buchten von Tarent und Laos und die östliche Hälfte von Sizilien, in uralter Zeit von verschiedenen Stämmen der latinischen Nation bewohnt gewesen.

Die Schicksale dieser Stämme waren sehr ungleich. Die in Sizilien, Großgriechenland und Kampanien angesiedelten kamen mit den Griechen in Berührung in einer Epoche, wo sie deren Zivilisation Widerstand zu leisten nicht vermochten, und wurden entweder völlig hellenisiert, wie namentlich in Sizilien, oder doch so geschwächt, daß sie der frischen Kraft der sabinischen Stämme ohne sonderliche Gegenwehr unterlagen. So sind die Siculer, die Italer und Morgeten, die Ausōner nicht dazu gekommen, eine tätige Rolle in der Geschichte der Halbinsel zu spielen.

Anders war es in Latium, wo griechische Kolonien nicht gegründet worden sind und es den Einwohnern nach harten Kämpfen gelang, sich gegen die Sabiner wie gegen die nördlichen Nachbarn zu behaupten. Werfen wir einen Blick auf die Landschaft, die wie keine andere in die Geschicke der alten Welt einzugreifen bestimmt war.

Schon in urältester Zeit ist die Ebene von Latium der Schauplatz der großartigsten Naturkämpfe gewesen, in denen die langsam bildende Kraft des Wassers und die Ausbrüche gewaltiger Vulkane Schicht über Schicht schoben desjenigen Bodens, auf dem entschieden werden sollte, welchem Volk die Herrschaft der Erde gehöre. Eingeschlossen im Osten von den Bergen der Sabiner und Aequer, die dem Apennin angehören; im Süden von dem bis zu 4000 Fuß Höhe ansteigenden volskischen Gebirg, welches von dem Hauptstock des Apennin durch das alte Gebiet der Herniker, die Hochebene des Sacco (Trerus, Nebenfluß des Liris), getrennt ist und von dieser aus sich westlich ziehend mit dem Vorgebirg von Terracina abschließt; im Westen von dem Meer, das an diesem Gestade nur wenige und geringe Häfen bildet; im Norden in das weite etruskische Hügelland sich verlaufend, breitet eine stattliche Ebene sich aus, durchflossen von dem Tiberis, dem „Bergstrom“, der aus den umbrischen, und dem Anio, der von den sabinischen Bergen herkommt. Inselartig steigen in der Fläche auf teils die steilen Kalkfelsen des Soracte im Nordosten, des circeischen Vorgebirgs im Südwesten, sowie die ähnliche, obwohl niedrigere Höhe des Ianiculum bei Rom; teils vulkanische Erhebungen, deren erloschene Krater zu Seen geworden und zum Teil es noch sind: die bedeutendste unter diesen ist das Albaner Gebirge, das nach allen Seiten frei zwischen den Volskergebirgen und dem Tiberfluß aus der Ebene emporragt.

Hier siedelte der Stamm sich an, den die Geschichte kennt unter dem Namen der Latiner, oder, wie sie später zur Unterscheidung von den außerhalb dieses Bereichs gegründeten latinischen Gemeinden genannt werden, der „alten Latiner“ (prisci Latini). Allein das von ihnen besetzte Gebiet, die Landschaft Latium, ist nur ein kleiner Teil jener mittelitalischen Ebene. Alles Land nördlich des Tiber ist den Latinern ein fremdes, ja sogar ein feindliches Gebiet, mit dessen Bewohnern ein ewiges Bündnis, ein Landfriede nicht möglich war und die Waffenruhe stets auf beschränkte Zeit abgeschlossen worden zu sein scheint. Die Tibergrenze gegen Norden ist uralt, und weder die Geschichte noch die bessere Sage hat eine Erinnerung davon bewahrt, wie und wann diese folgenreiche Abgrenzung sich festgestellt hat. Die flachen und sumpfigen Strecken südlich vom Albaner Gebirge finden wir, wo unsere Geschichte beginnt, in den Händen umbrisch-sabellischer Stämme, der Rutuler und Volsker; schon Ardea und Velitrae sind nicht mehr ursprünglich latinische Städte. Nur der mittlere Teil jenes Gebietes zwischen dem Tiber, den Vorbergen des Apennin, den Albaner Bergen und dem Meer, ein Gebiet von etwa 34 deutschen Quadratmeilen, wenig größer als der jetzige Kanton Zürich, ist das eigentliche Latium, die „Ebene“Ein französischer Statistiker, Dureau de la Malle (Economie politique des Romains. Bd. 2, S. 226), vergleicht mit der römischen Campagna die Limagne in Auvergne, gleichfalls eine weite, sehr durchschnittene und ungleiche Ebene, mit einer Bodenoberfläche aus dekomponierter Lava und Asche den Resten ausgebrannter Vulkane. Die Bevölkerung, mindestens 2500 Menschen auf die Quadratlieue, ist eine der stärksten, die in rein ackerbauenden Gegenden vorkommt, das Eigentum ungemein zerstückelt. Der Ackerbau wird fast ganz von Menschenhand beschafft, mit Spaten, Karst oder Hacke; nur ausnahmsweise tritt dafür der leichte Pflug ein der mit zwei Kühen bespannt ist und nicht selten spannt an der Stelle der einen sich die Frau des Ackermanns ein. Das Gespann dient zugleich um Milch zu gewinnen und das Land zu bestehen. Man erntet zweimal im Jahre, Korn und Kraut; Brache kommt nicht vor. Der mittlere Pachtzins für einen Arpent Ackerland ist 100 Franken jährlich. Würde dasselbe Land statt dessen unter sechs oder sieben große Grundbesitzer verteilt werden würden Verwalter- und Tagelöhnerwirtschaft an die Stelle des Bewirtschaftens durch kleine Grundeigentümer treten, so würde in hundert Jahren ohne Zweifel die Limagne öde, verlassen und elend sein wie heutzutage die Campagna di Roma.. An gutem Wasser ist kein Überfluß; um so höher und heiliger hielt die Bevölkerung jede frische Quelle.

Es ist kein Bericht darüber erhalten, wie die Ansiedlungen der Latiner in der Landschaft, welche seitdem ihren Namen trug, erfolgt sind, und wir sind darüber fast allein auf Rückschlüsse angewiesen. Einiges indes läßt sich dennoch erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit vermuten.

Die römische Mark zerfiel in ältester Zeit in eine Anzahl Geschlechterbezirke, welche späterhin benutzt wurden, um dar aus die ältesten „Landquartiere“ (tribus rusticae) zu bilden. Von dem Claudischen Quartier ist es überliefert, daß es aus der Ansiedlung der Claudischen Geschlechtsgenossen am Anio erwuchs; und dasselbe geht ebenso sicher für die übrigen Distrikte der ältesten Einteilung hervor aus ihren Namen. Diese sind nicht, wie die der später hinzugefügten Distrikte, von Örtlichkeiten entlehnt, sondern ohne Ausnahme von Geschlechternamen gebildet; und es sind die Geschlechter, die den Quartieren der ursprünglichen römischen Mark die Namen gaben, soweit sie nicht gänzlich verschollen sind (wie die Camilii, Galerii, Lemonii, Pollii, Pupinii, Voltinii), durchaus die ältesten römischen Patrizierfamilien, die Aemilii, Cornelii, Fabii, Horatii, Menenii, Papirii, Romilii, Sergii, Voturii. Bemerkenswert ist es, daß unter all diesen Geschlechtern kein einziges erscheint, das nachweislich erst später nach Rom übergesiedelt wäre. Ähnlich wie der römische, wird jeder italische und ohne Zweifel auch jeder hellenische Gau von Haus aus in eine Anzahl zugleich örtlich und geschlechtlich vereinigter Genossenschaften zerfallen sein; es ist diese Geschlechtsansiedlung das „Haus“ (οικία) der Griechen, aus dem, wie in Rom die Tribus, auch dort sehr häufig die Komen oder Demen hervorgegangen sind. Die entsprechenden italischen Benennungen „Haus“ (vicus) oder „Bezirk“ (pagus von pangere) deuten gleichfalls das Zusammensiedeln der Geschlechtsgenossen an und gehen im Sprachgebrauch begreiflicherweise über in die Bedeutung Weiler oder Dorf. Wie zu dem Hause ein Acker, so gehört zu dem Geschlechtshaus oder Dorf eine Geschlechtsmark, die aber, wie später zu zeigen sein wird, bis in verhältnismäßig späte Zeit noch gleichsam als Hausmark, das heißt nach dem System der Feldgemeinschaft bestellt wurde. Ob die Geschlechtshäuser in Latium selbst sich zu Geschlechtsdörfern entwickelt haben oder ob die Latiner schon als Geschlechtsgenossenschaften in Latium eingewandert sind, ist eine Frage, auf die wir ebenso wenig eine Antwort haben, als wir zu bestimmen vermögen, in welcher Weise die Gesamtwirtschaft, welche durch eine derartige Ordnung gefordert wird, sich in Latium gestaltet hatIn Slawonien, wo die patriarchalische Haushaltung bis auf den heutigen Tag festgehalten wird, bleibt die ganze Familie, oft bis zu fünfzig, ja hundert Köpfen stark, unter den Befehlen des von der ganzen Familie auf Lebenszeit gewählten Hausvaters (Goszpodár) in demselben Hause beisammen. Das Vermögen des Hauses, das hauptsächlich in Vieh besteht, verwaltet der Hausvater; der Überschuß wird nach Familienstämmen verteilt. Privaterwerb durch Industrie und Handel bleibt Sondereigentum. Austritte aus dem Hause, auch der Männer, z. B. durch Einheiraten in eine fremde Wirtschaft, kommen vor (Csaplovics, Slawonien und Kroatien. Pest 1839. Bd. 1, S. 106, 179). Bei derartigen Verhältnissen, die von den ältesten römischen sich nicht allzuweit entfernen mögen, nähert das Haus sich der Gemeinde., in wie weit das Geschlecht neben der Abstammung noch auf äußerlicher Ein- und Zusammenordnung nicht blutsverwandter Individuen mit beruhen mag.

Von Haus aus aber galten diese Geschlechtsgenossenschaften nicht als selbständige Einheiten, sondern als die integrierenden Teile einer politischen Gemeinde (civitas, populus), welche zunächst auftritt als ein zu gegenseitiger Rechtsfolge und Rechtshilfe und zu Gemeinschaftlichkeit in Abwehr und Angriff verpflichteter Inbegriff einer Anzahl stamm-, sprach- und sittengleicher Geschlechtsdörfer. An einem festen örtlichen Mittelpunkt konnte es diesem Gau so wenig fehlen wie der Geschlechtsgenossenschaft; da indes die Geschlechts-, das heißt die Gaugenossen in ihren Dörfern wohnten, so konnte der Mittelpunkt des Gaues nicht eine eigentliche Zusammensiedlung, eine Stadt, sondern nur eine gemeine Versammlungsstätte sein, welche die Dingstätte und die gemeinen Heiligtümer des Gaues in sich schloß, wo die Gaugenossen an jedem achten Tag des Verkehrs wie des Vergnügens wegen sich zusammenfanden und wo sie im Kriegsfall sich und ihr Vieh vor dem einfallenden Feind sicherer bargen als in den Weilern, die aber übrigens regelmäßig nicht oder schwach bewohnt war. Ganz ähnliche alte Zufluchtsstätten sind noch heutzutage in dem Hügellande der Ostschweiz auf mehreren Bergspitzen zu erkennen. Ein solcher Platz heißt in Italien „Höhe“ (capitolium, wie άκρα, das Berghaupt) oder „Wehr“ (arx von arcere); er ist noch keine Stadt, aber die Grundlage einer künftigen, indem die Häuser an die Burg sich anschließen und späterhin sich umgeben mit dem „Ringe“ (urbs mit urvus, curvus, vielleicht auch mit orbis verwandt). Den äußerlichen Unterschied zwischen Burg und Stadt gibt die Anzahl der Tore, deren die Burg möglichst wenige, die Stadt möglichst viele, jene in der Regel nur ein einziges, diese mindestens drei hat. Auf diesen Befestigungen ruht die vorstädtische Gauverfassung Italiens, welche in denjenigen italischen Landschaften, die zum städtischen Zusammensiedeln erst spät und zum Teil noch bis auf den heutigen Tag nicht vollständig gelangt sind, wie im Marserland und in den kleinen Gauen der Abruzzen, noch einigermaßen sich erkennen läßt. Die Landschaft der Aequiculer, die noch in der Kaiserzeit nicht in Städten, sondern in unzähligen offenen Weilern wohnten, zeigt eine Menge altertümlicher Mauerringe, die als „verödete Städte“ mit einzelnen Tempeln das Staunen der römischen wie der heutigen Archäologen erregten, von denen jene ihre „Urbewohner“ (aborigines), diese ihre Pelasger hier unterbringen zu können meinten. Gewiß richtiger wird man in diesen Anlagen nicht ummauerte Städte erkennen, sondern Zufluchtsstätten der Markgenossen, wie sie in älterer Zeit ohne Zweifel in ganz Italien, wenngleich in weniger kunstvoller Weise angelegt, bestanden. Daß in derselben Epoche, wo die zu städtischen Ansiedlungen übergegangenen Stämme ihren Städten steinerne Ringmauern gaben, auch diejenigen Landschaften, die in offenen Weilern zu wohnen fortfuhren, die Erdwälle und Pfahlwerke ihrer Festungen durch Steinbauten ersetzten, ist natürlich; als dann in der Zeit des gesicherten Landfriedens man solcher Festungen nicht mehr bedurfte, wurden diese Zufluchtsstätten verlassen und bald den späteren Generationen ein Rätsel.

Jene Gaue also, die in einer Burg ihren Mittelpunkt fanden und eine gewisse Anzahl Geschlechtsgenossenschaften in sich begriffen, sind als die ursprünglichen staatlichen Einheiten der Ausgangspunkt der italischen Geschichte. Indes wo und in welchem Umfang innerhalb Latiums dergleichen Gaue sich bildeten, ist weder mit Bestimmtheit auszumachen noch von besonderem historischen Interesse. Das isolierte Albaner Gebirge, das den Ansiedlern die gesundeste Luft, die frischesten Quellen und die am meisten gesicherte Lage darbot, diese natürliche Burg Latiums, ist ohne Zweifel von den Ankömmlingen zuerst besetzt worden. Hier lag denn auch auf der schmalen Hochfläche oberhalb Palazzuola zwischen dem Albanischen See (Lago di Castello) und dem Albanischen Berg (Monte Cavo) lang hingestreckt Alba, das durchaus als Ursitz des latinischen Stammes und Mutterort Roms sowie aller übrigen altlatinischen Gemeinden galt; hier an den Abhängen die uralten latinischen Ortschaften Lanuvium, Aricia und Tusculum. Hier finden sich auch von jenen uralten Bauwerken, welche die Anfänge der Zivilisation zu bezeichnen pflegen und gleichsam der Nachwelt zum Zeugnis dastehen davon, daß Pallas Athene in der Tat, wenn sie erscheint, erwachsen in die Welt tritt: so die Abschroffung der Felswand unterhalb Alba nach Palazzuola zu, welche den durch die steilen Abhänge des Monte Cavo nach Süden zu von Natur unzugänglichen Ort von Norden her ebenso unnahbar macht und nur die beiden schmalen, leicht zu verteidigenden Zugänge von Osten und Westen her für den Verkehr frei läßt; und vor allem der gewaltige, in die harte, sechstausend Fuß mächtige Lavawand mannshoch gebrochene Stollen, durch welchen der in dem alten Krater des Albaner Gebirges entstandene See bis auf seine jetzige Tiefe abgelassen und für den Ackerbau auf dem Berge selbst ein bedeutender Raum gewonnen worden ist.

Natürliche Festen der latinischen Ebene sind auch die Spitzen der letzten Ausläufer der Sabinergebirge, wo aus solchen Gauburgen später die ansehnlichen Städte Tibur und Praeneste hervorgingen. Auch Labici, Gabii und Nomentum in der Ebene zwischen dem Albaner und Sabinergebirge und dem Tiber; Rom am Tiber, Laurentum und Lavinium an der Küste sind mehr oder minder alte Mittelpunkte latinischer Kolonisation, um von zahlreichen andern, minder namhaften und zum Teil fast verschollenen zu schweigen. Alle diese Gaue waren in ältester Zeit politisch souverän und wurden ein jeder von seinem Fürsten unter Mitwirkung des Rates der Alten und der Versammlung der Wehrmänner regiert. Aber dennoch ging nicht bloß das Gefühl der Sprach- und Stammgenossenschaft durch diesen ganzen Kreis, sondern es offenbarte sich dasselbe auch in einer wichtigen religiösen und staatlichen Institution, in dem ewigen Bunde der sämtlichen latinischen Gaue. Die Vorstandschaft stand ursprünglich nach allgemeinem italischen wie hellenischen Gebrauch demjenigen Gau zu, in dessen Grenzen die Bundesstätten lagen; es war dies der Gau von Alba, der überhaupt, wie gesagt; als der älteste und vornehmste der latinischen betrachtet ward. Der berechtigten Gemeinden waren anfänglich dreißig, wie denn diese Zahl als Summe der Teile eines Gemeinwesens in Griechenland wie in Italien ungemein häufig begegnet. Welche Ortschaften zu den dreißig altlatinischen Gemeinden oder, wie sie in Beziehung auf die Metropolrechte Albas auch wohl genannt werden, zu den dreißig albanischen Kolonien ursprünglich gezählt worden sind, ist nicht überliefert und nicht mehr auszumachen. Wie bei den ähnlichen Eidgenossenschaften zum Beispiel der Böoter und der Ionier die Pamböotien und Panionien, war der Mittelpunkt dieser Vereinigung das „latinische Fest“ (feriae Latinae), an welchem auf dem „Berg von Alba“ (mons Albanus, Monte Cavo) an einem alljährlich von dem Vorstand dafür fest gesetzten Tage dem „latinischen Gott“ (Iuppiter Latiaris) von dem gesamten Stamm ein Stieropfer dargebracht ward. Zu dem Opferschmaus hatte jede teilnehmende Gemeinde nach festem Satz ein Gewisses an Vieh, Milch und Käse zu liefern und dagegen von dem Opferbraten ein Stück zu empfangen. Diese Gebräuche dauerten fort bis in die späte Zeit und sind wohlbekannt; über die wichtigeren rechtlichen Wirkungen dieser Verbindung dagegen vermögen wir fast nur Mutmaßungen aufzustellen. Seit ältester Zeit schlossen sich an das religiöse Fest auf dem Berg von Alba auch Versammlungen der Vertreter der einzelnen Gemeinden auf der benachbarten latinischen Dingstätte am Quell der Ferentina (bei Marino); und überhaupt kann eine solche Eidgenossenschaft nicht gedacht werden ohne eine gewisse Oberverwaltung des Bundes und eine für die ganze Landschaft gültige Rechtsordnung. Daß dem Bunde wegen Verletzung des Bundesrechts eine Gerichtsbarkeit zustand und in diesem Fall selbst auf den Tod erkannt werden konnte, ist überliefert und glaublich. Auch die spätere Rechts- und eine gewisse Ehegemeinschaft der latinischen Gemeinden darf wohl schon als integrierender Teil des ältesten Bundesrechts gedacht werden, so daß also der Latiner mit der Latinerin rechte Kinder erzielen und in ganz Latium Grundbesitz erwerben und Handel und Wandel treiben konnte. Der Bund mag ferner für die Streitigkeiten der Gaue untereinander ein Schieds- und Bundesgericht angeordnet haben; dagegen läßt sich eine eigentliche Beschränkung des souveränen Rechts jeder Gemeinde über Krieg und Frieden durch den Bund nicht nachweisen. Ebenso leidet es keinen Zweifel, daß mit der Bundesverfassung die Möglichkeit gegeben war, einen Bundeskrieg abwehrend und selbst angreifend zu führen, wobei denn ein Bundesfeldherr, ein Herzog, natürlich nicht fehlen konnte. Aber wir haben keinen Grund anzunehmen, daß in diesem Fall jede Gemeinde rechtlich gezwungen war, Heeresfolge zu leisten, oder daß es ihr umgekehrt verwehrt war, auf eigene Hand einen Krieg selbst gegen ein Bundesmitglied zu beginnen. Dagegen finden sich Spuren, daß während der latinischen Feier, ähnlich wie während der hellenischen Bundesfeste, ein Gottesfriede in ganz Latium galtDie oft in alter und neuer Zeit aufgestellte Behauptung, daß Alba einstmals in den Formen der Symmachie über Latium geherrscht habe, findet bei genauerer Untersuchung nirgends ausreichende Unterstützung. Alle Geschichte geht nicht von der Einigung, sondern von der Zersplitterung der Nation aus, und es ist sehr wenig wahrscheinlich, daß das Problem, das Rom nach manchem durchkämpften Jahrhundert endlich löste, die Einigung Latiums, schon vorher einmal durch Alba gelöst worden sei. Auch ist es bemerkenswert, daß Rom niemals als Erbin Albas eigentliche Herrschaftsansprüche gegen die latinischen Gemeinden geltend gemacht, sondern mit einer Ehrenvorstandschaft sich begnügt hat, die freilich, als sie mit der materiellen Macht sich vereinigte, für die hegemonischen Ansprüche Roms eine Handhabe gewährte. Von eigentlichen Zeugnissen kann bei einer Frage, wie diese ist, überall kaum die Rede sein; und am wenigsten reichen Stellen wie Fest. v. praetor p. 241 und Dion. Hal. 3, 10 aus, um Alba zum latinischen Athen zu stempeln.. Überhaupt war der Umfang wie der Rechtsinhalt dieses latinischen Bundes vermutlich lose und wandelbar; doch war und blieb er nicht ein zufälliges Aggregat verschiedener, mehr oder minder einander fremder Gemeinden, sondern der rechtliche und notwendige Ausdruck des latinischen Stammes. Wenn der latinische Bund nicht zu allen Zeiten alle latinische Gemeinden umfaßt haben mag, so hat er doch zu keiner Zeit einer nicht latinischen die Mitgliedschaft gewährt – sein Gegenbild in Griechenland ist nicht die delphische Amphiktyonie, sondern die böotische oder ätolische Eidgenossenschaft.

Diese allgemeinen Umrisse müssen genügen; ein jeder Versuch, die Linien schärfer zu ziehen, würde das Bild nur verfälschen. Das mannigfache Spiel, wie die ältesten politischen Atome, die Gaue, sich in Latium gesucht und geflohen haben mögen, ist ohne berichtfähige Zeugen vorübergegangen, und es muß genügen, das Eine und Bleibende darin festzuhalten, daß sie in einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt zwar nicht ihre Einheitlichkeit aufgaben, aber doch das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit hegten und steigerten und damit den Fortschritt vorbereiteten von dem kantonalen Partikularismus, mit dem jede Volksgeschichte anhebt und anheben maß, zu der nationalen Einigung, mit der jede Volksgeschichte endigt oder doch endigen sollte.

4. Kapitel


4. Kapitel

Die Anfänge Roms

Etwa drei deutsche Meilen von der Mündung des Tiberflusses stromaufwärts erheben sich an beiden Ufern desselben mäßige Hügel, höhere auf dem rechten, niedrigere auf dem linken; an den letzteren haftet seit mindestens dritthalbtausend Jahren der Name der Römer. Es läßt sich natürlich nicht angeben, wie und wann er aufgekommen ist; sicher ist nur, daß in der ältesten uns bekannten Namensform die Gaugenossen Ramner (Ramnes) heißen, nicht Romaner; und diese der älteren Sprachperiode geläufige, dem Lateinischen aber in früher Zeit abhanden gekommeneÄhnlichen Lautwechsel zeigen beispielsweise folgende Bildungen sämtlich ältester Art: pars portio, Mars mors, farreum alt statt horreum, Fabii Fovii, Valerius Volesus, vacuus vocivus. Lautverschiebung ist ein redendes Zeugnis für das unvordenkliche Alter des Namens. Eine sichere Ableitung läßt sich nicht geben; möglich ist es, daß die Ramner die Stromleute sind.

Aber sie blieben nicht allein auf den Hügeln am Tiberufer. In der Gliederung der ältesten römischen Bürgerschaft hat sich eine Spur erhalten, daß dieselbe hervorgegangen ist aus der Verschmelzung dreier wahrscheinlich ehemals unabhängiger Gaue, der Ramner, Titier und Lucerer, zu einem einheitlichen Gemeinwesen, also aus einem Synökismus wie derjenige war, woraus in Attika Athen hervorgingMan könnte sogar, im Hinblick auf die attische τριττύς, die umbrische trifo, die Frage aufwerfen, ob nicht die Dreiteilung der Gemeinde eine graecoitalische Grundform sei; in welchem Falle die Dreiteilung der römischen Gemeinde gar nicht auf die Verschmelzung mehrerer einstmals selbständigen Stämme zurückgeführt werden dürfte. Aber um eine gegen die Überlieferung sich also auflehnende Annahme aufzustellen, müßte doch die Dreiteilung im graecoitalischen Gebiet allgemeiner auftreten, als dies der Fall zu sein scheint, und überall gleichmäßig als Grundschema erscheinen. Die Umbrer können das Wort tribus möglicherweise erst unter dem Einfluß der römischen Herrschaft sich angeeignet haben; im Oskischen ist es nicht mit Sicherheit nachzuweisen., zeigt wohl am deutlichsten, daß die Römer namentlich in staatsrechtlicher Beziehung für „teilen“ und „Teil“ regelmäßig sagen „dritteln“ (tribuere) und „Drittel“ (tribus) und dieser Ausdruck schon früh, wie unser Quartier, die ursprüngliche Zahlbedeutung einbüßt. Noch nach der Vereinigung besaß jede dieser drei ehemaligen Gemeinden und jetzigen Abteilungen ein Drittel der gemeinschaftlichen Feldmark und war in der Bürgerwehr wie im Rate der Alten gleichmäßig vertreten; wie denn auch im Sakralwesen die durch drei teilbare Mitgliederzahl fast aller ältesten Kollegien, der heiligen Jungfrauen, der Tänzer, der Ackerbrüder, der Wolfsgilde, der Vogelschauer, wahrscheinlich auf diese Dreiteilung zurückgeht. Man hat mit diesen drei Elementen, in die die älteste römische Bürgerschaft zerfiel, den heillosesten Unfug getrieben; die unverständige Meinung, daß die römische Nation ein Mischvolk sei, knüpft hier an und bemüht sich in verschiedenartiger Weise, die drei großen italischen Rassen als komponierende Elemente des ältesten Rom darzustellen und das Volk, das wie wenig andere seine Sprache, seinen Staat und seine Religion rein und volkstümlich entwickelt hat, in ein wüstes Gerölle etruskischer und sabinischer, hellenischer und leider sogar pelasgischer Trümmer zu verwandeln. Nach Beseitigung der teils widersinnigen, teils grundlosen Hypothesen läßt sich in wenige Worte zusammenfassen, was über die Nationalität der komponierenden Elemente des ältesten römischen Gemeinwesens gesagt werden kann. Daß die Ramner ein latinischer Stamm waren, kann nicht bezweifelt werden, da sie dem neuen römischen Gemeinwesen den Namen gaben, also auch die Nationalität der vereinigten Gemeinde wesentlich bestimmt haben werden. Über die Herkunft der Lucerer läßt sich nichts sagen, als daß nichts im Wege steht, sie gleich den Ramnern dem latinischen Stamm zuzuweisen. Dagegen die zweite dieser Gemeinden wird einstimmig aus der Sabina abgeleitet, und dies kann wenigstens zurückgehen auf eine in der titischen Brüderschaft bewahrte Überlieferung, wonach dieses Priesterkollegium bei dem Eintritt der Titier in die Gesamtgemeinde zur Bewahrung des sabinischen Sonderrituals gestiftet worden wäre. Es mag also in einer sehr fernen Zeit, als der latinische und der sabellische Stamm sich noch in Sprache und Sitte bei weitem weniger scharf gegenüber standen als später der Römer und der Samnite, eine sabellische Gemeinde in einen latinischen Gauverband eingetreten sein – wahrscheinlich, da die Titier in der älteren und glaubwürdigen Überlieferung ohne Ausnahme den Platz vor den Ramnern behaupten, in der Art, daß die eindringenden Titier den älteren Ramnern den Synökismus aufnötigten. Eine Mischung verschiedener Nationalitäten hat hier also allerdings stattgefunden; aber schwerlich hat sie viel tiefer eingegriffen als zum Beispiel die einige Jahrhunderte später erfolgte Übersiedlung des sabinischen Attus Clauzus oder Appius Claudius und seiner Genossen und Klienten nach Rom. So wenig wie diese Aufnahme der Claudier unter die Römer berechtigt die ältere der Titier unter die Ramner, die Gemeinde darum den Mischvölkern beizuzählen. Mit Ausnahme vielleicht einzelner, im Ritual fortgepflanzter nationaler Institutionen lassen auch sabellische Elemente in Rom sich nirgends nachweisen, und namentlich gibt die latinische Sprache für eine solche Annahme schlechterdings keinen AnhaltNachdem die ältere Meinung, daß das Lateinische als eine Mischsprache aus griechischen und nicht-griechischen Elementen zu betrachten sei, jetzt von allen Seiten aufgegeben ist, wollen selbst besonnene Forscher (z. B. A. Schwegler, Römische Geschichte. Bd. 1, Tübingen 1853, S. 184, 193) doch noch in dem Lateinischen eine Mischung zweier nahverwandter italischer Dialekte finden. Aber vergebens fragt man nach der sprachlichen oder geschichtlichen Nötigung zu einer solchen Annahme. Wenn eine Sprache als Mittelglied zwischen zwei anderen erscheint, so weiß jeder Sprachforscher, daß dies ebenso wohl und häufiger auf organischer Entwicklung beruht als auf äußerlicher Mischung.. Es wäre in der Tat mehr als auffallend, wenn die Einfügung einer einzelnen Gemeinde von einem dem latinischen nächstverwandten Stamm die latinische Nationalität auch nur in fühlbarer Weise getrübt hätte; wobei vor allem nicht vergessen werden darf, daß in der Zeit, wo die Titier neben den Ramnern sich ansässig machten, die latinische Nationalität auf Latium ruhte und nicht auf Rom. Das neue dreiteilige römische Gemeinwesen war, trotz etwaiger ursprünglich sabellischer Bestandteile, nichts als was die Gemeinde der Ramner gewesen war, ein Teil der latinischen Nation.

Lange bevor eine städtische Ansiedlung am Tiber entstand, mögen jene Ramner, Titier, Lucerer erst vereinzelt, später vereinigt auf den römischen Hügeln ihre Burg gehabt und von den umliegenden Dörfern aus ihre Äcker bestellt haben. Eine Überlieferung aus diesen urältesten Zeiten mag das „Wolfsfest“ sein, das das Geschlecht der Quinctier am palatinischen Hügel beging: ein Bauern- und Hirtenfest, das wie kein anderes die schlichten Späße patriarchalischer Einfalt bewahrt und merkwürdig genug noch im christlichen Rom sich unter allen heidnischen Festen am längsten behauptet hat.

Aus diesen Ansiedlungen ging dann das spätere Rom hervor. Von einer eigentlichen Stadtgründung, wie die Sage sie annimmt, kann natürlich in keinem Fall die Rede sein: Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden. Wohl aber verdient es eine ernstliche Erwägung, auf welchem Wege Rom so früh zu einer hervorragenden politischen Stellung innerhalb Latiums gelangt sein kann, während man nach den Bodenverhältnissen eher das Gegenteil erwarten sollte. Die Stätte, auf der Rom liegt, ist minder gesund und minder fruchtbar als die der meisten alten Latinerstädte. Der Weinstock und der Feigenbaum gedeihen in Roms nächster Umgebung nicht wohl und es mangelt an ausgiebigen Quellen- denn weder der sonst treffliche Born der Camenen vor dem Capenischen Tor noch der später im Tullianum gefaßte Kapitolinische Brunnen sind wasserreich. Dazu kommt das häufige Austreten des Flusses, der bei sehr geringem Gefäll die in der Regenzeit reichlich zuströmenden Bergwasser nicht schnell genug dem Meere zuzuführen vermag und daher die zwischen den Hügeln sich öffnenden Täler und Niederungen überstaut und versumpft. Für den Ansiedler ist die Örtlichkeit nichts weniger als lockend, und schon in alter Zeit ist es ausgesprochen worden, daß auf diesen ungesunden und unfruchtbaren Fleck innerhalb eines gesegneten Landstrichs sich nicht die erste naturgemäße Ansiedlung der einwandernden Bauern gelenkt haben könne, sondern daß die Not oder vielmehr irgendein besonderer Grund die Anlage dieser Stadt veranlaßt haben müsse. Schon die Legende hat diese Seltsamkeit empfunden; das Geschichtchen von der Anlage Roms durch Ausgetretene von Alba unter Führung der albanischen Fürstensöhne Romulus und Remus ist nichts als ein naiver Versuch der ältesten Quasihistorie, die seltsame Entstehung des Orts an so ungünstiger Stätte zu erklären und zugleich den Ursprung Roms an die allgemeine Metropole Latiums anzuknüpfen. Von solchen Märchen, die Geschichte sein wollen und nichts sind als nicht gerade geistreiche Autoschediasmen, wird die Geschichte vor allen Dingen sich frei zu machen haben; vielleicht ist es ihr aber auch vergönnt, noch einen Schritt weiter zu tun und nach Erwägung der besonderen Lokalverhältnisse nicht über die Entstehung des Ortes, aber über die Veranlassung seines raschen und auffallenden Gedeihens und seiner Sonderstellung in Latium eine positive Vermutung aufzustellen.

Betrachten wir vor allem die ältesten Grenzen des römischen Gebietes. Gegen Osten liegen die Städte Antemnae, Fidenae, Caenina, Gabii in nächster Nähe, zum Teil keine deutsche Meile von dem Servianischen Mauerring entfernt, und muß die Gaugrenze hart vor den Stadttoren gewesen sein. Gegen Süden trifft man in einem Abstand von drei deutschen Meilen auf die mächtigen Gemeinden Tusculum und Alba und es scheint das römische Stadtgebiet hier nicht weiter gereicht zu haben als bis zum cluilischen Graben, eine deutsche Meile von Rom. Ebenso war in südwestlicher Richtung die Grenze zwischen Rom und Lavinium bereits am sechsten Milienstein. Während so landeinwärts der römische Gau überall in die möglichst engen Schranken zurückgewiesen ist, erstreckt er sich dagegen seit ältester Zeit ungehindert an beiden Ufern des Tiber gegen das Meer hin, ohne daß zwischen Rom und der Küste irgendeine als alter Gaumittelpunkt hervortretende Ortschaft, irgendeine Spur alter Gaugrenze begegnete. Die Sage, die für alles einen Ursprung weiß, weiß freilich auch zu berichten, daß die römischen Besitzungen am rechten Tiberufer, die „sieben Weiler“ (septem pagi) und die wichtigen Salinen an der Mündung durch König Romulus den Veientern entrissen worden sind, und daß König Ancus am rechten Tiberufer den Brückenkopf, den Janusberg (Ianiculum) befestigt, am linken den römischen Peiräeus, die Hafenstadt an der „Mündung“ (Ostia) angelegt habe. Aber dafür, daß die Besitzungen am etruskischen Ufer vielmehr schon zu der ältesten römischen Mark gehört haben müssen, legt besseres Zeugnis ab der eben hier, am vierten Milienstein der späteren Hafenstraße, gelegene Hain der schaffenden Göttin (dea dia), der uralte Hochsitz des römischen Ackerbaufestes und der Ackerbrüderschaft; und in der Tat ist seit unvordenklicher Zeit das Geschlecht der Romilier, wohl einst das vornehmste unter allen römischen, eben hier angesessen, das Ianiculum ein Teil der Stadt selbst, Ostia Bürgerkolonie, das heißt Vorstadt gewesen. Es kann das nicht Zufall sein. Der Tiber ist Latiums natürliche Handelsstraße, seine Mündung an dem hafenarmen Strande der notwendige Ankerplatz der Seefahrer. Der Tiber ist ferner seit uralter Zeit die Grenzwehr des latinischen Stammes gegen die nördlichen Nachbarn. Zum Entrepôt für den latinischen Fluß- und Seehandel und zur maritimen Grenzfestung Latiums eignete kein Platz sich besser als Rom, das die Vorteile einer festen Lage und der unmittelbaren Nachbarschaft des Flusses vereinigte, das über beide Ufer des Flusses bis zur Mündung gebot, das dem den Tiber oder den Anio herabkommenden Flußschiffer ebenso bequem gelegen war wie bei der damaligen mäßigen Größe der Fahrzeuge dem Seefahrer, und das gegen Seeräuber größeren Schutz gewährte als die unmittelbar an der Küste gelegenen Orte. Daß Rom wenn nicht seine Entstehung, doch seine Bedeutung diesen kommerziellen und strategischen Verhältnissen verdankt, davon begegnen denn auch weiter zahlreiche Spuren, die von ganz anderem Gewicht sind als die Angaben historisierter Novelletten. Daher rühren die uralten Beziehungen zu Caere, das für Etrurien war, was für Latium Rom und denn auch dessen nächster Nachbar und Handelsfreund wurde; daher die ungemeine Bedeutung der Tiberbrücke und des Brückenbaues überhaupt in dem römischen Gemeinwesen; daher die Galeere als städtisches Wappen. Daher der uralte römische Hafenzoll, dem von Haus aus nur unterlag, was zum Feilbieten (promercale), nicht was zu eigenem Bedarf des Verladers (usuarium) in dem Hafen von Ostia einging, und der also recht eigentlich eine Auflage auf den Handel war. Daher, um vorzugreifen, das verhältnismäßig frühe Vorkommen des gemünzten Geldes, der Handelsverträge mit überseeischen Staaten in Rom. In diesem Sinn mag denn Rom allerdings, wie auch die Sage annimmt, mehr eine geschaffene als eine gewordene Stadt und unter den latinischen eher die jüngste als die älteste sein. Ohne Zweifel war die Landschaft schon einigermaßen bebaut und das Albanische Gebirge sowie manche andere Höhe der Campagna mit Burgen besetzt, als das latinische Grenzemporium am Tiber entstand. Ob ein Beschluß der latinischen Eidgenossenschaft, ob der geniale Blick eines verschollenen Stadtgründers oder die natürliche Entwicklung der Verkehrsverhältnisse die Stadt Rom ins Leben gerufen hat, darüber ist uns nicht einmal eine Mutmaßung gestattet. Wohl aber knüpft sich an diese Wahrnehmung über Roms Emporienstellung in Latium eine andere Beobachtung an. Wo uns die Geschichte zu dämmern beginnt, steht Rom dem latinischen Gemeindebund als einheitlich geschlossene Stadt gegenüber. Die latinische Sitte, in offenen Dörfern zu wohnen und die gemeinschaftliche Burg nur zu Festen und Versammlungen oder im Notfall zu benutzen, ist höchst wahrscheinlich im römischen Gau weit früher beschränkt worden als irgendwo sonst in Latium. Nicht als ob der Römer seinen Bauernhof selbst zu bestellen oder ihn als sein rechtes Heim zu betrachten aufgehört hätte; aber schon die böse Luft der Campagna mußte es mit sich bringen, daß er, soweit es anging, auf den luftigeren und gesunderen Stadthügeln seine Wohnung nahm; und neben dem Bauer muß eine zahlreiche nicht ackerbauende Bevölkerung von Fremden und Einheimischen dort seit uralter Zeit ansässig gewesen sein. Die dichte Bevölkerung des altrömischen Gebietes, das höchstens zu 5½ Quadratmeilen zum Teil sumpfigen und sandigen Bodens angeschlagen werden kann und schon nach der ältesten Stadtverfassung eine Bürgerwehr von 3300 freien Männern stellte, also mindestens 10000 freie Einwohner zählte, erklärt sich auf diese Art einigermaßen. Aber noch mehr. Wer die Römer und ihre Geschichte kennt, der weiß es, daß das Eigentümliche ihrer öffentlichen und Privattätigkeit auf ihrem städtischen und kaufmännischen Wesen ruht, und daß ihr Gegensatz gegen die übrigen Latiner und überhaupt die Italiker vor allem der Gegensatz ist des Bürgers gegen den Bauer. Zwar ist Rom keine Kaufstadt wie Korinth oder Karthago; denn Latium ist eine wesentlich ackerbauende Landschaft und Rom zunächst und vor allem eine latinische Stadt gewesen und geblieben. Aber was Rom auszeichnet vor der Menge der übrigen latinischen Städte, muß allerdings zurückgeführt werden auf seine Handelsstellung und auf den dadurch bedingten Geist seiner Bürgerschaft. Wenn Rom das Emporium der latinischen Landschaften war, so ist es begreiflich, daß hier neben und über der latinischen Feldwirtschaft sich ein städtisches Leben kräftig und rasch entwickelte und damit der Grund zu seiner Sonderstellung gelegt ward. Die Verfolgung dieser merkantilen und strategischen Entwicklung der Stadt Rom ist bei weitem wichtiger und ausführbarer als das unfruchtbare Geschäft, unbedeutende und wenig verschiedene Gemeinden der Urzeit chemisch zu analysieren. Jene städtische Entwicklung können wir noch einigermaßen erkennen in den Überlieferungen über die allmählich entstandenen Umwallungen und Verschanzungen Roms, deren Anlage mit der Entwicklung des römischen Gemeinwesens zu städtischer Bedeutung notwendig Hand in Hand gegangen sein muß.

Die ursprüngliche städtische Anlage, aus welcher im Laufe der Jahrhunderte Rom erwachsen ist, umfaßte nach glaubwürdigen Zeugnissen nur den Palatin, in späterer Zeit auch das viereckige Rom (Roma quadrata) genannt von der regelmäßig viereckigen Form des palatinischen Hügels. Die Tore und Mauern dieses ursprünglichen Stadtringes blieben bis in die Kaiserzeit sichtbar; zwei von jenen, die Porta Romana bei S. Giorgio in Velabro und die Porta Mugionis am Titusbogen sind auch uns noch ihrer Lage nach bekannt, und den palatinischen Mauerring beschreibt noch Tacitus nach eigener Anschauung wenigstens an den dem Aventin und dem Caelius zugewendeten Seiten. Vielfache Spuren deuten darauf hin, daß hier der Mittelpunkt und der Ursitz der städtischen Ansiedlung war. Auf dem Palatin befand sich das heilige Symbol derselben, die sogenannte „Einrichtung“ (mundus), darein die ersten Ansiedler von allem, dessen das Haus bedarf, zur Genüge und dazu von der lieben heimischen Erde eine Scholle getan hatten. Hier lag ferner das Gebäude, in welchem die sämtlichen Kurien jede an ihrem eigenen Herd zu gottesdienstlichen und anderen Zwecken sich versammelten (curiae veteres). Hier war das Versammlungshaus der „Springer“ (curia saliorum), zugleich der Aufbewahrungsort der heiligen Schilde des Mars, das Heiligtum der „Wölfe“ (lupercal) und die Wohnung des Jupiterpriesters. Auf und an diesem Hügel ward die Gründungssage der Stadt hauptsächlich lokalisiert und wurde das strohgedeckte Haus des Romulus, die Hirtenhütte seines Ziehvaters Faustulus, der heilige Feigenbaum, daran der Kasten mit den Zwillingen angetrieben war, der aus dem Speerschaft, welchen der Gründer der Stadt vom Aventin her über das Tal des Circus weg in diesen Mauerring geschleudert hatte, aufgeschossene Kornelkirschbaum und andere dergleichen Heiligtümer mehr den Gläubigen gewiesen. Eigentliche Tempel kannte diese Zeit noch nicht, und daher hat solche auch der Palatin nicht aus älterer Zeit aufzuweisen. Die Gemeindestätten aber sind früh anderswohin verlegt und deshalb verschollen; nur vermuten läßt sich, daß der freie Platz um den Mundus, später der Platz des Apollo genannt, die älteste Versammlungsstätte der Bürgerschaft und des Senats, die über dem Mundus selbst errichtete Bühne die älteste Mahlstatt der römischen Gemeinde gewesen sein mögen.

Dagegen hat sich in dem „Fest der sieben Berge“ (septimontium) das Andenken bewahrt an die erweiterte Ansiedlung, welche allmählich um den Palatin sich gebildet hat, Vorstädte, eine nach der andern erwachsen, eine jede durch besondere, wenn auch schwächere Umwallungen geschützt und an den ursprünglichen Mauerring des Palatin, wie in den Marschen an den Hauptdeich die Außendeiche, angelehnt. Die „sieben Ringe“ sind der Palatin selbst; der Cermalus, der Abhang des Palatins gegen die zwischen diesem und dem Kapitol nach dem Fluß zu sich ausbreitende Niederung (velabrum); die Velia, der den Palatin mit dem Esquilin verbindende, später durch die kaiserlichen Bauten fast ganz verschwundene Hügelrücken; das Fagutal, der Oppius und der Cispius, die drei Höhen des Esquilin; endlich die Sucūsa oder Subūra, eine außerhalb des Erdwalls, der die Neustadt auf den Carinen schützte, unterhalb S. Pietro in Vincoli in der Einsattlung zwischen dem Esquilin und dem Quirinal angelegte Festung. In diesen offenbar allmählich erfolgten Anbauten liegt die älteste Geschichte des palatinischen Rom bis zu einem gewissen Grade deutlich vor, zumal wenn man die späterhin auf Grund dieser ältesten Gliederung gebildete Servianische Bezirkseinteilung damit zusammenhält.

Der Palatin war der Ursitz der römischen Gemeinde, der älteste und ursprünglich einzige Mauerring; aber die städtische Ansiedlung hat in Rom wie überall nicht innerhalb, sondern unterhalb der Burg begonnen und die ältesten Ansiedlungen, von denen wir wissen, die, welche späterhin in der Servianischen Stadteinteilung das erste und zweite Quartier bilden, liegen im Kreise um den Palatin herum. So diejenige auf dem Abhang des Cermalus mit der Tuskergasse, worin sich wohl eine Erinnerung bewahrt haben mag an den wohl schon in der palatinischen Stadt lebhaften Handelsverkehr zwischen Caeriten und Römern, und die Niederlassung auf der Velia, die beide später in der Servianischen Stadt mit dem Burghügel selbst ein Quartier gebildet haben. Ferner die Bestandteile des späteren zweiten Quartiers: die Vorstadt auf dem Caelius, welche vermutlich nur dessen äußerste Spitze über dem Colosseum umfaßt hat; die auf den Carinen, derjenigen Höhe, in welche der Esquilin gegen den Palatin aus läuft, endlich das Tal und das Vorwerk der Subura, von welcher das ganze Quartier den Namen empfing. Beide Quartiere zusammen bilden die anfängliche Stadt, und der suburanische Bezirk derselben, der unterhalb der Burg etwa vom Bogen des Konstantin bis nach S. Pietro in Vincoli und über das darunter liegende Tal hin sich erstreckte, scheint ansehnlicher, vielleicht auch älter gewesen zu sein als die in der Servianischen Ordnung dem palatinischen Bezirk einverleibten Siedlungen, da jener diesem in der Rangfolge der Quartiere vorangeht. Eine merkwürdige Erinnerung an den Gegensatz dieser beiden Stadtteile hat einer der ältesten heiligen Gebräuche des nachherigen Rom bewahrt, das auf dem Anger des Mars jährlich begangene Opfer des Oktoberrosses: bis in späte Zeit wurde bei diesem Feste um das Pferdehaupt gestritten zwischen den Männern der Subura und denen von der Heiligen Straße und je nachdem jene oder diese siegten, dasselbe entweder an den mamilischen Turm (unbekannter Lage) in der Subura oder an dem Königshaus unter dem Palatin angenagelt. Es waren die beiden Hälften der Altstadt, die hier in gleich berechtigtem Wetteifer miteinander rangen. Damals waren also die Esquiliae – welcher Name eigentlich gebraucht die Carinen ausschließt – in der Tat, was sie hießen, der Außenbau (ex-quiliae, wie inquilinus von colere) oder die Vorstadt; sie wurden in der späteren Stadteinteilung das dritte Quartier und es hat dieses stets neben dem suburanischen und dem palatinischen als minder ansehnlich gegolten. Auch noch andere benachbarte Anhöhen, wie Kapitol und Aventin, mögen von der Gemeinde der sieben Berge besetzt gewesen sein; vor allem die „Pfahlbrücke“ (pons sublicius) über den natürlichen Brückenpfeiler der Tiberinsel wird – das Pontifikalkollegium allein bürgt dafür hinreichend – schon damals bestanden und man auch den Brückenkopf am etruskischen Ufer, die Höhe des Ianiculum nicht außer acht gelassen haben; aber die Gemeinde hatte beides doch keineswegs in ihren Befestigungsring gezogen. Die Ordnung, die als Ritualsatz bis in die späteste Zeit festgehalten worden ist, daß die Brücke ohne Eisen lediglich aus Holz zusammenzufügen sei, geht in ihrem ursprünglichen praktischen Zweck offenbar darauf hinaus, daß sie nur eine fliegende sein sollte und jederzeit leicht mußte abgebrochen oder abgebrannt werden können: man erkennt daraus, wie lange Zeit hindurch die römische Gemeinde den Flußübergang nur unsicher und unterbrochen beherrscht hat.

Ein Verhältnis dieser allmählich erwachsenen städtischen Ansiedlungen zu den drei Gemeinden, in die die römische staatsrechtlich seit unvordenklich früher Zeit zerfiel, ist nicht zu ersehen. Da die Ramner, Titier und Lucerer ursprünglich selbständige Gemeinden gewesen zu sein scheinen, müssen sie freilich auch ursprünglich jede für sich gesiedelt haben; aber auf den sieben Hügeln selbst haben sie sicherlich nicht in getrennten Umwallungen gewohnt und was der Art in alter oder neuer Zeit erfunden worden ist, wird der verständige Forscher dahin stellen, wo das anmutige Märchen von der Tarpeia und die Schlacht am Palatin ihren Platz finden. Vielmehr werden schon die beiden Quartiere der ältesten Stadt, Subura und Palatin und ebenso das vorstädtische jedes in die drei Teile der Ramner, Titier und Lucerer zerfallen sein; womit es zusammenhängen kann, daß späterhin sowohl in dem suburanischen und palatinischen wie in jedem der nachher hinzugefügten Stadtteile es drei Paare Argeerkapellen gab. Eine Geschichte hat die palatinische Siebenhügelstadt vielleicht gehabt; uns ist keine andere Überlieferung von derselben geblieben als die des bloßen Dagewesenseins. Aber wie die Blätter des Waldes für den neuen Lenz zuschicken, auch wenn sie ungesehen von Menschenaugen niederfallen, also hat diese verschollene Stadt der sieben Berge dem geschichtlichen Rom die Stätte bereitet.

Aber die palatinische Stadt ist nicht die einzige gewesen, die in dem späterhin von den Servianischen Mauern eingeschlossenen Kreise vor alters bestanden hat; vielmehr lag ihr in unmittelbarer Nachbarschaft gegenüber eine zweite auf dem Quirinal. Die „alte Burg“ (Capitolium vetus) mit einem Heiligtum des Jupiter, der Juno und der Minerva und einem Tempel der Göttin des Treuworts, in welchem Staatsverträge öffentlich aufgestellt wurden, ist das deutliche Gegenbild des späteren Kapitols mit seinem Jupiter-, Juno- und Minervatempel und mit dem ebenfalls gleichsam zum völkerrechtlichen Archiv bestimmten Tempel der römischen Treue, und ein sicherer Beweis dafür, daß auch der Quirinal einstmals der Mittelpunkt eines selbständigen Gemeinwesens gewesen ist. Dasselbe geht hervor aus dem zwiefachen Marskult auf dem Palatin und dem Quirinal: denn Mars ist das Vorbild des Wehrmanns und der älteste Hauptgott der italischen Bürgergemeinden. Damit hängt weiter zusammen, daß dessen Dienerschaft, die beiden uralten Genossenschaften der Springer (salii) und der Wölfe (luperci), in dem späteren Rom gedoppelt vorhanden gewesen sind und neben der palatinischen auch eine Springerschaft vom Quirinal bestanden hat, neben den Quinctischen Wölfen von Palatin eine Fabische Wolfsgilde, die ihr Heiligtum höchst wahrscheinlich auf dem Quirinal gehabt hatDaß die Quinctischen Luperker den Fabischen im Rang vorgingen, geht daraus hervor, daß die Fabulisten dem Romulus die Quinctier, dem Remus die Fabier beilegen (Ov. fast. 2, 373f.; Ps. Aur. Vict. orig. 22). Daß die Fabier zu den Hügelrömern gehörten, beweist ihr Geschlechtsopfer auf dem Quirinal (Liv. 5, 46, 52), mag dies nun mit den Luperkalien zusammenhängen oder nicht.. Alle diese Anzeichen, schon an sich von großem Gewicht, gewinnen um so höhere Bedeutung, wenn man sich erinnert, daß der genau bekannte Umkreis der palatinischen Siebenhügelstadt den Quirinal ausschloß und daß späterhin in dem Servianischen Rom, während die drei ersten Bezirke der ehemaligen palatinischen Stadt entsprechen, aus dem Quirinal nebst dem benachbarten Viminal das vierte Quartier gebildet wurde. So erklärt sich auch, zu welchem Zweck außerhalb der Stadtmauer das feste Vorwerk der Subura in dem Talgrunde zwischen Esquilin und Quirinal angelegt ward – hier berührten sich ja die beiderseitigen Marken und mußte von den Palatinern, nachdem sie die Niederung in Besitz genommen hatten, zum Schutz gegen die vom Quirinal eine Burg aufgeführt werden.

Übrigens heißt der Lupercus jenes Kollegiums auf Inschriften (Orelli 2253) Lupercus Quinctialis vetus, und der höchst wahrscheinlich mit dem Luperkalkult zusammenhängende Vorname Kaeso (siehe Römische Forschungen, Bd. 1, S. 17) findet sich ausschließlich bei den Quinctiern und den Fabiern; die bei den Schriftstellern gangbare Form Lupercus Quinctilius und Quinctilianus ist also entstellt und das Kollegium nicht den verhältnismäßig jungen Quinctiliern, sondern den weit älteren Quinctiern eigen. Wenn dagegen die Quinctier (Liv. 1, 30) oder Quinctilier (Dion. Hal. 3, 29) unter den albanischen Geschlechtern genannt werden, so dürfte hier die letztere Lesung vorzuziehen und das Quinctische vielmehr als altrömisch zu betrachten sein.

Endlich ist auch der Name nicht untergegangen, mit dem sich die Männer vom Quirinal von ihren palatinischen Nachbarn unterschieden. Wie die palatinische Stadt sich die „der sieben Berge“, ihre Bürger „die von den Bergen“ montani) sich nennen, die Bezeichnung „Berg“ wie an den übrigen ihr angehörigen Höhen, so vor allem an dem Palatin haftet, so heißt die quirinalische Spitze, obwohl nicht niedriger, im Gegenteil etwas höher als jene, und ebenso die dazu gehörige viminalische im genauen Sprachgebrauch nie anders als „Hügel“ (collis); ja in den sakralen Urkunden wird nicht selten der Quirinal als der „Hügel“ ohne weiteren Beisatz bezeichnet. Ebenso heißt das von dieser Höhe ausführende Tor gewöhnlich das Hügeltor (porta collina), die daselbst ansässige Marspriesterschaft die vom Hügel (salii collini) im Gegensatz zu der vom Palatium (salii Palatini), das aus diesem Bezirk gebildete vierte Servianische das Hügelquartier (tribus collina)Was man dafür ausgibt (vgl. z. B. Schwegler, Römische Geschichte. Bd. 1, S. 480), geht im wesentlichen auf eine von Varro aufgestellte und von den Späteren wie gewöhnlich einstimmig nachgesprochene etymologisch-historische Hypothese, daß das lateinische quiris quirinus mit dem sabinischen Stadtnamen Cures verwandt und demnach des Quirinalhügel von Cures aus bevölkert worden sei. Auch wenn die sprachliche Verwandtschaft jener Wärter sicher stände, dürfte daraus der geschichtliche Folgesatz nicht hergeleitet werden. Daß die alten Heiligtümer auf diesem Berge – wo es übrigens auch einen „latiarischen Hügel“ gab – sabinisch sind, hat man wohl behauptet, aber nicht erwiesen. Mars quirinus, Sol, Salus, Flora, Semo Sancus oder Deus fidius sind wohl sabinische, aber auch latinische Gottheiten, gebildet offenbar in der Epoche, wo Latiner und Sabiner noch ungeschieden beisammen waren. Wenn an den heiligen Stätten des späterhin zurücktretenden Quirinal ein Name wie der des Semo Sancus vorzugsweise haftet (vgl. die davon benannte porta sanqualis), der übrigens auch auf der Tiberinsel begegnet, so wird jeder unbefangene Forscher darin nur einen Beweis für das hohe Alter dieser Kulte, nicht für ihre Entlehnung aus dem Nachbarland erblicken. Die Möglichkeit, daß alte Stammgegensätze dennoch hier mitgewirkt, soll damit nicht geleugnet werden; aber wenn dies der Fall war, so sind sie für uns verschollen und die unseren Zeitgenossen geläufigen Betrachtungen über das sabinische Element im Römerrum nur geeignet, vor dergleichen aus dem Leeren in das Leere führenden Studien ernstlich zu warnen..

So standen an der Stätte des römischen Gemeinwesens zu dieser Zeit noch die Bergrömer vom Palatin und die Hügelrömer vom Quirinal als zwei gesonderte und ohne Zweifel vielfach sich befehdende Gemeinwesen einander gegenüber, einigermaßen wie im heutigen Rom die Montigiani und die Trasteverini. Daß die Gemeinde der sieben Berge schon früh die quirinalische bei weitem überwog, ist mit Sicherheit zu schließen sowohl aus der größeren Ausdehnung ihrer Neu- und Vorstädte als auch aus der Zurücksetzung, die die ehemaligen Hügelrömer in der späteren Servianischen Ordnung sich durchaus haben müssen gefallen lassen. Aber auch innerhalb der palatinischen Stadt ist es schwerlich zu einer rechten und vollständigen Verschmelzung der verschiedenen Bestandteile der Ansiedlung gekommen. Wie Subura und Palatin miteinander jährlich um das Pferdehaupt stritten, ist schon erzählt worden; aber auch die einzelnen Berge, ja die einzelnen Kurien – es gab noch keinen gemeinschaftlichen Stadtherd, sondern die verschiedenen Kurienherde standen, obwohl in derselben Lokalität, doch noch nebeneinander – mögen sich mehr gesondert als geeinigt gefühlt haben und das ganze Rom eher ein Inbegriff städtischer Ansiedlungen als eine einheitliche Stadt gewesen sein. Manchen Spuren zufolge waren auch die Häuser der alten und mächtigen Familien gleichsam festungsartig angelegt und der Verteidigung fähig, also auch wohl bedürftig. Erst der großartige Wallbau, der dem König Servius Tullius zugeschrieben wird, hat nicht bloß jene beiden Städte vom Palatin und Quirinal, sondern auch noch die nicht in ihren Ringen einbegriffenen Anhöhen des Kapitol und des Aventin mit einem einzigen großen Mauerring umzogen und somit das neue Rom, das Rom der Weltgeschichte, geschaffen. Aber ehe dieses gewaltige Werk angegriffen ward, war Roms Stellung zu der umliegenden Landschaft ohne Zweifel gänzlich umgewandelt. Wie die Periode, in der der Ackersmann auf den sieben Hügeln von Rom nicht anders als auf den andern latinischen den Pflug führte, und nur die in gewöhnlichen Zeiten leerstehenden Zufluchtsstätten auf einzelnen Spitzen einen Anfang festerer Ansiedlung darboten, der ältesten handel- und tatenlosen Epoche des latinischen Stammes entspricht, wie dann später die aufblühende Ansiedlung auf dem Palatin und in den „sieben Ringen“ zusammenfällt mit der Besetzung der Tibermündungen durch die römische Gemeinde und überhaupt mit dem Fortschritt der Latiner zu regerem und freierem Verkehr, zu städtischer Gesittung vor allem in Rom und wohl auch zu festerer politischer Einigung in den Einzelstaaten wie in der Eidgenossenschaft, so hängt die Gründung einer einheitlichen Großstadt, der Servianische Wall, zusammen mit jener Epoche, in der die Stadt Rom um die Herrschaft über die latinische Eidgenossenschaft zu ringen und endlich sie zu erringen vermochte.

Vorrede zu der zweiten Auflage


Vorrede zu der zweiten Auflage

Die neue Auflage der ‚Römischen Geschichte‘ weicht von der früheren beträchtlich ab. Am meisten gilt dies von den beiden ersten Büchern, welche die ersten fünf Jahrhunderte des römischen Staats umfassen. Wo die pragmatische Geschichte beginnt, bestimmt und ordnet sie durch sich selbst Inhalt und Form der Darstellung; für die frühere Epoche sind die Schwierigkeiten, welche die Grenzlosigkeit der Quellenforschung und die Zeit- und Zusammenhanglosigkeit des Materials dem Historiker bereiten, von der Art, daß er schwerlich andern und gewiß sich selber nicht genügt. Obwohl der Verfasser des vorliegenden Werkes mit diesen Schwierigkeiten der Forschung und der Darstellung ernstlich gerungen hat, ehe er dasselbe dem Publikum vorlegte, so blieb dennoch notwendig, hier noch viel zu tun und viel zu bessern. In diese Auflage ist eine Reihe neu angestellter Untersuchungen, zum Beispiel über die staatsrechtliche Stellung der Untertanen Roms, über die Entwicklung der dichtenden und bildenden Künste, ihren Ergebnissen nach aufgenommen worden. Überdies wurden eine Menge kleinerer Lücken ausgefüllt, die Darstellung durchgängig schärfer und reichlicher gefaßt, die ganze Anordnung klarer und übersichtlicher gestellt. Es sind ferner im dritten Buche die inneren Verhältnisse der römischen Gemeinde während der Karthagischen Kriege nicht, wie in der ersten Ausgabe, skizzenhaft, sondern mit der durch die Wichtigkeit wie die Schwierigkeit des Gegenstandes gebotenen Ausführlichkeit behandelt worden.

Der billig Urteilende und wohl am ersten der, welcher ähnliche Aufgaben zu lösen unternommen hat, wird es sich zu erklären und also zu entschuldigen wissen, daß es solcher Nachholungen bedurfte. Auf jeden Fall hat der Verfasser es dankbar anzuerkennen, daß das öffentliche Urteil nicht jene leicht ersichtlichen Lücken und Unfertigkeiten des Buches betont, sondern vielmehr wie den Beifall so auch den Widerspruch auf dasjenige gerichtet hat, darin es abgeschlossen und fertig war.

Im übrigen hat der Verfasser das Buch äußerlich bequemer einzurichten sich bemüht. Die Varronische Zählung nach Jahren der Stadt ist im Texte beibehalten; die Ziffern am RandeKarte und Register sind hier weggelassen., da anderweitige Obliegenheiten es dem Verfasser unmöglich machen, das Werk so rasch, wie er es wünschte, zu fördern.

Breslau, im November 1856

Die Änderungen, welche der Verfasser in dem zweiten und dritten Bande dieses Werkes bei der abermaligen Herausgabe zu machen veranlaßt gewesen ist, sind zum größeren Teil hervorgegangen aus den neu aufgefundenen Fragmenten des Licinianus, welche er durch die zuvorkommende Gefälligkeit des Herausgebers, Herrn Karl Pertz, bereits vor ihrem Erscheinen in den Aushängebogen hat einsehen dürfen und die zu unserer lückenhaften Kunde der Epoche von der Schlacht bei Pydna bis auf den Aufstand des Lepidus manche nicht unwichtige Ergänzung, freilich auch manches neue Rätsel hinzugefügt haben.

Breslau, im Mai 1857

Die dritte (vierte, fünfte, sechste, siebente, achte und neunte) Auflage wird man im ganzen von den vorhergehenden nicht beträchtlich abweichend finden. Kein billiger und sachkundiger Beurteiler wird den Verfasser eines Werkes, wie das vorliegende ist, verpflichtet erachten, für dessen neue Auflagen jede inzwischen erschienene Spezialuntersuchung auszunutzen, das heißt zu wiederholen. Was inzwischen aus fremden oder aus eigenen, seit dem Erscheinen der zweiten Auflage angestellten Forschungen sich dem Verfasser als versehen oder verfehlt ergeben hat, ist wie billig berichtet worden; zu einer Umarbeitung größerer Abschnitte hat sich keine Veranlassung dargeboten. Eine Ausführung über die Grundlagen der römischen Chronologie im vierzehnten Kapitel des dritten Buches ist späterhin in umfassender und dem Stoffe angemessener Weise in einer besonderen Schrift (‚Die römische Chronologie bis auf Caesar‘. Zweite Auflage. Berlin 1859) vorgelegt und deshalb hier jetzt auf die kurze Darlegung der Ergebnisse von allgemein geschichtlicher Wichtigkeit eingeschränkt worden. Im übrigen ist die Einrichtung nicht verändert.

Berlin, am 1. Februar 1861; am 29. Dezember 1864; am 11. April 1868; am 4. August 1874; am 21. Juli 1881; am 15. August 1887; am 1. Oktober 1902.

9. Kapitel


9. Kapitel

Die Etrusker

Im schärfsten Gegensatz zu den latinischen und den sabellischen Italikern wie zu den Griechen steht das Volk der Etrusker oder, wie sie sich selber nannten, der RasenDahin gehören z. B. Inschriften caeritischer Tongefäße wie: minice θumamimaθumaramlisiaeipurenaieθeeraisieepanamineθunastavhelefu oder: mi ramuθas kaiufinaia. . Durch Abwerfen der vokalischen konsonantischen Endungen und durch Abschwächen oder Ausstoßen der Vokale ward dies weiche und klangvolle Idiom allmählich in eine unerträglich harte und rauhe Sprache verwandeltSo Maecenas, Porsena, Vivenna, Caecina, Spurinna. Der Vokal in der vorletzten Silbe ist ursprünglich lang, wird aber infolge der Zurückziehung des Akzents auf die Anfangssilbe häufig verkürzt und sogar ausgestoßen. So finden wir neben Porsēna, auch Porsĕna, neben Caecina Ceicne. kehrt wieder in der auch in italischen, besonders sabellischen Geschlechtsnamen häufigen Endung enus, wie denn die etruskischen Namen Maecenas und Spurinna den römischen Maecius und Spurius genau entsprechen. Eine Reihe von Götternamen, die auf etruskischen Denkmälern oder bei Schriftstellern als etruskische vorkommen, sind dem Stamme und zum Teil auch der Endung nach so durchaus lateinisch gebildet, daß, wenn diese Namen wirklich von Haus aus etruskisch sind, die beiden Sprachen eng verwandt gewesen sein müssen: so Usil (Sonne und Morgenröte, verwandt mit ausum, aurum, aurora, sol), Minerva (menervare), Lasa (lascivus), Neptunus, Voltumna. Indes da diese Analogien erst aus den späteren politischen und religiösen Beziehungen zwischen Etruskern und Latinern und den dadurch veranlaßten Ausgleichungen und Entlehnungen herrühren können, so stoßen sie noch nicht das Ergebnis um, zu dem die übrigen Wahrnehmungen hinführen, daß die tuskische Sprache von den sämtlichen griechisch-italischen Idiomen mindestens so weit abstand wie die Sprache der Kelten und der Slaven. So wenigstens klang sie den Römern; „tuskisch und gallisch“ sind Barbarensprachen, „oskisch und volskisch“ Bauernmundarten. Wenn aber die Etrusker dem griechisch-italischen Sprachstamm fernstanden, so ist es bis jetzt ebensowenig gelungen, sie einem andern bekannten Stamme anzuschließen. Auf die Stammesverwandtschaft mit dem etruskischen sind die verschiedenartigsten Idiome, bald mit der einfachen, bald mit der peinlichen Frage, aber alle ohne Ausnahme vergeblich befragt worden; selbst mit dem baskischen, an das den geographischen Verhältnissen nach noch am ersten gedacht werden könnte, haben entscheidende Analogien sich nicht herausgestellt. Ebensowenig deuten die geringen Reste, die von der liturgischen Sprache in Orts- und Personennamen auf uns gekommen sind, auf Zusammenhang mit den Tuskern. Nicht einmal die verschollene Nation, die auf den Inseln des tuskischen Meeres, namentlich auf Sardinien, jene rätselhaften Grabtürme, Nurhagen genannt, zu Tausenden aufgeführt hat, kann füglich mit der etruskischen in Verbindung gebracht werden, da im etruskischen Gebiet kein einziges gleichartiges Gebäude vorkommt. Höchstens deuten einzelne, wie es scheint, ziemlich zuverlässige Spuren darauf hin, daß die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen beizuzählen sind. So ist namentlich mi im Anfang vieler älterer Inschriften sicher εμί, ειμί und findet die Genetivform konsonantischer Stämme veneruf, rafuvuf im Altlateinischen genau sich wieder, entsprechend der alten sanskritischen Endung as. Ebenso hängt der Name des etruskischen Zeus Tina oder Tinia wohl mit dem sanskritischen dina = Tag zusammen wie Ζάν mit dem gleichbedeutenden diwan. Aber selbst dies zugegeben erscheint das etruskische Volk darum kaum weniger isoliert. „Die Etrusker“, sagt schon Dionysios, „stehen keinem Volke gleich an Sprache und Sitte“; und weiter haben auch wir nichts zu sagen.

Ebensowenig läßt sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese Wanderung auf jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehört und dessen geschichtliche Entwicklung in Italien beginnt und endet. Indes ist kaum eine Frage eifriger verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der Archäologen, vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wißbar noch wissenswert ist, „nach der Mutter der Hekabe“, wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutendsten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja unmittelbar am Meer keine einzige namhafte etruskische Stadt begegnet außer Populonia, von dem wir aber eben sicher wissen, daß es zu den alten Zwölf Städten nicht gehört hat; da ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so sind sie wahrscheinlich zu Lande nach der Halbinsel gekommen; wie denn auch die niedere Kulturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwanderung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. Danach muß die ältere Heimat der Etrusker west- oder nordwärts von Italien gesucht werden. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Etrusker über die rätischen Alpen nach Italien gekommen sind, da die ältesten in Graubünden und Tirol nachweisbaren Ansiedler, die Räter, bis in die historische Zeit etruskisch redeten und auch ihr Name auf den der Rasen anklingt; sie können freilich Trümmer der etruskischen Ansiedlungen am Po, aber wenigstens ebenso gut auch ein in den älteren Sitzen zurückgebliebener Teil des Volks sein.

Mit dieser einfachen und naturgemäßen Auffassung aber tritt in grellen Widerspruch die Erzählung, daß die Etrusker aus Asien ausgewanderte Lyder seien. Sie ist sehr alt: schon bei Herodot findet sie sich und kehrt dann in zahllosen Wandlungen und Steigerungen bei den Späteren wieder, wenngleich einzelne verständige Forscher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen erklärten und darauf hinwiesen, daß in Religion, Gesetz, Sitte und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Ähnlichkeit sich zeige. Es ist möglich, daß ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien gelangt ist und an dessen Abenteuer diese Märchen anknüpfen; wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem bloßen Quiproquo. Die italischen Etrusker oder die Turs-ennae – denn diese Form scheint die ursprüngliche und der griechischen Τυρ-σηνοί, Τυρρηνοί, der umbrischen Turs-ci, den beiden römischen Tusci Etrusci zu Grunde zu liegen – begegneten sich in dem Namen ungefähr mit dem lydischen Volke der Τορρηβοί oder auch wohl Τυρρ-ηνοί, so genannt von der Stadt Τύρρα; und diese offenbar zufällige Namensvetterschaft scheint in der Tat die einzige Grundlage jener durch ihr hohes Alter reicht besser gewordenen Hypothese und des ganzen babylonischen Turmes darauf aufgeführter Geschichtsklitterungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piratenwesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und endlich noch – zuerst nachweislich tut es Thukydides – die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht zusammenwarf mit dem auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk der Pelasger, entstand eine der heillosesten Verwirrungen geschichtlicher Überlieferung. Die Tyrrhener bezeichnen bald die lydischen Torrheber – so in den ältesten Quellen, wie in den Homerischen Hymnen; bald als Tyrrhener-Pelasger oder auch bloß Tyrrhener die pelasgische Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne daß die letzteren mit den Pelasgern oder den Torrhebern je sich nachhaltig berührt oder gar die Abstammung mit ihnen gemein hätten.

Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestimmen, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Daß sie vor der großen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich vom Padus saßen, östlich an der Etsch grenzend mit den Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornehmlich zeugt dafür der schon erwähnte rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius‘ Zeit die Bewohner der rätischen Alpen redeten, sowie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, jener als der herrschende Stamm, dieser als der ältere, der die alten Kaufstädte Atria und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und Ravenna tuskische Anlagen scheinen. Es hat lange gewährt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zusammenhängt, daß auf dem rechten Ufer desselben das etruskische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch sind überhaupt die Landschaften nördlich vom Apennin zu rasch von einer Nation an die andere gelangt, als daß eine dauerhafte Volksentwicklung sich hier hätte gestalten können.

Weit wichtiger für die Geschichte wurde die große Ansiedelung der Tusker in dem Lande, das heute noch ihren Namen trägt. Mögen auch Ligurer oder Umbrer hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre Spuren durch die etruskische Okkupation und Zivilisation so gut wie vollständig ausgetilgt worden. In diesem Gebiet, das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität ihre bleibende Stätte gefunden und mit großer Zähigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet von da nordwärts bis zur Mündung der Macra und dem Apennin war streitiges Grenzland, bald ligurisch, bald etruskisch, und größere Ansiedlungen gediehen deshalb daselbst nicht. Die Südgrenze bildete anfangs wahrscheinlich der Ciminische Wald, eine Hügelkette südlich von Viterbo, späterhin der Tiberstrom; es ward schon oben angedeutet, daß das Gebiet zwischen dem Ciminischen Gebirg und dem Tiber mit den Städten Sutrium, Nepete, Falerii, Veii, Caere erst geraume Zeit später als die nördlicheren Distrikte, möglicherweise erst im zweiten Jahrhundert Roms, von den Etruskern eingenommen zu sein scheint und daß die ursprüngliche italische Bevölkerung sich hier, namentlich in Falerii, wenn auch in abhängigem Verhältnis behauptet haben muß.

Seitdem der Tiberstrom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und Latium bildete, mag hier im ganzen ein friedliches Verhältnis eingetreten sein und eine wesentliche Grenzverschiebung nicht stattgefunden haben, am wenigsten gegen die Latiner. So lebendig in den Römern das Gefühl lebte, daß der Etrusker ihnen fremd, der Latiner ihr Landsmann war, so scheinen sie doch vom rechten Ufer her weit weniger Überfall und Gefahr befürchtet zu haben als zum Beispiel von den Stammesverwandten in Gabii und Alba; natürlich, denn dort schützte nicht bloß die Naturgrenze des breiten Stromes, sondern auch der für Roms merkantile und politische Entwicklung folgenreiche Umstand, daß keine der mächtigeren etruskischen Städte unmittelbar am Fluß lag wie am latinischen Ufer Rom. Dem Tiber am nächsten waren die Veienter, und sie waren es auch, mit denen Rom und Latium am häufigsten in ernste Konflikte gerieten, namentlich um den Besitz von Fidenae, welches den Veientern auf dem linken Tiberufer, ähnlich wie auf dem rechten den Römern das Ianiculum, als eine Art Brückenkopf diente und bald in den Händen der Latiner, bald in denen der Etrusker sich befand. Dagegen mit dem etwas entfernteren Caere war das Verhältnis im ganzen weit friedlicher und freundlicher, als es sonst unter Nachbarn in solchen Zeiten vorzukommen pflegt. Es gibt wohl schwankende und in die graueste Fernzeit gerückte Sagen von Kämpfen zwischen Latium und Caere, wie denn der caeritische König Mezentius über die Latiner große Siege erfochten und denselben einen Weinzins auferlegt haben soll; aber viel bestimmter als der einstmalige Fehdestand erhellt aus der Tradition ein vorzugsweise enges Verhältnis zwischen den beiden uralten Mittelpunkten des Handels- und Seeverkehrs in Latium und in Etrurien. Sichere Spuren von einem Vordringen der Etrusker über den Tiber hinaus auf dem Landweg mangeln überhaupt. Zwar werden in dem großen Barbarenheer, das Aristodemos im Jahre 230 (524) der Stadt unter den Mauern von Kyme vernichtet, die Etrusker in erster Reihe genannt; indes selbst wenn man diese Nachricht als bis ins einzelne glaubwürdig betrachtet, folgt daraus nur, daß die Etrusker an einem großen Plünderzuge teilnahmen. Weit wichtiger ist es, daß südwärts vom Tiber keine auf dem Landweg gegründete etruskische Ansiedlung nachweisbar ist und daß namentlich von einer ernstlichen Bedrängung der latinischen Nation durch die Etrusker gar nichts wahrgenommen wird. Der Besitz des Ianiculum und der beiden Ufer der Tibermündung blieb den Römern, soviel wir sehen, unangefochten. Was die Übersiedlungen etruskischer Gemeinschaften nach Rom anlangt, so findet sich ein vereinzelter, aus tuskischen Annalen gezogener Bericht, daß eine tuskische Schar, welche Caelius Vivenna von Volsinii und nach dessen Untergang der treue Genosse desselben, Mastarna, angeführt habe, von dem letzteren nach Rom geführt worden sei. Es mag dies zuverlässig sein, wenngleich die Herleitung des Namens des caelischen Berges von diesem Caelius offenbar eine Philologenerfindung ist und nun gar der Zusatz, daß dieser Mastarna in Rom König geworden sei unter dem Namen Servius Tullius, gewiß nichts ist als eine unwahrscheinliche Vermutung solcher Archäologen, die mit dem Sagenparallelismus sich abgaben. Auf etruskische Ansiedlungen in Rom deutet weiter das „Tuskerquartier“ unter dem Palatin.

Auch das kann schwerlich bezweifelt werden, daß das letzte Königsgeschlecht, das über die Römer geherrscht hat, das der Tarquinier, aus Etrurien entsprossen ist, sei es nun aus Tarquinii, wie die Sage will, sei es aus Caere, wo das Familiengrab der Tarchnas vor kurzem aufgefunden worden ist; auch der in die Sage verflochtene Frauenname Tanaquil oder Tanchvil ist unlateinisch, dagegen in Etrurien gemein. Allein die überlieferte Erzählung, wonach Tarquinius der Sohn eines aus Korinth nach Tarquinii übergesiedelten Griechen war und in Rom als Metöke einwanderte, ist weder Geschichte noch Sage und die geschichtliche Kette der Ereignisse offenbar hier nicht bloß verwirrt, sondern völlig zerrissen. Wenn aus dieser Überlieferung überhaupt etwas mehr entnommen werden kann als die nackte und im Grunde gleichgültige Tatsache, daß zuletzt ein Geschlecht tuskischer Abkunft das königliche Szepter in Rom geführt hat, so kann darin nur liegen, daß diese Herrschaft eines Mannes tuskischer Herkunft über Rom weder als eine Herrschaft der Tusker oder einer tuskischen Gemeinde über Rom, noch umgekehrt als die Herrschaft Roms über Südetrurien gefaßt werden darf. In der Tat ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgendein ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tarquinier spielt in Latium, nicht in Etrurien, und soweit wir sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen Einfluß geübt oder gar die ebenmäßige Entwicklung des römischen Staats oder des latinischen Bundes unterbrochen.

Die Ursache dieser relativen Passivität Etruriens gegen das latinische Nachbarland ist wahrscheinlich teils zu suchen in den Kämpfen der Etrusker mit den Kelten am Padus, den diese vermutlich erst nach der Vertreibung der Könige in Rom überschritten, teils in der Richtung der etruskischen Nation auf Seefahrt und Meer- und Küstenherrschaft, womit zum Beispiel die kampanischen Ansiedelungen entschieden zusammenhängen und wovon im folgenden Kapitel weiter die Rede sein wird.

Die tuskische Verfassung beruht gleich der griechischen und latinischen auf der zur Stadt sich entwickelnden Gemeinde. Die frühe Richtung der Nation aber auf Schiffahrt, Handel und Industrie scheint rascher, als es sonst in Italien der Fall gewesen ist, hier eigentlich städtische Gemeinwesen ins Leben gerufen zu haben; zuerst von allen italischen Städten wird in den griechischen Berichten Caere genannt. Dagegen finden wir die Etrusker im ganzen minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und Sabeller; die unitalische Sitte, mit Söldnern zu fechten, begegnet hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Gemeinden muß in den allgemeinen Grundzügen Ähnlichkeit mit der römischen gehabt haben; Könige oder Lucumonen herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche Machtfülle besaßen wie die römischen; Vornehme und Geringe standen sich schroff gegenüber; für die Ähnlichkeit der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensystems, nur daß bei den Etruskern die Abstammung von mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römischen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. Sie umschloß nicht die gesamte Nation, sondern es waren die nördlichen und die kampanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Gemeinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde bestand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester anerkannten, aber doch im wesentlichen gleichberechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Teil wenigstens so mächtig, daß weder eine Hegemonie sich bilden noch die Zentralgewalt zur Konsolidierung gelangen konnte. Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere Überlieferung nur Perusia, Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist indes ebenso selten, daß die Etrusker wirklich gemeinschaftlich handeln, als das Umgekehrte selten ist bei der latinischen Eidgenossenschaft; die Kriege führt regelmäßig eine einzelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie kann ins Interesse zieht, und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg beschlossen wird, so schließen sich dennoch sehr häufig einzelne Städte aus – es scheint den etruskischen Konföderationen mehr noch als den ähnlichen italischen Stammbünden von Haus aus an einer festen und gebietenden Oberleitung gefehlt zu haben.

Bis zur Abschaffung des römischen Königtums


Bis zur Abschaffung des römischen Königtums

Bis zur Abschaffung des römischen Königtums

Τά παλαίστερα σαφώς μέν ευρείν διά χρόνου πλήθος αδύνατα ήν. Εκ δέ τεκμηρίων ων επί μακρότατον σκοπούντί μοι πιστεύσαι ξυμβαίνει ου μεγάλα νομίζω γενέσθαι, ούτε κατά τούς πολέμους οίτε ες τά άλλα.

Die älteren Begebenheiten ließen sich wegen der Länge der Zeit nicht genau erforschen; aber aus Zeugnissen, die sich mir bei der Prüfung im großen Ganzen als verläßlich erwiesen, glaube ich, daß sie nicht erheblich waren, weder in bezug auf die Kriege noch sonst.

(Thukydides)

10. Kapitel


10. Kapitel

Die Hellenen in Italien. Seeherrschaft der Tusker und Karthager

Nicht auf einmal wird es hell in der Völkergeschichte des Altertums; und auch hier beginnt der Tag im Osten. Während die italische Halbinsel noch in tiefes Werdegrauen eingehüllt liegt, ist in den Landschaften am östlichen Becken des Mittelmeers bereits eine nach allen Seiten hin reich entwickelte Kultur ans Licht getreten; und das Geschick der meisten Völker, in den ersten Stadien der Entwicklung an einem ebenbürtigen Bruder zunächst den Meister und Herrn zu finden, ist in hervorragendem Maße auch den Völkern Italiens zuteil geworden. Indes lag es in den geographischen Verhältnissen der Halbinsel, daß eine solche Einwirkung nicht zu Lande stattfinden konnte. Von der Benutzung des schwierigen Landwegs zwischen Italien und Griechenland in ältester Zeit findet sich nirgends eine Spur. In das transalpinische Land freilich mochten von Italien aus schon in unvordenklich ferner Zeit Handelsstraßen führen: die älteste Bernsteinstraße erreichte von der Ostsee aus das Mittelmeer an der Pomündung – weshalb in der griechischen Sage das Delta des Po als Heimat des Bernsteins erscheint –, und an diese Straße schloß sich eine andere quer durch die Halbinsel über den Apennin nach Pisa führende an; aber Elemente der Zivilisation konnten von dort her den Italikern nicht zukommen. Es sind die seefahrenden Nationen des Ostens, die nach Italien gebracht haben, was überhaupt in früher Zeit von ausländischer Kultur dorthin gelangt ist.

Das älteste Kulturvolk am Mittelmeergestade, die Ägypter, fuhren noch nicht über Meer und haben daher auch auf Italien nicht eingewirkt. Ebensowenig aber kann dies von den Phönikern behauptet werden. Allerdings waren sie es, die von ihrer engen Heimat am äußeren Ostrand des Mittelmeers aus zuerst unter allen bekannten Stämmen auf schwimmenden Häusern in dasselbe, anfangs des Fisch- und Muschelfangs, bald auch des Handels wegen, sich hinauswagten, die zuerst den Seeverkehr eröffneten und in unglaublich früher Zeit das Mittelmeer bis zu seinem äußersten westlichen Ende befuhren. Fast an allen Gestaden desselben erscheinen vor den hellenischen phönikische Seestationen: wie in Hellas selbst, auf Kreta und Kypros, in Ägypten, Libyen und Spanien, so auch im italischen Westmeer. Um ganz Sizilien herum, erzählt Thukydides, hatten, ehe die Griechen dorthin kamen, oder wenigstens, ehe sie dort in größerer Anzahl sich festsetzten, die Phöniker auf den Landspitzen und Inselchen ihre Faktoreien gegründet, des Handels wegen mit den Eingeborenen, nicht um Land zu gewinnen. Allein anders verhält es sich mit dem italischen Festland. Von phönikischen Niederlassungen daselbst ist bis jetzt nur eine einzige mit einiger Sicherheit nachgewiesen worden, eine punische Faktorei bei Caere, deren Andenken sich bewahrt hat teils in der Benennung der kleinen Ortschaft an der caeritischen Küste Punicum, teils in dem zweiten Namen der Stadt Caere selbst, Agylla, welcher nicht, wie man fabelt, von den Pelasgern herrührt, sondern phönikisch ist und die „Rundstadt“ bezeichnet, wie eben vom Ufer aus gesehen Caere sich darstellt. Daß diese Station und was von ähnlichen Gründungen es an den Küsten Italiens noch sonst gegeben haben mag, auf jeden Fall weder bedeutend noch von langem Bestande gewesen ist, beweist ihr fast spurloses Verschwinden; aber es liegt auch nicht der mindeste Grund vor, sie für älter zu halten als die gleichartigen hellenischen Ansiedlungen an denselben Gestaden. Ein unverächtliches Anzeichen davon, daß wenigstens Latium die kanaanitischen Männer erst durch Vermittlung der Hellenen kennengelernt hat, ist ihre latinische, der griechischen entlehnte Benennung der Pöner. Vielmehr führen alle ältesten Beziehungen der Italiker zu der Zivilisation des Ostens entschieden nach Griechenland; und es läßt sich das Entstehen der phönikischen Faktorei bei Caere, ohne auf die vorhellenische Periode zurückzugehen, sehr wohl aus den späteren wohlbekannten Beziehungen des caeritischen Handelsstaats zu Karthago erklären. In der Tat lag, wenn man sich erinnert, daß die älteste Schiffahrt wesentlich Küstenfahrt war und blieb, den Phönikern kaum eine Landschaft am Mittelmeer so fern wie der italische Kontinent. Sie konnten ihn nur entweder von der griechischen Westküste oder von Sizilien aus erreichen; und es ist sehr glaublich, daß die hellenische Seefahrt früh genug aufblühte, um den Phönikern in der Befahrung der Adriatischen wie der Tyrrhenischen See zuvorzukommen. Ursprünglichen unmittelbaren Einfluß der Phöniker auf die Italiker anzunehmen, ist deshalb kein Grund vorhanden; auf die späteren Beziehungen der phönikischen Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer zu den italischen Anwohnern der Tyrrhenischen See wird die Darstellung zurückkommen.

Allem Anschein nach sind es also die hellenischen Schiffer gewesen, die zuerst unter den Anwohnern des östlichen Beckens des Mittelmeers die italischen Küsten befuhren. Von den wichtigen Fragen indes, aus welcher Gegend und zu welcher Zeit die griechischen Seefahrer dorthin gelangt sind, läßt nur die erstere sich mit einiger Sicherheit und Vollständigkeit beantworten. Es war das äolische und ionische Gestade Kleinasiens, wo zuerst der hellenische Seeverkehr sich großartig entfaltete und von wo aus den Griechen wie das Innere des Schwarzen Meeres so auch die italischen Küsten sich erschlossen. Der Namen des Ionischen Meeres, welcher den Gewässern zwischen Epirus und Sizilien geblieben ist, und der der Ionischen Bucht, mit welchem Namen die Griechen früher das Adriatische Meer bezeichneten, haben das Andenken an die einstmalige Entdeckung der Süd- und Ostküste Italiens durch ionische Seefahrer bewahrt. Die älteste griechische Ansiedlung in Italien, Kyme, ist dem Namen wie der Sage nach eine Gründung der gleichnamigen Stadt an der anatolischen Küste. Nach glaubwürdiger hellenischer Überlieferung waren es die kleinasiatischen Phokäer, die zuerst von den Hellenen die entferntere Westsee befuhren. Bald folgten auf den von den Kleinasiaten gefundenen Wegen andere Griechen nach: Ionier von Naxos und von Chalkis auf Euböa, Achäer, Lokrer, Rhodier, Korinther, Megarer, Messener, Spartaner. Wie nach der Entdeckung Amerikas die zivilisierten Nationen Europas wetteiferten, dorthin zu fahren und dort sich niederzulassen; wie die Solidarität der europäischen Zivilisation den neuen Ansiedlern inmitten der Barbaren deutlicher zum Bewußtsein kam als in ihrer alten Heimat, so war auch die Schiffahrt nach dem Westen und die Ansiedelung im Westland kein Sondergut einer einzelnen Landschaft oder eines einzelnen Stammes der Griechen, sondern Gemeingut der hellenischen Nation; und wie sich zu Nordamerikas Schöpfung englische und französische, holländische und deutsche Ansiedlungen gemischt und durchdrungen haben, so ist auch das griechische Sizilien und „Großgriechenland“ aus den verschiedenartigsten hellenischen Stammschaften oft ununterscheidbar zusammengeschmolzen. Doch lassen sich, außer einigen mehr vereinzelt stehenden Ansiedlungen, wie die der Lokrer mit ihren Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser Periode gegründete Niederlassung der Phokäer Hyele (Velia, Elea) sind, im ganzen drei Hauptgruppen unterscheiden: die unter dem Namen der chalkidischen Städte zusammengefaßte ursprünglich ionische, zu der in Italien Kyme mit den übrigen griechischen Niederlassungen am Vesuv und Rhegion, in Sizilien Zankle (später Messana), Naxos, Katane, Leontini, Himera zählen; die achäische, wozu Sybaris und die Mehrzahl der großgriechischen Städte sich rechneten, und die dorische, welcher Syrakus, Gela, Akragas, überhaupt die Mehrzahl der sizilischen Kolonien, dagegen in Italien nur Taras (Tarentum) und dessen Pflanzstadt Herakleia angehören. Im ganzen überwiegt in der Einwanderung die ältere hellenische Schicht der Ionier und der vor der dorischen Einwanderung im Peloponnes ansässigen Stämme; von den Dorern haben sich vorzugsweise nur die Gemeinden gemischter Bevölkerung, wie Korinth und Megara, die rein dorischen Landschaften dagegen nur in untergeordnetem Grade beteiligt; natürlich, denn die Ionier waren ein altes Handels- und Schiffervolk, die dorischen Stämme aber sind erst verhältnismäßig spät von ihren binnenländischen Bergen in die Küstenlandschaften hinabgestiegen und zu allen Zeiten dem Seeverkehr ferner geblieben. Sehr bestimmt treten die verschiedenen Einwanderergruppen auseinander, besonders in ihrem Münzfuß. Die phokäischen Ansiedler prägen nach dem in Asien herrschenden babylonischen Fuß. Die chalkidischen Städte folgen in ältester Zeit dem aeginäischen, das heißt dem ursprünglich im ganzen europäischen Griechenland vorherrschenden und zwar zunächst derjenigen Modifikation desselben, die wir dort auf Euböa wiederfinden. Die achäischen Gemeinden münzen auf korinthische, die dorischen endlich auf diejenige Währung, die Solon im Jahre 160 Roms (594) in Attika eingeführt hatte, nur daß Taras und Herakleia sich in wesentlichen Stücken vielmehr nach der Währung ihrer achäischen Nachbarn richten als nach der der sizilischen Dorer.

Die Zeitbestimmung der früheren Fahrten und Ansiedlungen wird wohl für immer in tiefes Dunkel eingehüllt bleiben. Zwar eine gewisse Folge darin tritt auch für uns noch unverkennbar hervor. In der ältesten Urkunde der Griechen, welche, wie der älteste Verkehr mit dem Westen, den kleinasiatischen Ioniern eignet, in den Homerischen Gesängen reicht der Horizont noch kaum über das östliche Becken des Mittelmeers hinaus. Vom Sturm in die westliche See verschlagene Schiffer mochten von der Existenz eines Westlandes und etwa noch von dessen Meeresstrudeln und feuerspeienden Inselbergen die Kunde nach Kleinasien heimgebracht haben; allein zu der Zeit der Homerischen Dichtung mangelte selbst in derjenigen griechischen Landschaft, welche am frühesten mit dem Westland in Verkehr trat, noch jede zuverlässige Kunde von Sizilien und Italien; und die Märchenerzähler und Dichter des Ostens konnten, wie seinerzeit die okzidentalischen den fabelhaften Orient, ungestört die leeren Räume des Westens mit ihren luftigen Gestalten erfüllen. Bestimmter treten schon in den Hesiodischen Gedichten die Umrisse Italiens und Siziliens hervor; sie kennen aus beiden einheimische Namen von Völkerschaften, Bergen und Städten; doch ist ihnen Italien noch eine Inselgruppe. Dagegen in der gesamten nachhesiodischen Literatur erscheint Sizilien und selbst das gesamte Gestade Italiens als den Hellenen wenigstens im allgemeinen bekannt. Ebenso läßt die Reihenfolge der griechischen Ansiedlungen mit einiger Sicherheit sich bestimmen. Als die älteste namhafte Ansiedlung im Westland galt offenbar schon dem Thukydides Kyme; und gewiß hat er nicht geirrt. Allerdings lag dem griechischen Schiffer mancher Landungsplatz näher; allein vor den Stürmen wie vor den Barbaren war keiner so geschützt wie die Insel Ischia, auf der die Stadt ursprünglich lag; und daß solche Rücksichten vor allem bei dieser Ansiedlung leiteten, zeigt selbst die Stelle noch, die man später auf dem Festland dazu ausersah, die steile, aber geschützte Felsklippe, die noch heute den ehrwürdigen Namen der anatolischen Mutterstadt trägt. Nirgends in Italien sind denn auch die Örtlichkeiten der kleinasiatischen Märchen mit solcher Festigkeit und Lebendigkeit lokalisiert wie in der kymäischen Landschaft, wo die frühesten Westfahrer, jener Sagen von den Wundern des Westens voll, zuerst das Fabelland betraten und die Spuren der Märchenwelt, in der sie zu wandeln meinten, in den Sirenenfelsen und dem zur Unterwelt führenden Aornossee zurückließen. Wenn ferner in Kyme zuerst die Griechen Nachbarn der Italiker wurden, so erklärt es sich sehr einfach, weshalb der Name desjenigen italischen Stammes, der zunächst um Kyme angesessen war, der Name der Opiker, von ihnen noch lange Jahrhunderte nachher für sämtliche Italiker gebraucht ward. Es ist ferner glaublich überliefert, daß die massenhafte hellenische Einwanderung in Unteritalien und Sizilien von der Niederlassung auf Kyme durch einen beträchtlichen Zwischenraum getrennt war und daß bei jener Einwanderung wieder die Ionier von Chalkis und von Naxos vorangingen und Naxos auf Sizilien die älteste aller durch eigentliche Kolonisierung in Italien und Sizilien gegründeten Griechenstädte ist, worauf dann die achäischen und dorischen Kolonisationen erst später erfolgt sind.

Allein es scheint völlig unmöglich, für diese Reihe von Tatsachen auch nur annähernd sichere Jahreszahlen festzustellen. Die Gründung der achäischen Stadt Sybaris im Jahre 33 (721) und die der dorischen Stadt Taras im Jahre 46 Roms (708) mögen die ältesten Daten der italischen Geschichte sein, deren wenigstens ungefähre Richtigkeit als ausgemacht angesehen werden kann. Um wieviel aber die Ausführung der älteren ionischen Kolonien jenseits dieser Epoche zurückliege, ist ebenso ungewiß wie das Zeitalter der Entstehung der Hesiodischen und gar der Homerischen Gedichte. Wenn Herodot das Zeitalter Homers richtig bestimmt hat, so war Italien den Griechen ein Jahrhundert vor der Gründung Roms (850) noch unbekannt; indes jene Ansetzung ist wie alle anderen der Lebenszeit Homers kein Zeugnis, sondern ein Schluß, und wer die Geschichte der italischen Alphabete sowie die merkwürdige Tatsache erwägt, daß den Italikern das Griechenvolk bekannt ward, bevor der hellenische Stammname aufgekommen war, und die Italiker ihre Bezeichnung der Hellenen von dem in Hellas früh verschollenen Stamm der Grai oder Graeci entlehntenOb der Name der Graeker ursprünglich aus dem epirotischen Binnenland und der Gegend von Dodone haftet oder vielmehr den früher vielleicht bis an das Westmeer reichenden Ätolern eigen war, mag dahingestellt bleiben; er muß in ferner Zeit einem hervorragenden Stamm oder Komplex von Stämmen des eigentlichen Griechenlands eigen gewesen und von diesen auf die gesamte Nation übergegangen sein. In den Hesiodischen Eöen erscheint er als älterer Gesamtname der Nation, jedoch mit offenbarer Absichtlichkeit beiseite geschoben und dem hellenischen untergeordnet, welcher letztere bei Homer noch nicht, wohl aber, außer bei Hesiod, schon bei Archilochos um das Jahr 50 Roms (704) auftritt und recht wohl noch bedeutend früher aufgekommen sein kann (M. L. Duncker, Geschichte des Altertums. Berlin 1852-57. Bd. 3, S. 18, 556). Also bereits vor dieser Zeit waren die Italiker mit den Griechen soweit bekannt, daß jener in Hellas früh verschollene Name bei ihnen als Gesamtname der griechischen Nation blieb, auch als diese selbst andere Wege ging. Es ist dabei nur in der Ordnung, daß den Ausländern die Zusammengehörigkeit der hellenischen Stämme früher und deutlicher zum Bewußtsein gekommen ist als diesen selbst, und daher die Gesamtbenennung hier schärfer sich fixierte als dort, nicht minder, daß dieselbe nicht gerade den wohlbekannten nächstwohnenden Hellenen entnommen ward. Wie man es damit vereinigen will, daß noch ein Jahrhundert vor der Gründung Roms Italien den kleinasiatischen Griechen völlig unbekannt war, ist schwer abzusehen. Von dem Alphabet wird unten die Rede sein; es ergibt dessen Geschichte vollkommen die gleichen Resultate. Man wird es vielleicht verwegen nennen, auf solche Beobachtungen hin die Herodotische Angabe über das Zeitalter Homers zu verwerfen; aber ist es etwa keine Kühnheit, in Fragen dieser Art der Überlieferung zu folgen?, wird geneigt sein, den frühesten Verkehr der Italiker mit den Griechen um ein bedeutendes höher hinaufzurücken.

Die Geschichte der italischen und sizilischen Griechen ist zwar kein Teil der italischen; die hellenischen Kolonisten des Westens blieben stets im engsten Zusammenhang mit der Heimat und hatten teil an den Nationalfesten und Rechten der Hellenen. Doch ist es auch für Italien wichtig, den verschiedenen Charakter der griechischen Ansiedlungen daselbst zu bezeichnen und wenigstens gewisse Grundzüge hervorzuheben, durch die der verschiedenartige Einfluß der griechischen Kolonisierung auf Italien wesentlich bedingt worden ist.

Unter allen griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am meisten geschlossene war diejenige, aus der der Achäische Städtebund hervorging, welchen die Städte Siris, Pandosia, Metabus oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina und Pyxus bildeten. Diese Kolonisten gehörten, im großen und ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der an seinem eigentümlichen, dem dorischen nächst verwandten Dialekt sowie nicht minder, anstatt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren Alphabets, lange Zeit an der altnationalen hellenischen Schreibweise festhielt, und der seine besondere Nationalität den Barbaren wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündischen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achäer läßt sich anwenden, was Polybios von der achäischen Symmachie im Peloponnes sagt: „nicht allein in eidgenössischer und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Maße und Münzen sowie derselben Vorsteher, Ratmänner und Richter“.

Dieser Achäische Städtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Städte waren ohne Häfen – nur Kroton hatte eine leidliche Reede – und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich, zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaßen die Griechen hier nicht bloß die Küstensäume, sondern herrschten von Meer zu Meer in dem „Wein-“ und „Rinderland“ (Οινοτρία, Ιταλία) oder der „großen Hellas“; die eingeborene ackerbauende Bevölkerung mußte in Klientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen. Sybaris – seiner Zeit die größte Stadt Italiens – gebot über vier barbarische Stämme und fünfundzwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und Poseidonia gründen; die überschwenglich fruchtbaren Niederungen des Krathis und Bradanos warfen den Sybariten und Metapontinern überreichen Ertrag ab – vielleicht ist hier zuerst Getreide zur Ausfuhr gebaut worden. Von der hohen Blüte, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achäer: ihre Münzen von strenger, altertümlich schöner Arbeit – überhaupt die frühesten Denkmäler von Kunst und Schrift in Italien, deren Prägung erweislich im Jahre 174 der Stadt (580) bereits begonnen hatte. Diese Münzen zeigen, daß die Achäer des Westens nicht bloß teilnahmen an der eben um diese Zeit im Mutterlande herrlich sich entwickelnden Bildnerkunst, sondern in der Technik demselben wohl gar überlegen waren; denn statt der dicken, oft nur einseitig geprägten und regelmäßig schriftlosen Silberstücke, welche um diese Zeit in dem eigentlichen Griechenland wie bei den italischen Dorern üblich waren, schlugen die italischen Achäer mit großer und selbständiger Geschicklichkeit aus zwei gleichartigen, teils erhaben teils vertieft geschnittenen Stempeln große dünne, stets mit Aufschrift versehene Silbermünzen, deren sorgfältig vor der Falschmünzerei jener Zeit – Plattierung geringen Metalls mit dünnen Silberblättern – sich schützende Prägweise den wohlgeordneten Kulturstaat verrät.

Dennoch trug diese schnelle Blüte keine Frucht. In der mühelosen, weder durch kräftige Gegenwehr der Eingeborenen noch durch eigene schwere Arbeit auf die Probe gestellten Existenz versagte sogar den Griechen früh die Spannkraft des Körpers und des Geistes. Keiner der glänzenden Namen der griechischen Kunst und Literatur verherrlicht die italischen Achäer, während Sizilien deren unzählige, auch in Italien das chalkidische Rhegion den Ibykos, das dorische Tarent den Archytas nennen kann; bei diesem Volk, wo stets sich am Herde der Spieß drehte, gedieh nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen ließ die strenge Aristokratie nicht aufkommen, die in den einzelnen Gemeinden früh ans Ruder gekommen war und im Notfall an der Bundesgewalt einen sicheren Rückhalt fand: wohl aber drohte die Verwandlung der Herrschaft der Besten in eine Herrschaft der Wenigen, vor allem, wenn die bevorrechteten Geschlechter in den verschiedenen Gemeinden sich untereinander verbündeten und gegenseitig sich aushalfen. Solche Tendenzen beherrschten die durch den Namen des Pythagoras bezeichnete solidarische Verbindung der „Freunde“, sie gebot, die herrschende Klasse „gleich den Göttern zu verehren“, die dienende „gleich den Tieren zu unterwerfen“, und rief durch solche Theorie und Praxis eine furchtbare Reaktion hervor, welche mit der Vernichtung der pythagoreischen „Freunde“ und mit der Erneuerung der alten Bundesverfassung endigte. Allein rasende Parteifehden, Massenerhebungen der Sklaven, soziale Mißstände aller Art, praktische Anwendung unpraktischer Staatsphilosophie, kurz alle Übel der entsittlichten Zivilisation hörten nicht auf, in den achäischen Gemeinden zu wüten, bis ihre politische Macht darüber zusammenbrach.

Es ist danach nicht zu verwundern, daß für die Zivilisation Italiens die daselbst angesiedelten Achäer minder einflußreich gewesen sind als die übrigen griechischen Niederlassungen. über die politischen Grenzen hinaus ihren Einfluß zu erstrecken, lag diesen Ackerbauern ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets verknechteten sie die Eingeborenen und zertraten die Keime einer nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch vollständige Hellenisierung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das griechische Wesen, das sonst allen politischen Mißgeschicken zum Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wußte, schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgendeinem anderen Gebiet, und die zwiesprachigen Mischvölker, die späterhin aus den Trümmern der eingeborenen Italiker und der Achäer und den jüngeren Einwanderern sabellischer Herkunft hervorgingen, sind zu rechtem Gedeihen ebensowenig gelangt. Indes, diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode.

Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die Niederlassungen der übrigen Griechen. Auch sie verschmähten den Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phönikischer Art an einer befestigten Faktorei genügen zu lassen. Aber wohl waren alle diese Städte zunächst und vor allem des Handels wegen begründet und darum denn auch, ganz abweichend von den achäischen, durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt. Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche dieser Gründungen waren mannigfach verschieden; dennoch bestand zwischen ihnen eine gewisse Gemeinschaft – so in dem allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch gewisser moderner Formen des AlphabetsSo zum Beispiel heißt es auf einem kymäischen Tongefäß Ταταίες εμί λέυqθος. Fόσ δ’άν με κλέφσει θύφλος έσται., von Haus aus den weichen ionischen Dialekt sprachen. Für die Entwicklung Italiens sind diese Niederlassungen in sehr verschiedenem Grade wichtig geworden; es genügt hier, derjenigen zu gedenken, welche entscheidend in die Schicksale der Stämme Italiens eingegriffen haben, des dorischen Tarent und des ionischen Kyme.

Den Tarentinern ist unter allen hellenischen Ansiedlungen in Italien die glänzendste Rolle zugefallen. Der vortreffliche Hafen, der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt zum natürlichen Entrepôt für den süditalienischen Handel, ja sogar für einen Teil des Verkehrs auf dem Adriatischen Meer. Der reiche Fischfang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle sowie deren Färbung mit dem Saft der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wetteifern konnte – beide Industrien hierher eingebürgert aus dem kleinasiatischen Miletos –, beschäftigten Tausende von Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhandel hinzu. Die in größerer Menge als irgendwo sonst im griechischen Italien und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen Münzen sind noch heute redende Beweise des ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. Schon in dieser Epoche, wo Tarent noch mit Sybaris um den ersten Rang unter den unteritalischen Griechenstädten rang, müssen seine ausgedehnten Handelsverbindungen sich angeknüpft haben; indes auf eine wesentliche Erweiterung ihres Gebietes nach Art der achäischen Städte scheinen die Tarentiner nie mit dauerndem Erfolg ausgegangen zu sein.

Wenn also die östlichste der griechischen Ansiedlungen in Italien rasch und glänzend sich emporhob, so gediehen die nördlichsten derselben am Vesuv zu bescheidnerer Blüte. Hier waren von der fruchtbaren Insel Aenaria (Ischia) aus die Kymäer auf das Festland hinübergegangen und hatten auf einem Hügel hart am Meere eine zweite Heimat erbaut, von wo aus der Hafenplatz Dikäarchia (später Puteoli), und weiter die „Neustadt“ Neapolis gegründet wurden. Sie lebten, wie überhaupt die chalkidischen Städte in Italien und Sizilien, nach den Gesetzen, welche Charondas von Katane (um 100 650) festgestellt hatte, in einer demokratischen, jedoch durch hohen Zensus gemäßigten Verfassung, welche die Macht in die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rates von Mitgliedern legte – eine Verfassung, die sich bewährte und im ganzen von diesen Städten Usurpatoren wie Pöbeltyrannei fern hielt. Wir wissen wenig von den äußeren Verhältnissen dieser kampanischen Griechen. Sie blieben, sei es aus Zwang oder aus freier Wahl, mehr noch als die Tarentiner beschränkt auf einen engen Bezirk; indem sie von diesem aus nicht erobernd und unterdrückend gegen die Eingeborenen auftraten, sondern friedlich mit ihnen handelten und verkehrten, erschufen sie sich selbst eine gedeihliche Existenz und nahmen zugleich den ersten Platz unter den Missionaren der griechischen Zivilisation in Italien ein.

Wenn zu beiden Seiten der rheginischen Meerenge teils auf dem Festlande die ganze südliche und die Westküste bis zum Vesuv, teils die größere östliche Hälfte der sizilischen Insel griechisches Land war, so gestalteten dagegen auf der italischen Westküste nordwärts vom Vesuv und auf der ganzen Ostküste die Verhältnisse sich wesentlich anders. An dem dem Adriatischen Meer zugewandten italischen Gestade entstanden griechische Ansiedlungen nirgends; womit die verhältnismäßig geringere Anzahl und untergeordnete Bedeutung der griechischen Pflanzstädte auf dem gegenüberliegenden illyrischen Ufer und den zahlreichen demselben vorliegenden Inseln augenscheinlich zusammenhängt. Zwar wurden auf dem Griechenland nächsten Teil dieser Küste zwei ansehnliche Kaufstädte, Epidamnos oder Dyrrhachion (jetzt Durazzo; 127 587) und Apollonia (bei Avlona; um 167 627) noch während der römischen Königsherrschaft gegründet; aber weiter nördlich ist, mit Ausnahme etwa der nicht bedeutenden Niederlassung auf Schwarzkerkyra (Curzola; um 174? 580) keine alte griechische Ansiedlung nachzuweisen. Es ist noch nicht hinreichend aufgeklärt, warum die griechische Kolonisierung so dürftig gerade nach dieser Seite hin auftrat, wohin doch die Natur selbst die Hellenen zu weisen schien und wohin in der Tat seit ältester Zeit von Korinth und mehr noch von der nicht lange nach Rom (um 44 710) gegründeten Ansiedlung auf Kerkyra (Korfu) aus ein Handelszug bestand, dessen Entrepôts auf der italischen Küste die Städte an der Pomündung, Spina und Atria, waren. Die Stürme der Adriatischen See, die Unwirtlichkeit wenigstens der illyrischen Küsten, die Wildheit der Eingeborenen reichen offenbar allein nicht aus, um diese Tatsache zu erklären. Aber für Italien ist es von den wichtigsten Folgen gewesen, daß die von Osten kommenden Elemente der Zivilisation nicht zunächst auf seine östlichen Landschaften einwirkten, sondern erst aus den westlichen in diese gelangten. Selbst in den Handelsverkehr teilte sich mit Korinth und Kerkyra die östlichste Kaufstadt Großgriechenlands, das dorische Tarent, das durch den Besitz von Hydrus (Otranto) den Eingang in das Adriatische Meer auf der italischen Seite beherrschte. Da außer den Häfen an der Pomündung an der ganzen Ostküste nennenswerte Emporien in jener Zeit nicht bestanden – Ankons Aufblühen fällt in weit spätere Zeit und noch später das Emporkommen von Brundisium –, ist es wohl begreiflich, daß die Schiffer von Epidamnos und Apollonia häufig in Tarent löschten. Auch auf dem Landwege verkehrten die Tarentiner vielfach mit Apulien; auf sie geht zurück, was sich von griechischer Zivilisation im Südosten Italiens vorfindet. Indes fallen in diese Zeit davon nur die ersten Anfänge; der Hellenismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche.

Daß dagegen die Westküste Italiens auch nördlich vom Vesuv in ältester Zeit von den Hellenen befahren worden ist und auf den Inseln und Landspitzen hellenische Faktoreien bestanden, läßt sich nicht bezweifeln. Wohl das älteste Zeugnis dieser Fahrten ist die Lokalisierung der Odysseussage an den Küsten des Tyrrhenischen MeeresDie ältesten griechischen Schriften, in denen uns diese tyrrhenische Odysseussage erscheint, sind die Hesiodische ‚Theogonie‘ in einem ihrer jüngeren Abschnitte und sodann die Schriftsteller aus der Zeit kurz vor Alexander, Ephoros, aus dem der sogenannte Skymnos geflossen ist, und der sogenannte Skylax. Die erste dieser Quellen gehört einer Zeit an, wo Italien den Griechen noch als Inselgruppe galt, und ist also sicher sehr alt; und es kann danach die Entstehung dieser Sagen im ganzen mit Sicherheit in die römische Königszeit gesetzt werden.. Wenn man in den Liparischen Inseln die des Äolos wiederfand, wenn man am Lacinischen Vorgebirge die Insel der Kalypso, am Misenischen die der Sirenen, am Circeischen die der Kirke wies, wenn man das ragende Grab des Elpenor in dem steilen Vorgebirge von Tarracina erkannte, wenn bei Caieta und Formiae die Lästrygonen hausen, wenn die beiden Söhne des Odysseus und der Kirke, Agrios, das heißt der Wilde, und Latinos, im „innersten Winkel der heiligen Inseln“ die Tyrrhener beherrschen oder in einer jüngeren Fassung Latinus der Sohn des Odysseus und der Kirke, Auson der Sohn des Odysseus und der Kalypso heißt, so sind das alte Schiffmärchen der ionischen Seefahrer, welche der lieben Heimat auf der Tyrrhenischen See gedachten, und dieselbe herrliche Lebendigkeit der Empfindung, wie sie in dem ionischen Gedicht von den Fahrten des Odysseus waltet, spricht auch noch aus der frischen Lokalisierung derselben Sage bei Kyme selbst und in dem ganzen Fahrbezirk der kymäischen Schiffer.

Andere Spuren dieser ältesten Fahrten sind die griechischen Namen der Insel Aethalia (Ilva, Elba), die nächst Aenaria zu den am frühesten von Griechen besetzten Plätzen zu gehören scheint, und vielleicht auch des Hafenplatzes Telamon in Etrurien; ferner die beiden Ortschaften an der caeritischen Küste Pyrgi (bei S. Severa) und Alsion (bei Palo), wo nicht bloß die Namen unverkennbar auf griechischen Ursprung deuten, sondern auch die eigentümliche, von den caeritischen und überhaupt den etruskischen Stadtmauern sich wesentlich unterscheidende Architektur der Mauern von Pyrgi. Aethalia, „die Feuerinsel“, mit ihren reichen Kupfer- und besonders Eisengruben mag in diesem Verkehr die erste Rolle gespielt und hier die Altsiedlung der Fremden wie ihr Verkehr mit den Eingeborenen seinen Mittelpunkt gehabt haben; um so mehr als das Schmelzen der Erze auf der kleinen und nicht waldreichen Insel ohne Verkehr mit dem Festland nicht geschehen konnte. Auch die Silbergruben von Populonia auf der Elba gegenüberliegenden Landspitze waren vielleicht schon den Griechen bekannt und von ihnen in Betrieb genommen.

Wenn die Fremden, wie in jenen Zeiten immer, neben dem Handel auch dem See- und Landraub obliegend, ohne Zweifel es nicht versäumten, wo die Gelegenheit sich bot, die Eingeborenen zu brandschatzen und sie als Sklaven fortzuführen, so übten auch die Eingeborenen ihrerseits das Vergeltungsrecht aus; und daß die Latiner und Tyrrhener dies mit größerer Energie und besserem Glück getan haben als ihre süditalischen Nachbarn, zeigen nicht bloß jene Sagen an, sondern vor allem der Erfolg. In diesen Gegenden gelang es den Italikern, sich der Fremdlinge zu erwehren und nicht bloß Herren ihrer eigenen Kaufstädte und Kaufhäfen zu bleiben oder doch bald wieder zu werden, sondern auch Herren ihrer eigenen See. Dieselbe hellenische Invasion, welche die süditalischen Stämme erdrückte und denationalisierte, hat die Völker Mittelitaliens, freilich sehr wider den Willen der Lehrmeister, zur Seefahrt und zur Städtegründung angeleitet. Hier zuerst muß der Italiker das Floß und den Nachen mit der phönikischen und griechischen Rudergaleere vertauscht haben. Hier zuerst begegnen große Kaufstädte, vor allem Caere im südlichen Etrurien und Rom am Tiber, die, nach den italischen Namen wie nach der Lage in einiger Entfernung vom Meere zu schließen, eben wie die ganz gleichartigen Handelsstädte an der Pomündung, Spina und Atria, und weiter südlich Ariminum, sicher keine griechischen, sondern italische Gründungen sind. Den geschichtlichen Verlauf dieser ältesten Reaktion der italischen Nationalität gegen fremden Eingriff darzulegen sind wir begreiflicherweise nicht imstande; wohl aber läßt es noch sich erkennen, was für die weitere Entwicklung Italiens von der größten Bedeutung ist, daß diese Reaktion in Latium und im südlichen Etrurien einen andern Gang genommen hat als in der eigentlichen tuskischen und den sich daran anschließenden Landschaften.

Schon die Sage setzt in bezeichnender Weise dem „wilden Tyrrhener“ den Latiner entgegen und dem unwirtlichen Strande der Volsker das friedliche Gestade an der Tibermündung. Aber nicht das kann hiermit gemeint sein, daß man die griechische Kolonisierung in einigen Landschaften Mittelitaliens geduldet, in andern nicht zugelassen hätte. Nordwärts vom Vesuv hat überhaupt in geschichtlicher Zeit nirgends eine unabhängige griechische Gemeinde bestanden, und wenn Pyrgi dies einmal gewesen ist, so muß es doch schon vor dem Beginn unserer Überlieferung in die Hände der Italiker, das heißt der Caeriten zurückgekehrt sein. Aber wohl ward in Südetrurien, in Latium und ebenso an der Ostküste der friedliche Verkehr mit den fremden Kaufleuten geschützt und gefördert, was anderswo nicht geschah. Vor allem merkwürdig ist die Stellung von Caere. „Die Caeriten“, sagt Strabon, „galten viel bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit, und weil sie, so mächtig sie waren, des Raubes sich enthielten.“ Nicht der Seeraub ist gemeint, den der caeritische Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird; sondern Caere war eine Art von Freihafen für die Phöniker wie für die Griechen. Wir haben der phönikischen Station – später Punicum genannt – und der beiden von Pyrgi und Alsion bereits gedacht; diese Häfen waren es, die zu berauben die Caeriten sich enthielten, und ohne Zweifel war es eben dies, wodurch Caere, das nur eine schlechte Reede besitzt und keine Gruben in der Nähe hat, so früh zu hoher Blüte gelangt ist und für den ältesten griechischen Handel noch größere Bedeutung gewonnen hat als die von der Natur zu Emporien bestimmten Städte der Italiker an den Mündungen des Tiber und des Po. Die hier genannten Städte sind es, welche in uraltem religiösen Verkehr mit Griechenland erscheinen. Der erste unter allen Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte, war der tuskische König Arimnos, vielleicht ein Herr von Ariminum. Spina und Caere hatten in dem Tempel des delphischen Apollon wie andere mit dem Heiligtum in regelmäßigem Verkehr stehende Gemeinden ihre eigenen Schatzhäuser; und mit der ältesten caeritischen und römischen Überlieferung ist das delphische Heiligtum sowohl wie das kymäische Orakel verflochten. Diese Städte, wo die Italiker friedlich schalteten und mit dem fremden Kaufmann freundlich verkehrten, wurden vor allen reich und mächtig und wie für die hellenischen Waren so auch für die Keime der hellenischen Zivilisation die rechten Stapelplätze.

Anders gestalteten sich die Verhältnisse bei den „wilden Tyrrhenern“. Dieselben Ursachen, die in der latinischen und in den vielleicht mehr unter etruskischer Suprematie stehenden als eigentlich etruskischen Landschaften am rechten Tiberufer und am unteren Po zur Emanzipierung der Eingeborenen von der fremden Seegewalt geführt hatten, entwickelten in dem eigentlichen Etrurien, sei es aus anderen Ursachen, sei es infolge des verschiedenartigen, zu Gewalttat und Plünderung hinneigenden Nationalcharakters, den Seeraub und die eigene Seemacht. Man begnügte sich hier nicht, die Griechen aus Aethalia und Populonia zu verdrängen; auch der einzelne Kaufmann ward, wie es scheint, hier nicht geduldet, und bald durchstreiften sogar etruskische Kaper weithin die See und machten den Namen der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen – nicht ohne Ursache galt diesen der Enterhaken als eine etruskische Erfindung und nannten die Griechen das italische Westmeer das Meer der Tusker. Wie rasch und ungestüm diese wilden Korsaren, namentlich im Tyrrhenischen Meere, um sich griffen, zeigt am deutlichsten ihre Festsetzung an der latinischen und kampanischen Küste. Zwar behaupteten im eigentlichen Latium sich die Latiner und am Vesuv sich die Griechen; aber zwischen und neben ihnen geboten die Etrusker in Antium wie in Surrentum. Die Volsker traten in die Klientel der Etrusker ein; aus ihren Waldungen bezogen diese die Kiele ihrer Galeeren, und wenn dem Seeraub der Antiaten erst die römische Okkupation ein Ende gemacht hat, so begreift man es wohl, warum den griechischen Schiffern das Gestade der südlichen Volsker das laestrygonische hieß. Die hohe Landspitze von Sorrent, mit dem noch steileren, aber hafenlosen Felsen von Capri eine rechte, inmitten der Buchten von Neapel und Salern in die Tyrrhenische See hinausschauende Korsarenwarte, wurde früh von den Etruskern in Besitz genommen. Sie sollen sogar in Kampanien einen eigenen Zwölfstädtebund gegründet haben und etruskisch redende Gemeinden haben hier noch in vollkommen historischer Zeit im Binnenlande bestanden; wahrscheinlich sind diese Ansiedlungen mittelbar ebenfalls aus der Seeherrschaft der Etrusker im kampanischen Meer und aus ihrer Rivalität mit den Kymäern am Vesuv hervorgegangen. Indes beschränkten die Etrusker sich keineswegs auf Raub und Plünderung. Von ihrem friedlichen Verkehr mit griechischen Städten zeugen namentlich die Gold- und Silbermünzen, die wenigstens vom Jahre 200 der Stadt (550) an die etruskischen Städte, besonders Populonia, nach griechischem Muster und auf griechischen Fuß geschlagen haben; daß dieselben nicht den großgriechischen, sondern vielmehr attischen, ja kleinasiatischen Stempeln nachgeprägt wurden, ist übrigens wohl auch ein Fingerzeig für die feindliche Stellung der Etrusker zu den italischen Griechen. In der Tat befanden sie sich für den Handel in der günstigsten Stellung und in einer weit vorteilhafteren als die Bewohner von Latium. Von Meer zu Meer wohnend geboten sie am westlichen über den großen italischen Freihafen, am östlichen über die Pomündung und das Venedig jener Zeit, ferner über die Landstraße, die seit alter Zeit von Pisa am Tyrrhenischen nach Spina am Adriatischen Meere führte, dazu in Süditalien über die reichen Ebenen von Capua und Nola. Sie besaßen die wichtigsten italischen Ausfuhrartikel, das Eisen von Aethalia, das volaterranische und kampanische Kupfer, das Silber von Populonia, ja den von der Ostsee ihnen zugeführten Bernstein. Unter dem Schutze ihrer Piraterie, gleichsam einer rohen Navigationsakte, mußte ihr eigener Handel emporkommen; und es kann ebensowenig befremden, daß in Sybaris der etruskische und milesische Kaufmann konkurrierten, als daß aus jener Verbindung von Kaperei und Großhandel der maß- und sinnlose Luxus entsprang, in welchem Etruriens Kraft früh sich selber verzehrt hat.

Wenn also in Italien die Etrusker und, obgleich in minderem Grade, die Latiner den Hellenen abwehrend und zum Teil feindlich gegenüberstanden, so griff dieser Gegensatz gewissermaßen mit Notwendigkeit in diejenige Rivalität ein, die damals Handel und Schiffahrt auf dem Mittelländischen Meere vor allem beherrschte: in die Rivalität der Phöniker und der Hellenen. Es ist nicht dieses Orts, im einzelnen darzulegen, wie während der römischen Königszeit diese beiden großen Nationen an allen Gestaden des Mittelmeeres, in Griechenland und Kleinasien selbst, auf Kreta und Kypros, an der afrikanischen, spanischen und keltischen Küste miteinander um die Oberherrschaft rangen; unmittelbar auf italischem Boden wurden diese Kämpfe nicht gekämpft, aber die Folgen derselben doch auch in Italien tief und nachhaltig empfunden. Die frische Energie und die universellere Begabung des jüngeren Nebenbuhlers war anfangs überall im Vorteil; die Hellenen entledigten sich nicht bloß der phönikischen Faktoreien in ihrer europäischen und asiatischen Heimat, sondern verdrängten die Phöniker auch von Kreta und Kypros, faßten Fuß in Ägypten und Kyrene und bemächtigten sich Unteritaliens und der größeren östlichen Hälfte der sizilischen Insel. Überall erlagen die kleinen phönikischen Handelsplätze der energischeren griechischen Kolonisation. Schon ward auch im westlichen Sizilien Selinus (126 628) und Akragas (174 580) gegründet, schon von den kühnen kleinasiatischen Phokäern die entferntere Westsee befahren, an dem keltischen Gestade Massalia erbaut (um 150 600) und die spanische Küste erkundet. Aber plötzlich, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts, stockt der Fortschritt der hellenischen Kolonisation: und es ist kein Zweifel, daß die Ursache dieses Stockens der Aufschwung war, den gleichzeitig, offenbar infolge der von den Hellenen dem gesamten phönikischen Stamme drohenden Gefahr, die mächtigste ihrer Städte in Libyen, Karthago nahm. War die Nation, die den Seeverkehr auf dem Mittelländischen Meere eröffnet hatte, durch den jüngeren Rivalen auch bereits verdrängt aus der Alleinherrschaft über die Westsee, dem Besitze beider Verbindungsstraßen zwischen dem östlichen und dem westlichen Becken des Mittelmeeres und dem Monopol der Handelsvermittlung zwischen Orient und Okzident, so konnte doch wenigstens die Herrschaft der Meere westlich von Sardinien und Sizilien noch für die Orientalen gerettet werden; und an deren Behauptung setzte Karthago die ganze, dem aramäischen Stamme eigentümliche zähe und umsichtige Energie. Die phönikische Kolonisierung wie der Widerstand der Phöniker nahmen einen völlig anderen Charakter an. Die älteren phönikischen Ansiedlungen, wie die sizilischen, welche Thukydides schildert, waren kaufmännische Faktoreien; Karthago unterwarf sich ausgedehnte Landschaften mit zahlreichen Untertanen und mächtigen Festungen. Hatten bisher die phönikischen Niederlassungen vereinzelt den Griechen gegenübergestanden, so zentralisierte jetzt die mächtige libysche Stadt in ihrem Bereiche die ganze Wehrkraft ihrer Stammverwandten mit einer Straffheit, der die griechische Geschichte nichts Ähnliches an die Seite zu stellen vermag. Vielleicht das wichtigste Moment aber dieser Reaktion für die Folgezeit ist die enge Beziehung, in welche die schwächeren Phöniker, um der Hellenen sich zu erwehren, zu den Eingeborenen Siziliens und Italiens traten. Als Knidier und Rhodier um das Jahr 175 (579) im Mittelpunkt der phönikischen Ansiedlungen auf Sizilien bei Lilybäon sich festzusetzen versuchten, wurden sie durch die Eingeborenen – Elymer von Segeste – und Phöniker wieder von dort vertrieben. Als die Phokäer um 217 (537) sich in Alalia (Aleria) auf Korsika Caere gegenüber niederließen, erschien, um sie von dort zu vertreiben, die vereinigte Flotte der Etrusker und der Karthager, hundertundzwanzig Segel stark; und obwohl in dieser Seeschlacht – einer der ältesten, die die Geschichte kennt – die nur halb so starke Flotte der Phokäer sich den Sieg zuschrieb, so erreichten doch die Karthager und Etrusker, was sie durch den Angriff bezweckt hatten: die Phokäer gaben Korsika auf und ließen lieber an der weniger ausgesetzten lukanischen Küste in Hyele (Velia) sich nieder. Ein Traktat zwischen Etrurien und Karthago stellte nicht bloß die Regeln über Wareneinfuhr und Rechtsfolge fest, sondern schloß auch ein Waffenbündnis (συμμαχία) ein, von dessen ernstlicher Bedeutung eben jene Schlacht von Alalia zeugt. Charakteristisch ist es für die Stellung der Caeriten, daß sie die phokäischen Gefangenen auf dem Markt von Caere steinigten und alsdann, um den Frevel zu sühnen, den delphischen Apoll beschickten.

Latium hat dieser Fehde gegen die Hellenen sich nicht angeschlossen; vielmehr finden sich in sehr alter Zeit freundliche Beziehungen der Römer zu den Phokäern in Hyele wie in Massalia, und die Ardeaten sollen sogar gemeinschaftlich mit den Zakynthiern eine Pflanzstadt in Spanien, das spätere Saguntum gegründet haben. Doch haben die Latiner noch viel weniger sich auf die Seite der Hellenen gestellt; dafür bürgen sowohl die engen Beziehungen zwischen Rom und Caere als auch die Spuren alten Verkehrs zwischen den Latinern und den Karthagern. Der Stamm der Kanaaniten ist den Römern durch Vermittlung der Hellenen bekannt geworden, da sie, wie wir sahen, ihn stets mit dem griechischen Namen genannt haben; aber daß sie weder den Namen der Stadt KarthagoDer Name Afri, schon Ennius und Cato geläufig – man vergleiche Scipio Africanus –, ist gewiß ungriechisch, höchst wahrscheinlich stammverwandt mit dem der Hebräer. von den Griechen entlehnt haben, daß tyrische Waren bei den älteren Römern mit dem ebenfalls die griechische Vermittlung ausschließenden Namen der sarranischen bezeichnet werdenSarranisch heißen den Römern seit alter Zeit der tyrische Purpur und die tyrische Flöte, und auch als Beiname ist Sarranus wenigstens seit dem Hannibalischen Krieg in Gebrauch. Der bei Ennius und Plautus vorkommende Stadtname Sarra ist wohl aus Sarranus, nicht unmittelbar aus dem einheimischen Namen Sor gebildet. Die griechische Form Tyrus, Tyrius möchte bei den Römern nicht vor Afranius (bei Festus p. 355 M.) vorkommen. Vgl. F. K. Movers, Die Phönicier. Bonn/Berlin 1840-56. Bd. 2, 1, S. 174., beweist ebenso wie die späteren Verträge den alten und unmittelbaren Handelsverkehr zwischen Latium und Karthago.

Der vereinigten Macht der Italiker und Phöniker gelang es in der Tat, die westliche Hälfte des Mittelmeeres im wesentlichen zu behaupten. Der nordwestliche Teil von Sizilien mit den wichtigen Häfen Soloeis und Panormos an der Nordküste, Motye an der Afrika zugewandten Spitze blieb im unmittelbaren oder mittelbaren Besitz der Karthager. Um die Zeit des Kyros und Kroesos, eben als der weise Bias die Ionier zu bestimmen suchte, insgesamt aus Kleinasien auswandernd in Sardinien sich niederzulassen (um 200 554), kam ihnen dort der karthagische Feldherr Malchus zuvor und bezwang einen bedeutenden Teil der wichtigen Insel mit Waffengewalt; ein halbes Jahrhundert später erscheint das ganze Gestade Sardiniens in unbestrittenem Besitz der karthagischen Gemeinde. Korsika dagegen mit den Städten Alalia und Nikäa fiel den Etruskern zu und die Eingeborenen zinsten an diese von den Produkten ihrer armen Insel, dem Pech, Wachs und Honig. Im Adriatischen Meer ferner sowie in den Gewässern westlich von Sizilien und Sardinien herrschten die verbündeten Etrusker und Karthager. Zwar gaben die Griechen den Kampf nicht auf. Jene von Lilybäon vertriebenen Rhodier und Knidier setzten auf den Inseln zwischen Sizilien und Italien sich fest und gründeten hier die Stadt Lipara (175 579). Massalia gedieh trotz seiner Isolierung und monopolisierte bald den Handel von Nizza bis nach den Pyrenäen. An den Pyrenäen selbst ward von Lipara aus die Pflanzstadt Rhoda (jetzt Rosas) angelegt und auch in Saguntum sollen Zakynthier sich angesiedelt, ja selbst in Tingis (Tanger) in Mauretanien griechische Dynasten geherrscht haben. Aber mit dem Vorrücken war es denn doch für die Hellenen vorbei; nach Akragas‘ Gründung sind ihnen bedeutende Gebietserweiterungen am Adriatischen wie am westlichen Meer nicht mehr gelungen, und die spanischen Gewässer wie der Atlantische Ozean blieben ihnen verschlossen. Jahr aus Jahr ein fochten die Liparäer mit den tuskischen „Seeräubern“, die Karthager mit den Massalioten, den Kyrenäern, vor allem den griechischen Sikelioten; aber nach keiner Seite hin ward ein dauerndes Resultat erreicht und das Ergebnis der Jahrhunderte langen Kämpfe war im ganzen die Aufrechterhaltung des Status quo.

So hatte Italien, wenn auch nur mittelbar, den Phönikern es zu danken, daß wenigstens die mittleren und nördlichen Landschaften nicht kolonisiert wurden, sondern hier, namentlich in Etrurien, eine nationale Seemacht ins Leben trat. Es fehlt aber auch nicht an Spuren, daß die Phöniker es schon der Mühe wert fanden, wenn nicht gegen die latinischen, doch wenigstens gegen die seemächtigeren etruskischen Bundesgenossen diejenige Eifersucht zu entwickeln, die aller Seeherrschaft anzuhaften pflegt: der Bericht über die von den Karthagern verhinderte Aussendung einer etruskischen Kolonie nach den Kanarischen Inseln, wahr oder falsch, offenbart die hier obwaltenden rivalisierenden Interessen.