Zehntes Kapitel.

Zehntes Kapitel.

»Das ist ein lustiges Leben,« sagte Dick einige Tage später »Torp ist fort, Bessie haßt mich und ich kann nicht den richtigen Ausdruck der Melancholie erfassen; Maisies Briefe sind kurze Bruchstücke, und ich habe eine Indigestion, wie ich glaube Was verursacht einem Manne Schmerzen im Kopfe und Punkte vor den Augen, Binkie? Sollen wir einige Pillen für die Leber nehmen?«

Dick hatte gerade eine angenehme Scene mit Bessie überstanden. Sie hatte ihm zum fünfzigstenmale vorgeworfen, daß er Torpenhow fortgeschickt habe, und ihren ewigen Haß gegen Dick erklärt, sowie ihm deutlich gemacht, daß sie nur seines Geldes wegen ihm sitze. »Mr. Torpenhow ist ein zehnmal besserer Mann als Sie,« hatte sie geschlossen.

»Das ist er. Deshalb ist er ja gerade fortgegangen. Ich wäre hier geblieben und hätte eine Liebschaft mit Ihnen angefangen«

Das Mädchen saß da, mit dem Kinn auf die Hand gestützt, und machte ein finsteres Gesicht. »Mit mir! Ich würde es Ihnen angestrichen haben! Wenn ich nicht fürchtete, gehangen zu werden, würde ich Sie umbringen! Ja, das würde ich thun. Glauben Sie mir?«

Dick lächelte müde. Es ist nicht angenehm, mit einer Idee zu leben, die man nicht ausführen, einem Dachshunde, der nicht sprechen kann, und einem Weibe, das zu viel spricht. Er würde ihr geantwortet haben, doch in diesem Augenblick entrollte sich aus einer Ecke des Ateliers ein Schleier wie von der feinsten Gaze. Er rieb sich die Augen, doch der graue Dunst wollte nicht verschwinden.

»Das ist eine schändliche Indigestion. Binkie, wir wollen zu einem Medizinmanne gehen. Wir können unsere Augen nicht dadurch belästigen lassen, denn wir verdienen unser Brot mit denselben, auch gekochte Hammelknochen für kleine Hunde.«

Der Doktor war ein leutseliger, praktischer Arzt mit weißem Haar, der nichts sagte, bis Dick anfing, den grauen Schleier im Atelier zu beschreiben.

»Wir bedürfen alle von Zeit zu Zeit ein wenig des Flickens und Reparirens,« meinte er. »Gerade wie ein Schiff, mein werter Herr – genau wie ein Schiff. Zuweilen ist der Rumpf in Unordnung, dann konsultiren wir den Chirurgus; zuweilen das Takelwerk, und dann erteile ich meinen Rat; mitunter die Maschinerie, dann gehen wir zu einem Gehirn-Spezialisten; manchmal ist auch der Ausguck auf der Kommandobrücke erschöpft, und dann besuchen wir einen Augenarzt. Ich würde Ihnen raten, zu einem solchen zu gehen. Ein wenig flicken und ausbessern von Zeit zu Zeit ist alles, was wir brauchen. Einen Augenarzt auf alle Fälle.«

Dick suchte einen Augenarzt auf, – den besten in London. Er war überzeugt, daß der praktische Arzt nichts von seinem Gewerbe verstehe, und noch überzeugter, daß Maisie ihn auslachen würde, wenn er genötigt wäre, eine Brille zu tragen.

»Ich habe die Warnungen meines Herrn, des Magens, zu lange vernachlässigt. Daher rühren die Punkte vor den Augen, Binkie. Ich kann noch ebenso gut sehen als je.«

Als er in die dunkle Halle trat, die zu dem Sprechzimmer führte, lief ein Mann gegen ihn an. Dick erblickte sein Gesicht, als derselbe eilig auf die Straße hinausging.

»Das ist der Schreibertypus. Seine Stirn ist ebenso geformt als die von Torp. Er sieht sehr krank aus. Wahrscheinlich hörte er etwas, das ihm nicht gefiel.«

Als er noch hieran dachte, überkam Dick eine große Furcht, eine Furcht, die ihm den Atem versetzte, als er in das Wartezimmer des Augenarztes trat, mit der schweren geschnitzten Einrichtung, der dunkelgrünen Tapete und den nüchtern gefärbten Bildern an den Wänden. Er erkannte darunter eine Kopie von einer seiner eigenen Skizzen.

Viele Leute warteten vor ihm, bis die Reihe an sie kommen würde. Sein Auge wurde durch ein flammendrot und goldenes Weihnachtsliederbuch gefesselt. Kleine Kinder kamen zu jenem Augenarzte und bedurften einer derartigen Unterhaltung.

»Das ist abgöttisch schlechte Kunst,« sagte er, das Buch zu sich heranziehend. »Von der Anatomie der Engel, das ist in Deutschland gemacht worden.« Er öffnete mechanisch das Buch, ein in roter Farbe gedruckter Vers fiel ihm ins Auge:

Die nächste holde Freude ward
        Marien süß zu teil,
Als Christ, ihr lieber Sohn, gebracht
        Den Blinden Licht und Heil,
Den Blinden Licht, o güt’ger Herr,
        Und schenk uns Trost im Leid!
Preist Vater, Sohn und heil’gen Geist
        In alle Ewigkeit!

Dick las diesen Vers mehreremale, bis die Reihe an ihn kam; der Doktor beugte sich über ihn, nachdem er sich in einen Armstuhl gesetzt. Der Schein eines Gasmikroskopes, der in seine Augen fiel, ließ ihn zusammenzucken. Der Arzt berührte mit der Hand die Narbe des Säbelhiebes auf Dicks Kopfe, während Dick ihm kurz erklärte, wie er dazu gekommen. Als die Flamme entfernt war, sah Dick in das Gesicht des Doktors, und wieder ergriff ihn Furcht. Der Arzt hüllte sich in einen Nebel von Worten. Dick faßte nur Anspielungen auf Narbe, Stirnknochen, Sehnerv, äußerste Vorsicht und Vermeidung geistiger Aufregung auf.

»Urteil?« fragte er schwach. »Mein Geschäft ist das Malen, ich darf keine Zeit verschwenden. Was machen Sie aus der Sache?«

Wieder ein Wirbel von Worten, aber diesmal hatten dieselben eine Bedeutung.

»Können Sie mir irgend etwas zu trinken geben?«

Schon viele Urteile waren in jenem dunklen Zimmer ausgesprochen worden und oft bedurften die Gefangenen einer Stärkung. Dick fühlte ein Glas Cognac in seiner Hand.

»So weit ich Sie verstehen kann,« sagte er, nach dem Branntwein etwas hustend, »so nennen Sie es Abnahme des Sehnerves oder dergleichen, und daher hoffnungslos. Wie viel Zeit bleibt mir noch, wenn ich jede Anstrengung und jeden Kummer vermeide.«

»Vielleicht ein Jahr.«

»Mein Gott! Und wenn ich mich nicht schone?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Man kann nicht genau die Schwere der Verletzung durch jenen Säbelhieb bestimmen. Die Narbe ist alt, und – ausgesetzt dem grellen Lichte der Wüste, sagten Sie? – mit außerordentlich vieler seiner Arbeit? Ich kann es wirklich nicht sagen.«

»Ich bitte um Entschuldigung, die Sache ist ohne jede Warnung über mich gekommen. Wenn Sie erlauben, will ich hier noch einen Augenblick sitzen und dann fortgehen. Es ist sehr gütig von Ihnen gewesen, mir die Wahrheit zu sagen. Ohne irgend eine Warnung, ohne jede Warnung, Ich danke Ihnen.«

Dick trat auf die Straße und wurde stürmisch von Binkie empfangen, »Wir haben es sehr schlecht getroffen, kleiner Hund! So schlecht, wie es nur sein kann. Wir wollen in den Park gehen, um darüber nachzudenken.«

Sie gingen zu einem gewissen Baume, den Dick wohl kannte, und setzten sich dort nieder, um nachzudenken, weil seine Beine unter ihm zitterten und die kalte Furcht ihm auf die Magengrube drückte.

»Wie konnte die Sache nur ohne jede vorherige Warnung kommen? Es ist so plötzlich, als wenn man erschossen wird. Es ist der lebendige Tod, Binkie. Wir werden in Dunkelheit eingehüllt sein nach einem Jahre, wenn wir uns schonen, und werden niemand sehen und nie haben, was wir brauchen, niemals, und wenn wir hundert Jahre lebten.«

Binkie wedelte fröhlich mit seinem Schwanze.

»Binkie, wir müssen nachdenken. Laß uns sehen, wie es thut, wenn man blind ist.« Dick schloß die Augen, worauf flammende Kommas und Feuerräder hinter den Augenlidern hin und her schossen. Als er durch den Park blickte, war seine Sehkraft noch nicht verringert; er konnte vollkommen gut sehen, bis eine Prozession von langsam sich drehenden Feuerrädern durch seine Augäpfel zog.

»Kleiner Knirps, wir befinden uns durchaus nicht gut. Laß uns nach Hause gehen. Wenn nur Torp jetzt wieder zurück wäre!«

Aber Torpenhow befand sich im südlichen England, wo er in Gesellschaft von Nilghai Werfte inspizirte. Seine Briefe waren kurz und geheimnisvoll.

Dick hatte nie jemand gebeten, ihm bei seinen Freuden oder seinem Kummer beizustehen. Er überlegte in der Einsamkeit seines Ateliers, daß er fortan mit einem Schleier von grauer Gaze in einem Winkel sitzen müsse und alle Torpenhows auf der Welt ihn nicht retten könnten, wenn es sein Schicksal sei, zu erblinden.

»Ich kann ihn nicht von seinem Ausfluge abrufen, um bei mir zu sitzen und für mich zu sorgen. Ich muß die Sache allein durchmachen,« sagte er. Er lag auf dem Sopha, kaute au seinem Schnurrbarte und war neugierig, wie die Dunkelheit der Nacht ihm vorkommen würde. Dann stieg die Erinnerung an eine seltsame Scene im Sudan in ihm auf. Ein Soldat war von einem breiten arabischen Speere fast in zwei Stücke getrennt worden; im ersten Augenblick hatte der Mann gar keinen Schmerz gefühlt. Als er dann an sich herunterblickte, sah er, wie er sein ganzes Blut verlor. Die verblüffte Verwirrung auf seinem Gesichte war so überaus komisch gewesen, daß Dick und Torpenhow, noch keuchend und abgespannt nach einem Kampfe um ihr Leben, in lautes Gelächter ausbrachen, in welches der Mann einstimmen wollte, wie es schien, doch als er seine Lippen zu einem blöden Grinsen öffnete, trat der Todeskampf ein und er stürzte stöhnend zu ihren Füßen. Dick mußte wieder lachen, als er an jenes Entsetzen dachte. Es kam ihm genau wie sein eigener Fall vor. »Aber es ist mir etwas mehr Zeit bewilligt,« sagte er. Er ging im Zimmer auf und ab, zuerst ruhig, bald aber, von Furcht ergriffen, mit eiligen Schritten, Es war ihm, als ob ein schwarzer Schatten neben ihm schritt und ihn antrieb, weiter zu gehen, während vor seinen Augen nur drehende Kreise und spitze Punkte sich hin und her bewegten. »Wir müssen ruhig sein, Binkie, wir müssen ruhig sein.« Er sprach ganz laut, um sich zu zerstreuen. »Dies ist durchaus nicht besonders hübsch. Was sollen wir anfangen? Wir müssen irgend etwas thun. Unsere Zeit ist kurz. Ich hätte das heute morgen nicht gedacht, aber jetzt liegen die Dinge anders. Binkie, wo war Moses, als das Licht erlosch?«

Binkie lächelte von einem Ohr zum andern, wie ein wohl erzogener Teckel, erhob indes keinen Einwand.

»Wenn noch Raum und Zeit genug vorhanden wäre, Binkie, so würde diese Scheu kein Verbrechen sein … Aber hinter mir höre ich stets –« Er wischte sich die Stirn ab, die ganz feucht geworden. »Was soll ich thun? Was soll ich thun? Ich habe keinen Begriff mehr und kann nicht zusammenhängend denken, doch muß ich irgend etwas thun, oder ich verliere den Verstand.«

Dick begann wieder rasch hin und her zu wandern, dann hielt er von Zeit zu Zeit an und zog lange vergessene Bilder und alte Notizbücher hervor; denn instinktmäßig hatte er sich seiner Arbeit zugewendet als einer Sache, die nicht versagen konnte. »Das wird es nicht thun, und das auch nicht,« sagte er bei der Betrachtung eines jeden Bildes. »Keine Soldaten mehr, ich könnte sie jetzt nicht malen. Ein plötzlicher Tod trifft zu rasch, und dies ist Kampf und Mord zugleich für mich.«

Der Tag sank. Dick glaubte einen Augenblick, daß die Dämmerung des Blinden ihn unverhofft überfallen habe. »Allmächtiger Allah!« schrie er verzweiflungsvoll, »hilf mir über die Zeit des Wartens hinweg, und ich werde nicht jammern, wenn meine Strafe über mich kommt. Was kann ich jetzt thun, bevor das Licht erlischt?«

Er fand keine Antwort darauf. Dick wartete, bis er wieder einigermaßen Fassung erlangt hatte. Seine Hände zitterten, während er sich mit ihrer Festigkeit gebrüstet, er fühlte, wie seine Lippen bebten und der Schweiß über sein Gesicht herunterfloß. Er wurde von der Furcht gegeißelt und dabei von dem Verlangen vorwärts getrieben, sogleich irgend eine Arbeit zu unternehmen und zu vollenden, während er fast wahnsinnig wurde, daß sein Gehirn sich weigerte, etwas anderes zu thun, als fortwährend den Gedanken zu wiederholen, daß er erblinden müsse. »Es ist ein erniedrigender Zustand,« dachte er; »ich bin froh, daß Torp nicht hier ist, um ihn mit anzusehen. Der Doktor sagte, ich müßte jede geistige Aufregung vermeiden. Komm her, Binkie, und laß dich von mir hätscheln.«

Der kleine Hund bellte, weil Dick ihm beinah‘ die Haut zerquetschte. Darauf horte er, wie der Mann in der Dämmerung mit sich selbst sprach, und begriff als ein kluger Hund, daß diese Erregung ihn nicht betreffe.

»Allah ist gut, Binkie. Nicht ganz so gütig, wie wir es wohl wünschten, doch wollen wir später darüber reden. Ich denke, ich sehe jetzt, was ich zu thun habe. Alle diese Studien von Bessies Kopf waren Unsinn und brachten deinen Herrn fast in die Klemme. Ich habe die Idee jetzt so klar wie Kristall vor mir, – die Melancholie, die alle Vernunft übertrifft. In dein Kopfe soll Maisie erscheinen, weil ich niemals Maisie gewinnen werde; und natürlich auch Bessie, weil sie alles weiß, was Melancholie sagen will, obschon sie sich dessen nicht bewußt ist; auch etwas Anziehendes soll darin liegen und alles soll mit einem Lachen endigen. Das ist für mich selbst. Soll sie kichern oder grinsen? Nein, sie soll auf der Leinwand gerade herauslachen, und jeder, Mann wie Weib, der jemals Sorgen und Kummer hatte, soll – wie heißt es doch in dem Gedichte?

Versteht die Rede, und als Bruder fühlt
Euch eins in jedem unheilvollen Streit.

In jedem unglücklichen Kampfe? Das ist bester, als die Melancholie zu malen, nur um Maisie zu kränken. Ich kann es nicht, weil es nicht in mir liegt. Binkie, ich will dich jetzt beim Schwanze aufheben. Du bist ein Omen für mich. Komm her.«

Binkie hing stumm eine Minute lang mit dem Kopfe nach unten.

»Als wenn man ein Meerschweinchen in die Höhe hielte; aber du bist ein braver kleiner Hund und bellst nicht, wenn man dich hoch hebt. Es ist ein Omen.«

Binkie ging auf seinen Stuhl und sah, so oft er aufblickte, wie Dick auf und ab ging, sich die Hände rieb und kicherte. An jenem Abende schrieb Dick an Maisie einen Brief voll der zärtlichsten Besorgnis für ihre Gesundheit, während er nur sehr wenig über seine eigene sagte, und träumte dann von seiner zu schaffenden Melancholie. Erst gegen Morgen entsann er sich, daß ihm in der Zukunft ein Unglück zustoßen würde.

Er begann, leise pfeifend, zu arbeiten und versank ganz in die reine, ungetrübte Freude des Schaffens, die nicht zu häufig einem Menschen zu teil wird, damit er sich nicht seinem Gotte gleich dünkt und deshalb zu der ihm bestimmten Zeit nicht sterben will. Er vergaß Maisie, Torpenhow und den zu seinen Füßen liegenden Binkie, aber dachte daran, Bessie, die nur geringer Aufreizung bedurfte, zu fürchterlicher Wut anzureizen,, um die aufsprühenden Lichter in ihren Augen zu beachten. Ohne Rückhalt vertiefte er sich in seine Arbeit und dachte gar nicht an das Schicksal, das ihm bevorstand, denn er war ganz eingenommen von seinem Sujet, so daß die Dinge dieser Welt keine Gewalt über ihn besaßen.

»Sie sind heute lustig,« bemerkte Bessie.

Dick schwenkte seinen Malstock in geheimnisvollen Kreisen und ging nach dem Buffet, um etwas zu trinken. Gegen Abend, als die Aufregung des Tages sich gelegt, trat er wieder ans Buffet und gelangte nach einigen Besuchen desselben zu der Ueberzeugung, daß der Augenarzt ein Lügner sei, da er jeden Gegenstand sehr deutlich sehen konnte. Er war der Ansicht, daß er sogar ein Heim für Maisie schaffen könne und diese seine Frau werden sollte, ob sie wolle oder nicht. Diese Stimmung war am folgenden Morgen vorüber, doch das Buffet mit allem, was sich darauf befand, blieb zu seinem ferneren Gebrauche. Er setzte sich wieder an die Arbeit, und bald störten ihn seine Augen aufs neue durch Flecken, Striche und Punkte, bis er sich am Buffet Rats erholt und die Melancholie auf der Leinwand wie in seinem Geiste lieblicher als je erschien. Er empfand ein entzückendes Gefühl von Unverantwortlichkeit, wie diejenigen haben, die, während sie sich noch zwischen ihren Gefährten bewegen, wissen, daß das Todesurteil der Krankheit über sie ausgesprochen ist und ausgelassen fröhlich sind, da Furcht nur Vergeudung der kurzen Zeit wäre, die ihnen geblieben.

Die nächsten Tage verstrichen ohne irgend ein Ereignis. Bessie traf stets pünktlich ein und obschon es Dick so schien, als ob ihre Stimme ans einer ziemlichen Entfernung ertöne; so war ihr Gesicht ihm doch stets nahe, so daß die Melancholie bald aus der Leinwand zu leuchten begann; sie sah einem Weibe ähnlich, das allen Kummer auf der Welt hatte kennen gelernt und doch darüber lachte. Es war richtig, daß die Ecken des Ateliers sich in graue Schleier hüllten und allmälich in Dunkelheit verschwanden, daß die Punkte vor den Augen und die Schmerzen im Kopfe immer störender wurden, und Maisies Briefe immer mühsamer gelesen und noch schwieriger beantwortet werden konnten. Er konnte ihr nichts von seinem Unglück erzählen und sie nicht auslachen wegen ihrer eigenen Melancholie, die stets nahe daran war, fertig zu werden. Aber die Tage eifrigster Arbeit sowie die Nächte voll wilder Träume boten für alles Ersatz, während das Buffet sein bester Freund auf Erden wurde. Bessie war merkwürdig still und trübe. Sie schrie gewöhnlich vor Wut laut auf, wenn Dick sie zwischen seinen halb geschlossenen Augen anstarrte. Dann war sie wieder verdrießlich und betrachtete ihn voll Abscheu, nur hin und wieder ein Wort sprechend.

Torpenhow war seit sechs Wochen fort. Ein unzusammenhängendes Billet hatte seine Rückkehr verkündet. »Neuigkeiten, große Neuigkeiten!« schrieb er. »Nilghai kennt sie, ebenso Keneu. Wir sind am Donnerstag alle wieder zurück. Halten Sie das Frühstück bereit und bringen Sie Ihre Ausrüstung in Ordnung.«

Dick zeigte Bessie den Brief, worauf sie ihn ausschimpfte, daß er Torpenhow fortgeschickt und ihr Leben ruinirt hätte.

»Nun,« sagte Dick barsch, »Sie sind doch so besser daran, als wie auf der Straße mit der ersten besten betrunkenen Bestie Liebschaft zu haben.« Er fühlte, daß er Torpenhow vor einer großen Versuchung bewahrt hatte.

»Ich weiß nicht, ob das etwa schlechter ist, als bei einer betrunkenen Bestie in einem Atelier zu sitzen. Sie sind seit drei Wochen nicht nüchtern gewesen. Sie haben die ganze Zeit hindurch getrunken, und dennoch behaupten Sie, daß Sie besser wären als ich!«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Dick.

»Sagen? Sie werden es sehen, wenn Torpenhow zurück ist.«

Sie brauchten nicht lange zu warten. Torpenhow traf Bessie auf der Treppe, ohne daß er das Geringste bei ihrem Anblicke empfand. Er brachte eine Neuigkeit mit, die ihm mehr galt als alle Bessies auf der Welt, während Keneu und Nilghai hinter ihm herstampften und laut nach Dick riefen.

»Er hat getrunken wie ein Fisch,« flüsterte Bessie.

»Er ist beinahe seit einem Monate damit im Gange.« Sie folgte verstohlen den Männern, um deren Urteil zu hören.

Sie traten voll Freude ins Atelier, um in überströmender Weise von einem verfallenen, verschrumpften, hageren Menschen empfangen zu werden, – der unrasirt war, mit blauweißen Flecken um die Nasenflügel, hängenden Schultern und nervös unter den Augenbrauen zwinkernd. Das Trinken war ebenso eifrig am Werke gewesen wie Dick.

»Sind Sie das?« rief Torpenhow aus.

»Alles, was von mir übrig geblieben ist. Setzt Euch hin. Binkie befindet sich ganz vortrefflich, und ich habe eine gute Arbeit gemacht.« Er schwankte auf seinen Platz.

»Sie haben das Schlechteste gethan, was Sie jemals in Ihrem Leben ausgeführt, Menschenkind, Sie sind –«

Torpenhow wandte sich appellirend seinen Begleitern zu, worauf diese das Zimmer verließen, um sich wo anders um ein Frühstück umzusehen. Dann fing er zu sprechen an; doch da Vorwürfe eines Freundes eine viel zu heilige und intime Sache sind, um gedruckt zu werden, und Torpenhow Bilder und Metaphern gebrauchte, die unziemlich und unübersetzbar sind. so wird es niemals bekannt werden, was er wirklich zu Dick sagte, der blinzelte, winkte und in seine Hände schlug. Nach einiger Zeit fing der Schuldige an, die Notwendigkeit einzusehen, etwas Selbstachtung zu fühlen. Er war überzeugt, daß er in keiner Weise vom Pfade der Tugend abgewichen sei und außerdem Gründe vorhanden wären, von denen Torpenhow nichts wußte. Er wollte die Sache erklären.

Er stand auf, versuchte seine Schultern aufrecht zu halten, und sprach zu dem Mann, dessen Gesicht er kaum sehen konnte.

»Sie haben recht,« sagte er, »ich aber gleichfalls. Nachdem Sie fortgegangen, bekam ich mit meinen Augen zu schaffen. Ich ging deshalb zu einem Augenarzte, der eine Gasmaschine in mein Auge leuchten ließ. Das wäre schon von langer Zeit her. Er sagte: ›Narbe auf dem Kopfe – Säbelhieb und Sehnerv.‹ Merken Sie sich das wohl. Ich werde also erblinden. Ich muß eine Arbeit ausführen, bevor ich blind werde; ich kann jetzt nicht viel sehen, aber ich sehe noch vortrefflich, wenn ich betrunken bin. Ich wußte gar nicht, daß ich betrunken war, bis man mir es sagte, aber ich mußte an meinem Bilde weiter arbeiten. Wenn Sie es sehen wollen, dort ist es.«

Er deutete auf die fast vollendete Melancholie und erwartete den Beifall Torpenhows.

Dieser sagte nichts, so daß Dick leise zu wimmern begann aus Freude, Torpenhow wiederzusehen, aus Schmerz über schlechte Arbeit, – wenn es in der That eine schlechte Arbeit wäre, die Torpenhow zurückhaltend und teilnahmslos machte – und aus verletzter kindischer Eitelkeit, weil Torpenhow kein Wort des Lobes für sein wundervolles Bild hatte.

Bessie blickte nach längerer Zeit durch das Schlüsselloch und sah die beiden, wie gewöhnlich, auf und ab gehen, Torpenhows Hand auf Dicks Schulter. Bei diesem Anblicke sagte sie etwas so Unpassendes, daß es sogar Binkie verletzte, der geduldig auf dem Flur wartete in der Hoffnung, seinen Herrn wieder zu sehen.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Es war am dritten Tage nach Torpenhows Rückkehr, Das Herz war ihm schwer.

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie ohne Whisky nicht mehr bei der Arbeit sehen können? Gewöhnlich ist das Gegenteil der Fall.«

»Kann ein Trinker bei seiner Ehre schwören?« fragte Dick.

»Ja, wenn er ein so tüchtiger Mann gewesen ist wie Sie.«

»Dann gebe ich Ihnen mein Ehrenwort,« sagte Dick, rasch seine ausgetrockneten Lippen bewegend. »Alter Herr, ich kann jetzt kaum Ihr Gesicht sehen, Sie haben mich während zwei Tagen nüchtern gehalten, – wenn ich überhaupt je betrunken war, – und ich habe nichts arbeiten können. Halten Sie mich nicht länger zurück, denn ich weiß nicht, wann meine Augen erlöschen. Die Flecken und Punkte sowie die Schmerzen quälen mich ärger als je. Ich schwöre Ihnen zu, daß ich alles ganz vortrefflich sehen kann, wenn ich – wenn ich mäßig aufgewunden bin, wie Sie es nennen. Geben Sie mir noch drei Sitzungen mit Bessie, sowie allen Stoff, dessen ich bedarf, und das Bild wird fertig sein. Ich kann mich nicht in drei Tagen töten; es bedeutet nur einen Anfall von D. T. (Delirium tremens) schlimmsten Falles.«

»Wenn ich Ihnen drei Tage gestatte, wollen Sie mir dann versprechen, mit jeder Arbeit aufzuhören und dem andern Dinge, ob das Bild nun fertig ist oder nicht?«

»Ich kann es nicht. Sie wissen gar nicht, welche Bedeutung dieses Bild für mich hat. Aber natürlich könnten Sie Nilghai zu Ihrem Beistande nehmen, mich zu Boden schlagen und festbinden. Ich würde gewiß nicht wegen des Whisky kämpfen, wohl aber für meine Arbeit.«

»Nun, dann machen Sie weiter. Ich gebe Ihnen drei Tage, aber Sie brechen mir fast das Herz.«

Dick kehrte zu seiner Arbeit zurück, wie ein Besessener sich abmühend; der gelbe Teufel des Whisky stand neben ihm und verjagte die Punkte vor seinen Augen. Die Melancholie war fast vollendet und alles, oder doch beinah‘ alles geworden, was er gehofft hatte. Dick scherzte mit Bessie, die ihn daran erinnerte, daß er »eine betrunkene Bestie« wäre; aber der Vorwurf berührte ihn gar nicht.

»Sie können das nicht begreifen, Beß. Wir sind nun in Sicht von Land und werden bald still liegen und über das nachdenken, was wir gemacht haben. Wenn das Bild fertig ist, will ich Ihnen die Bezahlung für drei Monate geben, und nächstens, wenn ich wieder eine Arbeit vorhabe – aber das gehört nicht hieher. Wird das Geld für drei Monate Sie bewegen, mich weniger zu hassen?«

»Nein, das wird es nicht! Ich hasse Sie und werde Sie stets hassen, Mr, Torpenhow wird nie mehr mit mir sprechen. Er ist immer beschäftigt, Karten und rot eingebundene Bücher durchzusehen.«

Bessie sagte nicht, daß sie Torpenhow von neuem in Belagerungszustand versetzt hatte, noch daß er, am Schlusse ihrer leidenschaftlichen Bitten, sie aufgehoben, ihr einen Kuß gegeben und sie vor die Thür gesetzt hatte, mit dem Bemerken, sie möchte doch nicht eine kleine Närrin sein. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in der Gesellschaft von Nilghai in Gesprächen über den in nächster Zeit stattfindenden Krieg, das Mieten von Transportschiffen und heimliche Vorbereitungen auf den Werften. Er wollte Dick nicht eher sehen, als bis das Bild vollendet sei.

»Er macht eine Arbeit ersten Ranges,« sagte er zu Nilghai; »dieselbe liegt gänzlich außerhalb seines bisherigen Genres. Aber ihretwegen allein trinkt er so infernalisch.«

»Thut nichts. Lassen Sie ihn mir allein. Wenn er wieder zur Vernunft gekommen ist, wollen wir ihn von hier fortbringen und ihn frische Luft einatmen lassen. Armer Dick! Ich beneide Sie nicht, Torp, wenn seine Augen erloschen sind.«

»Ja, es wird ein Fall sein von ›Gott helfe dem Manne, der an unsern Davie angekettet ist.‹ Das Schlimmste ist, daß wir nicht wissen, wann es geschehen wird; ich glaube, daß diese Ungewißheit, sowie die Erwartung mehr als alles übrige den armen Dick zum Whiskytrinken gebracht haben.«

»Wie würde der Araber grinsen, der ihm den Kopf eingeschlagen, wenn er das wüßte!«

»Er hat vollkommen Freiheit, zu grinsen, wenn er kann; er ist tot. Das ist jetzt ein armseliger Trost.«

Am Nachmittage des dritten Tages hörte Torpenhow, wie Dick nach ihm rief. »Alles fertig!« sagte er. »Ich habe es zu stande gebracht! Kommen Sie herein! Ist sie nicht eine Schönheit? Ist sie nicht lieb? Ich bin in die Hölle hinunter gestiegen, um sie zu erlangen; aber ist sie es nicht wert?«

Torpenhow erblickte den Kopf einer Frau, die lachte, einer Frau mit üppigen Lippen, hohläugig, die aus der Leinwand hervorlachte, wie Dick es beabsichtigt hatte.

»Wer lehrte Sie das zu malen?« rief Torpenhow aus. »Der Pinselstrich und das Sujet haben nichts zu schaffen mit Ihren bisherigen Arbeiten. Was für ein Gesicht das ist! Welche Augen und welche Unverschämtheit!« Unwillkürlich bog er seinen Kopf zurück und lachte der Frau zu. »Sie hat eingesehen, daß das Spiel vorbei ist, – ich glaube nicht, daß sie gute Zeiten davon gehabt hat, und jetzt macht sie sich nichts mehr daraus. Ist das nicht Ihre Idee?«

»Genau so.«

»Woher nahmen Sie den Mund und das Kinn? Dieselben gehören nicht Bessie.«

»Sie sind – von irgend jemand anderem. Aber ist es nicht gut? Ist es nicht verteufelt gut? War es nicht all des Whiskys wert? Ich habe es gemalt, ich ganz allein; es ist das Beste, was ich malen kann!« Er holte tief Atem und flüsterte: »Gerechter Gott! Was könnte ich nicht in zehn Jahren leisten, wenn ich das jetzt malen kann! Beiläufig, was halten Sie davon, Beß?«

Das Mädchen biß sich auf die Lippen. Sie war wütend auf Torpenhow, weil er gar keine Notiz von ihr genommen hatte.

»Ich denke, es ist gerade das abschreckendste, scheußlichste Ding, das ich jemals gesehen,« antwortete sie und wandte sich ab.

»Mehr, als Sie glauben, junges Weib. – Dick, es liegt in der Haltung des Kopfes eine Art von mörderischem, eigenartigem Ausdruck, den ich nicht verstehe,« sagte Torpenhow.

»Das ist ein Kunstgriff,« erwiderte Dick, kichernd vor Freude, daß er so vollständig verstanden worden. »Ich konnte einer kleinen Prahlerei nicht widerstehen. Es ist ein französischer Kunstgriff, den Sie nicht verstehen würden; aber man bringt ihn hervor, indem man rund um den Kopf eine Kleinigkeit drapirt und eine ganz geringe Verkürzung an einer Seite des Gesichts macht, von der Ecke des Kinnes bis zur Spitze des linken Ohres. Das und die Vertiefung des Schattens unter dem Ohrläppchen bilden den ganzen Kniff. Es ist ein offenbarer Kunstgriff; nachdem ich indes einmal die ganze Idee fest in mir aufgenommen, hielt ich mich berechtigt ihn anzuwenden. – O, du Schönheit!«

»Amen! Sie ist eine Schönheit. Ich fühle es.«

»So wird jedermann fühlen, der irgendwie Kummer hat,« sagte Dick, sich auf den Schenkel schlagend.

»Er wird dort seine Sorge erblicken und, bei Lord Harry, gerade, wenn er sich besonders kummervoll fühlt, sein Haupt zurückwerfen und lachen – wie sie lacht. Ich habe das Leben meines Herzens und das Licht meiner Augen in sie hineingelegt und kümmere mich nicht um das, was kommen wird. Ich bin erschöpft, furchtbar erschöpft und will mich schlafen legen. Nehmen Sie den Whisky fort, er hat ausgedient, und geben Sie Bessie sechsunddreißig Sovereigns und drei dazu auf gutes Glück. Decken Sie das Bild zu.«

Er fiel sofort auf der Chaiselongue in Schlaf, beinahe bevor er ausgesprochen hatte; sein Gesicht war ganz weiß und verstört, Bessie versuchte, Torpenhows Hand zu erfassen. »Werden Sie nie wieder mit mir sprechen?« fragte sie; doch Torpenhow blickte nur auf Dick.

»Was für eine gewaltige Eitelkeit der Mann besitzt! Ich will mich morgen seiner annehmen und viel aus ihm machen. Er verordnet es. – Eh! Was war das, Bessie?«

»Nichts. Ich will die Sachen hier etwas aufräumen und dann gehen. Sie konnten mir wohl die Bezahlung für drei Monate nicht jetzt gleich geben, wie? Er sagte, Sie sollten es thun.«

Torpenhow gab ihr einen Check und ging in sein eigenes Zimmer. Bessie räumte getreulich das Atelier auf, öffnete die Thür halb, um leichter entfliehen zu können, goß eine halbe Flasche Terpentin auf einen Wischlappen und fing an, das Gesicht der Melancholie damit abzureiben. Die Farbe wurde nicht rasch genug flüssig; sie nahm daher ein Palettemesser und kratzte die Farbe ab, jedem Strich mit dem feuchten Wischlappen folgend. In fünf Minuten war das Bild ein formloser, zusammengekratzter Schlamm von Farben geworden. Darauf warf sie den mit Farbe beschmierten Wischlappen in den Herd, streckte gegen den Schläfer ihre Zunge aus und flüsterte: »Angeführt!« worauf sie die Treppe hinunterlief. Sie wollte Torpenhow niemals wieder sehen, aber sie hatte wenigstens dem Manne Schaden zugefügt, der zwischen sie und ihr Verlangen getreten war und gewöhnlich seinen Scherz mit ihr getrieben hatte. Das Einkassiren des Checks war der Gipfelpunkt des Spasses für Bessie. Darauf segelte der kleine Freibeuter über die Themse und verschwand in der grauen Wildnis der Straßen südlich des Flusses.

Dick schlief bis spät in den Abend hinein, als Torpenhow ihn ins Bett schleppte. Seine Augen waren so klar, wie seine Stimme heiser klang. »Lassen Sie mich noch einmal das Bild ansehen,« sagte er bittend wie ein Kind.

»Sie gehen zu Bett,« entgegnete Torpenhow. »Sie befinden sich durchaus nicht wohl, obschon Sie es selbst kaum wissen mögen. Sie sind so herunter wie ein Kater.«

»Ich erhole mich schon bis morgen. Gute Nacht.«

Als er durch das Atelier zurückging, hob Torpenhow das Tuch über dem Bilde auf und hätte sich beinahe durch einen lauten Aufschrei verraten. »Ausgewischt! ausgekratzt und mit Terpentin abgewaschen! Wenn Dick das heute nacht erführe, würde er vollständig verrückt werden. Er ist so wie so schon am Rande des Abgrundes. Das ist Bessie gewesen – der kleine Teufel! Nur ein Weib hätte das thun können! Noch dazu während die Tinte auf dem Check noch naß war! Dick wird morgen wahnsinnig vor Wut sein. Ich allein bin daran schuld, weil ich versucht habe, Straßendirnen beizustehen. O, mein armer Dick, Gott schlägt Dich wirklich schwer!«

Dick konnte in jener Nacht nicht schlafen, teils aus reiner Freude und teils weil die ihm wohlbekannten Feuerräder in seinen Augen vielfarbigen berstenden Vulkanen Platz gemacht hatten. »Speit nur zu!« sagte er laut. »Ich habe mein Werk vollbracht, ihr könnt jetzt thun, was euch beliebt.« Er lag still, starrte auf die Zimmerdecke, während das lange zurückgehaltene Delirium des Trinkens in seinen Adern glühte, sein Gehirn in Flammen stand mit sich jagenden Gedanken und seine ausgetrockneten Hände sich ballten. Es kam ihm gerade so vor, als ob er das Gesicht der Melancholie aus einer sich drehenden Kuppel malte, die mit Millionen von Lichtern besät war, und alle diese wunderbaren Gedanken verkörpert viele hundert Fuß unterhalb seines schwachen schwankenden Brettes ständen, ihm zu Ehren einander zurufend, als etwas im Innern seiner Schläfe zerbarst, wie eine zu sehr angestrengte Sehne, während die glänzende Kuppel zusammenstürzte und er sich allein in dichter Finsternis befand.

»Ich will versuchen zu schlafen. Das Zimmer ist ganz dunkel. Wir wollen eine Lampe anzünden und sehen, wie die Melancholie aussieht. Es muß Mondschein sein.«

Darauf hörte Torpenhow, wie eine Stimme, die er in den polternden Tönen der Todesangst nicht erkannte, seinen Namen rief.

»Er sieht das Bild an,« war sein erster Gedanke, als er in das Schlafzimmer eilte, wo er Dick aufrecht sitzend und in der Luft mit den Händen umherschlagend fand.

»Torp! Torp! Wo sind Sie? Aus Mitleid, bitte, kommen Sie zu mir!«

»Was gibt es?«

Dick klammerte sich an seine Schulter an. »Was es gibt! Ich habe hier stundenlang im Finstern gelegen und Sie hörten mich nicht. Torp, alter Freund, gehen Sie nicht fort. Ich befinde mich ganz im dunkeln – im dunkeln sage ich Ihnen!«

Torpenhow hielt die Kerze einen Fuß von Dicks Augen, doch in diesen war kein Licht vorhanden. Er zündete das Gas an, und Dick hörte die Flamme knistern. Der Griff seiner Finger auf Torpenhows Schulter ließ diesen zusammenzucken.

»Verlassen Sie mich nicht. Sie wollen mich jetzt nicht allein lassen, nicht wahr? Ich kann nichts sehen. Verstehen Sie wohl? Es ist alles schwarz – ganz schwarz – und ich habe ein Gefühl, als ob ich tief hinunter fiele.«

»Standhaft, Freund!« Torpenhow legte seinen Arm um Dick und begann ihn sanft hin und her zu schaukeln.

»Das thut gut. Sprechen Sie jetzt nicht. Wenn ich mich eine Zeit lang ganz ruhig verhalte, wird die Dunkelheit aufhören. Es scheint gerade so, als ob sie dazu im Begriff wäre. Still!« Dick runzelte die Augenbrauen und starrte verzweiflungsvoll vor sich hin. Die Nachtluft erstarrte Torpenhows Füße.

»Können Sie eine Minute so bleiben?« fragte er. »Ich will meinen Hausrock und ein paar Pantoffeln anziehen.«

Dick umklammerte das Kopfende des Bettes mit beiden Händen und wartete, daß die Dunkelheit verschwinden würde. »Wie lange Sie fort gewesen sind!« schrie er, als Torpenhow zurückkehrte. »Es ist noch so schwarz wie vorhin. Womit stoßen Sie denn gegen die Thür?«

»Eine Chaiselongue, – eine Pferdedecke, – ein Kissen. Ich will bei Ihnen schlafen. Legen Sie sich jetzt nieder; am Morgen wird Ihnen besser sein.«

»Nein, das werde ich nicht!« Die Stimme erhob sich zu einem Jammern. »Mein Gott! Ich bin blind! Ich bin blind, und die Finsternis wird niemals aufhören!«

Er that so, als ob er aus dem Bett springen wollte, doch Torpenhow legte seine Arme um ihn, während sein Kinn auf Dicks Schulter ruhte, der nur das Wort »blind« keuchen und sich schwach hin und her bewegen konnte.

»Standhaft, Dickie, standhaft!« sagte die tiefe Stimme ihm ins Ohr, wahrend Torp ihn fester umfaßte. »Beißen Sie auf die Kugel, alter Freund, und lassen Sie die Leute nicht denken, daß Sie sich fürchten.« Dabei mußte er ihn immer fester fassen, so daß beide Männer schwer atmeten. Dick warf seinen Kopf von einer Seite zur andern und stöhnte.

»Lassen Sie mich los,« keuchte er. »Sie drücken nur die Rippen ein. Wir – wir müssen sie nicht glauben lassen, daß wir uns fürchten, – müssen wir – die ganze Macht der Finsternis und dieses Schicksal?«

»Legen Sie sich nieder. Es ist jetzt alles vorüber.«

»Ja,« sagte Dick gehorsam »Doch würden Sie mir wohl erlauben, Ihre Hand festzuhalten? Ich habe das Gefühl, als ob ich mich an irgend etwas festhalten müßte. Man fällt so tief durch die Finsternis.«

Torpenhow reichte ihm von der Chaiselongue aus seine Hand hinüber, die Dick fest umklammerte und nach einer halben Stunde einschlief. Torpenhow zog seine Hand zurück, beugte sich über Dick und küßte ihn sanft auf die Stirn, wie Männer wohl mitunter emen verwundeten Kameraden in seiner Todesstunde küssen, um ihm das Scheiden zu erleichtern. In der grauen Morgendämmerung hörte Torpenhow, wie Dick mit sich selbst sprach. Er trieb auf den uferlosen Fluten des Deliriums und sprach sehr schnell.

»Es ist ein Jammer – ein großer Jammer; aber es ist nicht zu ändern und muß gegessen werden, Master George. Die Blindheit allein genügt schon hinreichend, deshalb ist es offenbar notwendig, alle Melancholie und verkehrten Ansichten beiseite zu lassen, wie zum Beispiel die war, daß die Königin nicht unrecht thun könne. Torp weiß das nicht; ich werde es ihm erzählen, wenn wir etwas weiter in die Wüste gelangt sind. Was für eine Pfuscherei machen diese Bootsleute mit den Dampfertauen! In einer Minute werden sie eine vierzöllige Trosse durchgerieben haben. Ich sagte es Ihnen ja – da geht er hin! Weißer Schaum auf grünem Wasser, während der Dampfer herum wendet. Wie gut das aussieht! Ich will ihn zeichnen. Nein, ich kann nicht. Ich leide an einer Augenentzündung. Das war eine von den zehn Plagen Aegyptens und erstreckt sich sogar auf den Nil in Gestalt von Katarakten. Ja, das ist ein Spaß, Torp! Lache doch, Du feierliches Gesicht, und halte Dich klar von der Trosse … Sie wird Dich ins Wasser schleudern und Deine Kleider schmutzig machen, teure Maisie.«

»O!« sagte Torpenhow. »Das ereignete sich früher, in jener Nacht auf dem Strome.«

»Sie wird gewiß sagen, es sei meine Schuld, wenn Du voll Schlamm wirst, und Du bist nun nahe genug bei dem Wellenbrecher. Maisie, das ist nicht schön. Ah! Ich wußte ja. Du würdest vorbeischießen. Niedrig und nach links halten, Liebling. Aber Du hast keine Ueberzeugung, alles auf der Welt, nur keine Ueberzeugung. Werde doch nicht ärgerlich, Teuerste. Ich würde mir die Hand abhacken, wenn das Dir etwas anderes als diesen Eigensinn geben könnte. Meine rechte Hand, wenn es nützen würde.«

»Jetzt dürfen wir nicht horchen. Hier ist eine Insel, über Meere von Mißverständnissen nach Rache rufend. Aber sie ruft die Wahrheit, denke ich,« sagte Torpenhow. Das Schwatzen wurde fortgesetzt. Es bezog sich alles auf Maisie. Mitunter sprach Dick weitläufig über seine Kunst, dann verfluchte er sich selbst wegen seiner Thorheit, ein solcher Sklave zu sein. Er bat Maisie um einen Kuß – nur einen einzigen Kuß – bevor sie fortginge, und forderte sie auf, von Vitry-sur-Marne zurückzukehren; doch zwischen all seiner Raserei rief er Himmel und Erde zum Zeugen an, daß die Königin nicht unrecht thun könne.

Torpenhow hörte aufmerksam zu und erfuhr jede Einzelheit aus Dicks Leben, die ihm bisher verborgen geblieben. Drei Tage lang phantasirte Dick in dieser Weise über Vorgänge in seinem Leben, dann fiel er in einen natürlichen Schlaf.

»Was für Aufregungen hat der arme Kerl durchgemacht!« sagte Torpenhow. »Dick, von allen Männern sich wie ein Hund hingebend, wahrend ich ihn wegen Anmaßung heruntermachte! Ich hätte wissen müssen, daß es nichts nützt, einen Mann zu verurteilen. Doch ich that es. Was für ein Dämon muß dieses Mädchen sein! Dick hat ihr sein Leben gegeben – hol sie der Henker! – und sie hat ihm augenscheinlich nur einen Kuß gegeben.«

»Torp,« sagte Dick vom Bett aus, »gehen Sie aus und machen Sie einen Spaziergang, Sie sind hier zu lange gewesen. Ich will aufstehen. Ha! ist das verdrießlich; ich kann mich nicht selbst ankleiden. O, es ist zu albern!«

Torpenhow half ihm in die Kleider und führte ihn zu dem großen Sessel im Atelier. Er saß ruhig da und wartete mit angespannten Nerven, daß die Finsternis weichen möchte. Weder an jenem Tage noch in den nächsten wich dieselbe. Dick wagte einen Rundgang längs den Wänden. Er stieß seine Schienbeine gegen den Ofen, was ihn auf die Idee brachte, auf allen Vieren zu kriechen und eine Hand vor sich auszustrecken. Torpenhow fand ihn so auf dem Fußboden.

»Ich versuche, die Geographie meiner neuen Besitzungen kennen zu lernen,« sagte Dick. »Erinnern Sie sich des Negers, dem Sie in dem Carré das Auge ausdrückten? Schade, daß Sie das Auge nicht behalten haben; es würde nun von Nutzen sein. Sind Briefe für mich da? Geben Sie mir alle in dicken grauen Couverts mit einer Art von Krone auf der Außenseite. Sie sind nicht wichtig.«

Torpenhow gab ihm einen Brief mit einem schwarzen »M« auf dem Umschlage. Dick steckte denselben in die Tasche. Es stand nichts in dem Briefe, was Torvenhow nicht hätte lesen können, doch er gehörte ihm und Maisie, die ihm niemals gehören würde.

»Wenn sie sieht, daß ich nicht schreibe, so wird sie aufhören, mir zu schreiben. Es ist besser so. Ich kann ihr jetzt von gar keinem Nutzen sein,« dachte Dick, wahrend er die Versuchung fühlte, sie seinen Zustand wissen zu lassen. Jeder Nerv in ihm widersetzte sich. »Ich bin bereits tief genug gefallen und will nicht um Mitleid betteln. Außerdem würde es grausam gegen sie sein.«

Er bemühte sich, nicht mehr an Maisie zu denken; aber die Blinden haben vielfache Gelegenheiten, nachzudenken, und als in den langen unthätigen Tagen seine Kraft zurückkehrte, wurde Dicks Seele bis ins Innerste erregt. Ein zweiter und ein dritter Brief von Maisie trafen ein; dann folgte Schweigen, und Dick saß am Fenster, zu dem die warme Sommerluft hereindrang, und malte sich aus, wie ein anderer Mann, kräftiger als er, sie gewann. Seine Phantasie, um so kühner je finsterer der Hintergrund war, gegen den sie ankämpfte, ersparte ihm kein einziges Detail, das ihn rasend im Atelier auf und ab jagte, sich an dem Ofen stoßend, der an vier Stellen zugleich sich zu befinden schien. Das Schlimmste von allem war, daß ihm in der Dunkelheit der Tabak nicht schmeckte. Die Anmaßung des Mannes war verschwunden; an ihre Stelle war die Verzweiflung getreten, die Torpenhow kannte, und blinde Leidenschaft, die Dick in der Nacht seinem Kopfkissen anvertraute. Die Pausen zwischen den Ausbrüchen wurden ausgefüllt durch unerträgliches Warten und die Last unerträglicher Finsternis.

»Kommen Sie hinaus in den Park,« sagte Torpenhow. »Sie sind nicht draußen gewesen, seitdem die Geschichte angefangen hat.«

»Was hat das für einen Zweck? Im Dunkeln gibt es keine Bewegung; und außerdem –« er zögerte unentschlossen oben auf der Treppe, »wird irgend etwas mich umrennen.«

»Nicht, wenn ich bei Ihnen bin. Nur mutig vorwärts.« Der Lärm in den Straßen verursachte Dick nervösen Schrecken, so daß er sich fest an Torpenhows Arm anklammerte. »Es ist, als ob man mit dem Fuße nach einer Gosse fühlen müßte!« sagte er verdrießlich, als er in den Park eintrat. »Lassen Sie uns Gott verfluchen und sterben.«

»Den Schildwachen ist es verboten, unberechtigte Honneurs zu machen. Dort kommen die Garden!«

Dicks Gesicht wurde straff. »Lassen Sie uns näher heran gehen und sie betrachten. Gehen wir auf dem Grase vorwärts, ich kann die Bäume riechen.«

»Nehmen Sie sich vor der niedrigen Einfassung in acht. So ist es gut!« Torpenhow riß ein Büschel Gras aus und sagte: »Riechen Sie daran; ist es nicht gut?« Dick sog begierig den Duft ein. »Jetzt heben Sie Ihre Füße auf und laufen Sie.«

Sie näherten sich dem Regimente soweit es möglich war. Dicks Nasenflügel zitterten beim Klirren der Bajonette, die nicht aufgesteckt waren.

»Lassen Sie uns noch näher herangehen. Sie sind in Kolonne, nicht wahr?«

»Ja. Wie wissen Sie das?«

»Ich fühle es. O, meine Burschen! – meine schönen Burschen!« Er drängte vorwärts, als ob er sehen könne. »Ich könnte diese Leute sofort zeichnen. Wer wird sie jetzt zeichnen?«

»Sie werden in einer Minute abmarschiren. Erschrecken Sie nicht, wenn die Musik beginnt.«

»Ha! Ich bin kein Neuling. Nur das Stillschweigen verwundert mich. Näher, Torp, näher! O, mein Gott, was gäbe ich darum, sie noch einen Augenblick sehen zu können! Nur eine halbe Minute!«

Er konnte die bewaffnete Truppe fast in seinem Bereiche hören, konnte hören, wie der Paukenschläger den Tragriemen über seine Brust warf, als er die große Trommel vom Boden aufnahm.

»Er hat die Trommelstücke über seinem Kopfe gekreuzt,« flüsterte Torpenhow.

»Ich weiß, o, ich weiß! Wer sollte das besser wissen als wie ich! Still!«

Die Trommelstöcke fielen mit einem Bum! Bum! herunter, worauf die Mannschaft nach den Klängen der Musik vorwärts marschirte. Dick fühlte den Luftzug der sich bewegenden Masse in seinem Gesichte, hörte die Fußtritte und das Geräusch der sich an den Gürteln reibenden Brotbeutel. Die große Trommel markirte den Takt. Es war ein bekanntes Konzertstück, das einen ausgezeichneten Marsch im Geschwindschritt abgab.

Ein Mann muß er sein, stolz, stattlich und hoch.
        Ein Mann, mit Gewicht bedacht.
Muß sein bei klarem Verstande noch.
        Kommt Samstag er heim bei Nacht;
Er muß verstehn, mich zu lieben,
        Und er muß zu küssen verstehn;
Und wenn er genug für uns beide hat,
        Soll glücklich er sich sehn.

»Was gibt es?« fragte Torpenhow, als er sah,, wie Dick sein Haupt sinken ließ, nachdem der letzte Mann des Regiments abmarschirt war.

»Nichts. Ich fühle mich ein wenig ermattet von dem Laufen; das ist alles. Torp, bringen Sie mich zurück. Weshalb führten Sie mich hierher?«

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Nilghai war ärgerlich über Torpenhow. Dick war ins Bett geschickt worden – blinde Leute stehen immer unter den Befehlen von denjenigen, die sehen können – und hatte seit der Rückkehr aus dem Parke heftig über Torpenhow und die ganze Welt geflucht, weil er lebe und sehen könne, während er, Dick, im Tode des Blinden tot sei, der nur eine Last für seine Gefährten wäre. Torpenhow hatte etwas von einer Mrs. Gummidge gesagt, worauf Dick in größter Wut sich zurückgezogen, um drei uneröffnete Briefe von Maisie in den Händen hin und her zu drehen.

Nilghai, fett, dick und streitsüchtig, befand sich in Torpenhows Zimmern. Hinter ihm saß Keneu, der Große Kriegsadler, während zwischen ihnen eine große Karte lag, besteckt mit weiß- und schwarzköpfigen Nadeln.

»Ich hatte mich geirrt in Betreff des Balkans,« sagte Nilghai. »Aber in dieser Sache irre ich mich nicht. Unser ganzes Werk im südlichen Sudan muß noch einmal verrichtet werden. Das Publikum kümmert sich natürlich nicht darum, wohl aber die Regierung, die in aller Stille ihre Vorbereitungen trifft. Sie wissen das ebenso gut wie ich.«

»Ich entsinne mich, wie das Volk uns verwünschte, als unsere Truppen sich von Omdurman zurückzogen. Die Sache mußte früher oder später wieder aufgenommen werden. Ich kann aber nicht mitgehen,« sagte Torpenhow. Er deutete durch die offene Thür; es war sehr heiß an jenem Abende. »Können Sie mich deswegen tadeln?«

Keneu schnurrte, mit der Pfeife im Munde, wie ein großer, sich glücklich fühlender Kater.

»Ich tadle Sie nicht im mindesten. Es ist außerordentlich gütig von Ihnen, alles zusammengenommen, doch ein jeder – auch Sie, Torp – muß Rücksicht auf seine Arbeit nehmen. Ich weiß, daß es brutal klingt, doch Dick ist ausgeschlossen von der Rennbahn – herunter, erschöpft, es ist vorbei mit ihm für immer. Er besitzt etwas Geld und wird nicht verhungern; Sie können seinetwegen nicht Ihre Laufbahn aufgeben. Denken Sie an Ihren eigenen Ruf!«

»Dicks Ruf war fünfmal größer als der meinige und der Ihrige zusammengenommen.«

»Das kam davon, weil er seinen Namen unter jedes Ding setzte, das er gemacht. Jetzt ist das alles vorbei. Sie müssen sich bereit halten, fortzugehen. Sie können Ihre eigenen Preise stellen und liefern bessere Arbeit wie drei von uns.«

»Sie brauchen mir nicht zu erzählen, wie verlockend die Sache für mich ist. Ich werde eine Zeit lang hier bleiben und nach Dick sehen. Er ist so lustig wie ein Bär mit einem wunden Kopfe, aber ich glaube, er hat mich gern in seiner Nähe.«

Nilghai sagte etwas Unhöfliches über schwachköpfige Thoren, die ihre Laufbahn wegen anderer Thoren aufgeben. Torpenhow errötete ärgerlich. Die unausgesetzte Anstrengung bei der Pflege von Dick hatte seine Nerven gereizt.

»Es bleibt noch ein dritter Ausweg,« sagte Keneu nachdenklich. »Ziehen Sie denselben in Betracht und seien Sie kein größerer Thor, als es notwendig ist. Dick ist – oder war vielmehr – ein tüchtig gebauter Mann von mäßiger Anziehung und mit einer gewissen Kühnheit.«

»Oho!« bemerkte Nilghai, der sich an einen Vorfall in Kairo erinnerte. »Ich fange an zu sehen – Torp, es thut mir leid.«

Torpenhow nickte verzeihend. »Es that Ihnen noch mehr leid, als er Sie ausstach. Doch, fahren Sie fort, Keneu.«

»Ich habe oft gedacht, wenn ich Männer draußen in der Wüste sterben sah, daß, wenn die Nachrichten rascher verbreitet werden könnten und die Transportmittel schneller bei der Hand wären, sich mindestens eine Frau am Bette eines jeden Mannes befinden würde.«

»Da würde es manche höchst seltsame Offenbarungen geben. Lasset uns dankbar sein für die Dinge, wie sie sind,« bemerkte Nilghai. »Lasset uns lieber überlegen, ob Torpenhows unbeholfene Dienste genau das sind, was Dick gerade jetzt nötig hat. Wie denken Sie selbst darüber, Torp?«

»Ich weiß, daß sie es nicht sind. Aber was kann ich thun?«

»Die Sache uns als Gerichtshof vorlegen. Wir alle hier sind Dicks Freunde. Sie wissen am meisten aus seinem Leben.«

»Aber ich erfuhr es, als er nicht bei Besinnung war.«

»Um so mehr ist anzunehmen, daß es wahr ist. Ich glaubte, wir würden zum Ziele gelangen. Wer ist sie?«

Darauf berichtete Torpenhow als ein erfahrener Spezialkorrespondent in klaren Worten, was er wußte. Die beiden Männer hörten zu, ohne ihn zu unterbrechen.

»Ist es möglich, daß ein Mann nach Jahren wieder zu seiner Knabenliebe zurückkehren kann?« bemerkte Keneu. »Ist es wirklich möglich?«

»Ich berichte die Thatsachen. Er spricht jetzt gar nicht darüber, aber er sitzt da und zerdrückt drei Briefe von ihr in den Händen, wenn er denkt, daß ich nicht hinsehe. Was soll ich dabei thun?«

»Reden Sie mit ihm?« sagte Nilghai.

»O ja! An sie schreiben – ich weiß nicht einmal ihre genaue Adresse, bedenken Sie – und sie auffordern, ihn aus Mitleid bei sich aufzunehmen. Ich glaube, Nilghai, Sie sagten einmal zu Dick, er thäte Ihnen leid. Erinnern Sie sich noch, was da geschah, wie? Gehen Sie doch ins Schlafzimmer und schlagen Sie ihm ein volles Geständnis vor, sowie eine Berufung an diese Maisie, wer sie auch sein möge. Ich glaube ganz bestimmt, daß er versuchen würde, Sie zu töten; und die Blindheit hat ihn noch kräftiger gemacht.«

»Torpenhows Kurs liegt vollständig klar da,« sagte Keneu. »Er wird nach Vitry-sur-Marne gehen, das an der Bezières-Landes-Bahn liegt, einer einfachen Zweigbahn von Tourgus. Die Preußen schossen es 1870 in Brand, weil eine Pappel auf dem Gipfel eines Hügels stand, achtzehnhundert Ellen vom Kirchturm entfernt. Es liegt eine Eskadron Kavallerie dort in Garnison. Wo dieses Atelier sich befindet, von dem Torp gesprochen, kann ich nicht sagen; das ist Torps Sache. Ich habe ihm seinen Weg vorgezeichnet. Er wird dem Mädchen ohne alle Uebertreibung die Lage auseinandersetzen und dasselbe wird darauf zu Dick zurückkehren, um so mehr, da, um Dicks Worte zu gebrauchen, ›nichts als ihr verdammter Eigensinn sie von einander entfernt hält.‹«

»Dann haben sie zusammen auch vierhundertundzwanzig Pfund jährlich. Dick verlor – selbst nicht in seinem Delirium – nie den Kopf vor Gesichtern. Sie haben nicht die geringste Entschuldigung, nicht gehen zu können,« sagte Nilghai.

Torpenhow sah sehr unbehaglich aus. »Aber es ist thöricht und unmöglich. Ich kann sie doch nicht bei den Haaren zurückschleppen.«

»Unser Geschäft – das Geschäft, für welches wir unser Geld beziehen – ist ja, thörichte und unmögliche Dinge auszuführen, im allgemeinen ohne irgend einen andern Grund, als um das Publikum zu unterhalten. Hier haben wir einen Grund; das übrige thut nichts zur Sache. Ich will in dieser Wohnung mit Nilghai bleiben, bis Torpenhow zurückkehrt. Binnen kurzem wird eine ganze Schar von Spezialkorrespondenten aller Art nach London kommen, und dies hier kann als ihr Hauptquartier dienen. Ein zweiter Grund, Torpenhow fortzuschicken. Also, die Vorsehung hilft denen, die anderen helfen, und« – hier ließ Keneu seine Stimme sinken – »wir können nicht zugeben, daß Sie, wenn der Feldzug beginnt, mit einem Bein an Dick festgebunden sind. Es ist die einzige Möglichkeit für Sie, fortzukommen, und Dick wird Ihnen dankbar dafür sein.«

»Gewiß wird er das – um so schlimmer! Ich kann nur Hinreisen und es versuchen. Ich kann nicht begreifen, wie eine Frau bei gesundem Verstände Dick abweist.«

»Sprechen Sie darüber mit dem Mädchen. Ich habe gesehen, wie Sie ein böses Mahdiweib durch Schmeicheln dahin brachten, daß es Ihnen Datteln gab. Diese Sache hier wird nicht den zehnten Teil so schwierig sein. Es wäre besser, Sie würden morgen nachmittag nicht mehr hier sein, weil Nilghai und ich dann von diesen Zimmern Besitz ergreifen wollen. Es ist ein Befehl. Gehorchen Sie!«

»Dick,« sagte Torpenhow am folgenden Morgen, »kann ich irgend etwas für Sie thun?«

»Nein! Lassen Sie mich allein! Wie oft muß ich Sie daran erinnern, daß ich blind bin?«

»Könnte ich nirgends wohin gehen, um Ihnen etwas zu holen oder zu besorgen?«

»Nein. Ziehen Sie diese höllisch knarrenden Stiefel aus!«

»Armer Bursch!« sagte Torpenhow vor sich hin. »Wie sehr muß ich in letzter Zeit seine Nerven gereizt haben! Er bedarf eines leichteren Trittes.« Darauf fügte er laut hinzu: »Nun gut! Da Sie so unabhängig sind, will ich auf vier bis fünf Tage fortgehen. Sagen Sie mir doch wenigstens Adieu. Der Hausmeister wird nach Ihnen sehen und Keneu wohnt in meinen Zimmern.«

Dicks Gesicht verfinsterte sich. »Sie werden nicht länger als eine Woche fortbleiben? Ich weiß, daß ich in schlechter Stimmung mich befinde, doch ich kann ohne Sie nicht zurecht kommen.«

»Wirklich nicht? Sie werden binnen kurzem ohne mich fertig werden und froh sein, daß ich fortgegangen bin.«

Dick fühlte sich nach dem großen Armstuhle hin und wunderte sich, was diese Worte bedeuten könnten. Er wünschte nicht, von dem Hausmeister gepflegt zu werden, wahrend er Torpenhows ausdauernde Fürsorge noch in sich fühlte. Er wußte nicht genau, was ihm mangelte. Die Dunkelheit wollte nicht weichen und Maisies uneröffnete Briefe wurden von dem fortwährenden Hinundherwenden mürbe. So lange er lebte, würde er dieselben niemals lesen können; doch hätte ihm Maisie einige frische Briefe schicken können, um damit zu spielen. Nilghai trat mit einem Geschenk ein – einem Stück roten Modellirwachses. Er glaubte, Dick würde Interesse darin finden, seine Hände damit zu beschäftigen. Dick betastete und beklopfte den Stoff einige Minuten lang und sagte dann traurig: »Gleicht es irgend einem Dinge auf der Welt? Nehmen Sie es fort! Ich kann das feine Gefühl der Blinden vielleicht in fünfzig Jahren erlangen. Wissen Sie, wohin Torpenhow gegangen ist?«

Nilghai wußte nichts. »Wir bleiben in seinen Zimmern, bis er zurückkommt. Können wir irgend etwas für Sie thun?«

»Ich möchte am liebsten allein gelassen werden. Halten Sie mich nicht für undankbar, aber es ist mir am angenehmsten, wenn ich allein bin.«

Nilghai lächelte, während Dick sein träges Hinbrüten und seine plötzliche Auflehnung gegen das Schicksal wieder aufnahm. Seit längerer Zeit hatte er aufgehört, an die Arbeit zu denken, die er in früheren Tagen ausgeführt; auch der Wunsch, weiter zu schaffen, hatte ihn verlassen. Er war außerordentlich traurig über sein Los, während die Größe seines Herzenskummers dasselbe etwas milderte. Aber seine Seele wie sein Leib schrieen nach Maisie – Maisie, die ihn verstehen könne. Sein Verstand sagte ihm, daß Maisie, die ihre eigene Arbeit zu verrichten habe, sich nicht um ihn sorgen könne. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß, wenn die Geldmittel erschöpft waren, die Frauen fortgingen, und daß, wenn ein Mann aus der Bahn gestoßen worden, die übrigen auf ihn traten.

»Sie könnte mich dann wenigstens verwenden, wie ich Binat verwendete – als eine Art von Studie,« sagte sich Dick. »Ich wollte gar nicht mehr verlangen, als wieder in ihrer Nähe zu sein, selbst wenn ich wüßte, daß ein anderer Mann ihr Liebhaber wäre. Ach, was bin ich doch für ein Hund!«

Eine Stimme auf der Treppe begann fröhlich zu singen, während das Geräusch von Fußtritten ertönte, Torpenhows Thür zugeworfen wurde und Stimmen in eifrigem Gespräch sich hören ließen. Eine derselben rief: »Sehen Sie, meine wackeren Leutchen, ich habe eine neue Wasserflasche erfunden – Patent erster Klasse – wie, was sagen Sie? Sie öffnet sich selbst von innen.«

Dick sprang auf; er kannte diese Stimme ganz genau. »Das ist Cassavetti, der vom Festlande zurückgekehrt ist. Jetzt weiß ich, weshalb Torp fortgegangen ist. Es gibt irgendwo einen neuen Feldzug und – ich kann nicht mit.«

Nilghai befahl vergebens Schweigen.

»Das geschieht meinetwegen,« sagte Dick bitter. »Die Vögel sind bereit, auszufliegen, und wollen es mir nicht sagen. Ich kann Morton Sutherland und Mackay hören. Die Hälfte der Kriegskorrespondenten in London ist dort – und ich kann nicht mit.«

Er stolperte über den Flur und fiel fast in Torpenhows Zimmer. Er fühlte, daß dasselbe voll Leute war. »Wo ist der Krieg?« fragte er. »Endlich in den Balkanländern? Weshalb hat keiner von euch es mir gesagt?«

»Wir dachten, es würde Sie nicht interessiren,« antwortete Nilghai, der sich etwas schämte. »Im Sudan wird er sein wie gewöhnlich.«

»Ihr glücklichen Kerle! Laßt mich hier sitzen, während ihr plaudert. Ich werde kein Skelet beim Feste sein. – Cassavetti, wo sind Sie? Ihr Englisch ist noch ebenso schlecht wie früher.«

Man führte Dick zu einem Sessel. Er hörte das Rascheln der Karten, während das Gespräch weiter ging und ihn mit fortriß. Alle sprachen zugleich über die Zensur der Presse, Eisenbahnlinien, Transporte, Wasserversorgung, die Fähigkeiten der Generale – letzteres in Ausdrücken, die ein vertrauensvolles Publikum entsetzt haben würden – prahlend, streitend und lachend, so laut sie konnten. Jeden Augenblick erklang die glorreiche Gewißheit eines Krieges im Sudan. Nilghai sagte es, und es wäre wohl gut, sich bereit zu halten. Keneu hatte bereits nach Kairo telegraphirt, um Pferde zu bestellen; Cassavetti hatte ein ganz ungenaues Verzeichnis derjenigen Truppen gestohlen, die zu dem Feldzuge bestimmt waren, und las dasselbe unter allerlei Unterbrechungen vor, während Keneu Dick einen unbekannten Herrn vorstellte, der als Kriegsmaler von dem Central Southern Syndikate verwendet werden sollte. »Es ist sein erster Feldzug,« bemerkte Keneu. »Geben Sie ihm einige Winke über das Reiten auf Kamelen.« »O, diese Kamele!« stöhnte Cassavetti. »Ich werde wieder lernen müssen, dieselben zu reiten, und bin jetzt doch so zart und weich geworden! Hört, ihr wackeren Burschen! Ich kenne eure militärischen Vorbereitungen sehr gut. Die Royal Argalshire Sutherländer werden ebenfalls dort sein. Ich habe es aus der besten Quelle.«

Ein Ausbruch von Gelächter unterbrach ihn. »Setzen Sie sich hin,« rief Nilghai. »Die Listen sind noch nicht festgestellt im Kriegsdepartement.«

»Wird in Suakim ein Truppencorps sich befinden?« rief eine Stimme.

Ein allgemeines Stimmengewirr erhob sich darauf: »Wie viel ägyptische Truppen wird man verwenden? – Gott stehe den Fellahs bei! – In den Plumsteadsümpfen gibt es eine Eisenbahn, die ihren Dienst thut wie ein Uhrwerk! – Endlich wird auch die Linie Suakim-Berber gebaut werden, – Kanadische Reisende sind zu vorsichtig. Gebt mir einen halb betrunkenen Krumann in einem Walfischboot! – Wer kommandirt die Wüstenkolonne? – Nein, man sprengte niemals den großen Felsen in der Krümmung bei Ghineh. Wir werden wie gewöhnlich hinauf bugsirt werden. – Einer von euch sage mir, ob ein indisches Kontingent dort sein wird, oder ich will jedermann den Kopf einschlagen. – Reißen Sie die Karte nicht entzwei. – Es ist ein Occupationskrieg, sage ich Ihnen, um mit den afrikanischen Gesellschaften im Süden in Verbindung zu kommen. – In den meisten Brunnen und Quellen auf jener Route kommt der Guineawurm vor.« Darauf heulte Nilghai, der verzweifelte, die Ruhe herzustellen, wie ein Nebelhorn und schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch.

»Aber was wird aus Torpenhow?« fragte Dick, als es endlich still geworden.

»Torp ist gerade jetzt noch unentschieden. Er ist irgendwo mit einer Liebelei beschäftigt, vermute ich,« erwiderte Nilghai.

»Er sagte, er wolle zu Hause bleiben,« sagte Keneu.

»So?« rief Dick mit einem Fluche aus. »Er wird es nicht thun. Ich bin jetzt nicht viel wert, aber wenn Sie und Nilghai ihn zurückhalten wollen, so werde ich ihn so lange bearbeiten mit Händen und Füßen, bis er Vernunft annimmt. Er zurückbleiben, in der That! Er ist der beste von euch allen. Bei Omdurman wird es ein hartnäckiges Stück Arbeit geben. Wir werden diesesmal dort bleiben. Doch ich vergaß. Ich wollte, ich könnte mit euch gehen.«

»Das wünschen wir alle, Dickie,« sagte Keneu.

»Und ich am meisten von allen,« bemerkte der neu engagirte Künstler des Central Southern Syndikates. »Könnten Sie mir sagen –«

»Ich will Ihnen einen guten Rat geben,« erwiderte Dick, während er nach der Thüre zu ging. »Wenn es Ihnen passirt, bei einem Scharmützel, einen Hieb über den Kopf zu erhalten, so pariren Sie ihn nicht, sondern sagen Sie dem Manne, er solle nur weiter hauen. Sie werden finden, daß es schließlich am billigsten ist. Danke, daß Sie mich hereingeführt haben.«

»Dieser Dick hat Verstand,« sagte Nilghai eine Stunde später, als alle, mit Ausnahme von Keneu, ihn verlassen hatten.

»Es war der heilige Ruf der Kriegstrompete. Bemerkten Sie, wie er denselben erwiderte? Armer Kerl! Wir wollen nach ihm sehen,« sagte Keneu.

Die Aufregung infolge des Gespräches war verschwunden. Dick saß am Tische im Atelier, mit dem Kopf auf den Armen, als die beiden Freunde eintraten. Er veränderte seine Stellung nicht.

»Es thut weh,« stöhnte er. »Gott verzeihe mir, aber es thut grausam weh; und doch hat die Welt ein Geschick, alles durch sich selbst herumzuwirbeln, wie ihr wißt. Werde ich Torp noch sehen, bevor er fortgeht?«

»O, gewiß werden Sie ihn sehen,« entgegnete Nilghai.

Dreizehntes Kapitel.

Dreizehntes Kapitel.

»Maisie, gehen Sie zu Bett.«

»Es ist so heiß, ich kann nicht schlafen. Quälen Sie mich nicht.«

Maisie lehnte sich mit den Ellenbogen aufs Fensterbrett und blickte auf den im Mondlicht liegenden geraden, von Pappeln eingefaßten Weg. Der Sommer hatte Vitry-sur-Marne völlig ausgedörrt; das Gras auf den Wiesen war verbrannt, die Kreide an den Ufern des Flusses war zu Ziegeln gebrannt, die Blumen an den Seiten des Weges waren seit langer Zeit verdorrt und die Rosen im Garten hingen vertrocknet an ihren Stielen. Die Hitze in dem niedrigen kleinen Schlafzimmer unter der Dachrinne war fast unerträglich. Das Mondlicht an den Wänden von Kamis Atelier über der Straße schien die Nacht noch heißer zu machen, während der Schatten des großen Glockengriffes an der geschlossenen Thüre einen Strich von schwarzer Tinte bildete, der Maisies Auge beleidigte.

»Abscheuliches Ding! Es müßte alles weiß sein,« murmelte sie. »Auch ist die Thür nicht in der Mitte der Wand. Ich habe das früher gar nicht bemerkt.«

Es war Maisie in dieser Stunde nichts recht zu machen. Erstens hatte die Hitze der letzten Wochen sie sehr ermattet; dann war ihre Arbeit, und besonders die Studie eines weiblichen Kopfes, der die Melancholie darstellen sollte, nicht zur richtigen Zeit fertig geworden und unbefriedigend ausgefallen; drittens hatte Kami vor zwei Tagen vieles daran auszusetzen gehabt, und viertens hatte Dick, ihr Eigentum, seit länger als sechs Wochen nicht mehr an sie geschrieben. Sie war ärgerlich über die Hitze, über Kami, über ihre Arbeit, am meisten jedoch über Dick.

Sie hatte demselben dreimal geschrieben – jedesmal eine neue Bearbeitung ihrer Melancholie vorschlagend – und Dick gar keine Notiz von diesen Mitteilungen genommen. Sie war entschlossen, nicht mehr an ihn zu schreiben. Wenn sie im Herbst nach England zurückkehrte – denn ihr Stolz duldete keine frühere Rückkehr – würde sie mit ihm reden. Die Konferenzen an den Sonntagnachmittagen fehlten ihr mehr, als sie zugeben wollte. Alles, was Kami sagte, war: » Continuez, mademoiselle, continuez toujours!« und er hatte diesen langweiligen Rat während des ganzen heißen Sommers wiederholt, gerade wie eine Grille – eine alte graue Grille in einem schwarzen Alpakarocke, weißen Beinkleidern und einem mächtig großen Filzhute. Aber Dick war gebieterisch in ihrem kleinen Atelier in London auf und nieder geschritten und hatte zehnmal schlimmere Dinge als » continuez« gesagt, ehe er ihr den Pinsel aus der Hand nahm und ihr zeigte, worin sie geirrt. Sein letzter Brief enthielt, wie sich Maisie erinnerte, einige triviale Ratschläge, daß sie nicht in der Sonne Skizzen machen und kein Wasser in den Bauernhäusern am Wege trinken solle; und er hatte das nicht einmal, sondern dreimal gesagt – als ob er nicht wüßte, daß Maisie sich selbst in acht nehmen könne!

Aber womit war er beschäftigt, daß er keine Zeit hatte, an sie zu schreiben? Ein Murmeln von Stimmen auf der Straße veranlaßte sie, sich zum Fenster herauszulehnen. Ein Kavallerist von der kleinen Garnison der Stadt plauderte mit Kamis Köchin; der Mondschein glitzerte aus seiner Säbelscheide, die er in der Hand hielt, um ein störendes Klappern zu verhindern. Die Mütze der Köchin warf einen tiefen Schatten auf ihr Gesicht, das sich dicht bei dem des Soldaten befand. Dieser legte seinen Arm um ihre Taille, worauf das Geräusch eines Kusses erfolgte.

»Pfui!« sagte Maisie zurücktretend.

»Was gibt’s?« fragte das rothaarige Mädchen, das sich unruhig auf seinem Bette umherwarf.

»Nur einen Soldaten, der die Köchin küßt,« erwiderte Maisie. »Sie sind jetzt fortgegangen.« Sie lehnte sich wieder zum Fenster heraus und nahm einen Shawl über ihr Nachtkleid zum Schutze gegen die Kälte, denn es wehte eine leichte Nachtbrise. Wäre es möglich, daß Dick seine Gedanken von ihrer und seiner eigenen Arbeit abgewendet hätte, um so tief zu sinken wie Susanne und der Soldat? Das konnte er nicht! Dick konnte es nicht; »weil,« dachte Maisie, »er mir gehört, mir. Er sagte es ja selbst. Es ist wahr, ich bekümmere mich nicht um das, was er thut; es wird nur seiner Arbeit schaden und der meinigen dazu, wenn er es thut.«

Es war durchaus kein Grund vorhanden, weshalb Dick sich nicht belustigen sollte, wenn es ihm beliebte, ausgenommen, daß er durch die Vorsehung, die Maisie war, berufen worden war, Maisie bei ihrer Arbeit beizustehen. Ihre Arbeit bestand darin, Bilder zu malen, die zuweilen an englische Provinzialausstellungen geschickt wurden, wie die Notizen in den Katalogen bewiesen, und die der Salon unabänderlich zurückwies, wenn sie Kami so lange gequält hatte, bis er ihr gestattete, dieselben einzusenden. Ihre Arbeit für die Zukunft würde, wie es schien, darin bestehen, Bilder genau in ähnlicher Weise zu malen, die genau auf dieselbe Weise zurückgewiesen würden.

Das rothaarige Mädchen wälzte sich voll Verzweiflung aus seinem Bette und stöhnte: »Es ist zu heiß zum Schlafen.«

Genau auf dieselbe Weise. Sie würde dann ihre Jahre zwischen ihrem kleinen Atelier in England und Kamis großem Atelier in Vitry-sur-Marne zubringen. Nein, sie wollte zu einem andern Meister gehen, der sie zwingen würde, Erfolg zu haben, auf den sie ein Recht hatte, wenn geduldige Arbeit und verzweifelte Ausdauer jemand ein Recht zu etwas geben. Dick hatte gesagt, daß er zehn Jahre gearbeitet habe, um seine Kunst zu verstehen. Sie hatte ebenfalls zehn Jahre lang gearbeitet und zehn Jahre bedeuteten nichts. Dick hatte gesagt, zehn Jahre wären nichts – aber doch nur in Bezug auf sie selbst. Er hatte auch gesagt – dieser selbe Mann, der keine Zeit zum Schreiben finden konnte, daß er zehn Jahre auf sie warten wolle, und daß sie früher oder später zu ihm zurückkehren müsse. Er hatte dieses in einem albernen Brief über Sonnenstich und Diphtheritis gesagt und dann aufgehört zu schreiben. Er lief im Mondschein die Straßen auf und ab und küßte Köchinnen. Sie möchte ihm am liebsten jetzt gleich Vorwürfe machen – natürlich nicht in ihrem Nachtgewande, sondern gehörig gekleidet – streng und von oben herab. Aber wenn er andere Mädchen küßte, würde er sich gewiß nichts daraus machen, ob sie ihm Vorlesungen hielte oder nicht; er würde sie auslachen.

Maisie stützte ihr Kinn auf die Hand und entschied, daß gar kein Zweifel an der Schlechtigkeit Dicks bestehe. Um sich selbst zu rechtfertigen, begann sie, ganz unweiblich, den Beweis festzustellen. Es war da ein Knabe, der gesagt, daß er sie liebe; derselbe küßte sie auf die Wange bei einem gelben Seemohn, der mit dem Kopfe dazu genickt. Dann kam ein Zwischenraum; andere Männer hatten ihr gesagt, daß sie sie liebten – gerade, wenn sie am eifrigsten mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen. Darauf kehrte der Knabe zurück und hatte ihr gleich bei der zweiten Begegnung gesagt, daß er sie liebe. Dann hatte er – Aber es gab ja gar kein Ende mit all den Dingen, die er gethan. Er hatte ihr seine Zeit und sein Talent gewidmet, mit ihr über Kunst, Haushaltung, Technik, Theetassen, den Mißbrauch von Mixpickles als einem Reizmittel gesprochen und ihr den besten Pinsel aus Zobelhaaren geschenkt, den sie noch täglich benutzte; er hatte ihr guten Rat erteilt, von dem sie Gebrauch gemacht, und hin und wieder einen Blick ihr zugeworfen. Solch einen Blick! Den eines geprügelten Hundes, der auf ein Wort wartet, um zu den Füßen seiner Herrin zu kriechen. Für all das hatte sie ihm gar nichts gegeben, ausgenommen – hier wischte sie sich den Mund mit dem Aermel ihres Nachtkleides ab – die Erlaubnis, sie einmal zu küssen, noch dazu auf den Mund. Schmachvoll! War das nicht genug, mehr als genug? Und wenn es nicht der Fall, hatte er nicht die Schuld gelöscht dadurch, daß er nicht geschrieben und wahrscheinlich andere Mädchen geküßt?

»Maisie, Sie werden sich erkälten. Kommen Sie und legen Sie sich hin,« sagte die müde Stimme ihrer Gefährtin. »Ich kann nicht einschlafen, so lange Sie im Fenster liegen.«

Maisie zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Sie dachte über die Niedrigkeit von Dick und über andere Schlechtigkeiten nach, mit denen derselbe nichts zu schaffen hatte. Der hartherzige Mondschein würde sie doch nicht schlafen lassen. Derselbe lag wie kaltes Silber auf dem Oberlichte des Ateliers über der Straße; sie starrte unausgesetzt darauf hin. bis ihre Gedanken sich zu verwirren begannen. Der Schatten des großen Glockengriffs wurde bald kürzer, bald länger und verschwand, als der Mond hinter der Weide untertauchte, während ein Hase über den Weg nach seinem Lager hinkte. Darauf strich der Abendwind über das hohe Gras und brachte Kühlung mit sich; an den ausgetrockneten Flüssen brüllte das Vieh. Maisies Kopf sank auf das Fensterbrett; der Knoten ihres schwarzen Haares bedeckte ihre Arme.

»Maisie, wachen Sie auf; Sie werden sich erkälten.«

»Ja, Liebe; ja, Liebe.« Sie stolperte wie ein müdes Kind nach ihrem Bette und murmelte, als sie ihr Gesicht in den Kissen begrub: »Ich denke – ich denke … Aber er hätte doch schreiben müssen.«

Der Tag brachte die gewöhnliche Arbeit des Ateliers, den Geruch von Farbe und Terpentin, sowie die monotone Weisheit Kamis, der ein schwerfälliger, bleierner Künstler, aber ein goldener Lehrer war, wenn ihm der Schüler nur sympathisch erschien. Mit Maisie war das an jenem Tage nicht der Fall, so daß sie ungeduldig das Ende ihrer Arbeit erwartete. Sie wußte, wenn es kam, denn Kami würde seinen schwarzen Alpakarock hinten in einem Bündel zusammenraffen und mit mattblauen Augen, die weder Schüler noch Leinwand sahen, in die Vergangenheit zurückblicken, um die Geschichte eines gewissen Binat in Erinnerung zu bringen. »Sie alle haben es nicht so schlecht gemacht wie der,« würde er sagen. »Aber

Sie müssen daran denken, daß es nicht genügt, Methode zu haben, Kunst und Talent, oder dasjenige, was man Strich nennt, zu besitzen, sondern Sie müssen auch die Überzeugung haben, die die Arbeit an die Wand nagelt. Von den vielen Schülern, die ich gehabt,« – hier begannen die Schüler Heftzwicken loszumachen oder ihre Farben zusammenzupacken – »war Binat der beste. Alles, was Studium, Arbeit und Wissen geben können, besaß er, als er zu mir kam; nachdem er mich verlassen, konnte er alles leisten, was mit Farbe, Form und Kenntnis zu leisten ist, nur die Überzeugung fehlte ihm. Deshalb höre ich heute nichts mehr von Binat – dem besten meiner Schüler – und das ist schon lange her; deshalb werden Sie auch froh sein, heute nichts mehr von mir zu hören. Continuez, mesdemoiselles, und, vor allen Dingen, mit Überzeugung.«

Er ging in den Garten, um zu rauchen und über den verlorenen Binat zu trauern, als die Schüler und Schülerinnen sich in ihre verschiedenen Wohnungen zerstreuten oder im Atelier noch trödelten, um Pläne zu machen, wo sie die Kühle des Nachmittags genießen wollten.

Maisie blickte auf ihre unglückselige Melancholie, unterdrückte den Wunsch, derselben eine Grimasse zu machen, und eilte dann über die Straße, um einen Brief an Dick zu schreiben, als sie einen großen Mann auf einem weißen Militärpferde bemerkte. Wie Torpenhow es fertig gebracht hatte, im Laufe von vierundzwanzig Stunden seinen Weg zu den Herzen der in Vitry-sur-Marne liegenden Kavallerieoffiziere zu finden, mit ihnen über die Gewißheit einer glorreichen Revanche für Frankreich zu sprechen, den Colonel zu Thränen reinster Leutseligkeit zu rühren und das beste Pferd der Schwadron zu einem Ritte nach Kamis Atelier zu entlehnen, ist ein Rätsel, das nur Spezialkorrespondenten lösen können.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er. »Es scheint eine alberne Frage zu sein, aber ich kenne sie in der That nicht bei einem andern Namen: befindet sich hier eine junge Dame, die Maisie heißt?«

»Ich bin Maisie,« lautete die Antwort aus den Tiefen eines großen Sommerhutes.

»Ich muß mich selbst vorstellen,« sagte er, während das Pferd in dem blendend weißen Staube sich bäumte. »Mein Name ist Torpenhow. Dick Heldar ist mein bester Freund, und – und – Thatsache ist, daß er blind geworden ist.«

»Blind!« rief Maisie einfältig aus. »Er kann nicht blind sein!«

»Er ist seit beinahe zwei Monaten stockblind.« Maisie richtete ihr Gesicht auf, das ganz weiß geworden. »Nein, nein! Nicht blind! Ich will ihn nicht blind haben!«

»Würde Ihnen daran liegen, ihn selbst zu sehen?« fragte Torpenhow.

»Jetzt – sogleich?«

»O nein! Der Pariser Zug geht hier erst um acht Uhr abends durch. Es wird hinreichend Zeit sein.«

»Schickte Mr. Heldar Sie zu mir?«

»O nein, gewiß nicht! Dick würde etwas derartiges nicht thun. Er sitzt in seinem Atelier und dreht einige Briefe hin und her, die er nicht lesen kann, weil er blind ist.«

Ein erstickter Ton ließ sich unter dem Sonnenhute vernehmen, Maisie neigte ihren Kopf und ging in die Cottage, wo das rothaarige Mädchen auf dem Sofa lag und über Kopfweh klagte.

»Dick ist blind!« sagte Maisie, schnell atmend, als sie sich gegen eine Stuhllehne stützte. »Mein Dick ist blind!«

»Was?« rief das Mädchen aus, vom Sofa aufspringend.

»Ein Mann ist von England herüber gekommen, um es mir mitzuteilen. Er hat seit sechs Wochen nicht an mich geschrieben.«

»Werden Sie zu ihm gehen?«

»Ich muß wohl daran denken.«

»Denken! Ich würde nach London zurückkehren und ihn sehen, ich würde seine Augen küssen und wieder küssen, bis sie wieder gut würden! Wenn Sie nicht gehen, werde ich gehen. O, was rede ich doch so? Sie böse kleine Blödsinnige! Gehen Sie sofort zu ihm, gehen Sie!«

Torpenhows Genick bekam Blasen in der Sonne, dennoch bewahrte er ein Lächeln unendlicher Geduld, als Maisie mit unbedecktem Kopfe im Sonnenschein erschien.

»Ich komme,« sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.

»Dann bitte ich, daß Sie diesen Abend um sieben Uhr an der Station in Vitry sind.« Das war ein Befehl von jemand, der gewöhnt war, daß man ihm gehorchte. Maisie erwiderte nichts, aber sie war dankbar dafür, daß es keine Möglichkeit gab, mit diesem großen Manne zu disputiren, der alles für bewilligt annahm und das unruhige Pferd mit einer Hand regierte. Sie kehrte zu dem rothaarigen Mädchen zurück, das bitterlich weinte, und mit Thränen, Küssen, Menthol, Einpacken und einer Unterredung mit Kami ging der schwüle Nachmittag vorüber. Die Gedanken konnten später kommen. Ihre augenblickliche Pflicht war, zu Dick zu gehen – Dick, der diesen wunderlichen Freund besaß, im Dunkeln saß und mit ihren uneröffneten Briefen spielte.

»Aber was werden Sie machen?« fragte sie ihre Gefährtin.

»Ich? O, ich werde hier bleiben und Ihre Melancholie vollenden,« sagte sie, traurig lächelnd.

»Schreiben Sie mir später.«

An jenem Abend lief ein Gerücht durch Vitry-sur-Marne von einem verrückten Engländer, der zweifellos am Sonnenstich litt, sämtliche Offiziere der Garnison unter den Tisch getrunken, ein Pferd aus den Stallen entliehen hatte und dann nach englischer Sitte mit einem von diesen mehr als verrückten englischen Mädchen, die unter der Leitung dieses guten Monsieur Kami Bilder zeichneten, davongelaufen war.

»Sie sind wirklich drollig,« sagte Susanne zu ihrem Soldaten im Mondschein hinter der Wand des Ateliers, »Sie ging immer mit diesen großen Augen umher, die nichts sahen, und doch küßte sie mich auf beide Wangen, als ob sie meine Schwester wäre, und schenkte mir – sieh – zehn Franken!«

Der Soldat erhob eine Kontribution von beiden Gaben, denn er war stolz darauf, ein guter Soldat zu sein.

Torpenhow sprach nur sehr wenig mit Maisie wahrend der Reise nach Calais, doch sorgte er aufmerksam für alle ihre Bedürfnisse, verschaffte ihr ein Coupé für sich und ließ sie allein. Er war überrascht, daß die ganze Angelegenheit so leicht ausgeführt worden war.

»Das beste wird sein, sie allein über die Sache nachdenken Zu lassen. Nach Dick zu urteilen, muß sie ihn ganz gehörig unter ihrem Befehl gehalten haben. Es wundert mich, daß sie jetzt so willig gehorcht.«

Maisie sprach kein Wort. Sie saß in dem leeren Coupé oft mit geschlossenen Augen, um sich das Gefühl der Blindheit zu vergegenwärtigen. Es war ein Befehl, daß sie rasch nach London zurückkehren sollte, und schließlich fing sie an, sich über die Situation zu freuen. Das war besser, als sich um das Gepäck und eine rothaarige Freundin zu bekümmern, die niemals das geringste Interesse für ihre Umgebung hatte. Aber es lag ein Gefühl in der Luft, als ob sie, Maisie, bei allen Leuten in Ungnade gefallen sei. Sie rechtfertigte ihr Benehmen sich selbst gegenüber mit vielem Erfolge, bis Torpenhow auf dem Dampfboote zu ihr kam und ohne jede Vorrede die Geschichte von Dicks Blindheit zu erzählen begann, nur einige Einzelheiten fortlassend, aber länger bei dem Elende des Delirirens verweilend. Er hielt inne, bevor er zu Ende war, als ob er das Interesse an dem Gegenstände verloren hätte, und ging nach vorn, um zu rauchen. Maisie war wütend über ihn und sich selbst.

In größter Eile wurde sie von Dover nach London befördert, beinahe, ohne daß ihr Zeit zum Frühstücken gelassen wurde, und dann höflichst gebeten, in einem Hausflur vor einigen Stufen zu warten, während Torpenhow hinaufging, um Erkundigungen einzuziehen. Wieder ließ das Bewußtsein, daß sie wie ein unartiges kleines Mädchen behandelt würde, ihre bleichen Wangen erröten. Alles war Dicks Schuld, daß er so albern gewesen, zu erblinden. Torpenhow führte sie dann zu einer verschlossenen Thüre, die er leise öffnete. Dick saß am Fenster mit auf die Brust herabgesunkenem Kinn; in seinen Händen befanden sich drei Briefumschläge, die er hin und her drehte. Der große Mann, der ihr so Befehle erteilt, stand nicht mehr an ihrer Seite, und die Thüre des Ateliers fiel hinter ihr ins Schloß.

Dick steckte die Briefe in seine Tasche, als er das Geräusch hörte. »Hallo, Torp! Sind Sie das? Ich bin so allein gewesen.«

Seine Stimme hatte die den Blinden eigentümliche Klanglosigkeit. Maisie drückte sich in eine Ecke des Zimmers. Ihr Herz pochte heftig, so daß sie eine Hand auf die Brust legte, um es ruhig zu halten. Dick starrte direkt auf sie hin; sie sah zum erstenmale, daß er blind sei. Ihre Augen in einem Eisenbahnwaggon schließen und sie wieder öffnen, wenn es ihr beliebte, war kindische Spielerei; dieser Mann war blind, obgleich seine Augen weit offen standen.

»Torp, sind Sie es? Man sagte mir, Sie würden kommen.« Dick sah verwirrt und etwas ärgerlich über dieses Stillschweigen aus.

»Nein, ich bin es nur,« lautete die Antwort in einem nur mit Mühe hervorgebrachten Flüstern. Maisie konnte kaum ihre Lippen bewegen.

»Hm!« sagte Dick gelassen, ohne sich zu rühren. »Das ist ein neues Phänomen. Ich gewöhne mich allmälich an die Dunkelheit, aber ich weigere mich, Stimmen zu hören.«

War er wahnsinnig, ebenso wie blind, daß er mit sich selbst sprach? Maisies Herz pochte noch ungestümer, und sie schnappte nach Luft. Dick stand auf und begann sich durch das Zimmer zu tasten, jeden Tisch und jeden Stuhl im Vorübergehen berührend. Einmal blieb er mit dem Fuße in einer rauhen Decke hängen und fluchte, während er niederkniete, um zu fühlen, was ihn am Weitergehen hinderte. Maisie erinnerte sich daran, wie er im Parke gegangen, als ob die ganze Erde ihm gehöre, wie er in ihrem Atelier vor zwei Monaten auf und ab geschritten und auf der Laufplanke des Kanaldampfers gelaufen war. Das Herzklopfen machte sie krank, während Dick näher kam, durch das Geräusch ihres Atemholens geleitet. Sie streckte unwillkürlich eine Hand aus, um ihn abzuwehren oder an sich zu ziehen, sie wußte selbst nicht, was von beiden. Die Hand berührte seine Brust; er prallte zurück, als ob er von einer Kugel getroffen worden wäre.

»Es ist Maisie!« schrie er aufschluchzend. »Was thun Sie hier?«

»Ich kam – ich kam – um Sie zu sehen.«

Dicks Lippen preßten sich zusammen.

»Wollen Sie sich denn nicht setzen? Sie sehen, ich habe Unglück mit meinen Augen gehabt und –«

»Ich weiß, ich weiß. Weshalb teilten Sie es mir nicht mit?«

»Ich konnte nicht schreiben.«

»Sie hätten es Mr. Torpenhow sagen sollen.«

»Was hat derselbe mit meinen Angelegenheiten zu schaffen?«

»Er brachte mich von Vitry-sur-Marne hierher. Er glaubte, ich wollte Sie sehen.«

»Wie, was ist vorgefallen? Kann ich irgend etwas für Sie thun? Nein, ich kann es nicht. Ich vergaß.«

»O, Dick, ich bin so betrübt! Ich bin gekommen, es Ihnen zu sagen und – Lassen Sie mich Sie wieder zu Ihrem Stuhle führen.«

»Thun Sie es nicht! Ich bin kein Kind. Sie thun das nur aus Mitleid. Ich beabsichtigte niemals, Ihnen etwas davon mitzuteilen. Ich bin jetzt zu nichts gut; es ist mit mir vorbei. Lassen Sie mich allein!«

Er griff sich zurück nach seinem Stuhle; seine Brust arbeitete, als er sich niedersetzte.

Maisie betrachtete ihn; die Furcht verschwand aus ihrem Herzen, um bitterer Scham Platz zu machen. Er hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die das Mädchen während der eiligen Fahrt nach London vor sich selbst verborgen gehalten, denn es war in der That vorbei mit ihm – nicht gebieterisch erschien er mehr, sondern eher ein wenig abschreckend, kein Künstler mehr, der bedeutender war als sie, noch ein Mann, zu dem man aufblickte – nur ein Blinder, der in einem Stuhle saß und auf dem Punkte zu stehen schien, in Weinen auszubrechen. Sie war unendlich und aufrichtig betrübt seinetwegen – trauriger, als sie jemals in ihrem Leben wegen jemand gewesen – aber nicht betrübt genug, um ihre Worte zu verleugnen. Sie stand daher still und fühlte sich beschämt, sowie etwas getroffen, weil sie aufrichtig beabsichtigt hatte, daß ihre Reise siegreich endigen sollte, und jetzt fühlte sie nur Mitleid, nichts von Liebe.

»Nun?« fragte Dick, sein Gesicht abwendend. »Ich beabsichtigte niemals, Sie noch mit irgend etwas zu belästigen. Um was handelt es sich?«

Er war sich bewußt, daß Maisie nach Atem rang, aber er war ebenso unvorbereitet wie sie selbst auf den Sturm von Erregung, der folgte. Leute, die nicht leicht weinen können, vergießen unaufhaltsam Thränen, wenn die Quellen der großen Tiefe aufgeschlossen werden. Sie war in einen Stuhl gesunken und schluchzte, während sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte.

»Ich kann nicht – ich kann nicht!« rief sie verzweiflungsvoll aus. »Wirklich, ich kann nicht. Es ist nicht meine Schuld. Ich bin so betrübt, O, Dickie, ich bin so sehr betrübt.«

Dicks Schultern richteten sich auf, denn die Worte trafen ihn wie ein Peitschenschlag. Das Schluchzen dauerte fort. Es ist nicht gut, zu bemerken, daß man in der Stunde der Prüfung unterlegen oder zurückgewichen ist vor der Möglichkeit, Opfer bringen zu müssen.

»Ich verachte mich selbst – wirklich, ich thue es. Aber ich kann nicht. O, Dickie, Sie werden mich nicht bitten – nicht wahr?« jammerte Maisie. Sie blickte eine Minute auf, während Dicks Augen zufällig den ihrigen begegneten. Das unrasirte Gesicht war ganz weiß und entschlossen; die Lippen versuchten ein Lächeln hervorzubringen. Aber es waren diese toten Augen, vor denen Maisie sich fürchtete. Ihr Dick war blind geworden und an seiner Stelle jemand geblieben, den sie kaum wieder erkennen konnte, bis er sprach.

»Wer bittet Sie denn, irgend etwas zu thun, Maisie? Ich sagte Ihnen ja, wie es sein würde. Weshalb quälen Sie sich so? Aus Mitleid für mich, weinen Sie nicht so; es ist wirklich nicht der Mühe wert.«

»Sie wissen nicht, wie sehr ich mich selbst hasse. O, Dick, helfen Sie mir – helfen Sie mir!« Ihr leidenschaftliches Weinen fing an, Dick zu beunruhigen. Er stolperte zu ihr hin und legte seinen Arm um sie, wahrend sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.

»Still, mein Liebling, still! Weinen Sie nicht, Sie haben ganz recht und sich gar nichts vorzuwerfen – niemals hatten Sie das. Sie sind nur etwas aufgeregt von der Reise und haben vielleicht gar kein Frühstück bekommen. Wie thöricht von Torp, Sie herüber zu holen!«

»Ich verlangte, herzukommen, wirklich,« sagte sie.

»Ganz schön; Sie sind nun gekommen und haben mich gesehen, und ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür. Wenn Sie sich etwas erholt haben, so müssen Sie fortgehen und etwas zu sich nehmen. Hatten Sie eine gute Ueberfahrt?«

Maisie unterdrückte ihr Weinen etwas und war zum erstenmale in ihrem Leben froh, daß sie jemand hatte, an den sie sich anlehnen konnte. Dick klopfte sie zärtlich, aber ungeschickt auf die Schulter, denn er war nicht ganz sicher, wo sich ihre Schulter befand.

Sie wand sich schließlich aus seinen Armen los und wartete zitternd und sehr unglücklich. Er hatte sich nach dem Fenster zurückgefühlt, um die Breite des Zimmers zwischen sich und Maisie zu legen und den Aufruhr in seinem Herzen etwas zu beruhigen.

»Befinden Sie sich jetzt besser?« fragte er.

»Ja, aber – hassen Sie mich nicht?«

»Ich Sie hassen? Mein Gott! Ich?«

»Gibt es gar nichts, was ich sonst für Sie thun könnte? Ich will hier in England deswegen bleiben, wenn Sie es wünschen. Vielleicht könnte ich zuweilen herkommen und Sie sehen?«

»O nein, Teuerste. Es wäre gütiger, mich nicht mehr wiederzusehen, ich bitte Sie darum. Ich möchte nicht gerne rauh erscheinen, aber – meinen Sie nicht, daß es vielleicht besser wäre, Sie gingen jetzt?«

Er war sich bewußt, daß er es nicht wie ein Mann ertragen könnte, wenn er sich noch langer bezwingen müßte.

»Ich kann Ihnen in keiner Weise nützlich sein und will deshalb gehen, Dick. O, ich bin so elend, so schlecht!«

»Unsinn. Sie brauchen sich deswegen nicht zu ängstigen; ich würde es Ihnen sonst sagen. Warten Sie einen Augenblick, Liebling, ich möchte Ihnen erst etwas geben. Ich hatte es für Sie bestimmt, noch bevor dieses Unglück anfing. Es ist meine Melancholie; sie war eine Schönheit, als ich sie zuletzt erblickte. Sie können dieselbe von mir annehmen und verkaufen, sollten Sie jemals arm werden. Sie ist stets einige hundert Pfund wert.« Er suchte unter den Bildern. »Sie ist schwarz eingerahmt; ist dieses ein schwarzer Rahmen, den ich in der Hand habe? Da ist es. Was halten Sie davon?«

Er drehte Maisie ein verschrammtes, formloses Gemisch von Farben zu und strengte die Augen an, als ob er ihre Bewunderung und Ueberraschung erfassen wollte. Ein Ding, nur dieses einzige Ding konnte sie für ihn thun.

»Nun?«

Seine Stimme klang voller und kräftiger, weil der Mann wußte, daß er von seinem besten Werke sprach. Maisie blickte auf das Gekleckse, und eine wahnsinnige Lust zu lachen erfaßte sie; aber um Dicks willen durfte sie sich nichts merken lassen, was immer auch dieses verrückte Geschmiere bedeuten mochte, Ihre Stimme bebte von zurückgehaltenen Thränen, als sie antwortete: »O, Dick, es ist schön!«

Er hörte das schwache hysterische Schlucken und hielt es für ein Zeichen der Anerkennung. »Wollen Sie es denn nicht haben? Ich will es Ihnen nach Hause schicken, wenn Sie wollen.«

»Ich? O ja – ich danke Ihnen. Ha! ha!« Wenn sie jetzt nicht fortging, so wurde das unterdrückte Lachen, das schlimmer als Thränen war, sie ersticken. Sie wandte sich ab und lief, erstickend und geblendet, die Treppen hinunter, flüchtete sich in ein Kab und fuhr durch den Park nach ihrem Hause. Dort setzte sie sich in ihrem fast kahlen Zimmer nieder und dachte an Dick in seiner Blindheit, der bis an das Ende seines Lebens, sowohl für sich als auch für sie selbst von gar keinem Nutzen mehr war. Hinter diesem Kummer, der Scham und der Demütigung erhob sich die Furcht vor dem kalten Zorne des rothaarigen Mädchens, wenn Maisie zu demselben zurückgekehrt sein würde. Maisie hatte sich früher nie vor ihrer Gefährtin gefürchtet. Sie vergegenwärtigte sich die Verachtung ihrer selbst erst, als sie sich sagte: »Nun, er hat nichts von mir verlangt!«

Hiermit nehmen wir Abschied von Maisie.

Für Dick waren noch mehr Qualen aufbewahrt. Er konnte erst gar nicht begreifen, daß Maisie, der er befohlen hatte, zu gehen, ihn ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte. Er war außerordentlich ärgerlich über Torpenhow, der diese Demütigung über ihn gebracht und seinen traurigen Frieden gestört hatte. Dann kam seine dunkle Stunde; er befand sich allein mit sich selbst und seinem Verlangen nach etwas, das ihn von dieser Finsternis befreien könnte. Die Königin konnte nichts Unrechtes thun, aber indem dieselbe ihrem Rechte folgte, soweit dasselbe ihrer Arbeit diente, hatte sie ihren einzigen Unterthan mehr verwundet, als dessen Gehirn ihm klar machen konnte.

»Es ist alles, was ich hatte, und ich habe es verloren,« sagte er, sobald sein Elend ihm gestattete, klar zu denken. »Torp wird glauben, er sei so höllisch klug gewesen, daß ich nicht das Herz haben werde, ihm alles zu erzählen. Ich muß die Sache ruhig durchdenken.«

»Hallo!« rief Torpenhow aus, in das Atelier tretend, nachdem Dick zwei Stunden nachgedacht.

»Ich bin zurück. Befinden Sie sich etwas besser?«

»Torp, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Kommen Sie her!« Dick keuchte heiser, da er in der That nicht wußte, was er sagen und wie er es ruhig sagen sollte.

»Ist es denn nötig, irgend etwas zu sagen? Stehen Sie auf und gehen Sie umher.« Torpenhow war vollständig befriedigt.

Sie wanderten wie gewöhnlich auf und ab, Torpenhows Hand auf Dicks Schulter ruhend und Dick in Gedanken versunken.

»Wie in aller Welt haben Sie das alles herausgefunden?« fragte Dick schließlich.

»Sie müssen nicht im Fieber sprechen, wenn Sie Geheimnisse bewahren wollen, Dickie. Es war durchaus unpassend von meiner Seite, aber wenn Sie mich gesehen hätten, wie ich bei einer glühenden Sonnenhitze auf einem halb zugerittenen französischen Kavalleriepferde zusammengeschüttelt wurde, Sie hätten sicherlich gelacht, heute abend wird es einen Charivari in meinen Zimmern geben. Sieben andere Teufel –«

»Ich weiß – der Spektakel im südlichen Sudan. Ich überraschte sie neulich bei ihren Beratungen; es machte mich ganz unglücklich, haben Sie sich entschlossen, zu gehen? Für wen arbeiten Sie?«

»Ich habe noch keinen Vertrag abgeschlossen. Ich wollte erst sehen, wie sich die Sache mit Ihnen gestalten würde.«

»Wollten Sie denn bei mir bleiben, wenn die Dinge schlecht abgelaufen wären?« Er stellte seine Frage sehr vorsichtig.

»Fragen Sie mich nicht zu viel. Ich bin nur ein Mensch.«

»Sie haben sehr erfolgreich versucht, ein Engel zu sein.«

»O ja … Wollen Sie das Amt eines solchen heute abend übernehmen? Wir werden halb toll sein, bevor der Morgen anbricht. Alle Welt glaubt, daß der Krieg gewiß ist.«

»Ich denke nicht, daß ich es thue, alter Freund, wenn es Ihnen egal ist. Ich werde ruhig hier bleiben.«

»Und nachgrübeln? Ich tadle Sie nicht. Sie haben sich lange genug verdient gemacht wie nur je ein Mann.«

An jenem Abend gab es viel Lärm auf den Treppen. Die Korrespondenten kamen vom Theater, vom Diner und von den Konzerten zu Torpenhow, um über ihren Feldzugsplan zu sprechen, im Falle die militärischen Operationen bereits festgesetzt wären. Torpenhow, Keneu und Nilghai hatten alle diese Leute eingeladen, an der Orgie teilzunehmen; Mr. Benton, der Haushälter, erklärte, daß er noch nie während seines ganzen Lebens einen solchen tollen Haufen von Gentlemen gesehen. Sie weckten die Zimmerbewohner durch Schreien und Singen auf, und die älteren Herren waren gerade so schlimm als die jüngeren. Denn sie hatten die Zufälligkeiten des Krieges vor sich, und alle wußten, was das sagen wollte.

Dick saß in seinem Zimmer, etwas bestürzt über den zu ihm herüberschallenden Lärm; plötzlich fing er an zu lachen.

»Wenn jemand darüber nachdenkt, so ist die Situation außerordentlich komisch. Maisie hat ganz recht – armes, kleines Ding! Ich wußte früher gar nicht, daß sie so weinen könnte, aber nun ich weiß, was Torp denkt, bin ich überzeugt, er wäre thöricht genug, zu Hause zu bleiben und zu versuchen, mich zu trösten – wenn er wüßte. Außerdem ist es nicht besonders hübsch, sich sagen zu müssen, daß man wie ein zerbrochener Stuhl beiseite geworfen ist. Ich muß diese Sache allein tragen – wie gewöhnlich. Wenn es keinen Krieg gibt und Torp kommt dahinter, werde ich ihm wie ein Thor erscheinen, das ist alles. Gibt es aber Krieg, so darf ich nicht zwischen das Glück eines andern treten, Geschäft ist Geschäft, und ich muß allein sein. – Was für einen Lärm sie machen!«

Jemand hämmerte gegen die Thüre des Ateliers.

»Kommen Sie heraus, Dickie, und seien Sie lustig,« sagte Nilghai.

»Ich möchte wohl, aber ich kann nicht. Ich bin nicht aufgelegt, fröhlich zu sein.«

»Dann werde ich es den Jungens sagen, und man wird Sie wie einen Dachs herausholen.«

»Bitte, thun Sie es nicht, alter Herr. Auf mein Wort, ich möchte gerade jetzt lieber allein sein.«

»Nun gut. Können wir Ihnen irgend etwas hereinschicken? Fipp zum Beispiel. Cassavetti fängt bereits an, Lieder vom ›sonnigen Süden‹ zu singen.«

Einen Augenblick dachte Dick ernstlich über den Vorschlag nach.

»Nein, danke. Ich habe schon Kopfweh.«

»Tugendhaftes Kind! Das ist die Wirkung von Aufregungen in der Jugend. Meine Glückwünsche, Dick! Auch ich war an der Verschwörung für Ihre Wohlfahrt beteiligt.«

»Gehen Sie zum Teufel und – o, schicken Sie nur Binkie herein.«

Der kleine Hund trat mit elastischen Schritten ein, ganz aufgeregt von dem vielen Lärmen während des Abends. Er hatte geholfen, den Refrain zu singen, aber kaum befand er sich im Atelier, als er gewahr wurde, daß dies nicht der Ort sei, mit dem Schwanze zu wedeln; er setzte sich daher auf Dicks Schoß, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Dann legte er sich mit Dick ins Bett, der jede Stunde schlagen hörte und am Morgen mit einem schmerzlich klaren Kopfe aufstand, um Torpenhows formellere Glückwünsche, sowie einen besonderen Bericht über das nächtliche Gelage entgegenzunehmen.

»Sie sehen nicht besonders glücklich aus für einen kürzlich angenommenen Mann,« bemerkte Torpenhow.

»Thut nichts, das ist meine Sache, ich befinde mich ganz gut. Gehen Sie wirklich fort?«

»Ja. Mit dem alten Central Southern wie gewöhnlich. Sie telegraphirten mir, und ich nahm unter besseren Bedingungen als früher an.«

»Wann reisen Sie ab?«

»Uebermorgen, nach Brindisi.«

»Gott sei Dank,« sagte Dick aus dem Grunde seines Herzens.

»Nun, das ist gerade keine hübsche Art und Weise zu sagen, daß Sie froh sind, mich los zu werden. Doch Leuten in Ihrer Lage ist es erlaubt, selbstsüchtig zu sein.«

»Ich meinte es nicht so. Wollen Sie für mich hundert Pfund einkassiren, bevor Sie abreisen?«

»Das ist eine kleine Summe zum Haushalte», nicht wahr?«

»O, es ist nur für – die Kosten der Hochzeit.«

Torpenhow brachte das Geld, zählte es in Fünf- und Zehnpfundnoten auf und schloß es sorgfältig in den Schreibtisch ein.

»Jetzt, denke ich, werde ich etwas zu hören bekommen von seiner Schwärmerei für sein Mädchen, bis ich fortgehe. Der Himmel verleihe uns Geduld mit einem verliebten Manne,« sagte er zu sich selbst.

Dick sagte indes nicht ein Wort über Maisie oder Heirat. Er lehnte in der Thür von Torpenhows Zimmer, als dieser packte, und richtete unzählige Fragen an ihn über den bevorstehenden Feldzug, bis es Torpenhow langweilig wurde.

»Sie sind ein geheimnisvolles Tier, Dickie, und verzehren Ihren eigenen Rauch, nicht wahr?« sagte er am letzten Abend.

»Ich – ich glaube so. Wie lange denken Sie beiläufig, wird dieser Feldzug dauern?«

»Tage, Wochen oder Monate; man kann das niemals vorhersagen. Er kann auch jahrelang währen.«

»Ich wünschte wohl, ich könnte mitgehen.«

»Gütiger Himmel! Sie sind wirklich das unberechenbarste Geschöpf. Ist es Ihnen nicht zu teil geworden, daß Sie sich verheiraten werden – dank meinen Bemühungen?«

»Natürlich ja. Ich werde mich verheiraten, gewiß. Werde mich verheiraten. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür. Hatte ich es Ihnen nicht mitgeteilt?«

»Nach Ihrem Aussehen zu schließen, könnten Sie ebenso gut im Begriffe stehen, gehangen zu werden,« sagte Torpenhow.

Am nächsten Tage sagte Torpenhow ihm adieu und ließ ihn in der Einsamkeit zurück, nach der er so sehr verlangt hatte.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

»Was, denkst Du, wird sie mit uns anfangen, wenn sie uns erwischt? Wir durften ihn nicht kaufen, wie Du weißt,« sagte Maisie.

»Mich durchprügeln und Dich in Dein Schlafzimmer einsperren,« erwiderte Dick, ohne sich zu besinnen. »Hast Du auch die Patronen mitgenommen?«

»Ja, sie stecken in meiner Tasche, aber sie werden schrecklich zusammengerüttelt. Gehen Zündnadelpatronen nicht von selbst los?«

»Das weiß ich nicht. Nimm Du den Revolver, wenn Du dich fürchtest, und laß mich sie tragen.«

»Ich fürchte mich gar nicht!« Maisie schritt rasch weiter, mit einer Hand in der Tasche und kühn erhobenem Gesichte, Dick folgte ihr mit einem kleinen Zündnadelrevolver.

Die Kinder waren zu der Ueberzeugung gelangt, daß ihr Leben unerträglich sein würde, wenn sie nicht im Pistolenschießen sich üben könnten. Nach vielem Ueberlegen und mit großer Selbstverleugnung hatte Dick sieben Shilling und einen Sixpence erspart, den Preis eines schlecht konstruirten belgischen Revolvers. Maisie konnte nur eine halbe Krone in die gemeinschaftliche Kasse, zum Ankauf von hundert Patronen, beisteuern. »Du kannst besser sparen als ich, Dick,« hatte sie diesem erklärt, »ich esse sehr gern etwas Gutes, und Du machst Dir nichts daraus. Außerdem müssen Jungens mit Revolvern schießen.«

Dick murrte zwar etwas über diese Anordnung, doch fügte er sich, ging fort und besorgte den Einkauf der Sachen, welche die Kinder jetzt probiren wollten. Revolver waren keineswegs einbegriffen in dem Plane ihres täglichen Lebens, wie er von ihrer Behüterin, die in nicht ganz korrekter Weise bei den beiden Kindern Mutterstelle vertrat, festgestellt worden. Dick befand sich seit sechs Jahren unter ihrer Obhut; Mrs. Jennet war während dieser ganzen Zeit eifrig bemüht gewesen, möglichst viel Vorteil aus dem Zuschusse zum Kostgelde der ihr zur Anschaffung von Kleidungsstücken für ihre Pfleglinge bewilligt worden war, für sich herauszuschlagen. Sie war eine Witwe in reiferen Jahren, mit dem lebhaften Wunsche, sich wieder zu verheiraten, und hatte, teils aus Gedankenlosigkeit, teils aus angeborener Sucht, andere zu quälen, auf die jungen Schultern von Dick Lasten gelegt, die schwer genug zu tragen waren. Wo er sich nach Liebe gesehnt, gab sie ihm erst Widerwillen und dann Haß. Wo er, als er herangewachsen, ein wenig Teilnahme und Sympathie gesucht, hatte sie ihn lächerlich gemacht. Die zahlreichen Stunden, welche sie nach der Besorgung ihrer kleinen Haushaltung übrig hatte, verwandte sie dazu, Dick Heldar eine häusliche Erziehung zu geben, wie sie es nannte. Ihre Religion, ein Produkt ihres eigene« Verstandes und eines eifrigen Studiums der heiligen Schrift und frommer Bücher, kam ihr bei dieser Arbeit vortrefflich zu statten. In Zeiten, wenn sie persönlich nicht unzufrieden mit dem Betragen von Dick war, gab sie ihm zu verstehen, daß er eine schwere Abrechnung mit seinem Schöpfer auszugleichen habe; die Folge davon war, daß Dick lernte, seinen Gott ebenso aufrichtig zu verabscheuen, wie er bereits Mrs. Jennet verabscheute, ein Gemütszustand, der keineswegs ein heilsamer für die Jugend ist. Seitdem es ihr beliebte, ihn als einen hoffnungslosen Lügner zu betrachten, als die Androhung von Strafe und Schmerz ihn zu seiner ersten Unwahrheit getrieben, entwickelte er sich natürlich zu einem Lügner, doch zu einem mäßigen und sich selbst beherrschenden, der niemals die geringste unnötige Unwahrheit aussprach und nie vor der schwärzesten sich scheute, wenn es ihm klar war, daß dieselbe sein Leben einigermaßen erträglicher machen könnte. Diese Behandlung lehrte ihn schließlich die Kunst, allein zu leben, eine Erwerbung, die ihm von großem Nutzen war, als er in eine öffentliche Schule kam und die anderen Knaben seiner Kleider wegen, die ärmlich und vielfach ausgebessert waren, über ihn lachten. An den Feiertagen kehrte er zu den Lehren der Mrs. Jennet zurück und wurde, damit die Kette der Disziplin nicht durch die Gemeinschaft mit der Welt gelockert würde, meistens durchgeprügelt für daß eine oder das andere Vergehen, bevor er sich noch zwölf Stunden unter ihrem Dache befand. Im Herbste eines Jahres erhielt er eine Gefährtin in der Knechtschaft, ein langhaariges, grauäugiges, kleines Wesen, ebenso zurückhaltend wie er selbst, das sich schweigend im Hause bewegte und während der ersten Wochen nur mit ihrer Ziege sprach, ihrer teuersten Freundin auf Erden, die in einem Garten hinter dem Hanse lebte. Mrs. Jennet widersetzte sich dem Verkehre mit der Ziege aus dem Grunde, weil dieselbe unchristlich sei, – was sie sicherlich auch war. »Dann,« sagte das kleine Wesen, »dann werde ich an meinen Vormund schreiben und ihm mitteilen, daß Sie eine sehr böse Frau sind. Amomma ist mein, mein, mein!« Mrs. Jennet machte eine Bewegung nach dem Hausflur zu, wo in einem Ständer mehrere Sonnenschirme und Stücke sich befanden. Das kleine Wesen begriff ebenso gut wie Dick, was das bedeutete. »Ich bin früher geschlagen worden,« sagte sie mit ebenso leidenschaftloser Stimme wie vorher; »ich bin viel schlimmer geprügelt worden, wie Sie mich jemals prügeln können. Wenn Sie mich schlagen, so schreibe ich meinem Vormunde, daß Sie mir nicht genug zu essen geben. Ich fürchte mich gar nicht vor Ihnen.« Mrs. Jennet ging nicht in den Hausflur, und das kleine Wesen begab sich nach einer Pause hinaus, um sich zu versichern, daß alle Kriegsgefahr vorüber sei, und weinte bitterlich an Amommas Halse.

Dick lernte sie als Maisie kennen und mißtraute ihr anfänglich sehr, da er befürchtete, daß sie sich in die geringe Freiheit, die ihm geblieben, einmengen würde. Sie that es indes nicht und zeigte nicht eher Freundschaft ihm gegenüber, als bis Dick die ersten Schritte gethan. Lange bevor die Feiertage zu Ende waren, hatte der Druck der gemeinschaftlich geteilten Strafen die Kinder einander genähert, wenn es auch nur geschehen war, um bei den für Mrs. Jennet vorbereiteten Lügen sich gegenseitig zu unterstützen. Als Dick in die Schule zurückkehrte, lispelte Maisie: »Nun werde ich ganz allein sein, um mich selbst zu behüten; aber ich kann es ganz gut thun,« fügte sie hinzu, tapfer mit dem Kopfe nickend. »Du versprachst mir, für Amomma ein Grashalsband zu schicken; thue es bald,« Eine Woche später forderte sie ihn auf, das Halsband umgehend mit der Post zu schicken, und war sehr unzufrieden, als sie erfuhr, daß es viel Zeit erfordere, dasselbe anzufertigen. Als dann schließlich Dick sein Geschenk absandte, vergaß sie, ihm dafür zu danken.

Manche Feiertage waren seit jener Zeit gekommen und vorübergegangen; Dick war inzwischen zu einem schmächtigen Burschen herangewachsen, mehr als je sich seiner schlechten Kleider bewußt. Mrs. Jennet Hatte keinen Augenblick in ihrer zärtlichen Sorge für ihn nachgelassen, doch die kräftigen Prügel in einer öffentlichen Schule – Dick wurde ungefähr dreimal im Monate mit Stockschlägen bestraft – erfüllten ihn mit Verachtung ihrer Gewalt und ihrer Kraft. »Sie thut mir nicht weh,« erklärte er Maisie, die ihn zum Widerstande aufreizte, »und sie ist freundlicher gegen Dich, wenn sie mich ordentlich durchgewalkt hat.« Dick lebte dahin, schlecht gehalten, was den Körper anbelangte, und wild von Gemütsart, wie die kleineren Knaben in der Schule bald erfuhren; denn wenn der Geist über ihn kam, prügelte er sie weidlich durch, mit Geschick und Gründlichkeit. Derselbe Geist veranlaßte ihn mehr als einmal, zu versuchen, Maisie zu quälen, doch das Mädchen weigerte sich, noch unglücklicher zu werden. »Wir sind beide elend genug so, wie es jetzt ist,« sagte sie; »was hat es für einen Zweck, zu versuchen, die Dinge noch schlimmer zu machen? Laß uns etwas ausfinden, was uns Vergnügen macht, und das Böse vergessen.«

Der Revolver war das Ergebnis dieses Suchens. Derselbe konnte nur auf dem schlammigsten, äußersten Strande der Bucht benützt werden, weit entlegen von Bade-Einrichtungen und den Spitzen der Molen, unterhalb der mit Gras bewachsenen Böschungen des Forts Keeling. Die Ebbe lief beinahe zwei Meilen vom Strande hinaus, wobei die mannigfach gefärbten Schlammbänke unter den Strahlen der Sonne einen widerlichen Geruch von verfaultem Kraut aushauchten. Es war ziemlich spät nachmittags, als Dick und Maisie ihr Terrain mit Amomma, die geduldig hinter ihnen hertrabte, erreichten.

»Muff!« rief Maisie aus, die Luft einziehend. »Ich möchte wissen, was die See so stinken macht. Ich liebe das gar nicht.«

»Du liebst überhaupt nie etwas, das nicht gerade für Dich gemacht worden ist,« bemerkte Dick grob. »Gib mir die Patronen, ich will den ersten Schuß versuchen. Wie weit mag wohl einer von diesen kleinen Revolvern tragen!«

»O, eine halbe Meile!« sagte Maisie schnell. »Wenigstens macht er einen schrecklichen Lärm. Sei vorsichtig mit den Patronen; ich mag diese am Rande befestigten, eingekerbten Dinger nicht leiden. Dick, sei vorsichtig!«

» All right! Ich weiß, wie man laden muß. Ich will nach dem Wellenbrecher da draußen schießen.«

Er feuerte, und Ammoma lief meckernd davon. Die Kugel warf einen Strahl von Schlamm auf, rechts von den mit Seegras bewachsenen Pfeilern.

»Halte hoch und nach rechts. Du schießest jetzt, Maisie. Denke daran, daß er vollständig geladen ist.«

Maisie ergriff den Revolver und schritt vorsichtig bis an den Rand des Schlammes vor, mit der Hand fest den Kolben umfassend, den Mund und das linke Auge aufgesperrt. Dick setzte sich auf einen Büschel am Strande und lachte. Amomma kehrte sehr behutsam zurück. Sie war an seltsame Erfahrungen während dieser Nachmittagsspaziergänge gewöhnt und stellte, da sie die Schachtel mit den Patronen unbewacht fand, mit ihrer Nase einige Untersuchungen an. Maisie schoß, konnte indes nicht sehen, wohin die Kugel geflogen war.

»Ich denke, sie traf den Pfosten,« sagte sie, ihre Augen beschattend und über die See blickend, auf der kein einziges Segel wahrzunehmen war.

»Ich weiß, sie ist hinausgeflogen nach der Marazion-Glockenboje,« bemerkte Dick kichernd. »Schieße niedrig und nach links, dann wirst Du vielleicht die Boje treffen. – O, sieh doch die Amomma! Sie frißt die Patronen auf!«

Maisie drehte sich um, den Revolver in der Hand, gerade in dem Augenblicke, als Amomma vor den Kieseln davonsprang, die Dick hinter ihr her warf. Nichts ist heilig für eine lüsterne Ziege. Obschon wohl genährt und der Liebling ihrer Herrin, hatte Amomma natürlich zwei gefüllte Zündnadelpatronen hinuntergeschluckt. Maisie eilte herbei, um sich selbst zu überzeugen, ob Dick sich auch nicht verzählt habe.

»Ja wohl, sie hat zwei Stück aufgefressen!«

»Abscheuliches kleines Tier! Nun werden sie in ihrem Bauche durch einander gerüttelt werden und losgehen, was ihr ganz recht ist … O, Dick, habe ich Dich totgeschossen?«

Revolver sind gefährliche Dinge in jungen Händen. Maisie konnte sich nicht erklären, wie es geschehen, doch ein Schleier von Rauch trennte sie plötzlich von Dick und sie war fest überzeugt, daß der Revolver ihm gerade ins Gesicht losgegangen sei. Dann hörte sie ihn schnaufen und, an seiner Seite in die Kniee sinkend, rief sie weinend aus: »Dick, Du bist nicht getroffen, nicht wahr? Ich wollte es nicht absichtlich thun.«

»Natürlich thatest Du es nicht absichtlich,« sagte Dick, aus dem Rauche hervortretend und seine Wange abwischend. »Aber Du hast mich beinah blind gemacht. Das schmierige Pulver sticht schrecklich!«

Ein schmaler kleiner Spritzer von grauem Blei auf einem Steine zeigte, wohin die Kugel geflogen war. Maisie begann zu jammern.

»Weine nicht,« sagte Dick, auf seine Füße springend und sich schüttelnd. »Ich bin nicht ein bißchen verletzt.«

»Nein, aber ich hätte Dich totschießen können,« protestirte Maisie, deren Mundwinkel herabhingen. »Was hätte ich dann nur angefangen?«

»Nach Hause gehen und es Mrs. Jennet erzählen.« Dick grinste bei diesem Gedanken; dann sagte er, sie beruhigend: »Bitte, ängstige Dich nicht deswegen. Außerdem verlieren wir unnötig Zeit. Wir müssen zum Thee wieder zu Hause sein. Ich werde nun den Revolver nehmen.«

Maisie würde bei der geringsten Veranlassung jetzt geweint haben, doch die Gleichgiltigkeit von Dick, obschon seine Hand etwas zitterte, als er den Revolver aufhob, hielt sie davon zurück. Sie lag schluchzend auf dem Strande, während Dick methodisch den Wellenbrecher bombardirte. »Doch noch zuletzt getroffen!« rief er aus, als ein Büschel Seegras von dem Holze fortflog.

»Laß es mich auch versuchen,« sagte Maisie gebieterisch. »Mir ist jetzt wieder ganz wohl.«

Sie schossen abwechselnd bis der gebrechliche kleine, Revolver beinahe selbst in Stücke ging, während Amomma, die Verstoßene – weil sie in jedem Augenblick hätte auffliegen können – im Hintergrunde weidete und sich wunderte, weshalb Steine nach ihr geworfen wurden. Darauf fanden sie einen Balken von Zimmerholz in einer Pfütze unterhalb der seewärts gekehrten Böschung des Fort Keeling und setzten sich vor dieser neuen Scheibe nieder.

»In den nächsten Feiertagen,« sagte Dick, als der nun vollständig verdorbene Revolver gewaltig in seiner Hand stieß, »werden wir einen andern Revolver haben – einen mit Zentralfeuer – der wird weiter tragen.«

»Für mich wird es keine nächsten Feiertage geben,« erwiderte Maisie. »Ich gehe fort.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht. Mein Vormund hat an Mrs. Jennet geschrieben, daß ich irgendwo erzogen werden soll – vielleicht in Frankreich – ich weiß nicht, wo; doch ich werde froh sein, von hier fortzukommen.«

»Ich bin nicht ein bißchen froh. Ich vermute, daß ich hier bleiben muß. Höre, Maisie, ist es wirklich wahr, daß Du fortgehst? Dann werden diese Feiertage Wohl die letzten sein, an denen ich etwas von Dir zu sehen bekomme; ich muß in der nächsten Woche wieder nach der Schule zurückkehren. Ich wünschte …«

Das junge Blut färbte seine Wangen scharlachrot. Maisie rupfte Grasbüschel aus und warf sie die Böschung hinunter nach einem gelben Seemohn, der einsam und allein dastand und zu den unbegrenzten Flächen des Schlammes und der milchweißen See hinabnickte.

»Ich wünschte,« sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich könnte Dich zuweilen wiedersehen. Du wünschest das auch, nicht wahr?«

»Ja, doch es wäre besser gewesen, wenn … wenn Du dort unten geradezu geschossen hättest, da unten bei dem Wellenbrecher.«

Maisie blickte einen Augenblick mit weitgeöffneten Augen vor sich hin. Das war der Knabe, welcher erst vor zehn Tagen Amommas Hörner mit Krausen von ausgeschnittenem Papier verziert, mit einem großen Barte geschmückt und so auf den öffentlichen Weg hinausgeführt hatte! Sie schlug ihre Augen nieder; das war nicht derselbe Knabe.

»Sei nicht einsaitig,« sagte sie vorwurfsvoll und griff mit raschem Instinkte seine schwache Seite an. »Wie selbstsüchtig Du bist! Denke doch nur, was ich empfunden hätte, wenn das schreckliche Ding Dich getötet hätte! Ich bin deswegen schon unglücklich genug.«

»Weshalb? Weil Du von Mrs. Jennet fortgehst?«

»Nein.«

»Von mir also?«

Es erfolgte lange Zeit keine Antwort. Dick wagte es nicht, sie anzublicken. Er fühlte, obschon er sich dessen nicht bewußt war, was die letzten vier Jahre für ihn gewesen, und zwar um so mehr, als er nicht wußte, wie er seine Gefühle in Worten ausdrücken sollte.

»Ich weiß es nicht,« sagte sie endlich. »Ich vermute, es ist so.«

»Maisie, Du mußt es wissen. Ich vermute es nicht.«

»Laß uns nach Hause gehen,« sagte Maisie wehmütig.

Dick war jedoch nicht in der Stimmung, nachzugeben.

»Ich kann die Dinge nicht so sagen,« fuhr er fort, »und bin schrecklich betrübt darüber, daß ich Dich neulich so wegen Amomma geplagt habe. Jetzt ist alles ganz anders, Maisie; kannst Du das nicht sehen? Auch hättest Du mir wohl sagen können, daß Du fortgehst, anstatt es mich herausfinden zu lassen.«

»Du hast es nicht herausgefunden, ich habe es Dir gesagt. O Dick, was hat es für einen Nutzen, sich zu betrüben?«

»Gar keinen; aber wir sind doch Jahre und Jahre bei einander gewesen, und ich wußte gar nicht, wie sehr ich mich um Dich sorgte, wie gern ich Dich hatte.«

»Ich glaube nicht, daß Du jemals etwas gern gehabt hast.«

»Nein, ich that es nicht; doch ich thue es jetzt – ich habe Dich schrecklich gerne, Maisie,« sagte er schluckend, »Maisie, Liebling, sage, daß Du mich auch gern hast, bitte.«

»Ich habe Dich gern, wirklich, es ist so; es wird jedoch gar keinen Zweck haben.«

»Weshalb?«

»Weil ich fortgehe.«

»Ja, doch wenn Du mir etwas versprichst, bevor Du gehst. Sage es doch nur – willst Du?« Ein zweites »Liebling« kam auf seine Lippen, leichter als das erstemal. In Dicks häuslichem Leben oder in der Schule hatte er nur sehr wenig Zärtlichkeit erfahren; er fand sie aus Instinkt. Dick erfaßte die kleine Hand, welche von dem Rauche des Revolvers geschwärzt war.

»Ich verspreche es,« sagte sie feierlich, »doch wenn ich Dich gern habe, so bedarf es erst gar keines Versprechens.«

»Und Du hast mich gern?« Zum erstenmal während der letzten Minuten begegneten sich ihre Augen und sprachen für sie, die kein Geschick zum Sprechen hatten…

»O Dick, thu es nicht! Bitte, thu es nicht! Es war alles recht, wenn wir uns guten Morgen sagten; doch nun ist es ganz anders!« Amomma sah von weitem herüber. Sie hatte schon häufig über ihren Besitz streiten, doch noch niemals zuvor Küsse austauschen sehen. Der gelbe Seemohn war weiser und nickte beifällig mit dem Kopfe. Als Kuß betrachtet war es ein Mißlingen, doch, da es der erste war, ein ganz anderer als die von der Pflicht erheischten, der erste, den jeder von den beiden jemals gegeben oder empfangen hatte, so erschloß ihnen derselbe neue Welten, so köstliche, daß sie jeder Betrachtung irgend einer Welt überhaupt entrückt wurden – besonders derjenigen, in welcher Thee notwendig ist; sie saßen ruhig da, Hand in Hand, ohne ein Wort zu sprechen.

»Jetzt kannst Du mich nicht mehr vergessen,« sagte Dick endlich. Auf seiner Wange war etwas, das heftiger stach als Schießpulver.

»Ich würde Dich so wie so nicht vergessen haben,« erwiderte Maisie; sie blickten einander wieder an und bemerkten, daß jeder ein anderer geworden als der Spielgefährte, der er vor einer Stunde gewesen, zu einem Wunder und einem Geheimnis, das sie nicht begreifen konnten. Die Sonne begann sich zum Untergehen zu neigen und der Abendwind strich längs den Biegungen des Vorstrandes.

»Wir werden schrecklich spät zum Thee kommen,« sagte Maisie. »Laß uns nach Hause gehen.«

»Wir wollen erst den Rest der Patronen verschießen,« entgegnete Dick; er half Maisie darauf von der Böschung des Forts nach der See hinunter – ein Abstieg, den sie vollkommen befähigt war, in vollem Laufe zu bewerkstelligen. Ernsthaft nahm sie die beschmutzte Hand. Dick neigte sich ungeschickt vorwärts; Maisie zog ihre Hand zurück und Dick errötete.

»Sie ist wirklich hübsch,« sagte er.

»Puh!« machte Maisie mit einem kleinen Lächeln befriedigter Eitelkeit. Sie stand dicht neben Dick als er den Revolver zum letztenmale lud und über das Wasser hin schoß, mit einem unbestimmten Gefühle, daß er Maisie vor allen Nebeln der Welt beschützen möchte. Ein Wasserpfuhl weit draußen im Schlamme spiegelte die letzten Sonnenstrahlen wider, wie eine grimmige rote Scheibe. Der Schein fesselte Dicks Aufmerksamkeit für einen Augenblick, und als er den Revolver erhob, überkam ihn wiederholt das Gefühl des Wunderbaren, daß er bei Maisie stehe, die versprochen, ihn lieb zu haben für eine unbegrenzte Zeit, bis zu einem Tage, an welchem … Der stärker werdende Wind trieb das lange schwarze Haar des Mädchens ihm über das Gesicht, wie sie bei ihm stand, die eine Hand auf seine Schulter gelegt, Amomma eine kleine Bestie nennend; einen Augenblick lang befand er sich im Dunkeln, – ein Dunkel, das ihn prickelte. Die Kugel flog singend hinaus in die See.

»Mein Ziel verfehlt,« sagte er kopfschüttelnd. »Jetzt sind keine Patronen mehr da; wir wollen nach Hause laufen.«

Doch sie liefen nicht, sondern gingen ganz langsam, Arm in Arm. Es war ihnen gleichgiltig, ob die vernachlässigte Amomma, mit zwei Zündnadelpatronen im Leibe, in die Luft flog oder neben ihnen her trabte; denn sie hatten eine goldene Erbschaft angetreten und disponirten über dieselbe mit der ganzen Weisheit ihrer Jahre.

»Und ich werde sein …« sagte Dick kräftig. Dann schwieg er plötzlich. »Ich weiß nicht, was ich sein werde. Es scheint nicht, daß ich fähig bin, irgend ein Examen abzulegen, aber ich kann schreckliche Karikaturen von den Lehrern zeichnen. Ho! Ho!« »Dann werde ein Künstler,« sagte Maisie. »Du lachst immer über meine Versuche zu zeichnen, aber für Dich wird es gut sein.«

»Ich werde niemals über etwas lachen, was Du thust,« antwortete er. »Ich will ein Künstler werden und alles mögliche ausführen.«

»Künstler brauchen immer Geld, nicht wahr?«

»Ich habe hundertundzwanzig Pfund jährlich als mein Eigentum erhalten. Meine Vormünder sagten mir, daß ich das Geld bekommen würde, sobald ich großjährig wäre. Das wird genug sein, um damit zu beginnen.«

»O, ich bin reich,« sagte Maisie. »Ich habe dreihundert jährlich, die mir ganz allein gehören, wenn ich einundzwanzig Jahre alt bin. Deswegen ist Mrs. Jennet auch freundlicher gegen mich als gegen Dich. Ich wünschte jedoch, daß ich irgend jemand hätte, der zu mir gehörte – einen Vater oder eine Mutter.«

»Du gehörst mir für immer und ewig,« rief Dick aus.

»Ja, wir gehören einander – für immer. Es ist wirklich hübsch.«

Sie zwickte ihn in den Arm. Die gütige Dunkelheit umgab beide, und, ermutigt dadurch, daß er nur gerade Maisies Profil sehen konnte mit den langen, die grauen Augen verschleiernden Augenwimpern, wagte Dick an der Vorderthüre die Worte auszusprechen, über welche er während der letzten zwei Stunden gebrütet hatte: »Und ich – ich liebe Dich, Maisie,« sagte er in flüsterndem Tone, der ihm durch die ganze Welt zu klingen schien, – die Welt, welche zu erobern er morgen oder am folgenden Tage ausziehen wollte.

Es gab eine große Scene, als Mrs. Jennet über ihn herfiel, erstlich wegen schändlicher Unpünktlichkeit und zweitens weil er sich mit einer verbotenen Waffe beinahe getötet.

»Ich spielte mit dem Ding, als es plötzlich von selbst losging,« sagte Dick, als die Wange voll Pulverkörner nicht länger verborgen bleiben konnte, »doch wenn Sie meinen, mich deswegen schlagen zu können, so irren Sie sich. Sie sollen es nie mehr wagen, mich anzurühren! Setzen Sie sich und geben Sie mir meinen Thee. Sie können uns nicht darum betrügen, durchaus nicht.«

Mrs. Jennet schnappte nach Luft und wurde leichenblaß. Maisie sagte nichts, ermutigte jedoch Dick, der sich den ganzen Abend über höchst abscheulich benahm, mit den Augen. Mrs. Jennet prophezeite ein unmittelbar eintreffendes Gericht der Vorsehung und später eine Niederfahrt zur Hölle, nach Tophat, doch Dick wandelte im Paradiese und wollte nichts hören. Erst als er zu Bett gehen wollte, erholte sich Mrs. Jennet und begann wieder zu sich zu kommen. Er hatte mit niedergeschlagenen Augen und aus der Entfernung Maisie »Gute Nacht!« gesagt.

»Wenn Du auch kein Gentleman bist, so solltest Du wenigstens versuchen, Dich wie ein solcher zu betragen,« sagte Mrs. Jennet zornig. »Du hast Dich schon wieder mit Maisie gezankt.«

Das bezog sich darauf, daß der gebräuchliche Gute Nacht-Kuß unterblieben war, Maisie, blaß bis an die Lippen, reichte ihre Wange mit einer allerliebsten Miene von Gleichgiltigkeit hin und wurde pflichtschuldigst von Dick geküßt, der, rot wie Feuer, aus dem Zimmer stolperte. In jener Nacht hatte er einen wilden Traum. Er hatte die ganze Welt gewonnen und brachte dieselbe in einer Patronenschachtel zu Maisie, doch diese stieß sie mit dem Fuße um und rief, anstatt sich zu bedanken:

»Wo ist das Grashalsband, das Du mir für Amomma versprochen hast? O, wie selbstsüchtig bist Du!«