16.

Als Lewin nach oben kam, saß seine Gattin vor dem neusilbernen Ssamowar hinter dem neuen Theegeschirr und las, nachdem sie die alte Agathe Michailowna mit einer ihr kredenzten Tasse Thee mit an das kleine Tischchen gesetzt hatte, einen Brief Dollys, mit welcher sie beide in beständigen und lebhaftem Briefwechsel standen.

»Da seht, Eure Herrin hat mich hierher gesetzt; sie sagte, ich solle auch mit bei ihr sitzen,« begann Agathe Michailowna, Kity gutmütig zulächelnd.

In diesen Worten Agathe Michailownas sah Lewin die Lösung eines Dramas, welches sich in jüngster Zeit zwischen dieser und Kity abgespielt hatte. Er sah, daß ungeachtet alles Leides, welches der Agathe Michailowna durch die neue Herrin verursacht worden war, die ihr die Zügel des Hausregiments aus der Hand genommen hatte, Kity sie gleichwohl überwunden und gezwungen hatte, sie zu lieben.

»Da habe ich einen Brief an dich gelesen,« sagte Kity, ihm einen fehlerhaft geschriebenen Brief reichend. »Hier ist einer von jenem Weibe deines Bruders, wie es scheint,« sagte sie, »ich habe ihn nicht gelesen. Der hier ist von den Meinen und von Dolly. Denke dir, Dolly hat Grischa und Tanja zum Kinderball zu den Sarmatskiy geführt! Tanja hatte dabei eine Marquise gemacht.«

Lewin hörte sie jedoch gar nicht; errötend hatte er das Schreiben von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten Nikolays, ergriffen und es zu lesen begonnen. Es war dies bereits das zweite Schreiben von ihr. Im ersten Briefe hatte sie geschrieben, dah sein Bruder sich ihrer entledigt habe, ohne daß sie sich eine Schuld beizumessen hätte, und mit rührender Naivetät hinzugefügt, daß sie, obwohl sie nun wieder im Elend lebe, um nichts bitte und nichts wünsche, und daß sie nur der Gedanke quäle, Nikolay Dmitrjewitsch könne ohne sie mit seiner schwachen Gesundheit ins Verderben geraten; sie hatte den Bruder gebeten, Sorge für ihn zu tragen. Jetzt schrieb sie einen zweiten Brief. Sie hatte Nikolay Dmitrjewitsch gefunden, sich wieder mit ihm in Moskau vereint, und war mit ihm in eine Gouvernementsstadt gereist, woselbst er ein Amt erhalten hatte. Dort war er indessen mit seinem Vorgesetzten in Differenzen geraten und wieder nach Moskau zurückgekehrt, »und der teure Mann ist nunmehr so krank geworden, daß er wohl schwerlich je wieder aufkommen wird,« schrieb sie; »er hat fortwährend Eurer gedacht, Geld besitzt er gar nicht mehr.«

»Lies, da schreibt Dolly von dir,« begann Kity lächelnd, hielt aber plötzlich inne, als sie die Veränderung ihres Gatten gewahrte.

»Was hast du? Was ist da?«

»Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolay dem Tode nahe ist. Ich muß zu ihm.«

Das Gesicht Kitys veränderte sich plötzlich. Die Gedanken an Tanja als Marquise, an Dolly, alles war verschwunden.

»Wann wirst du fahren?« sagte sie.

»Morgen.«

»Und ich gehe mit dir, darf ich!« fuhr sie fort.

»Kity! Was soll das?« frug er vorwurfsvoll.

»Was das soll?« erwiderte sie, gekränkt, daß er darüber wie es schien ungern und mit Verdruß ihren Vorschlag entgegennahm. »Weshalb soll ich nicht mit reisen? Ich werde dir nicht hinderlich sein. Ich« –

»Ich reise, weil mein Bruder stirbt,« antwortete Lewin. »Weshalb sollst du da« –

»Weshalb? Eben deshalb, weshalb du reisest« –

»In einer für mich so ernsten Minute denkt sie nur daran, daß sie sich allein könnte langweilen,« dachte Lewin, und die Auslegung in der so ernsten Angelegenheit brachte ihn auf. »Es ist aber unmöglich,« sagte er in strengem Tone.

Agathe Michailowna, welche sah, daß es zum Streit kommen wollte, setzte leise ihre Tasse nieder und ging hinaus. Kity hatte sie gar nicht bemerkt. Der Ton in welchem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, hatte sie insofern besonders verletzt, als dieser offenbar dem nicht glaubte, was sie sagte.

»Ich sage dir, daß wenn du reisest, ich mit dir reisen werde; unbedingt mit reisen werde,« fügte sie eifernd und zürnend hinzu. »Weshalb ist denn das unmöglich? Weshalb sagst du, es sei unmöglich?«

»Weil wir, Gott weiß wohin, auf was für Wegen und mit welchen Gasthäusern zu reisen haben werden. Du wirst mir nur beschwerlich sein,« sprach Lewin, sich bemühend, kaltblütig zu bleiben.

»Auf keinen Fall! Ich habe keinerlei Bedürfnisse. Wo du bist, kann ich auch sein!«

»Nun dann, schon deshalb kannst du nicht, weil sich dort jenes Weib befindet, dem du dich doch nicht nähern kannst« –

»Ich weiß nichts und will nicht wissen, wer oder was dort ist! Ich weiß nur, daß der Bruder meines Gatten stirbt und daß mein Gatte zu ihm geht; ich aber mit meinem Gatten gehen will, um« –

»Kity! Rege dich nicht auf! Bedenke, die Sache ist zu wichtig, so daß es mir schmerzlich ist, zu denken, du könntest die Empfindung einer Schwäche, die Abneigung davor, allein zu bleiben, hereinmengen. Nun, wird es für dich langweilig hier, so fahre nach Moskau.«

»Da haben wirs! Stets schreibst du mir nur schlechte, niedrige Gedanken zu,« fuhr sie fort, unter den Thränen der Erbitterung und des Zornes. »Ich will nichts; es ist keine Schwäche, nichts; ich fühle nur, daß es meine Pflicht ist, mit meinem Gatten zu sein, wenn er Leid trägt; du aber willst mir absichtlich weh thun, willst mich absichtlich nicht verstehen.«

»Nein; das ist doch zu schrecklich; geradezu ein Sklave zu sein!« rief Lewin aus, indem er aufstand. Er war nicht fähig, seinen Verdruß noch länger zurückzuhalten. Doch in diesem Augenblick empfand er, daß er sich selbst traf.

»Aber weshalb hast du dann geheiratet? Wärest du doch frei geblieben! Weshalb hast du geheiratet, wenn du es bereust!« fuhr sie fort, sprang auf und eilte in den Salon.

Als er ihr nachfolgte, brach sie in Schluchzen aus. Er begann ihr zuzureden mit dem Wunsche die Worte zu finden, welche sie, wenn nicht überzeugen, doch wenigstens beschwichtigen könnten. Aber sie hörte ihn nicht und war mit nichts einverstanden. Er beugte sich herab zu ihr, und ergriff ihre abwehrende Hand. Er küßte die Hand, er küßte ihr das Haar und küßte wiederum ihre Hand – sie schwieg beharrlich. – Als er sie aber mit beiden Händen beim Kopfe nahm und »Kity« sagte, da kam sie plötzlich zur Besinnung, brach in Thränen aus und war beschwichtigt.

Es wurde also bestimmt, daß man morgen vereint reiste. Lewin sagte zu seinem Weibe, daß er wohl glaube, sie wollte nur mitreisen, um ihm nützlich zu sein; er gab auch zu, daß Marja Nikolajewnas Aufenthalt bei dem Bruder nichts Anstößiges habe – reiste aber nichtsdestoweniger, auf dem Grund seiner Seele unzufrieden mit ihr und mit sich selbst.

Mit ihr war er unzufrichen, weil sie es nicht hatte über sich gewinnen können, ihn fort zu lassen, obwohl es doch notwendig war. Wie seltsam ward es ihm jetzt bei dem Gedanken, daß er, der ja noch vor kurzem nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß sie ihn lieben könne, sich jetzt darüber unglücklich fühlte, daß sie ihn zu sehr liebte! – Mit sich hingegen war er unzufrieden, daß er seinen Willen nicht durchgesetzt hatte. Noch weniger war er im Grund seiner Seele damit einverstanden, daß sie mit jener Weibsperson, die bei seinem Bruder lebte, etwas zu thun haben sollte, und er dachte mit Schrecken an alle Berührungen, welche stattfinden konnten.

Schon das Eine, daß sein Weib, seine Kity, in einem Raume mit jenem Mädchen leben sollte, machte ihn schaudern vor Ekel und Entsetzen.

17.

Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in welcher Nikolay Lewin krank lag, war eines jener Gouvernementshotels, wie sie nach neuen, vervollkommneten Mustern gebaut werden, ausgestattet mit den vorzüglichsten Rücksichtnahmen auf Sauberkeit, Komfort und selbst Eleganz, sich aber infolge des Publikums, das sie besucht, mit außerordentlicher Schnelligkeit in schmutzige Schenken, unter dem Anstrich zeitgemäßer Vervollkommnung, verwandeln, damit aber noch schlimmer werden, als die altmodischen, nur unsauberen Gasthäuser.

Das Hotel war schon in diesen Zustand geraten, und der Soldat in schmutziger Uniform, welcher am Eingang eine Cigarette qualmte, und das Amt eines Portiers versah, sowie die gußeiserne, zugige, düstere und unfreundliche Treppe, der freche Kellner in schmutzigem Frack und der öffentliche Salon mit dem staubbedeckten Bouquet von Wachsblumen, welches den Tisch zierte, der Staub und Schmutz, die Unordnung überall, und dazu noch die eigentümliche gleichzeitig bemerkbare Eisenbahnhast, riefen in dem Lewinschen Ehepaar nach dem jungen Eheleben ein beklemmendes Gefühl hervor; besonders beklemmend dadurch, daß sich der scheinbare Eindruck, den das Gasthaus machte, in keiner Weise mit dem vereinbarte, was beide darin erwartete.

Wie immer, so zeigte es sich auch jetzt, daß, nachdem sie die Frage, zu welchem Preise sie ein Zimmer zu haben wünschten beantwortet hatten, nicht ein einziges in gutem Zustande befindliches da war. Ein gutes Zimmer war von einem Eisenbahnrevisor besetzt, ein zweites von einem Moskauer Advokaten, ein drittes von der Fürstin Astaphjewa, die vom Dorfe gekommen war. Es blieb nur ein schmutziger Raum, neben dem man am Abend noch ein zweites freizumachen versprach.

Voll Verdruß über sein Weib, da es so kam, wie er erwartet hatte, und namentlich, daß er im Augenblick der Ankunft, wo ihm das Herz von Bewegung ergriffen war bei dem Gedanken, wie es mit dem Bruder stehen möge, Sorge für sie zu tragen hatte, anstatt sofort zu dem Bruder eilen zu können, führte Lewin seine Frau in das ihnen zugewiesene Zimmer.

»Geh, geh,« sagte sie, ihn mit schüchternem, schuldbewußtem Blick anschauend.

Schweigend schritt er aus der Thür und traf hier mit Marja Nikolajewna zusammen, die von seiner Ankunft erfahren hatte, aber nicht wagte, bei ihm einzutreten. Sie sah noch geradeso aus, wie er sie in Moskau gesehen hatte, das nämliche wollene Kleid, Arme und Hals nackt, und das nämliche, gutmütig stumpfe, nur etwas voller gewordene, pockennarbige Gesicht.

»Wie geht es? Was macht er? Wie?«

»Sehr schlecht. Er steht gar nicht mehr auf. Er hat Euch schon erwartet. Er – Ihr seid mit Eurer Gattin gekommen?«

Lewin verstand in der ersten Minute nicht, was sie in Verlegenheit setzte, doch klärte sie ihn sogleich auf.

»Ich will gehen – nach der Küche,« sagte sie; »der Herr wird sich freuen. Er hat schon gehört, und kennt die Dame, und entsinnt sich ihrer noch vom Auslande her.«

Lewin verstand jetzt erst, daß sie seine Frau meine, wußte aber nicht, was er ihr antworten sollte.

»Kommt, kommt!« sagte er.

Kaum hatte er sich jedoch zum Gehen angeschickt, als sich die Thür seines Zimmers öffnete und Kity herausblickte. Lewin errötete vor Scham und Ärger über sein Weib, das sich selbst und ihn in diese schwierige Situation gebracht hatte; Marja Nikolajewna errötete aber noch mehr. Sie drückte sich seitwärts, bis zum Weinen rot geworden und drehte die Zipfel ihres Tuches, die sie mit beiden Händen ergriffen hatte, in ihren roten Fingern, ohne zu wissen, was sie sagen oder anfangen sollte.

Im ersten Moment sah Lewin den Ausdruck einer lebhaften Neugier in dem Blick, mit welchem Kity auf dieses für sie unbegreifliche, schreckliche Weib schaute, aber dies währte nur einen Augenblick.

»Nun, wie ist es denn, wie ist es denn?« wandte sie sich an ihren Gatten und an jene. »Was macht er?« wandte sie sich an ihren Mann und dann an sie.

»Man kann indessen auf dem Korridor nicht sprechen!« sagte Lewin sich voll Verdruß nach einem Herrn umblickend, welcher dröhnenden Schrittes, als wäre er ganz allein hier, soeben den Korridor hinabging.

»Nun, so kommt doch herein,« sagte Kity, zu der sich emporrichtenden Marja Nikolajewna gewendet, fügte aber, als sie das erschreckte Gesicht ihres Mannes erblickte, sogleich hinzu, »oder geht, geht, und schickt nach mir,« und wandte sich wieder in ihr Zimmer zurück.

Lewin ging zu seinem Bruder. Er hatte durchaus nicht erwartet, was er bei dem Bruder sah und empfand. Er hatte erwartet, noch den nämlichen Zustand der Selbsttäuschung zu finden, welcher – er hatte dies gehört – bei Brustleidenden so häufig sein soll, und der ihn während des Besuchs seines Bruders im Herbst so betroffen gemacht hatte. Er hatte erwartet, die physischen Anzeichen des nahenden Todes noch ausgeprägter zu finden, eine größere Schwäche und größere Magerkeit, aber es zeigte sich fast noch immer der nämliche Zustand. Er hatte erwartet, selbst wieder jenes Gefühl des Schmerzes über den Verlust des geliebten Bruders und des Entsetzens vor dessen Tode zu empfinden, welches er damals gehabt hatte, nur in noch höherem Grade. Er hatte sich selbst darauf vorbereitet, aber er fand etwas ganz Anderes.

In einem kleinen, unsauberen Zimmer, deren gemaltes Getäfel an den Wänden bespieen und hinter dessen dünner Zwischenwand Gespräch vernehmbar war, in einer von erstickendem Geruch verunreinigten Luft lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein vom Deckbett verhüllter menschlicher Körper. Ein Arm dieses Körpers lag oben auf der Bettdecke, und die große, wie eine Harke aussehende Hand dieses Armes hing auf unbegreifliche Weise an einer dünnen, langen, von Anfang bis zur Mitte gleichmäßig verlaufenden Spule fest. Der Kopf lag seitwärts gedreht auf dem Kissen. Lewin sah die schweißbedeckten, spärlichen Haare an den Schläfen und über der Stirn.

»Es kann nicht sein, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolay ist,« dachte Lewin. Doch er trat näher, erblickte das Gesicht und sein Zweifel war schon unmöglich geworden. Trotz der furchtbaren Veränderung dieser Züge, mußte Lewin doch erst noch diese lebhaften, sich auf den Eintretenden richtenden Augen, und diese leichte Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart erblicken, wollte er die furchtbare Wahrheit begreifen, daß dieser Totenkörper da sein lebender Bruder war.

Die glänzenden Augen blickten ernst und vorwurfsvoll auf den eintretenden Bruder, und sogleich mit diesem Blicke entstand eine lebhafte Wechselbeziehung unter den Lebenden. Lewin fühlte sofort den Vorwurf in dem auf ihn gerichteten Blick, und Reue über sein eigenes Glück.

Als Konstantin Nikolays Hand ergriff, lächelte dieser. Sein Lächeln war schwach, kaum merklich, und trotz dieses Lächelns schwand der strenge Ausdruck seiner Augen nicht.

»Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden,« brachte er mit Anstrengung hervor.

»Ja – nein« – sprach Lewin, in seinen eigenen Worten irre werdend. »Warum konntest du nicht früher von dir wissen lassen, zur Zeit meiner Verheiratung? Ich habe überall Nachforschungen nach dir angestellt.«

Es mußte gesprochen werden, damit man nicht schwieg, und er wußte doch nicht, was er sagen sollte, um so weniger, als sein Bruder nicht antwortete, sondern nur unverwandt schaute, und offenbar in den Sinn eines jeden Wortes eindringen wollte. Lewin teilte dem Bruder mit, daß auch seine Frau mit ihm gekommen sei. Nikolay drückte sein Vergnügen darüber aus, sagte aber, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Ein Schweigen trat ein. Plötzlich regte sich Nikolay und begann zu sprechen. Lewin erwartete etwas besonders Bedeutendes und Gewichtiges dem Ausdruck seines Gesichts nach, doch sprach Nikolay nur über seine Gesundheit. Er klagte den Doktor an, beklagte, daß er keinen berühmten Moskauer Arzt habe und Lewin erkannte, daß er noch immer Hoffnung hegte.

Die erste Minute des Schweigens benutzend, erhob sich Lewin, im Wunsche, wenigstens für eine Minute von dem peinigenden Gefühl erlöst zu sein, und sagte, daß er gehen wolle, um seine Frau herzuführen.

»Gut, ich will indessen anordnen, daß hier gesäubert wird. Es ist schmutzig hier und riecht übel, glaube ich. Mascha! Räume hier auf,« sagte der Kranke mit Anstrengung, »und wenn du aufgeräumt hast, kannst du hinausgehen,« fügte er hinzu, den Blick fragend auf den Bruder richtend.

Lewin antwortete nichts. Als er auf den Korridor hinaustrat, blieb er stehen. Er hatte gesagt, daß er seine Frau herführen wolle, jetzt aber, als er sich Rechenschaft von jenem Gefühl gab, welches er empfunden hatte, beschloß er, im Gegenteil zu versuchen, sie zu überreden, daß sie nicht zu dem Kranken gehe. »Wozu sie peinigen, wie ich mich peinige?« dachte er.

»Nun? Was ist? Wie steht es?« frug ihn Kity mit erschrecktem Gesicht. »Ach, es ist doch entsetzlich, entsetzlich. Warum bist du nur mitgekommen?« sagte Lewin.

Kity schwieg einige Sekunden, schüchtern und kläglich auf ihren Mann blickend; dann trat sie auf ihn zu und hing sich mit beiden Armen an seinen Ellbogen.

»Mein Konstantin! führe mich zu ihm, es wird uns zu Zweien leichter werden. Führe du mich nur, führe mich, bitte, und komm,« sagte sie, »begreife doch, daß es nur bei weitem schwerer wird, dich zu sehen und ihn nicht. Dort werde ich vielleicht dir und ihm nützlich werden können. Bitte gestatte es!« beschwor sie ihren Mann, als ob das Glück ihres Lebens hiervon abhinge.

Lewin mußte einwilligen und begab sich, nachdem er sich etwas erholt hatte, Marja Nikolajewna schon ganz vergessend, mit Kity wieder zu seinem Bruder.

Leisen Schrittes und unverwandt auf ihren Gatten blickend, welchen sie ihr mutiges und doch gefühlvolles Antlitz wies, betrat sie das Zimmer des Kranken und schloß, sich ohne Hast zurückwendend, geräuschlos die Thür. Mit unhörbaren Schritten näherte sie sich rasch dem Lager des Kranken und so herantretend, daß dieser den Kopf nicht zu drehen brauchte, nahm sie sogleich das Skelett seiner großen Hand in ihre frische, jugendliche, drückte sie und begann dann, mit jener, nur den Frauen eigenen, und nicht verletzenden füllen Lebhaftigkeit mit ihm zu sprechen.

»Wir sind uns in Soden begegnet, sind uns aber dort nicht bekannt gewesen,« sagte sie, »Ihr habt da nicht vermutet, daß ich einmal Eure Schwester werden würde.«

»Ihr solltet Euch nicht nach mir erkundigt haben?« frug er mit dem Lächeln, welches schon bei ihrem Eintreten aufleuchtete.

»Nein; dann hätte ich ja erfahren. Wie recht Ihr doch gethan habt, uns von Euch Nachricht zu geben! Kein Tag ist vergangen, daß Konstantin nicht Eurer gedacht und sich beunruhigt hätte um Euch.«

Die Lebhaftigkeit des Kranken währte indessen nicht lange. Sie hatte noch nicht aufgehört zu sprechen, als auf seinem Gesicht abermals der strenge vorwurfsvolle Ausdruck des Neides des Sterbenden gegenüber dem Lebenden erschien.

»Ich fürchte, Ihr werdet Euch hier nicht recht wohl befinden,« sagte sie, sich von seinem starren Blicke abwendend und im Zimmer Umschau haltend. »Man muß bei dem Wirt ein anderes Zimmer erbitten,« sagte sie zu ihren Manne, »schon, damit wir näher sind.«

12.

Anna und Wronskiy hatten schon längere Zeit Blicke miteinander gewechselt im Bedauern über die scharfsinnige Redefertigkeit ihres Freundes; endlich schritt Wronskiy, ohne auf den Hausherrn zu warten, zu einem anderen, einem kleinen Gemälde.

»Ah, wie reizend, wie reizend! Wundersam! Wie reizend!« riefen beide mit einer Stimme.

»Was hat ihnen so gefallen?« dachte Michailoff. Er hatte das vor drei Jahren gemalte Bild vergessen; vergessen alle die Leiden und Freuden, welche er mit diesem Bilde durchlebt hatte, indem es ihn mehrere Monate hindurch ausschließlich, und ohne daß er sich davon hätte trennen können, Tag und Nacht beschäftigte, es vergessen, wie er überhaupt stets seine vollendeten Bilder vergaß. Er liebte nicht einmal, es anzuschauen, und stellte es nur deshalb aus, weil er einen Engländer erwartete, der es zu kaufen wünschte.

»Ah; eine alte Studie,« sagte er.

»Wie hübsch,« rief Golenischtscheff, gleichfalls augenscheinlich aufrichtig von dem Reiz des Bildes gefesselt.

Zwei Knaben im Schatten einer Bachweide angelten Fische. Der Eine, ältere, hatte soeben die Angel ausgeworfen und führte aufmerksam die Angelspule aus einem Gestrüpp heraus, ganz versunken in diese Beschäftigung; der Andere, jüngere lag im Grase, den wirren Blondkopf auf die Ellbogen gestützt, und schaute mit den blauen Augen nachdenklich auf das Wasser.

Woran mochte er denken?

Das Entzücken über dieses sein Bild rief in Michailoff die frühere Erregung hervor, doch scheute er sich vor diesem unangenehmen müßigen Interesse für ältere Arbeiten, und so suchte er, obwohl ihm dieses Lob angenehm war, die Besucher zu dem dritten Bilde hinzuziehen.

Doch Wronskiy frug, ob er dieses Gemälde verkaufe. Michailoff, von dem Besuch erregt, war diese Frage über Geldgeschäfte jetzt sehr unangenehm.

»Es ist zum Verkauf ausgestellt,« versetzte er, sich verfinsternd.

Nachdem die Besucher gegangen waren, setzte sich Michailoff vor seinem Bilde »Pilatus und Christus« nieder und wiederholte sich in Gedanken alles, was gesprochen worden, oder, wenn nicht ausgesprochen, so doch von den Besuchern angedeutet worden war. Und seltsam, was so hohe Bedeutung für ihn gehabt hatte, während sie hier waren und er sich in Gedanken auf ihren Standpunkt versetzte, hatte jetzt plötzlich für ihn allen Wert verloren. Er schaute jetzt auf sein Gemälde mit seinem vollen künstlerischen Blick, und kam zu demjenigen Standpunkte der Ueberzeugung von seiner Vollkommenheit und darnach auch Bedeutung, welcher ihm notwendig war zu der alle anderen Interessen ausschließenden Spannkraft, mit welcher allein er nur zu arbeiten vermochte.

Der eine Fuß des Christus war allerdings nicht recht befriedigend. Er nahm die Palette und machte sich an die Arbeit. Indem er den Fuß besserte, blickte er fortwährend auf die Gestalt des Johannes im Hintergrund, welche die Besucher gar nicht bemerkt hatten, und die gleichwohl – er wußte es – noch über der Vollkommenheit selbst stand. Nachdem er mit dem Fuß fertig war, wollte er sich an diese Figur begeben, aber er fühlte sich allzu erregt dazu. Nichtsdestoweniger konnte er aber auch nicht arbeiten, wenn er ganz kühl, sowie wenn er zu weich gestimmt war und alles zu sehr sah. Es gab nur eine Stimmung in dem Übergang von der Kühle bis zur Begeisterung, in welcher ihm die Arbeit möglich war. Jetzt befand er sich in allzugroßer Aufregung. Er wollte das Gemälde verhüllen, hielt aber inne, mit der Hand den Vorhang haltend, und schaute lange, beglückt lächelnd, auf die Gestalt des Johannes. Endlich, gleichsam mit Schmerz sich losreißend, ließ er den Vorhang fallen und begab sich ermüdet, aber beglückt heim.

Wronskiy, Anna und Golenischtscheff waren, heimgekehrt, in ausnehmend angeregter und heiterer Stimmung. Man sprach von Michailoff und seinen Bildern. Das Wort »Talent«, unter welchem sie eine angeborene, fast physische Fähigkeit, unabhängig von Verstand und Herz verstanden, und als das sie alles bezeichneten was von dem Künstler durchlebt wird, tauchte besonders häufig in ihrer Unterhaltung auf, da es ihnen unentbehrlich dazu war, das zu bezeichnen, wofür sie kein Verständnis besaßen, und worüber sie doch sprechen wollten. Sie sagten, man könne ihm das Talent nicht absprechen, infolge der mangelnden Bildung aber vermöge sich dieses nicht zu entwickeln. – Dies sei das Unglück aller russischen Künstler! – Aber das Bild mit den beiden Knaben war doch in ihrer Erinnerung haften geblieben und immer wieder kehrten sie zu ihm zurück. Wie reizend! Wie schön war es ihm gelungen! Und wie einfach! Er selbst weiß gar nicht, wie schön es ist. »Ja, das darf man nicht fortlassen, das muß man kaufen,« sagte Wronskiy.

13.

Michailoff verkaufte Wronskiy das Bild und willigte auch ein, Annas Porträt zu malen. Am festgesetzten Tage kam er und begann seine Arbeit.

Von der fünften Sitzung an setzte das Porträt jedermann in Erstaunen, besonders Wronskiy, nicht nur durch die Ähnlichkeit, sondern vornehmlich durch seine Schönheit. Es war seltsam, wie Michailoff jene nur ihr eigene Schönheit hatte treffen können. »Man muß sie kennen und lieben, wie ich sie geliebt habe, um diesen eigenen, lieblichen und seelischen Ausdruck bei ihr zu entdecken,« dachte Wronskiy, obwohl nur er in diesem Gemälde den lieblichen, seelischen Ausdruck erkannte. Derselbe war aber so getreu, daß es ihm und anderen schien, als ob sie ihn schon längst gekannt hätten. »Wie lange habe ich mich nun schon geplagt, und nichts fertig gebracht,« sprach er bezüglich seines eigenen Porträts, »und er hat sie nur angeschaut und gemalt! Das ist die Technik.«

»Es wird noch kommen,« tröstete ihn Golenischtscheff, nach dessen Auffassung Wronskiy Talent besaß und, was die Hauptsache war, auch die Bildung, die einen erhabneren Blick auf die Kunst verlieh. Die Überzeugung Golenischtscheffs von Wronskiys Talent wurde noch dadurch gestützt, daß Golenischtscheff Wronskiys Teilnahme und Lob für seine Arbeiten und seine Ideen brauchte, und so fühlte er, daß Lob und Unterstützung hier auf Gegenseitigkeit beruhten.

In einem fremden Hause, und insbesondere in dem Palazzo bei Wronskiy war Michailoff ein abweisend anderer Mensch, als in seinem Atelier. Er war abstoßend höflich, gerade als fürchte er die Annäherung an Menschen, die er nicht achte. Er nannte Wronskiy Ew. Erlaucht und blieb niemals, ungeachtet der Einladungen Annas und Wronskiys, zum Essen da, kam auch nicht zu anderen Zeiten, als zu den Sitzungen. Anna war gegen ihn freundlicher, als gegen andere, und ihm dankbar für das Porträt. Wronskiy war mehr als nur höflich gegen ihn, und interessierte sich augenscheinlich für das Urteil des Künstlers über sein eigenes Gemälde. Golenischtscheff ließ keine Gelegenheit vorüber, Michailoff die wahren Begriffe über Kunst beizubringen, allein Michailoff blieb sich immer gleich in seiner Zurückhaltung gegen alle. Anna fühlte an seinem Blick, daß er sie gern betrachtete, doch er mied Gespräche mit ihr. Zu den Gesprächen Wronskiys über dessen Malerei schwieg er beharrlich, und er schwieg ebenso beharrlich, als man ihm das Bild Wronskiys zeigte; er fühlte sich auch offenbar belästigt von den Reden Golenischtscheffs und erwiderte diesem nichts.

Im allgemeinen gefiel ihnen daher Michailoff mit seinem zurückhaltenden und unangenehmen, gleichsam feindseligen Verhalten sehr wenig, nachdem man ihn näher kennen gelernt hatte, und man war deshalb froh, daß als die Sitzungen beendet waren, in ihren Händen ein schönes Porträt zurückblieb, während er selbst sein Kommen einstellte.

Golenischtscheff war es zuerst, der den Gedanken aussprach, den alle hatten, nämlich, daß Michailoff auf Wronskiy einfach neidisch sei.

»Gesetzt, er beneidete ihn nicht, weil er Talent besitzt, ist es ihm doch verdrießlich, daß ein Hofmann und reicher Mann, noch dazu ein Graf, was schon alle beneiden, ohne besondere Mühe das Nämliche, wenn nicht noch Besseres, leistet, als er, der sein ganzes Leben dem geweiht hat. Die Hauptsache bleibt doch die Bildung, die jener nicht hat.«

Wronskiy verteidigte Michailoff, doch auf dem Grunde seines Herzens glaubte er hieran, weil nach seiner Auffassung ein Mensch aus jener anderen, niedrigeren Welt Neid hegen mußte.

Das Porträt Annas, ebenfalls in derselben Weise nach der Natur gemalt von ihm wie von Michailoff, hätte Wronskiy den Unterschied zeigen müssen, welcher zwischen ihm und jenem bestand, aber er gewahrte denselben nicht. Er hörte nach der Arbeit Michailoffs nur auf, sein Porträt von Anna weiter zu malen, indem er meinte, dies sei nunmehr überflüssig geworden. Sein Gemälde aus dem mittelalterlichen Leben hingegen setzte er fort, und er selbst, wie auch Golenischtscheff und namentlich Anna fanden, daß es sehr schön sei, weil es den berühmten Bildern viel ähnlicher werde, als das Bild Michailoffs.

Dieser nun war, ungeachtet dessen, daß ihn die Porträtierung Annas sehr angezogen hatte, seinerseits noch froher als jene, als die Sitzungen zu Ende waren und er nicht mehr das Geschwätz Golenischtscheffs über Kunst anzuhören brauchte, und die Malerei Wronskiys vergessen durfte. Er wußte, daß es unmöglich war, Wronskiy zu verbieten, mit der Malerei Mutwillen zu treiben; er wußte, daß dieser ebenso wie alle anderen Dilettanten das volle Recht besaß, zu malen was ihm anstand – aber ihm war dies unangenehm. Es war eben unmöglich, einem Menschen zu untersagen, sich eine große Puppe aus Wachs zu machen und sie zu küssen. Aber wenn nun gar dieser Mensch mit der Puppe kam, und sich vor einem Verliebten hinsetzte und beginnen wollte, seine Puppe zu liebkosen, wie ein Verliebter die, welche er liebt, so mußte das dem Verliebten widerlich sein. Und dieses widerliche Gefühl empfand Michailoff beim Anblick der Malerei Wronskiys; es wurde ihm dabei komisch und ärgerlich, kläglich und grimmig zugleich zu Mut.

Die Passion Wronskiys für die Malerei und das Mittelalter hielt nicht lange an. Wronskiy besaß doch soviel Geschmack für Malerei, daß er sein Bild nicht zu beenden vermochte und es blieb liegen. Voll Bestürzung war er inne geworden, daß die Mängel des Bildes, im Anfang weniger bemerkbar, überraschend wirkten, wenn er es fortsetzte. Es ging ihm, wie Golenischtscheff, der fühlte, daß es ihm auf das Reden nicht ankomme und sich beständig damit selbst täuschte, daß nur seine Idee noch nicht ausgereift sei, daß er sie erst austragen und Material sammeln wolle. Aber Golenischtscheff hatte dies verbittert gemacht und es marterte ihn; Wronskiy hingegen vermochte sich weder selbst zu täuschen noch zu peinigen oder gar über sich selbst verbittert zu werden; mit der ihm eigenen Charakterfestigkeit hörte er eben auf, ohne eine Erklärung oder Rechtfertigung, zu malen.

Ohne diese Beschäftigung indessen erschien ihnen – sowohl ihm wie Anna, die sich über seine Ernüchterung verwunderte – das Leben nun so langweilig in der italienischen Stadt, wurde der Palazzo plötzlich so sichtlich alt und schmutzig, schauten die Flecken auf den Gardinen so unangenehm hervor, die Ritzen auf den Fußböden, die abgefallene Stuccatur an den Karnisen, wurde ihnen auch der ewige Golenischtscheff, der italienische Professor und ein deutscher Reisender nach und nach so langweilig, daß man dieses Leben ändern mußte. Man beschloß, nach Rußland auf das Land zu gehen. In Petersburg gedachte Wronskiy mit seinem Bruder eine Vermögensteilung vorzunehmen, während Anna ihren Sohn wiedersehen wollte. Den Sommer beabsichtigten sie aus dem großen Erbbesitz Wronskiys zu verleben.

14.

Lewin war seit drei Monaten verheiratet. Er war glücklich, aber nicht ganz so wie er erwartet hatte. Auf jedem Schritte begegnete er der Enttäuschung in früheren Träumen, doch auch neuen, unerwarteten Reizen. Er war glücklich, sah aber, nachdem er ins Familienleben getreten war, auf jedem Schritte, daß dieses durchaus nicht so war, wie er es sich vorgestellt hatte. Auf jedem Schritte erfuhr er an sich, was ein Mensch fühlen mag, der sich an der glatten glücklichen Fahrt eines Nachens auf dem See ergötzt, nachdem er sich etwa selbst hineingesetzt hat. Er sah, daß er, indem er schon ruhig sitzen mußte und nicht schaukeln durfte, sich auch noch dessen bewußt sein mußte – ohne nur eine Minute zu vergessen, wohin er fahren wollte – daß unter seinen Füßen Wasser war und er rudern mußte, und daß dies den nicht daran gewöhnten Händen mühsam wurde. Die Sache sah wohl sehr leicht aus, aber sie zu vollbringen – wenn es auch mit viel Freude verbunden war – blieb doch sehr schwierig.

Als Junggeselle hatte er oft, auf das Eheleben mit seinen kleinlichen Sorgen, seinem Streit, seiner Eifersucht blickend, geringschätzig in seinem Innern gelächelt. In seinem künftigen Eheleben konnte nach seiner Überzeugung nicht nur nichts Ähnliches existieren, es sollten sogar alle äußerlichen Formen desselben, wie ihm dünkte, dem Leben der anderen in allem vollständig unähnlich sein. Plötzlich aber hatte sich anstatt dessen auch sein Leben mit seinem Weibe nicht nur nicht besonders gestaltet, sondern sich im Gegenteil, gerade aus all jenen kleinlichsten Kleinigkeiten zusammengesetzt, die er vordem so sehr verachtet hatte, die aber jetzt, gegen seinen Willen, eine ungewöhnliche und unabweisbare Bedeutung erhalten hatten. Lewin erkannte auch, daß die Regelung aller dieser Kleinigkeiten durchaus nicht so leicht war, als ihm früher geschienen hatte. Ungeachtet dessen, daß Lewin glaubte, die richtigsten Begriffe vom Eheleben zu besitzen, stellte er sich, wie alle Männer, das Familienleben unwillkürlich nur als eine Befriedigung seiner Liebe vor, der kein Hindernis mehr in den Weg treten durfte, und von welcher ihn keine kleinlichen Sorgen abziehen sollten. Er sollte nach seiner Auffassung seine Arbeit verrichten und von derselben ausruhen im Glück der Liebe. Sie sollte daher auch nur geliebt werden; allein er hatte dabei, wie alle Männer, vergessen, daß auch sie arbeiten müsse. Er wunderte sich, wie sie, die poetische, reizende Kity, nicht in den ersten Wochen, nein, schon in den ersten Tagen des Ehelebens bereits, denken, sich erinnern, sich sorgen konnte um Tischtücher, Möbel, Matratzen für die anreisenden Besuche, das Geschirr, den Koch, das Essen und dergleichen. Schon als Bräutigam war er in Erstaunen gesetzt worden von der Bestimmtheit, mit welcher sie auf eine Reise ins Ausland verzichtete und sich dafür entschieden hatte, auf das Dorf zu gehen, gerade als ob sie schon wüßte, was not thue, und daß sie außer an ihre Liebe, auch noch an Nebensächliches denken könne. Dies hatte ihn damals verstimmt, und auch jetzt verstimmten ihn mehrmals ihre kleinen Mühen und Sorgen. Doch er sah, daß ihr dies ein Bedürfnis war, und da er sie liebte, so konnte er nicht umhin, sich über diese Sorgsamkeit zu freuen, wenn er auch nicht wußte weshalb, und wenn er auch darüber spöttelte.

Er lächelte darüber, wie sie die Möbel stellte, welche aus Moskau gebracht worden waren, wie sie ihr Zimmer und seines neu ausschmückte, Gardinen aufsteckte, über die künftige Unterbringung der Besuche verfügte, wie die Dollys; ferner wie sie ihre neue Zofe unterbrachte, wie sie dem alten Koch das Menü vorschrieb und mit Agathe Michailowna in Widerspruch geriet und diese der Verwaltung der Speisekammer enthob. Er sah, daß der alte Koch lächelte und damit zufrieden war, sah, daß Agathe Michailowna bedenklich, aber freundlich den Kopf schüttelte über die neuen Verfügungen der jungen Herrin in der Vorratskammer; er sah, wie Kity ungewöhnlich lieblich war, wenn sie lachend und weinend zugleich, zu ihm kam, um ihm mitzuteilen, daß die Magd Mascha gewöhnt sei, Agathe als Herrin zu betrachten, und daß deshalb niemand auf sie höre. Ihm erschien dies lieblich, aber auch seltsam, und er dachte es würde wohl besser sein, wenn dies nicht wäre.

Er kannte jenes Gefühl der Veränderung nicht, welches sie nun kennen gelernt, nachdem sie daheim wohl bisweilen einmal nach Kohl mit Kwas oder Konfekt verlangt hatte, ohne daß dies oder jenes zu haben gewesen wäre, während sie jetzt befehlen durfte, was sie wollte, ganze Haufen von Konfekt kaufen, Geld soviel sie wollte ausgeben, oder Backwerk bestellen konnte nach Herzenslust.

Mit Freude dachte sie jetzt auch der Ankunft Dollys und der Kinder, besonders deswegen, weil sie für jedes der Kinder dessen Lieblingsgebäck hatte backen lassen, und Dolly ihre ganze neue Einrichtung abschätzen lassen wollte. Sie wußte zwar selbst nicht, warum und zu welchem Zwecke, aber das Hauswesen zog sie unwiderstehlich an. Instinktiv fühlte sie das Nahen des Frühlings und wohl wissend, daß es auch für sie schwere Stunden geben werde, baute sie sich, wie sie es verstand, ihr Nest, und mühte sich zu gleicher Zeit zu lernen, wie man bauen müsse.

Diese pedantische Sorglichkeit Kitys, dem Ideal Lewins von einem erhabenen Glück der ersten Zeit so sehr entgegengesetzt, war eine der Enttäuschungen. Diese liebliche Fürsorge, deren Sinn er nicht begriff, die er aber lieben mußte, war die erste der neuen Enttäuschungen.

Eine zweite Ernüchterung, zugleich aber auch einen Reiz bildeten die Zwiste. Lewin hatte sich nie vorstellen können, daß zwischen ihm und seinem Weibe andere Beziehungen, als zärtliche, achtungsvolle und liebevolle bestehen könnten, und plötzlich, gleich von den ersten Tagen an, gerieten sie einmal so in Zwist, daß sie zu ihm sagte, er liebe sie gar nicht, liebe nur sich selbst und nun zu weinen begann, und die Arme hochhob.

Dieser erste Streit kam davon her, daß Lewin nach einer neuen Meierei gefahren und eine halbe Stunde länger geblieben war, weil er auf einem kürzeren Wege hatte heimfahren wollen, in welchem er sich jedoch geirrt hatte. Er fuhr heim, nur in Gedanken an sie, an ihre Liebe und sein Glück, und je näher er kam, um so heißer wallte in ihm die Zärtlichkeit für sie. Er eilte nach ihrem Zimmer noch mit der nämlichen Empfindung – ja einer noch stärkeren – als die gewesen, mit der er sich dem Hause der Schtscherbazkiy genähert hatte, um seine Werbung anzubringen. Da aber begegnete ihm plötzlich ein finsterer, noch nie an ihr gesehener Ausdruck; er will sie küssen, sie stößt ihn von sich.

»Was hast du?«

»Du hast ja recht gute Laune,« begann sie, sich bemühend, ruhig und sarkastisch zu erscheinen.

Kaum aber hat sie den Mund geöffnet, als der Redestrom der Vorwürfe einer sinnlosen Eifersucht sich ihr entrang, alles dessen, was sie in dieser halben Stunde gemartert hatte, die von ihr, indem sie unbeweglich am Fenster saß verbracht worden war. Da erkannte er zum erstenmal klar, was er noch nicht gewußt, als er sie nach der Trauung aus der Kirche geführt hatte. Er erkannte, daß sie ihm nicht nur nahe stehe, sondern daß er jetzt nicht einmal mehr wisse, wo sie aufhöre und wo er anfange. Er empfand dies an jenem quälenden Gefühl der Zweiheit, welches er in dieser Minute hatte. Im ersten Augenblick war er verletzt, ebenso schnell aber wurde er auch inne, daß er von ihr nicht verletzt werden könne, daß sie ja er selbst sei. Er empfand in diesem ersten Augenblick ein Gefühl, ähnlich dem, welches ein Mensch hat, wenn er, plötzlich einen starken Schlag von hinten erhaltend, sich gereizt und mit dem Wunsch nach Rache umwendet, den Schuldigen zu entdecken, sich aber dabei überzeugt, daß er sich unvermutet selbst geschlagen hat, und daher niemandem zürnen dürfe, sondern seinen Schmerz überwinden und beschwichtigen müsse.

Niemals hatte er dies mit solcher Macht in der Folge wieder empfunden, aber jenes erste Mal konnte er sich lange Zeit darüber selbst nicht wieder finden. Ein natürliches Gefühl erheischte von ihm, daß er sich rechtfertigte und ihr ihre Schuld vorhalte; dies aber thun, hieß sie nur noch mehr reizen und den Bruch noch größer machen, der die Ursache des ganzen Leides bildete. Die eine, gewöhnlich vorhandene Empfindung zog ihn, die Schuld von sich ab und auf sie zu wälzen, eine andere, noch viel stärkere aber, schnell – so schnell als möglich – den stattfindenden Gefühlsausbruch, zu besänftigen und ihn nicht stärker werden zu lassen. Es war qualvoll, unter einer ungerechten Beschuldigung zu leiden, allein sich zu rechtfertigen und ihr wehe zu thun, war noch schlimmer. Wie ein Mensch im Halbschlaf, der von einem Schmerz gequält ist, so wollte er jetzt die schmerzende Stelle losreißen, von sich werfen und fühlte, als er zur Besinnung kam, daß diese schmerzende Stelle – er selbst war. – Man konnte sich somit nur bemühen, der kranken Stelle behilflich zu sein, zu dulden, und er bemühte sich denn, dies zu thun.

Beide söhnten sich aus; sie, indem sie ihre Schuld einsah, ohne sie jedoch einzugestehen, wurde wieder zärtlich gegen ihn, und beide verspürten ein neues verdoppeltes Glück in ihrer Liebe. Dies hinderte indessen nicht, daß sich diese Zusammenstöße nicht wiederholten, ja sogar ziemlich häufig, und bei den unerwartetsten und geringfügigsten Anlässen. Diese Zusammenstöße entstanden oft daraus, daß sie noch nicht wußten, was das Eine für das Andere bedeutete, daraus, daß sie in dieser ganzen ersten Zeit beide häufig in schlechter Laune waren. Befand sich der eine Teil in guter, der andere in übler Stimmung, so wurde der Frieden nicht gestört, wenn sich aber beide gerade in Mißstimmung befanden, so entstanden Zwiste aus Ursachen, die ihrer Nichtigkeit halber so unbegreiflich waren, daß beide sich nachher durchaus nicht mehr zu entsinnen vermochten, worüber sie sich entzweit hatten. Allerdings verdoppelte sich hingegen das Glück ihres Lebens, wenn sie beide bei guter Stimmung waren. Nichtsdestoweniger war aber doch diese erste Zeit eine schwere für sie.

Während dieser ganzen Zeit hatte sich eine lebhafte Spannung, gleich einem Zerren nach den beiden Enden einer Kette, durch die sie verbunden waren, fühlbar gemacht.

Überhaupt war jener Honigmonat, das heißt der Monat nach der Hochzeit, von dem sich Lewin, der Überlieferung nach, so viel versprochen hatte, nicht nur nicht süß, sondern bildete vielmehr in der Erinnerung beider gerade die schwerste und niederdrückendste Periode ihres Lebens. Indessen bemühten sie sich beide für ihr späteres Leben alle die häßlichen und beschämenden Umstände dieser ungesunden Zeit, in der sie doch beide selten in normalem Seelenzustand, selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnis zu verwischen.

Erst im dritten Monat ihres Ehestandes, nach der Rückkehr von Moskau, wohin sie sich für einen Monat begeben hatten, gestaltete sich ihr Leben geebneter.

15.

Sie waren kaum von Moskau wieder zurückgekommen und freuten sich nun ihrer Einsamkeit. Er saß im Kabinett am Schreibtisch und schrieb; sie, in jenem dunkellila Kleid, welches sie in den ersten Tagen ihres Ehestandes getragen und heute wiederum angelegt hatte, und das besonders denkwürdig und teuer für ihn war, saß auf dem Diwan, dem nämlichen altmodischen Lederdiwan, der stets unter dem Großvater und Vater Lewins im Kabinett gestanden hatte und stickte eine broderie anglaise. Er sann und schrieb, fortwährend in dem angenehmen Gefühl ihrer Gegenwart. Seine Beschäftigung, sowohl die mit der Landwirtschaft, als seinem Werke, in welchem die Prinzipien einer neuen Landwirtschaft dargelegt werden sollten, war nicht von ihm aufgegeben worden, aber so wie ihm vordem schon diese Arbeiten und Ideen klein und geringfügig erschienen waren im Vergleich mit dem Dunkel, welches das ganze Leben bedecke, so erschienen sie ihm auch jetzt noch unwichtig und kleinlich im Vergleich mit dem vom warmen Lichtglanz des Glückes überfluteten Leben, das vor ihm lag. Er setzte seine Arbeiten fort, empfand aber jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit auf etwas Anderes übergegangen sei und er infolge dessen ganz anders und klarer auf die Sache blickte. Vordem war für ihn diese Beschäftigung sein Lebensheil gewesen, vordem hatte er empfunden, daß ohne dieselbe sein Dasein allzu düster sein würde; jetzt aber waren ihm diese Arbeiten notwendig, damit ihm das Leben nicht zu einförmig erhellt sein möchte. Nachdem er sich von neuem seinen Manuskripten gewidmet hatte, fand er beim Durchlesen des Geschriebenen mit Genugthuung, das Werk sei es wert, daß er sich mit ihm befaßte. Viele der früheren Ideen zeigten sich ihm zwar überflüssig oder übertrieben, aber vieles noch Fehlende wurde ihm auch klar, als er das ganze Werk in seinen Gedanken wieder auffrischte. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel über die Gründe der ungünstigen Lage des Ackerbaues in Rußland. Er legte dar, daß die Armut Rußlands nicht nur von der unregelmäßigen Verteilung des Grundbesitzes und falscher Methode herrühre, sondern auch in der letzten Zeit die in Rußland in nicht normaler Weise zur Entwickelung gelangte äußerliche Civilisation hierzu beigetragen habe, insbesondere durch die Verkehrswege, die Eisenbahnen, welche die Centralisierung in den Städten mit sich gebracht hätten, die Entwickelung des Luxus, und in der Folge hiervon, zum Schaden für die Landwirtschaft, die Entwickelung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und seines Trabanten – des Börsenspiels. –

Ihm schien, daß bei einer normalen Entwickelung des Wohlstandes im Reiche, alle diese Erscheinungen erst auftreten, nachdem man auf die Landwirtschaft schon bedeutende Mühe verwendet hätte und dieselbe in gesetzliche, oder wenigstens bestimmte Verhältnisse getreten sei; daß der Reichtum einer Gegend in gleichmäßigem Wachstum stehen müsse, und insbesondere in der Weise, daß andere Schößlinge der Kapitalwirtschaft nicht der Landwirtschaft zuvorkommen dürften, daß im Einklang mit notorisch bekannten Verhältnissen der Landwirtschaft auch dementsprechende Verkehrswege dafür vorhanden sein müßten; und daß bei der gegenwärtigen ungeregelten Ausnutzung des Bodens die Eisenbahnen, welche nicht einem landwirtschaftlichen, sondern einem politischen Bedürfnis entsprängen, verfrüht wären, und, anstatt zu der Hebung der Landwirtschaft, welche letztere man doch von ihnen erwarte beizutragen, dem Landbau zuvorkommend, nur eine Entwickelung der Industrie und des Kredits hervorriefen, jenen aber hemmten. Er bewies, daß weil nun die einseitige und verfrühte Entwickelung eines einzelnen Organs im lebenden Organismus dessen Gesamtentwickelung hemmte, auch der Kredit auf die allgemeine Entwickelung des Wohlstandes in Rußland, die Verkehrswege, den Kraftaufwand der industriellen Thätigkeit, die in Europa so zweifellos notwendig, weil alle zur rechten Zeit entstanden seien, in Rußland nur Schaden verursachten, indem sie die Hauptfrage der Organisierung des Ackerbaues verdrängten.

Während er so seine Ideen niederschrieb, dachte sie daran, wie unnatürlich aufmerksam ihr Gatte gegen den jungen Fürsten Tscharskiy gewesen sei, der ihr am Abend vor der Abreise sehr taktlos die Cour gemacht hatte.

»Er ist offenbar eifersüchtig,« dachte sie; »mein Gott, wie gut und befangen er ist! Er ist eifersüchtig auf mich! Wenn er wüßte, daß alle für mich soviel sind, wie Peter der Koch.« Und mit einer ihr selbst wunderlichen Empfindung von Selbstgefühl blickte sie auf seinen Nacken und den rotschimmernden Hals. »Es ist zwar schade, ihn seiner Arbeit zu entreißen – er macht Fortschritte – so muß ich doch sein Gesicht sehen; ob er wohl fühlt, daß ich nach ihm schaue? Ich will, daß er sich umwendet! Ich will es, nun!« und sie öffnete die Augen weiter, im Wunsche, damit die Wirkung ihres Blickes zu verstärken.

»Ja, sie saugen alle Säfte in sich auf und geben einen falschen Glanz,« murmelte er, mit Schreiben innehaltend, und blickte sich um, indem er fühlte, daß sie auf ihn schaue, und lächelte.

»Was ist?« frug er noch lächelnd, und erhob sich.

»Er hat sich umgeblickt,« dachte sie.

»Nichts. Ich wollte nur, daß du dich umschautest,« versetzte sie, ihn anblickend und zu erraten suchend, ob es ihm unangenehm gewesen sei oder nicht, daß sie ihn gestört habe.

»Wie wohl wir uns doch so zu Zweien befinden! Ich wenigstens,« sagte er, zu ihr hintretend und von einem Lächeln des Glückes strahlend.

»Auch mir ist so wohl! Ich werde nirgends mehr hinfahren, namentlich nicht nach Moskau.«

»Woran dachtest du denn eigentlich?«

»Ich? Ich habe gedacht – nein, nein, geh nur, schreib, zerstreue dich nicht,« sprach sie, die Lippen kräuselnd, »ich muß jetzt diese kleinen Löcher hier ausschneiden, siehst du?« –

Sie ergriff die Schere und begann auszuschneiden.

»Ach nein, sage mir doch, woran dachtest du?« sagte er, sich zu ihr setzend und der kreisförmigen Bewegung der kleinen Schere folgend.

»O, woran ich dachte? Ich dachte? An Moskau, an deinen Nacken.«

»O, warum mir solch ein Glück? Es ist übernatürlich. Das ist zu schön,« sagte er, ihr die Hand küssend.

»Mir ist es im Gegenteil um so schöner, je natürlicher es ist.«

Du hast da ein Zöpfchen,« sagte er, behutsam ihren Kopf wendend. »Ein Zöpfchen. Siehst du hier. Doch nein, nein, arbeiten wir!«

Die Arbeit wurde indessen nicht mehr fortgesetzt, und sie fuhren wie schuldbewußt auseinander, als Kusma eintrat, um zu melden, daß der Thee serviert sei.

»Ist aus der Stadt Etwas angekommen?« frug Lewin Kusma.

»Soeben. Es wird ausgepackt.«

»Komm sobald als möglich,« sagte sie zu ihm, das Kabinett verlassend, sonst werde ich in deiner Abwesenheit die Briefe lesen. Wir wollen auch vierhändig spielen.«

Allein geblieben, packte er seine Hefte in das neu von ihr gekaufte Portefeuille und wusch sich alsdann die Hände in dem neuen Waschbecken und mit dem neuen, mit ihr zugleich hier erschienenen eleganten Zubehör. Lewin lächelte über seine Gedanken und schüttelte mißbilligend den Kopf darüber; eine Empfindung, die der Reue ähnlich war, quälte ihn. Etwas Beschämendes, Verweichlichtes, Capuanisches, wie er es sich selbst nannte, lag in seiner jetzigen Lebensweise.

»Es ist nicht gut, so zu leben,« dachte er bei sich. »Bald sind es nun schon drei Monate und ich arbeite fast nichts. Heute habe ich mich beinahe zum erstenmal wieder ernstlich an eine Arbeit gemacht, und was geschah dabei? Kaum angefangen, habe ich sie wieder beiseite geworfen. Selbst meine gewöhnlichen Übungen, selbst die habe ich fast aufgegeben. Die Ökonomie, ich gehe fast gar nicht mehr nach ihr und fahre auch nicht mehr. Bald thut es mir leid, sie im Stich lassen zu müssen, bald sehe ich, daß sie sich langweilt. Habe ich doch gedacht, daß bis zur Heirat das Leben an und für sich nicht gerechnet werden kann, daß es erst nach derselben als ein wirkliches beginnt. Aber nun sind es schier drei Monate, und noch nie habe ich meine Zeit so müßig und so nutzlos hingebracht! Nein; das kann nicht mehr so fortgehen; man muß anfangen. Natürlich ist sie nicht schuld. Ihr kann man in keiner Beziehung Vorwürfe machen. Ich selbst hätte fester sein und meine männliche Unabhängigkeit wahren müssen. Indessen ist es ja möglich, sich selbst wieder daran zu gewöhnen und auch sie darin zu unterrichten; natürlich ist ihr keinerlei Schuld beizumessen,« sprach er zu sich selbst.

Es ist indessen schwer für einen unzufriedenen Menschen, einem anderen, und zwar gerade dem, der ihm am nächsten steht, in Bezug auf das, worüber er unzufrieden ist, nicht Vorwürfe zu machen. Auch Lewin war es dunkel in den Kopf gekommen, daß – nicht, daß sie selbst schuld daran gewesen wäre – sie konnte an nichts Schuld tragen – ihre Erziehung wohl schuld sei, die allzu oberflächlich und frivol gewesen war – (dieser Narr Tscharskiy; sie, das weiß ich, wollte ihn wohl von sich abweisen, aber sie verstand es nicht). Außer dem Interesse für das Haus – das heißt ihre Familie – außer ihrer Toilette und der broderie anglaise hat sie keine ernsthaften Interessen, Sie hat kein Interesse für ihre eigene Angelegenheit, die Wirtschaft, ihre Bauern, auch nicht für die Musik, in der sie doch ziemlich sicher war, noch für Lektüre. Sie thut nichts und ist doch vollständig zufrieden.

Lewin tadelte dies in seinem Innern und erkannte noch nicht, daß sie sich auf diejenige Periode ihrer Wirksamkeit vorbereite, die für sie erscheinen mußte, und in welcher sie zu gleicher Zeit als Frau ihres Gatten, und Herrin des Hauswesens Kinder zu nähren und zu erziehen haben würde. Er erkannte nicht, daß sie dies durch ihre Ahnung schon wußte und sich in der Vorbereitung auf diese schwere Mühe über die Augenblicke der Sorglosigkeit und des Liebesglückes, die sie jetzt noch genoß, keine Vorwürfe machte, sondern heiter ihr künftiges Nest sich baute.

19.

Nachdem Lewin die Kinderstube verlassen hatte und allein war, fiel ihm sogleich jener Gedanke wieder ein, in dem ihm etwas unklar geblieben war.

Anstatt in den Salon zu gehen, aus welchem Stimmen vernehmbar waren, blieb er auf der Terrasse stehen und schaute, auf das Geländer gestützt, zum Himmel hinauf.

Es war schon völlig dunkel geworden, doch im Süden, wohin er blickte, waren keine Wolken sichtbar. Diese standen auf der entgegengesetzten Seite und von dorther zuckten Blitze und war ferner Donner vernehmbar. Lewin lauschte den taktmäßig von den Linden des Gartens fallenden Regentropfen und blickte zu dem ihm so wohlbekannten Sternendreieck auf und der mitten hindurchgehenden Milchstraße mit ihrem Schimmer. Bei jedem Aufleuchten des Blitzes verschwanden nicht nur die Milchstraße, sondern auch die hellen Sterne, kaum aber war der Funke erloschen, so zeigten sie sich wieder wie von einer Hand geworfen, an ihren alten Stellen.

»Nun, was beunruhigt mich denn?« sagte Lewin zu sich, schon vorher empfindend, daß die Lösung seiner Zweifel, obwohl er dieselbe noch nicht kannte, bereits fertig in seiner Seele liege. »Ja, Eines ist die offenkundige, unzweifelhafte Offenbarung der Gottheit; das sind die Gesetze des Guten, die der Welt als Offenbarung kund gethan sind, die ich in mir fühle und zu deren Erkenntnis ich – mag ich wollen oder nicht – mit den anderen Menschen vereinigt bin zu einer einzigen Gesellschaft von Gläubigen die man Kirche nennt. Auch die Hebräer, Chinesen, Buddhisten – was sind sie?« legte er sich jene Frage vor, die ihm so gefährlich erschienen war. »Sollten diese Hunderte von Millionen Menschen jenes höchsten Gutes beraubt sein, ohne welches das Dasein keinen Sinn hat?« Er wurde nachdenklich, raffte sich aber sogleich wieder auf, »wonach frage ich denn? Ich frage nach den Beziehungen aller der verschiedenen Glaubensrichtungen der ganzen Menschheit zur Gottheit. Ich frage nach der allgemeinen Offenbarung Gottes für die ganze Welt mit all diesen Nebelflecken dort oben. Was aber thue ich? Mir persönlich, meinem Herzen ist jene Erkenntnis unzweifelhaft geoffenbart, die unerreichbar bleibt für den Verstand, während ich sie hartnäckig durch meinen Verstand und mein Wort ausdrücken will. Weiß ich denn nicht, daß die Sterne nicht wandelten?« frug er sich, nach einem hellleuchtenden Planeten aufschauend, der bereits seine Stellung zu dem obersten Ast einer Birke verändert hatte. »Dennoch aber kann ich mir, auf die Bewegung der Sterne blickend, nicht auch vorstellen, daß die Erde sich bewegt, und ich habe doch recht mit der Behauptung, daß die Sterne wandeln. Hätten denn die Astronomen etwas erkennen und berechnen können, wenn sie alle die verwickelten verschiedenartigen Bewegungen der Erde mit ins Auge gefaßt hätten? Alle ihre wunderbaren Schlüsse über den Abstand, das Gewicht, die Bewegungen und Veränderungen der Himmelskörper sind nur auf der wahrnehmbaren Bewegung der Gestirne rings um die unbewegliche Erde begründet, auf der nämlichen Bewegung, die jetzt vor mir liegt und so gewesen ist für Millionen von Menschen im Lauf von Jahrhunderten und stets sich gleich bleiben wird, auch stets kontrolliert werden kann. Ebenso nun, wie die Schlüsse der Astronomen müßig gewesen sein würden, wären sie nicht auf den Beobachtungen des sichtbaren Himmels mit einem Meridian und einem Horizont begründet, ebenso würden auch meine Schlüsse müßig sein, wären sie nicht auf dem Begriff des Guten begründet, das für alle stets vorhanden war und unangetastet bleiben wird, und, mir durch das Christentum geoffenbart, in meiner Seele stets beglaubigt werden kann. Die Fragen nach anderen Glaubensrichtungen und deren Beziehungen zur Gottheit habe ich weder das Recht noch das Vermögen, zu entscheiden.«

»Bist du nicht heimgegangen?« erklang plötzlich die Stimme Kitys, die auf demselben Wege nach dem Salon ging. »Was sagst du, bist du nicht bei Laune?« sprach sie, ihm aufmerksam beim Scheine der Sterne ins Gesicht blickend. Sie würde dieses aber nicht genau erkannt haben, wenn ihn nicht abermals ein Blitz, der die Sterne verdunkelte, beleuchtet hätte. Bei dem Schein desselben gewahrte sie sein Antlitz und lächelte, nachdem sie bemerkt hatte, daß es ruhig und froh erschien.

»Sie versteht,« dachte er, »sie weiß woran ich denke. Soll ich es ihr sagen oder nicht? Ja, ich sage es ihr.«

Doch gerade im Augenblick, als er zu sprechen beginnen wollte, ergriff auch sie das Wort.

»Mein Konstantin, thu‘ mir doch den Gefallen,« sagte sie, »und gehe nach dem Eckzimmer, um nachzusehen, ob für Sergey Iwanowitsch alles in Ordnung gebracht ist. Für mich ist das nicht recht schicklich. Hat man ein neues Waschbecken hineingestellt?«

»Gut, ich werde sofort gehen,« sagte Lewin, indem er aufstand und sie küßte. »Nein, ich brauche nicht zu reden,« dachte er, während sie ihm voranschritt. »Dies ist ein Geheimnis, das nur für mich war, wichtig und nicht in Worten auszudrücken. Dieses neue Gefühl hat mich nicht verraten, nicht des Glückes beraubt, mich nicht Plötzlich erleuchtet, wie ich geträumt hatte – ebensowenig wie die Empfindung für meinen Sohn. Es war auch keine Überraschung dabei. Ist dies nun der Glaube, oder ist er es nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber es ist mir unmerklich in meinen Leiden gekommen und hat sich in meiner Seele fest eingenistet. Ich werde noch immer so auf meinen Kutscher Iwan zornig werden, werde noch so weiter disputieren, meine Gedanken rückhaltlos aussprechen, es wird die heilige Mauer bestehen bleiben zwischen meiner Seele und den anderen, selbst meinem Weibe, ich werde dieses auch tadeln wegen seiner Furcht, und Reue darüber empfinden und werde nicht mit dem Verstande begreifen, warum ich bete; aber ich werde beten und mein Leben, mein ganzes Leben soll jetzt von allem unabhängig sein, was sich mit mir ereignen kann; keine Minute desselben soll mehr gedankenlos bleiben – wie früher – sondern die nicht anzuzweifelnde Idee des Guten in sich tragen, die ich die Macht besitze, ihr einzupflanzen.«

 

Ende.

17.

Der Fürst und Sergey Iwanowitsch setzten sich in den Wagen und fuhren; die übrige Gesellschaft ging langsam zu Fuß nach Haus.

Die Wolke kam indessen, bald weiß, bald schwarz, so schnell herauf, daß man den Schritt verdoppeln mußte, um noch vor dem Regen heim zu sein.

Die voraufeilenden Wolken, niedrighängend und dunkel, wie Rauch mit Ruß, kamen mit ungewöhnlicher Schnelligkeit am Himmel herauf. Bis nach dem Hause waren noch zweihundert Schritt und schon erhob sich der Wind. Jede Sekunde mußte man den Regen erwarten.

Die Kinder eilten mit erschrecktem und lustigem Geschrei voraus. Darja Aleksandrowna, die mühsam mit ihren Röcken kämpfte, welche sich um ihre Beine schlugen, ging schon nicht mehr, sondern lief, die Kinder nicht aus den Augen lassend. Die Männer gingen, ihre Hüte haltend, mit großen Schritten dahin, und waren gerade vor der Freitreppe, als ein großer Tropfen fiel und auf dem Rand der eisernen Rinne aufschlug. Die Kinder und hinter ihnen die Erwachsenen eilten in lustigem Gespräch unter das schützende Dach.

»Wo ist Katharina Aleksandrowna?« frug Lewin die ihnen im Vorzimmer begegnende Michailowna, welche die Tücher und Plaids trug.

»Wir dachten, sie käme mit Euch,« sagte sie.

»Und Mitja?«

»Ist wohl im Wäldchen, die Kinderfrau wird bei ihm sein.«

Lewin ergriff sein Plaid und eilte nach dem Wäldchen.

Während der kurzen Zwischenzeit hatte sich die Wolke schon so weit heraufbewegt, daß sie mit ihrem Mittelpunkt die Sonne deckte, und es so dunkel geworden war wie bei einer Sonnenfinsternis.

Der Wind blies hartnäckig, als bestehe er auf seinem Rechte, und erschwerte Lewin das Gehen; er riß Blätter und Blüten von den Linden ab und beugte ungeschlacht die weißen Äste der Birken nach einer Seite nieder, die Akazien, die Blumen, das Gras und die Wipfel der Bäume. Mägde, die im Garten gearbeitet hatten, liefen mit Geschrei unter das Dach des Gesindehauses. Der weiße Schleier des strömenden Regens hatte schon den ganzen, fernen Wald bedeckt und die Hälfte des Feldes, und bewegte sich schnell auf das Wäldchen zu. Die Feuchtigkeit des Regens, der in feine Tröpfchen zersprühte, war in der Luft zu spüren.

Den Kopf nach vorn niedergebeugt und mit dem Winde kämpfend, der ihm das Tuch entriß, war Lewin schon an das Wäldchen gelangt; schon hatte er etwas Weißes hinter einer Eiche erblickt, als plötzlich alles in Flammen stand, die ganze Erde aufloderte und gerade über Lewins Kopfe das Himmelsgewölbe krachend erbebte. Die geblendeten Augen öffnend, erblickte Lewin durch den dichten Schleier des Regens, der ihn jetzt vom Wäldchen trennte, zunächst den grünen Wipfel der ihm bekannten Eiche inmitten des Waldes, welcher in sonderbarer Weise seine Stellung verändert hatte.

»Sollte sie zersplittert sein?« – Lewin hatte dies noch kaum gedacht, als plötzlich der Wipfel der Eiche mehr und mehr die Bewegung beschleunigend, hinter den anderen Bäumen verschwand. Er vernahm das Krachen der auf die umgebenden Bäume stürzenden, großen Eiche.

Das Licht des Blitzes, das Hallen des Donners und die Empfindung von einem ihn plötzlich mit Kälte umgebenden Körper flossen für Lewin in einem einzigen Eindruck des Schreckens zusammen.

»Mein Gott! Mein Gott! Wenn es nur sie nicht getroffen hat!« brachte er hervor. Obwohl er sich sogleich sagte, wie sinnlos die Bitte von ihm war, sie möchten von der Eiche nicht getroffen worden sein, die nun doch schon gestürzt lag, wiederholte er dieselbe nochmals, da er nichts Besseres als so gedankenlos zu beten, zu thun wußte.

An dem Platze, wo sie sich gewöhnlich aufhielten, fand er sie nicht. Sie waren am anderen Rande des Waldes unter einer alten Linde und riefen ihn. Zwei Gestalten in dunkeln Kleidern – sie waren vorher hell gewesen – standen dort, über etwas gebeugt. Es war Kity und die Kinderfrau. Der Regen hatte bereits aufgehört, und es begann wieder hell zu werden, als Lewin sie erreichte. Die Kinderfrau hatte die Unterkleider noch trocken, Kitys Kleid aber war durch und durch naß und klebte. Obwohl kein Regen mehr fiel, verharrten sie noch immer in der Stellung, die sie eingenommen hatten, als das Gewitter losbrach. Beide standen mit einem grünen Sonnenschirme über den kleinen Wagen gebeugt.

»Lebt Ihr? Seid Ihr unversehrt? Gott sei gedankt!« sprach er, mit dem wassergefüllten Stiefel in das Wasser tretend, welches sich noch nicht verlaufen hatte.

Das gerötete, feuchte Gesicht Kitys war ihm zugewandt und lächelte sanft unter dem Hute hervor, der seine Façon verloren hatte.

»Du müßtest dir aber Vorwürfe machen! Ich begreife nicht, wie man so unvorsichtig sein kann!« sagte er ärgerlich zu seinem Weibe.

»Ich bin bei Gott nicht schuld. Wir wollten gerade fort, da ging es los. Wir mußten das Kind anders legen und waren kaum« – entschuldigte sich Kity.

Mitja war unversehrt, trocken und schlief ruhig fort.

»Gott sei gedankt! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Sie nahmen die nassen Windeln, die Kinderfrau wickelte das Kind aus und trug es. Lewin ging neben seiner Frau; er machte sich Vorwürfe wegen seiner Heftigkeit und drückte ihr, nur verstohlen, wegen der Kinderfrau, die Hand.

18.

Während des ganzen Tages empfand Lewin in den verschiedensten Gesprächen, an denen er gleichsam nur mit der Außenseite seines Verstandes teilnahm, mit Freude, wie voll sein Herz war.

Nach dem Regen war es zu naß zum Spazierengehen geworden; dazu kam, daß auch die Gewitterwolken nicht vom Horizonte wichen, sondern donnernd und dunkel am Rande des Himmels bald hierhin bald dorthin zogen. Die ganze Gesellschaft verbrachte daher den Rest des Tages im Hause.

Debatten gab es nicht mehr, im Gegenteil befand sich alles nach dem Mittagessen bei bester Laune.

Katawasoff unterhielt die Damen anfangs mit seinen originellen Späßen, die stets so gut gefielen, sobald man mit ihm bekannt wurde, sprach aber dann, von Sergey Iwanowitsch aufgefordert, über seine sehr interessanten Beobachtungen des Unterschieds in den Charakteren und selbst Physiognomien der männlichen und weiblichen Mücken, sowie von deren Leben.

Sergey Iwanowitsch war gleichfalls gut aufgelegt und entwickelte, vom Bruder veranlaßt, beim Thee seine Ansicht über die Zukunft der Frage bezüglich des Ostens, so einfach und so gut, daß ihm alles lauschte.

Nur Kity konnte ihn nicht zu Ende hören; man rief sie zu Mitja, der gewaschen werden sollte.

Wenige Minuten, nachdem Kity verschwunden war, wurde Lewin zu ihr in die Kinderstube gebeten. Seinen Thee stehen lassend, ging er, die Unterbrechung des interessanten Gesprächs bedauernd, zugleich aber auch besorgt über den Grund weshalb man ihn rufe – er wurde nur bei wichtigen Dingen gerufen – in die Kinderstube.

Obwohl ihn der nicht zu Ende gehörte Plan Sergey Iwanowitschs, wie die befreite Welt der vierzig Millionen Slaven mit Rußland zusammen eine neue historische Epoche herbeiführen müsse, ein Plan, der für ihn als etwas völlig Neues sehr interessant war – obwohl ihn daher die Neugier, zugleich aber auch die Besorgnis, weshalb man ihn rufe, quälten – so fielen ihm doch, sobald er allein war und den Salon hinter sich hatte, seine Gedanken vom Morgen wieder ein, und alle die Betrachtungen über die Bedeutung des slavischen Elements in der Weltgeschichte erschienen ihm nun so nichtig im Vergleich zu dem, was in seiner Seele geschah, daß er augenblicklich alles dies vergaß und sich wieder in die Stimmung versetzte, in der er heute Morgen gewesen.

Er rief sich jetzt nicht mehr wie früher erst seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück – das brauchte er nicht mehr – sondern versetzte sich sofort in das Gefühl, welches ihn beherrschte, und mit jenen Gedanken in Verbindung stand, und fand dasselbe in seiner Seele noch weit stärker und bestimmter geworden, als früher. Es ging ihm jetzt nicht mehr so, wie bei seinen früheren künstlich ersonnenen Beruhigungsversuchen, bei denen er seinen gesamten Gedankengang wieder zusammenstellen mußte, um ein Gefühl zu finden. Jetzt war im Gegenteil die Empfindung der Freude und Ruhe lebendiger als vorher und sein Denken reifte gar nicht vor seinem Fühlen.

Er schritt über die Terrasse und schaute nach zwei Sternen, die an dem schon dunkelnden Himmel hervortraten, und plötzlich fiel ihm ein, »ja, zum Himmel emporblickend, habe ich gegrübelt, daß das Gewölbe da oben, welches ich sehe, nicht wirklich sei, dabei aber ein Etwas nicht mitbedacht, was ich vor mir selbst verbarg! Nun, was dort oben auch sein mag, einen Einwand kann es nicht geben. Man muß das Wohl bedenken – und alles klärt sich dann auf.«

Schon bei seinem Eintritt in die Kinderstube fiel es ihm bei, was er sich selbst verhehlt hatte. Es war dies: »Wenn der höchste Beweis der Gottheit in deren Offenbarung, im Wesen des Guten beruhte, weshalb beschränkte sich dann diese nur auf die christliche Kirche? In was für Beziehungen zu dieser Offenbarung standen nun die Glaubensbekenntnisse der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch an das Gute glaubten und es thaten?«

Ihm schien, daß es eine Antwort auf diese Frage für ihn gab, doch hatte er sich diese noch nicht gegeben, da trat er schon in die Kinderstube ein.

Kity stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Wanne über das plätschernde Kind gebeugt und wandte, als sie die Schritte des Gatten hörte, diesem ihr Gesicht zu. Sie rief ihn lächelnd zu sich. Mit der einen Hand hielt sie den wohlgenährten Kleinen, der auf dem Rücken schwamm, unter dem Köpfchen mit der andern drückte sie ein Schwämmchen über ihm aus.

»Ach, sieh nur sieh,« sagte sie, als ihr Mann herzutrat. »Agathe Michailowna hat Recht. Es erkennt uns schon.«

Es hatte sich also darum gehandelt, daß Mitja feit dem heutigen Tage augenscheinlich schon alle die Seinen erkannte.

Kaum war Lewin an die Wanne getreten, so wurde vor ihm der Versuch angestellt, und er gelang vollständig. Die Köchin, die eigens dazu herbeigerufen worden war, beugte sich über das Kind. Das Kind machte ein mürrisches Gesicht und bewegte ablehnend das Köpfchen. Nun beugte sich Kith darüber, da erglänzte es von einem Lächeln, stemmte sich mit den Ärmchen gegen den Schwamm und stieß einen so behaglichen und eigentümlichen Laut aus, daß nicht nur Kity und die Kinderfrau, sondern auch Lewin in ungeahntes Entzücken gerieten. Man nahm das Kind auf einem Arme aus der Wanne, spülte es mit Wasser ab, wickelte es in ein Tuch und gab es, nachdem nochmals ein durchdringender Schrei ertönt war, der Mutter.

»Ich freue mich nur, daß du anfängst, es lieb zu gewinnen,« sagte Kity zu ihrem Gatten, nachdem sie sich, das Kind am Busen, ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. »Ich freue mich sehr darüber. Es hatte mich auch schon recht erbittert. Du sagtest doch, daß du gar nichts für den Kleinen fühltest.«

»Nun, habe ich etwa gesagt, ich fühlte nichts für ihn? Ich habe nur gesagt, daß ich von ihm enttäuscht worden wäre.«

»Wie; von dem Kinde enttäuscht?«

»Nicht von ihm enttäuscht, Wohl aber von meinem Gefühl. Ich hatte mehr erwartet. Ich hatte erwartet, daß sich, gleich einer Überraschung, in mir ein ganz neues und angenehmes Gefühl regen würde. Und plötzlich, anstatt dessen, fühlte ich nur Widerwillen und Mitleid« –

Sie hörte ihm aufmerksam zu, während sie ihre Ringe wieder auf die seinen Finger steckte, die sie vorher abgestreift hatte, um das Kind zu baden.

»Die Hauptsache dabei war doch, daß es bei weitem mehr Schrecken und Schmerz gegeben hat, als Freude. Heute, nach dem Schrecken während des Gewitters habe ich erkannt, wie ich das Kind liebe.«

Kity erstrahlte von einem Lächeln.

»Du warst wohl sehr in Schrecken?« frug sie. »Ich war es auch, doch ist mir es jetzt noch viel ängstlicher zu Mut, nachdem es vorbei ist. Ich werde mir die Eiche besehen. O wie lieb doch Mitja ist! Das Kind ist überhaupt den ganzen Tag so reizend gewesen, doch du bist wohl so gut, dich mit Sergey Iwanowitsch zu beschäftigen – wenn du willst – geh‘ doch jetzt zu ihm. Es ist so wie so hier bei der Wanne stets sehr heiß und dunstig.«

19.

Nachdem Lewin die Kinderstube verlassen hatte und allein war, fiel ihm sogleich jener Gedanke wieder ein, in dem ihm etwas unklar geblieben war.

Anstatt in den Salon zu gehen, aus welchem Stimmen vernehmbar waren, blieb er auf der Terrasse stehen und schaute, auf das Geländer gestützt, zum Himmel hinauf.

Es war schon völlig dunkel geworden, doch im Süden, wohin er blickte, waren keine Wolken sichtbar. Diese standen auf der entgegengesetzten Seite und von dorther zuckten Blitze und war ferner Donner vernehmbar. Lewin lauschte den taktmäßig von den Linden des Gartens fallenden Regentropfen und blickte zu dem ihm so wohlbekannten Sternendreieck auf und der mitten hindurchgehenden Milchstraße mit ihrem Schimmer. Bei jedem Aufleuchten des Blitzes verschwanden nicht nur die Milchstraße, sondern auch die hellen Sterne, kaum aber war der Funke erloschen, so zeigten sie sich wieder wie von einer Hand geworfen, an ihren alten Stellen.

»Nun, was beunruhigt mich denn?« sagte Lewin zu sich, schon vorher empfindend, daß die Lösung seiner Zweifel, obwohl er dieselbe noch nicht kannte, bereits fertig in seiner Seele liege. »Ja, Eines ist die offenkundige, unzweifelhafte Offenbarung der Gottheit; das sind die Gesetze des Guten, die der Welt als Offenbarung kund gethan sind, die ich in mir fühle und zu deren Erkenntnis ich – mag ich wollen oder nicht – mit den anderen Menschen vereinigt bin zu einer einzigen Gesellschaft von Gläubigen die man Kirche nennt. Auch die Hebräer, Chinesen, Buddhisten – was sind sie?« legte er sich jene Frage vor, die ihm so gefährlich erschienen war. »Sollten diese Hunderte von Millionen Menschen jenes höchsten Gutes beraubt sein, ohne welches das Dasein keinen Sinn hat?« Er wurde nachdenklich, raffte sich aber sogleich wieder auf, »wonach frage ich denn? Ich frage nach den Beziehungen aller der verschiedenen Glaubensrichtungen der ganzen Menschheit zur Gottheit. Ich frage nach der allgemeinen Offenbarung Gottes für die ganze Welt mit all diesen Nebelflecken dort oben. Was aber thue ich? Mir persönlich, meinem Herzen ist jene Erkenntnis unzweifelhaft geoffenbart, die unerreichbar bleibt für den Verstand, während ich sie hartnäckig durch meinen Verstand und mein Wort ausdrücken will. Weiß ich denn nicht, daß die Sterne nicht wandelten?« frug er sich, nach einem hellleuchtenden Planeten aufschauend, der bereits seine Stellung zu dem obersten Ast einer Birke verändert hatte. »Dennoch aber kann ich mir, auf die Bewegung der Sterne blickend, nicht auch vorstellen, daß die Erde sich bewegt, und ich habe doch recht mit der Behauptung, daß die Sterne wandeln. Hätten denn die Astronomen etwas erkennen und berechnen können, wenn sie alle die verwickelten verschiedenartigen Bewegungen der Erde mit ins Auge gefaßt hätten? Alle ihre wunderbaren Schlüsse über den Abstand, das Gewicht, die Bewegungen und Veränderungen der Himmelskörper sind nur auf der wahrnehmbaren Bewegung der Gestirne rings um die unbewegliche Erde begründet, auf der nämlichen Bewegung, die jetzt vor mir liegt und so gewesen ist für Millionen von Menschen im Lauf von Jahrhunderten und stets sich gleich bleiben wird, auch stets kontrolliert werden kann. Ebenso nun, wie die Schlüsse der Astronomen müßig gewesen sein würden, wären sie nicht auf den Beobachtungen des sichtbaren Himmels mit einem Meridian und einem Horizont begründet, ebenso würden auch meine Schlüsse müßig sein, wären sie nicht auf dem Begriff des Guten begründet, das für alle stets vorhanden war und unangetastet bleiben wird, und, mir durch das Christentum geoffenbart, in meiner Seele stets beglaubigt werden kann. Die Fragen nach anderen Glaubensrichtungen und deren Beziehungen zur Gottheit habe ich weder das Recht noch das Vermögen, zu entscheiden.«

»Bist du nicht heimgegangen?« erklang plötzlich die Stimme Kitys, die auf demselben Wege nach dem Salon ging. »Was sagst du, bist du nicht bei Laune?« sprach sie, ihm aufmerksam beim Scheine der Sterne ins Gesicht blickend. Sie würde dieses aber nicht genau erkannt haben, wenn ihn nicht abermals ein Blitz, der die Sterne verdunkelte, beleuchtet hätte. Bei dem Schein desselben gewahrte sie sein Antlitz und lächelte, nachdem sie bemerkt hatte, daß es ruhig und froh erschien.

»Sie versteht,« dachte er, »sie weiß woran ich denke. Soll ich es ihr sagen oder nicht? Ja, ich sage es ihr.«

Doch gerade im Augenblick, als er zu sprechen beginnen wollte, ergriff auch sie das Wort.

»Mein Konstantin, thu‘ mir doch den Gefallen,« sagte sie, »und gehe nach dem Eckzimmer, um nachzusehen, ob für Sergey Iwanowitsch alles in Ordnung gebracht ist. Für mich ist das nicht recht schicklich. Hat man ein neues Waschbecken hineingestellt?«

»Gut, ich werde sofort gehen,« sagte Lewin, indem er aufstand und sie küßte. »Nein, ich brauche nicht zu reden,« dachte er, während sie ihm voranschritt. »Dies ist ein Geheimnis, das nur für mich war, wichtig und nicht in Worten auszudrücken. Dieses neue Gefühl hat mich nicht verraten, nicht des Glückes beraubt, mich nicht Plötzlich erleuchtet, wie ich geträumt hatte – ebensowenig wie die Empfindung für meinen Sohn. Es war auch keine Überraschung dabei. Ist dies nun der Glaube, oder ist er es nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber es ist mir unmerklich in meinen Leiden gekommen und hat sich in meiner Seele fest eingenistet. Ich werde noch immer so auf meinen Kutscher Iwan zornig werden, werde noch so weiter disputieren, meine Gedanken rückhaltlos aussprechen, es wird die heilige Mauer bestehen bleiben zwischen meiner Seele und den anderen, selbst meinem Weibe, ich werde dieses auch tadeln wegen seiner Furcht, und Reue darüber empfinden und werde nicht mit dem Verstande begreifen, warum ich bete; aber ich werde beten und mein Leben, mein ganzes Leben soll jetzt von allem unabhängig sein, was sich mit mir ereignen kann; keine Minute desselben soll mehr gedankenlos bleiben – wie früher – sondern die nicht anzuzweifelnde Idee des Guten in sich tragen, die ich die Macht besitze, ihr einzupflanzen.«

Ende.