20.

Aleksey Aleksandrowitsch entließ Betsy mit einer Verbeugung im Salon und ging wieder zu seinem Weibe. Anna hatte gelegen, als sie jedoch seine Schritte vernahm, die sitzende Stellung wie vorher eingenommen und blickte ihn nun erschreckt an. Er sah, daß sie geweint hatte.

»Ich danke dir sehr für dein Vertrauen zu mir,« wiederholte er in russischer Sprache sanft die auf französisch in Gegenwart Betsys geäußerten Worte, und ließ sich neben ihr nieder. Als er russisch sprach und sie dabei mit »du« anredete, versetzte Anna dieses »du«, in unbezwingbare Erregung. »Ich bin dir sehr dankbar für deinen Entschluß; auch ich glaube, daß, da er abreist, nicht mehr das geringste Bedürfnis für den Grafen Wronskiy vorhanden ist, hierher zu kommen. Übrigens« –

»Das habe ich ja schon gesagt – wozu es noch einmal wiederholen?« unterbrach ihn Anna plötzlich, mit einer Gereiztheit, die sie nicht imstande war, zu unterdrücken. »Nicht das geringste Bedürfnis,« dachte sie, »soll für einen Menschen vorhanden sein, zu kommen, um Abschied zu nehmen von dem Weibe, welches er liebt, für welches er untergehen wollte und sich vernichtet hat, und das nicht ohne ihn zu leben vermag. Nicht die geringste Notwendigkeit!« Sie preßte die Lippen aufeinander und senkte die blitzenden Augen nieder auf seine Hände mit den aufgetretenen Adern, die sich langsam aufeinander rieben. »Wir wollen nie mehr davon reden,« fügte sie, ruhiger geworden, hinzu.

»Ich habe es dir freigestellt, die Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen« – begann Aleksey Aleksandrowitsch.

– »Daß mein Wunsch mit dem Euren übereinstimmt,« vollendete Anna schnell, erbittert, daß er so langsam sprach, während sie doch schon im voraus alles wußte, was er sagen würde.

»Ja,« bestätigte er, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich völlig unberufen in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Im Besonderen« –

»Ich glaube an nichts von alledem, was man über sie spricht,« sagte Anna schnell, »ich weiß nur, daß sie mich aufrichtig liebt.«

Aleksey Aleksandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte mit den Quasten ihres Hauskleides, den Blick auf ihn gerichtet voll des quälenden Gefühls jenes physischen Ekels vor ihm, wegen dessen sie sich selbst Vorwürfe machte, und den sie doch nicht zu überwinden vermochte. Jetzt wünschte sie nur noch Eins – erlöst zu sein von seiner erkältenden Gegenwart.

»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt,« hub Aleksey Aleksandrowitsch wieder an.

»Ich bin gesund; wozu einen Arzt für mich?«

»Nicht so: die Kleine schreit: die Amme soll zu wenig Milch haben.«

»Weshalb hast du denn mir nicht erlaubt, das Kind zu nähren, obwohl ich dich darum anflehte? Es bleibt sich gleich,« – Aleksey Aleksandrowitsch verstand, was das »Gleich« bedeutete – »es ist ein kleines Kind und man läßt es verhungern.« Sie schellte und befahl, das Kind zu bringen, »ich habe darum gebeten, es nähren zu dürfen; man hat es mir nicht gestattet, und macht mir jetzt doch Vorwürfe.«

»Ich mache keinen Vorwurf« –

»Nein. Ihr nicht! Mein Gott! Warum bin ich nicht gestorben?« Sie brach in Schluchzen aus. »Vergieb mir, ich war gereizt, ich bin ungerecht« – sagte sie, zur Besinnung kommend; »aber geh« –

»Nein! Das kann nicht so bleiben,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch entschlossen zu sich selbst, als er seine Frau verließ. Noch nie war ihm die Unmöglichkeit seiner Lage in den Augen der Welt und die Abneigung seines Weibes vor ihm, sowie überhaupt die Macht jener rohen, geheimnisvollen Kraft, welche im Widerspruch mit seiner seelischen Stimmung, sein Leben leitete und die Ausführung ihres Willens, die Veränderung seiner Beziehungen zu seinem Weibe forderte – mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten, als heute. Er erkannte klar, daß die gesamte Gesellschaft und sein Weib nicht minder, von ihm etwas heischten, was aber – er konnte es nicht erfassen. – Er fühlte nur, daß sich hierüber in seiner Seele ein Gefühl des Zornes regte, welches seine Ruhe vernichtete und das ganze Verdienst seiner heroischen Handlungsweise. Er hatte gemeint, daß es für Anna am besten war, wenn sie die Beziehungen zu Wronskiy abbrach, aber, wenn jedermann fand, daß dies unmöglich sein würde, so war er bereit, dieses Verhältnis sogar aufs neue zu gestatten, sobald es nur nicht durch sichtbare Folgen geschändet würde; er wollte die beiden nicht voneinander trennen und doch auch seine eigene Situation nicht ändern. So übel diese auch erscheinen mochte, sie war doch noch besser, als ein Bruch, bei welchem er in eine unentwirrbare, schmähliche Stellung geriet und sich selbst alles dessen beraubte, was er liebte. Er fühlte sich ohnmächtig; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein würden und man ihm nicht gestatten würde, zu thun, was ihm jetzt so naturgemäß und gut erschien, sondern ihn zwinge, auszuführen, was schlecht war, ihnen aber als pflichtgemäß erschien.

21.

Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr Stefan Arkadjewitsch, soeben von Jelisejeff kommend, wo es frische Austern gegeben hatte, in der Thür begegnete.

»Ah, Fürstin! Welch angenehmes Zusammentreffen!« rief er aus. »Ich war bei Euch!«

»Leider nur für eine Minute, da ich soeben wegfahre,« erwiderte Betsy lächelnd, ihren Handschuh anziehend.

»Verzieht, Fürstin, mit dem Anziehen des Handschuhs – laßt mich Eure schöne Hand küssen. Für nichts bin ich der Rückkehr zu den alten Sitten so dankbar, als für den Handkuß.« Er küßte Betsys Hand, »wann werden wir uns wiedersehen?«

»Leichtfuß!« antwortete Betsy lächelnd.

»O; ich bin sehr viel wert, denn ich bin ein Mensch von Bedeutung geworden, da ich nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung bringe,« sagte er mit wichtiger Miene.

»Ah, das freut mich sehr,« versetzte Betsy, die sogleich verstand, daß er von Anna sprach, und in den Saal zurückkehrend, traten sie in eine Ecke. »Er wird sie umbringen,« raunte ihm Betsy bedeutungsvoll zu, »das ist doch unmöglich, unmöglich!« –

»Es freut mich sehr, daß Ihr so denkt,« antwortete Stefan Arkadjewitsch kopfschüttelnd und mit ernsthaftem, wehmütigem und mitleidigem Ausdruck, »ich bin deswegen von Petersburg hergekommen.«

»Die ganze Stadt spricht davon,« sagte sie, »es ist eine unmögliche Situation, Anna schwindet mehr und mehr dahin, und begreift nicht, daß sie eine von jenen grauen ist, welche mit ihren Empfindungen nicht tändeln dürfen. Es ist hier nur Eines von zwei Dingen möglich: Entweder man nimmt sie mit fort und handelt energisch, oder – Ehescheidung. – Diese Lage aber erdrückt sie.«

»Ja, ja wohl – so ist es,« – sagte Oblonskiy seufzend, »deswegen bin ich eben hergekommen – das heißt, nicht eigentlich deswegen – ich bin Kammerherr geworden – nun, – und da muß man Dankvisiten abstatten. Aber die Hauptsache ist doch die Ordnung dieser Angelegenheit.«

»Gott helfe Euch dabei,« antwortete Betsy.

Nachdem Stefan Arkadjewitsch die Fürstin Betsy bis auf den Flur hinaus begleitet und ihr nochmals die Hand oberhalb des Handschuhs, wo der Puls schlägt geküßt, ihr auch nochmals eine solche Menge schlüpfriger Albernheiten vorgelogen hatte, daß sie nicht mehr wußte, ob sie böse werden oder lachen sollte, begab sich Stefan Arkadjewitsch zu seiner Schwester. Er fand diese in Thränen.

Ungeachtet der von Heiterkeit übersprudelnden Stimmung, in welcher sich Stefan Arkadjewitsch befand, ging dieser doch natürlich sogleich zu jenem gefühlvollen, poetisch verzückten Ton über, der zu ihrer Gemütsverfassung paßte. Er frug sie nach ihrem Befinden und wie sie den Morgen verbracht habe.

»Sehr, sehr schlecht; es ist Tag und Nacht so und stets so gewesen, wird auch so bleiben,« antwortete sie.

»Mir scheint, du giebst dich dem Trübsinn hin; das muß man abschütteln, man muß dem Leben ins Gesicht schauen. Ich weiß Wohl, daß das schwer ist, allein« –

»Ich habe gehört, daß die Frauen die Männer selbst wegen ihrer Laster lieben,« begann Anna plötzlich, »aber ich hasse ihn wegen seiner Tugend. Ich vermag nicht mit ihm zu leben; verstehe mich, sein Anblick wirkt physisch auf mich und ich gerate außer mir. Ich kann nicht, ich kann nicht mit ihm leben! Was soll ich nun thun? Ich war unglücklich und dachte, ich könne nicht noch unglücklicher werden, aber diesen entsetzlichen Zustand, welchen ich jetzt durchlebe, habe ich mir nicht vorstellen können. Wirst du es glauben, daß ich ihn, Wohl Wissend, daß er ein guter, ausgezeichneter Mensch ist, und ich nicht den Fingernagel von ihm wert bin – dennoch hasse? Ich hasse ihn ob seines Edelmuts. Mir aber bleibt nichts übrig, als« –

Sie wollte sagen »der Tod«, doch Stefan Arkadjewitsch ließ sie nicht ausreden.

»Du bist krank und aufgeregt,« sagte er, »glaube mir, du übertreibst ungeheuer. Es ist durchaus nichts so Furchtbares bei der Sache.«

Stefan Arkadjewitsch lächelte. Niemand an Stefan Arkadjewitschs Stelle, würde sich, mit einer so verzweifelten Aufgabe betraut, ein Lächeln erlaubt haben – ein Lächeln wäre roh erschienen – aber in seinem Lächeln lag soviel Gutmütigkeit und fast weibliche Zärtlichkeit, daß dasselbe nicht verletzte, sondern weich stimmte und besänftigte. Seine halblaute, beruhigende Rede und sein Lächeln wirkte mildernd und stillend wie Mandelöl. Auch Anna empfand dies bald.

»Nein, Stefan,« sagte sie, »ich bin verloren, verloren! Schlimmer noch als verloren. Ich bin noch nicht verloren, ich kann nicht sagen, daß alles zu Ende sei – im Gegenteil, ich fühle, daß es noch nicht vorbei ist. Ich bin einer gespannten Saite gleich, die springen muß. Aber noch ist es nicht vorbei – es wird entsetzlich enden.«

»Nicht doch; man kann die Saite behutsam nachlassen. Es giebt keine Situation aus der sich nicht ein Ausweg fände.«

»Ich habe gedacht und gedacht, aber nur einen gefunden«

Er erkannte wiederum an ihrem schreckenvollen Blick, daß dieser einzige Ausweg, nach ihrer Meinung, der Tod sei, und ließ sie abermals nicht ausreden.

»Keineswegs,« sagte er, »gestatte. Du kannst deine Lage nicht so erkennen, wie ich. Laß mich dir aufrichtig meine Meinung äußern.« Er lächelte abermals vorsichtig in seiner süßen Art. »Ich will zunächst damit beginnen: Du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast diesen Mann ohne Liebe geheiratet oder vielmehr, ohne die Liebe kennen gelernt zu haben. Dies war ein Fehler, wollen wir sagen.«

»Ein furchtbarer Fehler,« sagte Anna.

»Doch ich wiederhole: Derselbe ist eine vollendete Thatsache; du hattest darauf – ich will sagen – das Unglück, deinen Mann nicht zu lieben. Dies ist ein Unglück, auch das ist eine vollendete Thatsache. Dein Mann hat das anerkannt und dir verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, eine Erwiderung erwartend, doch sie entgegnete nichts. »So steht es, jetzt aber ist die Frage, kannst du fortfahren, mit deinem Manne zusammenzuleben? Wünschest du das? Wünscht er das?«

»Ich weiß nichts, nichts.«

»Aber du selbst hast doch gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich stelle das in Abrede; ich weiß nichts und begreife nichts.«

»Aber erlaube doch« –

»Du kannst das nicht verstehen. Ich fühle, daß ich mit dem Kopfe zuerst in einen Abgrund hinabstürze und mich nicht retten darf; es auch nicht kann.«

»O doch, wir wollen dir ein Falltuch unterbreiten und dich auffangen. Ich begreife dich, begreife, du kannst es nicht auf dich nehmen, deinen Wünschen, deinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.«

»Ich wünsche nichts, gar nichts – nur das Eine, es möchte bald vorbei sein.«

»Aber er sieht und weiß das ja. Denkst du denn, er litte etwa weniger als du? Du marterst dich und er martert sich, und was soll daraus hervorgehen? Da eine Trennung alles löst« – Stefan Arkadjewitsch brachte diesen wichtigen Gedanken nicht ohne Überwindung heraus und blickte sie jetzt bedeutungsvoll an.

Sie antwortete nicht und schüttelte nur verneinend ihr frisiertes Haupt, aber an dem Ausdruck des plötzlich in der alten Schönheit wieder aufglänzenden Gesichts erkannte er, daß sie die Scheidung nur deshalb nicht wünschte, weil sie ein solches Glück für unmöglich hielt.

»Ihr thut mir unsäglich leid, und wie glücklich würde ich sein, könnte ich die Sache in Ordnung bringen,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, schon kühner lächelnd. »Sprich nicht, sprich gar nichts! Wenn mir doch Gott die Gabe verliehen hätte, so zu reden, wie ich fühle. Ich werde zu deinem Manne gehen.« Anna blickte ihn mit sinnenden, glänzenden Augen an, ohne etwas zu erwidern.«

22.

Stefan Arkadjewitsch trat mit dem nämlichen, etwas feierlichen Gesicht, mit welchem er sich sonst in seinem Vorsitzsessel im Gericht niederließ, in das Kabinett Aleksey Aleksandrowitschs. Dieser ging, die Hände auf den Nacken gelegt, im Gemach auf und ab und sann nach, was wohl Stefan Arkadjewitsch mit seiner Frau gesprochen habe.

»Ich störe dich doch nicht?« frug Stefan Arkadjewitsch, bei dem Anblick des Schwagers plötzlich ein ihm ungewohntes Gefühl von Verlegenheit verspürend. Um diese Verlegenheit zu verbergen, zog er ein soeben erst gekauftes, mit einer neuen Mechanik zum Öffnen versehenes Cigarettenetuis hervor und nahm sich eine Cigarette.

»Nein. Du wünschest etwas von mir?« frug Aleksey Aleksandrowitsch mißlaunig.

»Ja wohl. Ich möchte – ich muß – ja, ich muß mit dir einmal reden,« sagte Stefan Arkadjewitsch, voll Verwunderung über seine ungewohnte Verlegenheit. Dieses Gefühl kam ihm so unerwartet und seltsam vor, daß Stefan Arkadjewitsch nicht glaubte, es könne die Summe des Gewissens sein, die ihm sagte, daß das schlecht sei, was er zu thun beabsichtigte. Stefan Arkadjewitsch raffte sich auf und besiegte die ihn beherrschende Zaghaftigkeit.

»Ich hoffe, daß du an meine Liebe zu meiner Schwester, sowie an meine aufrichtige Ergebenheit und Hochachtung für dich glaubst,« sagte er errötend.

Aleksey Aleksandrowitsch blieb stehen, ohne etwas zu antworten, aber sein Gesicht machte Stefan Arkadjewitsch betroffen durch einen Ausdruck, der dem eines willenlosen Schlachtopfers glich.

»Ich beabsichtigte – – ich wollte über meine Schwester und über Eure gegenseitige Stellung Rücksprache nehmen,« sagte Stefan Arkadjewitsch, noch immer mit seiner Befangenheit kämpfend.

Aleksey Aleksandrowitsch lächelte traurig, blickte seinen Schwager an und trat, ohne zu antworten, an den Tisch, nahm einen angefangenen Brief von demselben und reichte ihn dem Schwager.

»Ich denke fortwährend darüber nach. Hier habe ich einen Brief angefangen, da ich glaube, es ist besser wenn ich mich schriftlich ausspreche, weil meine Gegenwart sie reizt,« sagte er, ihm das Schreiben reichend.

Stefan Arkadjewitsch nahm den Brief, schaute mit zweifelnder Verwunderung in die trübeblickenden Augen, die unbeweglich auf ihm ruhten, und begann dann, zu lesen:

»Ich sehe, daß meine Gegenwart Euch lästig ist. So schwer es mir auch fällt, mich hiervon überzeugen zu müssen, so sehe ich doch, daß dem so ist und es nicht anders sein kann. Ich schuldige Euch nicht an und Gott ist mein Zeuge, daß ich, als ich Euch in Eurer Krankheit wiedersah, mit ganzer Seele entschlossen war, alles zu vergessen, was zwischen uus stand und ein neues Leben zu beginnen. Ich bereue das nicht und werde auch niemals bereuen, was ich gethan habe, aber Eines hatte ich gewollt – Euer Glück – das Glück Eurer Seele; und jetzt sehe ich, daß ich dies doch nicht erreicht habe. Sagt mir selbst, was Euch ein wahres Glück und Eurer Seele Ruhe verleihen kann und ich ergebe mich ganz in Euren Willen und Euer Gerechtigkeitsgefühl.« –

Stefan Arkadjewitsch gab den Brief zurück und blickte noch immer, mit der nämlichen Befangenheit seinen Schwager an, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Dieses Schweigen war beiden so peinlich, daß auf den Lippen Stefan Arkadjewitschs, der kein Auge vom Gesicht Karenins verwandte, während desselben ein schmerzliches Zucken erschien.

»Dies hier wollte ich ihr mitteilen,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich abwendend.

»Ja, ja,« versetzte Stefan Arkadjewitsch, ohne die Kraft zu antworten, da ihm die aufsteigenden Thränen die Kehle zuschnürten. »Ja, ja. Ich verstehe Euch« – brachte er endlich hervor.

»Ich wünsche zu wissen, was sie will,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch.

»Ich fürchte, daß sie selbst ihre Lage nicht erkennt. Sie ist kein guter Richter,« verbesserte sich Stefan Arkadjewitsch, »sie ist erdrückt von deiner Großmut. Wenn sie dieses Schreiben gelesen haben wird, wird sie nicht die Kraft haben, etwas zu sagen, sie wird den Kopf nur noch tiefer senken.«

»Ja, aber was soll man thun in diesem Falle? Wie soll man Klarheit schaffen, ihre Wünsche in Erfahrung bringen?«

»Wenn du mir gestatten willst, meine Meinung zu äußern, so denke ich, daß es von dir abhängt, direkt diejenigen Maßregeln anzuordnen, die du für nötig hältst, um dieser Situation ein Ende zu machen.«

»Du erachtest es also für erforderlich, daß ihr ein Ende gemacht werde?« unterbrach ihn Aleksey Aleksandrowitsch, »aber wie?« fügte er hinzu, mit der Hand eine ungewöhnliche Bewegung vor seinen Augen machend, »ich sehe nicht die Möglichkeit eines Ausweges.«

»Es giebt für jede Lage einen Ausweg,« sagte Stefan Arkadjewitsch, aufstehend und lebhaft werdend, »es gab doch einmal eine Zeit, wo du die Trennung wünschtest – wenn du jetzt überzeugt bist, daß Ihr ein gegenseitiges Glück nicht begründen könnt« –

– »Der Begriff ›Glück‹ kann in verschiedener Weise aufgefaßt werden. Aber nehmen wir an, daß ich mit allem einverstanden wäre, und nichts mehr wünschte. Welchen Ausweg gäbe es da aus unserer Lage?«

»Wenn du meine Meinung wissen willst,« fuhr Stefan Arkadjewitsch, mit dem nämlichen weichen, süßen Lächeln, mit welchem er zu Anna gesprochen hatte, fort. Dieses gutmütige Lächeln war so überzeugend, daß Aleksey Aleksandrowitsch im Gefühl seiner Schwäche und sich ihr fügend, unwillkürlich bereit war, zu glauben, was Stefan Arkadjewitsch sagen würde – »sie wird’es niemals aussprechen! Aber eine Möglichkeit ist vorhanden. Eines kann sie wünschen,« fuhr er fort, »und dies ist die Aufgabe ihre jetzigen Beziehungen und aller Erinnerungen die sich mit denselben verknüpfen. Nach meiner Ansicht ist in Eurer Lage eine Auseinandersetzung über neue wechselseitige Beziehungen unumgänglich nötig. Und diese Beziehungen können nur auf der Befreiung beider Parteien beruhen.«

»Eine Ehescheidung,« unterbrach ihn voll Abscheu Aleksey Aleksandrowitsch.

»Ja; ich glaube, eine Trennung, ja eine Trennung,« wiederholte Stefan Arkadjewitsch errötend. »Dies ist in jeder Beziehung der vernünftigste Ausweg für Gatten, die sich in solchen Verhältnissen befinden, wie Ihr. Was ist zu thun, wenn Gatten gefunden haben, daß ihr Zusammenleben unmöglich ist? Dies kann sich immer ereignen.«

Aleksey Aleksandrowitsch seufzte schwer und schloß die Augen.

»Hier giebt es nur eine Erwägung: Wünscht einer der Gatten einen anderen Ehebund einzugehen? Wenn nicht, so ist die Sache sehr einfach,« sagte Stefan Arkadjewitsch, sich mehr und mehr von seiner Befangenheit freimachend.

Aleksey Aleksandrowitsch sprach, die Stirn runzelnd, vor Aufregung mit sich selbst und antwortete nichts. Alles, was Stefan Arkadjewitsch so sehr einfach erschien, hatte Aleksey Aleksandrowitsch tausend und abertausendmal überdacht. Und alles das erschien ihm nicht nur nicht sehr einfach, sondern vollständig unmöglich. Eine Ehescheidung, deren formelle Einzelheiten« er schon kannte, erschien ihm jetzt deshalb unmöglich, weil ihm das Gefühl der eigenen Würde, und die Achtung vor der Religion nicht gestattete, die Schuld eines fiktiven Ehebruchs auf sich zu nehmen, und noch weniger zuzulassen, daß seine Frau, der er vergeben hatte und die er liebte, überführt und mit Schmach bedeckt werde. Die Ehescheidung erschien ihm auch aus noch anderen und noch viel wichtigeren Gründen unmöglich.

Was sollte aus seinem Sohne werden im Falle einer solchen? Ihn bei der Mutter zu belassen, ging nicht an. Die geschiedene Frau würde ihre eigene, illegitime Familie haben, in welcher die Lage des Stiefsohnes und seine Erziehung aller Wahrscheinlichkeit nach, eine üble werden würde. Ihn bei sich behalten? Er wußte, daß dies ein Racheakt seinerseits gewesen wäre und diesen wollte er nicht. Am unmöglichsten indessen, außer alledem, erschien Aleksey Aleksandrowitsch die Ehescheidung deshalb, weil er selbst dann durch seine Einwilligung in dieselbe Anna vernichtete.

Das Wort Darja Aleksandrownas in Moskau fiel ihm wieder ein, daß er mit seinem Entschluß zur Trennung nur an sich selbst denken würde, aber nicht bedenke, daß er Anna damit unrettbar verderbe. Indem er diese Worte nun mit seiner Vergebung, seiner Liebe zu den Kindern, in Verbindung brachte, faßte er sie jetzt nach seiner Weise auf. In eine Ehescheidung willigen und ihr die Freiheit geben, bedeutete nach seiner Auffassung, sich selbst des letzten Bandes, das ihn mit dem Leben, den Kindern die er liebte, sie aber der letzten Stütze für einen Weg zur Besserung berauben und sie in das Verderben stürzen.

Wenn sie erst geschiedene Frau war, würde sie sich, das wußte er, mit Wronskiy vereinen, und dieser Bund war alsdann ein gesetzwidriger und verbrecherischer, weil das Weib nach dem Sinne der Vorschriften der Kirche keinen weiteren Ehebund eingehen kann, so lange ihr Gatte am Leben ist. »Sie wird sich mit ihm vereinen und nach Verlauf eines Jahres oder zweier wird er sie verlassen, oder sie selbst ein neues Verhältnis eingehen,« dachte Aleksey Aleksandrowitsch; »und ich, mit meiner Einwilligung in eine nicht gesetzliche Trennung werde der Urheber ihres Verderbens sein.«

Er überdachte alles dies wohl hundertmal und war überzeugt, daß die Ehescheidung nicht nur nicht sehr einfach sei, wie sein Schwager doch sagte, sondern vollkommen unmöglich. Er glaubte nicht ein einziges Wort von dem, was Stefan Arkadjewitsch gesagt hatte, auf jedes Wort desselben hatte er tausend Einwände; aber er hörte ihn an, im Gefühl, daß in seinen Worten jene mächtige, rohe Kraft zum Ausdruck komme, welche sein Leben leitete und der er sich unterordnen mußte.

»Die Frage ist nur die, wie und unter welchen Bedingungen du einwilligen willst, die Ehescheidung auszuführen. Sie will nichts, sie wagt es nicht, dich zu bitten und stellt alles deinem Edelmut anheim.«

»Mein Gott! Mein Gott! Aber warum das?« dachte Aleksey Aleksandrowitsch, sich die Einzelheiten eines Ehescheidungsprozesses vergegenwärtigend, bei welchem der Gatte die Schuld auf sich nahm, und bedeckte sich mit der nämlichen Gebärde, mit welcher Wronskiy dies gethan hatte, vor Scham mit den Händen das Gesicht.

»Du bist aufgeregt, ich begreife das. Aber wenn du dir überlegst« –

»Und wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die linke dar, und wer dir den Rock genommen, dem gieb noch das Hemd,« dachte Aleksey Aleksandrowitsch. »Ja, ja,« rief er dann mit dünner Stimme, »ich werde die Schande auf mich nehmen, selbst den Lohn will ich ihr geben, aber – ist es nicht besser, alles zu lassen wie es ist? Doch, mache was du willst« – und sich abwendend von seinem Schwager, so daß dieser ihn nicht sehen konnte, ließ er sich auf einem Stuhl am Fenster nieder. Es war ihm bitter weh zu Mut, er empfand seine Schmach, aber zugleich mit diesem Leid und dieser Schmach fühlte er auch Freude und Beruhigung über die Erhabenheit seines Sieges über sich selbst.

Stefan Arkadjewitsch war gerührt. Er schwieg.

»Aleksey Aleksandrowitsch! glaube mir, sie schätzt deine Großmut,« sagte er dann. »Aber offenbar war es doch Gottes Wille,« so fügte er hinzu, empfand jedoch, als er dies sagte, daß es dumm war, und unterdrückte nur mit Mühe ein Lächeln über seine Thorheit.

Aleksey Aleksandrowitsch wollte etwas erwidern, doch die Thränen verhinderten ihn daran.

»Es ist eine unglückliche Fügung des Schicksals und man muß sich ihr unterordnen. Ich betrachte dieses Unglück als eine vollendete Thatsache und bemühe mich nur, dir und ihr beizustehen,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort.

Als dieser das Gemach seines Schwagers verlassen hatte, war er gerührt, aber das hinderte ihn nicht, damit zufrieden zu sein, daß er diese Angelegenheit erfolgreich erledigt hatte, da er überzeugt war, daß Aleksey Aleksandrowitsch seine Worte nicht widerrufen würde. Zu dieser Zufriedenheit gesellte sich der Umstand, daß ihm ein Gedanke gekommen war, wie er, sobald die Sache erledigt sein würde, seinen intimsten Bekannten die Frage vorlegen wollte, »welcher Unterschied nun noch zwischen ihm und einem Feldmarschall bestehe? Nun, der Feldmarschall macht Quartier 2 und niemandem wird es wohler davon, ich habe eine Trennung bewirkt – und drei Menschen wird es dabei besser sein? Oder, welche Ähnlichkeit aber habe ich denn mit einem Feldmarschall? Nun, das will ich mir lieber noch überlegen,« sagte er lächelnd zu sich selbst.

  1. Ein unübersetzbares Wortspiel, welches darauf beruht, daß im Russischen »Quartier« und »Ehescheidung« »rasvód« heißt.

13.

Als man sich von der Tafel erhoben hatte, wollte Lewin Kity in den Salon folgen, doch fürchtete er, ihr könne dies nicht angenehm sein als eine allzugroße Offenheit in seinen Aufmerksamkeiten für sie. Er blieb also im Kreise der Männer zurück, an dem allgemeinen Gespräch teilnehmend. Gleichwohl aber fühlte er, ohne Kity zu sehen, ihre Bewegungen, ihre Blicke und den Platz, an welchem sie sich im Salon befinden mochte.

Sofort und ohne die geringste Selbstüberwindung erfüllte er das Versprechen, welches er ihr gegeben hatte, stets gut über alle Menschen denken und alle lieben zu wollen.

Das Gespräch drehte sich um das Gemeingutwesen, in welchem Peszoff eine gewisse besondere Basis erblickte. Lewin war weder mit Peszoff, noch mit seinem Bruder im Einverständnis, welcher letztere wieder nach seiner Weise die Bedeutung der russischen Obschtschina zugleich anerkannte wie verwarf, allein er sprach mit, um sie zu versöhnen und ihre gegenseitigen Einwände zu mildern. Er interessierte sich ganz und gar nicht für das, was er selbst sprach, und noch weniger für das, was jene äußerten, er wünschte nur das Eine – daß es ihnen und Allen überhaupt wohl und angenehm sein möchte. Er wußte jetzt, was allein für ihn von Bedeutung war, und dieses Eine war anfangs dort drüben im Salon gewesen, hatte sich aber dann genähert und war in der Thür stehen geblieben. Ohne sich umzuwenden, fühlte er den auf sich gerichteten Blick und ein Lächeln, und nun mußte er sich umwenden. Sie stand in der Thür mit Schtscherbazkiy und blickte ihn an.

»Ich dachte, Ihr wolltet zum Klavier gehen?« sagte er, zu ihr hintretend. »Das fehlt mir freilich auf dem Lande, die Musik.«

»Ach nein; wir kamen nur mit der Absicht, Euch zu rufen, und ich danke Euch,« sagte sie, ihn mit einem Lächeln, als wäre dies ein Geschenk, belohnend, »daß Ihr gekommen seid. Was ist es doch für ein Vergnügen, zu debattieren? Es überzeugt doch einmal keiner den andern!«

»Es ist wahr,« versetzte Lewin, »pflegt es doch meistenteils so zu sein, daß man gerade über das am heftigsten streitet, was man nicht zu begreifen vermag, und was doch gerade unser Gegner beweisen will.«

Lewin hatte auch bei Debatten zwischen den klügsten Geistern häufig bemerkt, daß nach außerordentlichen Anstrengungen, einem mächtigen Aufwand von logischen Feinheiten und Worten, die Streitenden schließlich zu der Einsicht gekommen waren, daß das, was sie lange einander zu beweisen gestrebt hatten, ihnen längst schon, bereits von Anfang der Diskussion an, bekannt gewesen war, daß sie aber den Unterschied liebten und deswegen nicht nennen wollten, was sie vertraten, um eben nicht niederdebattiert zu werden. Er hatte oft die Erfahrung gemacht, daß man im Lauf einer Debatte das erfaßt, was der Gegner vertritt, und dieses selbst ebenfalls vertritt; man räumt dann ein und alle Argumente werden, als unnütz, hinfällig; er hatte aber auch bisweilen umgekehrt erfahren, daß man schließlich ausspricht, was man selbst vertritt und für das man auf Argumente sann. Wenn dieser Fall eintrat, und man sich gut und offen ausdrückte, da gab plötzlich der Gegner nach und stand von der weiteren Debatte ab. Dies eben wollte er sagen.

Sie legte die Stirn in Falten und bemühte sich, ihn zu verstehen, doch kaum hatte er begonnen, zu erklären, da hatte sie ihn schon begriffen.

»Ich verstehe; man muß erkannt haben, wofür man streitet, was man vertritt; dann erst ist es möglich« –

Sie hatte seinen schlecht ausgedrückten Gedanken vollständig erfaßt. Lewin lächelte freudig; dieser Übergang aus dem verwickelten wortreichen Kampfe mit Peszoff und seinem Bruder zu dieser lakonischen und klaren, fast ohne Worte gegebenen Mitteilung der kompliziertesten Ideen war ihm überraschend.

Schtscherbazkiy verließ die beiden und Kity ging zu einem aufgestellten Spieltisch, ließ sich hier nieder, nahm ein Stück Kreide zur Hand und begann damit auf dem neuen grünen Tuch Kreise zu zeichnen.

Man hatte die bei Tisch gepflogene Unterhaltung über die Freiheit und die Arbeit der Frauen wieder aufgenommen. Lewin war der Meinung Darja Aleksandrownas, daß ein Mädchen, welches nicht heiratete, für sich einen weiblichen Wirkungskreis in der Familie finde. Er stützte dies damit, daß keine einzige Familie der Dienste einer Helferin entraten könne, daß in jeder unbemittelten oder bemittelten Familie Ammen wären und auch sein müßten, gleichviel ob sie gemietet ist, oder der Familie angehört.

»Nun,« antwortete Kith, errötend, aber nur um so freier mit ihren treuherzigen Augen auf ihn blickend, »das Mädchen kann doch auch so gestellt sein, daß sie nicht ohne Erniedrigung in eine Familie geht; ich selbst« –

Er verstand ihren Wink.

»Ja, ja,« erwiderte er, »ja, ja, Ihr habt recht, Ihr habt recht!«

Und er hatte jetzt alles verstanden, was Peszoff bei Tische über die Freiheit der Frauen auseinandergesetzt hatte, allein dadurch, daß er in dem Herzen Kitys noch die Furcht vor dem Mägdedienst und der Erniedrigung sah und in seiner Liebe zu ihr diese Furcht vor der Erniedrigung mit empfand und so mit einem Schlage von seinen Einwürfen Abstand nahm.

Eine Pause trat ein; Kity zeichnete noch immer mit der Kreide auf dem Tische. Ihre Augen schimmerten in stillem Glanze, und indem er ihre Stimmung zu teilen suchte, empfand er in seinem ganzen Wesen eine mehr und mehr wachsende, beglückende Aufregung.

»Ah, da habe ich den ganzen Tisch vollgemalt!« sagte Kity und machte, die Kreide niederlegend, eine Bewegung, als wollte sie aufstehen.

»Wie, soll ich jetzt allem hier bleiben ohne sie?« dachte er mit Schrecken und ergriff nun seinerseits die Kreide; »bleibt doch,« sagte er, sich an den Tisch setzend. »Schon lange habe ich Euch nach etwas fragen wollen!«

Er blickte ihr offen in die freundlichen, wenn auch erschreckten Augen.

»Bitte schön, fragt.«

»Nun,« begann er, und schrieb mit Kreide eine Anzahl Anfangsbuchstaben auf den Tisch: »A. I. M. A. E. K. N. S. H. D. O. D.« – Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Ihr mir antwortetet ›es kann nicht sein‹, so hieß das, ›niemals‹ oder nur ›damals‹?« –

Es war höchst unwahrscheinlich, daß sie diesen verwickelten Satz hätte verstehen können, aber er schaute sie mit einem Ausdruck an, der bewies, daß sein Leben davon abhinge, oh sie diese Worte verstehe oder nicht.

Sie blickte ihn ernst an; dann stemmte sie die gerunzelte Stirn auf die Hand und begann zu lesen. Bisweilen blickte sie auf ihn, ihn mit ihrem Blick befragend »ist es das, was ich mir denke?«

»Ich habe verstanden,« sagte sie errötend.

»Was ist dies für ein Wort?« frug er, auf das N weisend, mit welchem er das Wort »niemals« bezeichnet hatte.

»Dieses Wort bedeutet ›niemals‹, sagte sie – »aber das ist nicht wahr!«

Schnell wischte er das Geschriebene hinweg, reichte ihr die Kreide und stand auf. Sie schrieb: »I. K. D. N. A. A.« –

Dolly hatte sich völlig über den Schmerz, der ihr durch das Gespräch mit Aleksey Aleksandrowitsch verursacht worden war, getröstet, als sie die beiden da bemerkte: Kity, die Kreide in der Hand mit schämigem, glücklichem Lächeln zu Lewin aufblickend und zu dessen schöner Gestalt, wie er über den Tisch gebeugt stand, seinen flammenden Blick bald auf den Tisch, bald auf sie richtend. Plötzlich erhellten sich seine Züge; er hatte verstanden; das Geschriebene bedeutete: »Ich konnte damals nicht anders antworten.«

Er blickte sie scheu und fragend an,

»Nur damals?«

»Ja,« antwortete ihm ihr Lächeln.

»Und – jetzt?« frug er.

»Lest hier. Ich werde sagen, was ich wünsche; sehr wünsche!«

Sie schrieb die Anfangsbuchstaben: »D. W. D. V. U. V. K. W. G. I.«, das sollte bedeuten: »Daß wir doch vergeben und vergessen könnten, was gewesen ist!«

Er nahm die Kreide mit zitternden Fingern, zerbrach sie und schrieb die Anfangsbuchstaben des folgenden: »Ich habe weder zu vergessen, noch zu vergeben; ich habe nie aufgehört, Euch zu lieben!«

Sie blickte ihn an mit unverändertem Lächeln.

»Ich habe verstanden,« antwortete sie flüsternd.

Er setzte sich nieder und schrieb einen langen Satz. Sie verstand alles und frug ihn nicht, ob sie richtig verstanden habe; sie nahm die Kreide und antwortete sogleich.

Lange Zeit vermochte er nicht zu erkennen, was sie geschrieben hatte, und er blickte ihr häufig in die Augen. Es wurde ihm dunkel vor Glück. Es gelang ihm nicht, die Worte zu interpretieren, die sie meinte, aber in ihren wunderschönen, von Seligkeit schimmernden Augen erkannte er alles, was ihm zu wissen nötig war, und er schrieb drei Buchstaben, war aber noch nicht fertig damit, als sie schon seiner Hand nachgelesen hatte und selbst vollendete, indem sie als Antwort ein »Ja« niederschrieb.

»Spielt Ihr da ›Sekretär‹?« frug jetzt herantretend der alte Fürst. »Wir müssen nun fort, wenn du rechtzeitig ins Theater willst.«

Lewin erhob sich und begleitete Kity bis zur Thür.

In ihrer Unterhaltung war alles gesagt worden; es war nun ausgesprochen, daß sie ihn liebte, und ihren Eltern mitteilen wolle, daß er morgen früh zu ihnen kommen würde.

14.

Als Kity weggefahren und Lewin allein geblieben war, empfand dieser eine solche Unruhe in ihrer Abwesenheit, eine so unerträgliche Sehnsucht, so schnell als möglich die Zeit bis zum Morgen des anderen Tages hinzubringen, wo er sie wiedersehen sollte um sich für immer mit ihr zu vereinen, daß er vor den noch verbleibenden vierzehn Stunden, die ihm noch ohne sie bevorstanden, wie vor dem Tode erschrak. Er mußte um jeden Preis mit jemand sprechen, und um nicht einsam zu sein, um sich über die Zeit hinwegzutäuschen, wäre Stefan Arkadjewitsch für ihn der willkommenste Partner gewesen; aber dieser fuhr, wie er sagte, zu einem Abend, in Wirklichkeit jedoch nach dem Ballett. Lewin hatte ihm nur sagen können, daß er glücklich sei und ihn liebe und nie, nie vergessen werde, was er für ihn gethan. Der Blick und das Lächeln Stefan Arkadjewitschs bewiesen Lewin, daß jener dieses Gefühl verstehe, wie er es zu verstehen hatte.

»Nun, wäre es jetzt nicht Zeit zum Sterben?« antwortete Stefan Arkadjewitsch, Lewin gerührt die Hand drückend.

»Nie!« antwortete dieser.

Darja Aleksandrowna hatte ihn gleichfalls beim Abschied förmlich beglückwünscht, und gesagt: »Wie freue ich mich, daß Ihr wieder mit Kity zusammengetroffen seid: man muß eben alte Freundschaften hochhalten!«

Lewin waren diese Worte Darjas unangenehm gewesen. Sie konnte ja doch nicht verstehen, wie erhaben dies alles, wie unzugänglich es für sie war, und sie durfte daher nicht wagen, es zu erwähnen. Lewin verabschiedete sich, gesellte sich aber, um nicht allein sein zu müssen, zu seinem Bruder.

»Wohin fährst du?«

»In eine Sitzung.«

»Ich begleite dich – geht es?«

»Warum nicht? Komm mit,« antwortete Sergey Iwanowitsch lächelnd, »was ist denn eigentlich heute mit dir?«

»Mit mir? Mit mir ist das Glück,« antwortete Lewin, das Fenster des Wagens herablassend in welchem sie fuhren. »Fühlst du dich hier wohl? Es ist schwül. Mit mir ist das Glück. Weshalb hast du nie geheiratet?« –

Sergey Iwanowitsch lächelte.

»Das freut mich sehr; sie scheint ein reizendes Mädchen« – begann er.

– »Sprich nicht so, nicht so, nicht so,« rief Lewin, ihn mit beiden Händen am Kragen seines Pelzes fassend. – »Ein reizendes Mädchen!« – Das waren so einfache, prosaische Worte, so wenig seiner Empfindung entsprechend.

Sergey Iwanowitsch begann heiter zu lachen, was bei ihm selten der Fall war.

»Nun, aber ich darf doch sagen, daß ich mich sehr darüber freue.«

»Das darf man erst morgen, morgen; jetzt weiter nichts! Nichts, gar nichts; schweig also,« versetzte Lewin, und fügte dann hinzu, »ich liebe dich sehr; werde ich denn der Sitzung mit beiwohnen können?«

»Versteht sich, kannst du.«

»Wovon ist denn heute die Rede?« frug Lewin, der fortwährend lächelte.

Sie langten in der Sitzung an. Lewin hörte zu, als der Sekretär mit stockender Stimme das Protokoll verlas, welches er augenscheinlich selbst nicht verstand; doch bemerkte Lewin an den Zügen dieses Sekretärs, welch ein lieber, guter und prächtiger Mensch er war. Augenscheinlich wurde ihm das an der Weise, wie er, das Protokoll verlesend, aus dem Kontext kam und in Verwirrung geriet. Es begannen hierauf die Verhandlungen. Man debattierte über gewisse Summen und über die Aufführung einiger Essen. Sergey Iwanowitsch kritisierte beißend zwei Mitglieder der Sitzung und sprach lange und erfolgreich; ein anderes Mitglied, welches sich Notizen auf einem Papier gemacht hatte, geriet anfangs ins Schwanken, replizierte ihm aber dann sehr boshaft und gleichwohl freundlich.

Darauf sprach auch Swijashskiy – der gleichfalls hier war – gut und gediegen. Lewin hörte ihnen zu und erkannte klar, daß weder die besprochenen Summen und die Essen da wären, noch, daß die Sprecher wirklich in Erregung geraten wären, sondern alle so gut seien, so vorzügliche Menschen, und alles so gut und friedlich unter ihnen vor sich ginge. Sie selbst störten niemand und alle befanden sich wohl. Bemerkenswert erschien es Lewin, daß sie ihm alle jetzt durch und durch erkennbar waren; er erkannte an kleinen, früher unbemerkbar gewesenen Anzeichen den Geist eines jeden Einzelnen, und sah klar, daß sie alle gut waren. Insbesondere liebte heute jedermann Lewin ganz außerordentlich. Er nahm dies an der Art und Weise wahr, wie man mit ihm sprach, wie freundlich und liebevoll selbst die Unbekannten alle nach ihm blickten.

»Nun, was sagst du, bist du zufrieden?« frug ihn Sergey Iwanowitsch.

»Sehr. Ich hätte nie gedacht, daß dies so interessant sein würde! Herrlich; sehr gut!«

Swijashskiy erschien jetzt bei Lewin und lud ihn zum Thee zu sich ein. Lewin vermochte nicht mehr zu begreifen, noch sich zu entsinnen, worüber er mit Swijashskiy unzufrieden gewesen war, und was er in demselben gesucht hatte. Er war doch ein ganz verständiger und wunderbar guter Mensch.

»Sehr erfreut,« versetzte er und frug nach Gattin und Schwägerin. Durch einen seltsamen Gedankengang, indem nämlich in seiner Vorstellungskraft der Gedanke an die junge Schwägerin Swijashskiys sich mit dem an einen Ehebund verknüpfte, kam es ihm bei, daß er niemand besser von seinem Glück erzählen könne, als der Frau und der Schwägerin Swijashskiys, und so freute er sich darauf, zu diesen fahren zu können.

Swijashskiy erkundigte sich bei ihm über den Gang der Dinge auf dem Dorfe, wie stets so auch jetzt nicht die geringste Möglichkeit annehmend, daß man etwas erfinden könne, was in Europa noch nicht erfunden sei; aber dies war Lewin jetzt durchaus nicht unangenehm. Im Gegenteil empfand er, daß Swijashskiy recht habe, daß sein ganzes Unternehmen eitel sei, und erkannte die bewundernswerte Weichheit und Zartheit, mit welcher Swijashskiy die weitere Ausführung darüber, daß er eine richtige Anschauung vertrat, mied. Die Damen Swijashskiys waren ausnehmend liebenswürdig. Lewin schien es, als ob sie schon alles wüßten, und mit ihm empfänden, und nur aus Zartgefühl nicht davon sprächen. Er verblieb eine Stunde, zwei, drei bei ihnen, im Gespräch über verschiedene Dinge, und doch hatte er dabei immer das im Sinne, was ihm die Seele erfüllte, und er merkte nicht, daß er seine Umgebung entsetzlich langweilte und es längst die Zeit war, wo man sich zur Ruhe begab.

Swijashskiy begleitete ihn bis in das Vorzimmer, gähnend und verwundert über die seltsame Stimmung des Freundes. Es war zwei Uhr.

Lewin kehrte in das Hotel zurück und erschrak bei dem Gedanken daran, daß er jetzt allein mit seiner Ungeduld die ihm noch verbleibenden zehn Stunden werde ausfüllen müssen.

Der jourhabende Diener zündete ihm eine Kerze an und wollte gehen, aber Lewin hielt ihn zurück. Dieser Lakai, von dem Lewin früher nicht Notiz genommen hatte, er hieß Jegor, zeigte sich als ein sehr verständiger und angenehmer, und, was die Hauptsache war, guter Mensch.

»Es ist schwer, Jegor, wenn man nicht schlafen darf, he?« –

»Was ist zu thun! Das ist einmal unsere Pflicht. Die Herren haben ja ein ruhigeres Leben; aber wir müssen rechnen.«

Es zeigte sich, daß Jegor Familie hatte; drei Knaben und eine Tochter, welche Nähterin war und die er an einen Commis in einem Kürschnergeschäft verheiraten wollte.

Lewin setzte hierbei Jegor seine Ansicht darüber auseinander, daß in einem Ehebund die Hauptsache die Liebe sei und man mit dieser stets glücklich sein werde, weil das Glück nur in sich selbst bestehe.

Jegor hörte aufmerksam zu; er verstand offenbar die Idee Lewins vollkommen, aber zu ihrer Bekräftigung machte er eine für Lewin unerwartet kommende Bemerkung, daß er, wenn er bei guten Herren gedient habe, stets mit seinen Herren zufrieden gewesen sei, und daß er auch jetzt mit seinem Herrn völlig zufrieden sei, obwohl derselbe ein Franzose wäre.

»Ein erstaunlich guter Mensch,« dachte Lewin.

»Nun, und als du heiratetest, Jegor, hast du da dein Weib geliebt?«

»Wie hätte ich sie nicht lieben sollen?« versetzte Jegor.

Lewin erkannte, daß Jegor sich ebenfalls in einem Zustande der Aufregung befand, und Lust hatte, ihm alle seine innersten Empfindungen mitzuteilen.

»Mein Leben ist gleichfalls wunderbar gewesen. Von Jugend auf,« begann er mit glänzenden Augen und offenbar von der Aufgeregtheit Lewins angesteckt, so wie ja die Leute auch vom Gähnen angesteckt werden.

In dem nämlichen Moment ertönte indessen die Glocke; Jegor ging und Lewin blieb allein zurück. Er hatte fast nichts zu sich genommen bei dem Essen, den Thee und das Abendessen bei Swijashskiy zurückgewiesen, und mochte doch nicht an ein Abendbrot denken. Er hatte die ganze vorige Nacht nicht geschlafen, und mochte doch nicht an Schlaf denken. In dem Zimmer war es kühl, und doch war es ihm drückend heiß. Er öffnete beide Fenster und setzte sich auf den Tisch, den Fenstern gegenüber. Über einem mit Schnee bedeckten Dache war ein durchbrochenes Kreuz mit Ketten sichtbar und über demselben sich erhebend das Sternbild des Fuhrmanns mit der gelben, hellschimmernden Kapella. Er blickte bald nach dem Kreuz, bald nach dem Sternbild, sog die frische kalte Winterluft in sich ein, die gleichmäßig ins Zimmer hereinströmte, und hing wie im Traume den in seiner Vorstellungskraft aufsteigenden Bildern und Erinnerungen nach. Um vier Uhr vernahm er Schritte auf dem Korridor und schaute nach der Thür; ein ihm bekannter Spieler, Mjaskin, kam aus seinem Klub heim. Mißgestimmt, griesgrämig und hustend ging er vorüber.

»Armer Unglücklicher,« dachte Lewin und Thränen traten ihm in die Augen in der Liebe und dem Mitleid mit diesem Menschen. Er wollte mit ihm sprechen, ihn trösten, aber indem er sich besann, daß er nur mit dem Hemd bekleidet sei, sah er davon ab und setzte sich wieder an das Fenster, um sich in der kalten Luft zu baden, und nach jenem seltsam geformten, schweigsamen, und für ihn doch so bedeutungsvollen Kreuz, sowie dem sich erhebenden, hellschimmernden Gestirn zu schauen.

Um sieben Uhr wurde das Geräusch der Fußbodenfeger vernehmbar, man schellte nach einer Dienstleistung; Lewin fühlte, daß es ihn zu frieren begann. Er schloß das Fenster, wusch sich, kleidete sich an und ging zur Straße hinab.

15.

Auf der Straße war alles noch öde. Lewin begab sich nach dem Hause der Schtscherbazkiy. Die Hauptpforten waren geschlossen, alles schlief noch. Er kehrte um, ging wieder nach seinem Zimmer und bestellte Kaffee. Der jourhabende Lakai, nicht mehr Jegor, brachte ihm denselben. Lewin wollte ein Gespräch mit ihm anknüpfen, aber man schellte nach dem Diener und dieser ging. Er versuchte es nun, den Kaffee zu sich zu nehmen und Semmel in den Mund zu stecken, allein sein Mund wußte durchaus nicht, was er mit der Semmel beginnen sollte. Lewin spie sie wieder aus, legte seinen Paletot an und ging wieder fort. Es war zehn Uhr geworden, als er zum zweitenmal an der Freitreppe der Schtscherbazkiy ankam. Man war im Hause soeben wach geworden und der Koch ging gerade nach dem Küchenbedarf; es hieß also mindestens noch zwei Stunden warten.

Die ganze Nacht und den Morgen hatte Lewin vollständig ohne Bewußtsein verlebt und er fühlte sich auch gänzlich den Verhältnissen des materiellen Lebens entrückt. Den ganzen Tag hindurch hatte er nichts zu sich genommen, zwei Nächte nicht geschlafen, mehrere Stunden ausgekleidet in der Kälte zugebracht – und fühlte sich dennoch nicht nur frisch und gesund wie noch nie, – er fühlte sich gleichsam unabhängig von seinem Körper. Er bewegte sich ohne Anstrengung der Muskeln und empfand, daß er alles unternehmen könnte. Er war überzeugt, daß er in die Luft fliegen oder die Ecke eines Hauses vom Platze bewegen könnte, wenn es nötig gewesen wäre.

Während der ihm noch verbleibenden Zeit strich er in den Straßen umher, unaufhörlich nach der Uhr blickend und nach allen Seiten schauend.

Was er dabei sah, das hat er in der Folge nie wieder gesehen. Kinder, welche zur Schule gingen, blaue Tauben, welche von den Dächern auf den Trottoir herabgeflogen kamen, und Semmeln die mit Mehl bestreut, eine unsichtbare Hand auslegte, zogen ihn an.

Diese Semmeln, die Tauben und zwei Knaben waren für ihn überirdische Geschöpfe. Alles kam zu gleicher Zeit; ein Knabe lief nach einer Taube und blickte Lewin lächelnd an, die Taube schlug mit den Flügeln und flatterte davon, in der Sonne schimmernd und in den die Luft erfüllenden Schneekrystallen, und aus einem kleinen Fensterchen duftete es nach frischgebackenem Brot und hier wurden die Semmeln ausgelegt.

Alles das zusammengenommen war so außergewöhnlich lieblich, daß Lewin vor Freude lachen und weinen mußte. Nachdem er einen großen Bogen um den Gazetnyj-Pereulok und die Kislowka gemacht hatte, kam er endlich wiederum in seinem Hotel an und setzte sich nun, die Uhr vor sich hinlegend, nieder, um die zwölfte Stunde zu erwarten.

In dem Nebenzimmer sprach man über Maschinen und Schwindel, wobei Morgenhusten erschallte. Die da drüben wußten wohl noch gar nicht, daß der Zeiger bereits nach der Zwölf rückte. Der Zeiger war herangerückt und Lewin ging auf die Freitreppe hinaus. Die Kutscher wußten augenscheinlich alles; mit glücklichen Gesichtern umringten sie Lewin, ihm ihre Dienste um die Wette anbietend. Lewin wählte einen, versprach den übrigen, um ihnen nicht zu nahe zu treten, daß er sie ein andermal benutzen werde, und ließ sich zu den Schtscherbazkiy fahren. Der Kutscher sah vorzüglich aus in seinem weißen, aus dem Kaftan hervorstehenden, knapp am roten starken Halse anliegenden Hemdkragen. Der Schlitten dieses Kutschers war hoch, schlank: ein Schlitten wie ihn Lewin später nie wieder fuhr und auch das Pferd war gut und willig – kam aber nicht von der Stelle. –

Der Kutscher kannte das Haus der Schtscherbazkiy und nachdem er sich außerordentlich respektvoll zu dem Fahrgast gewendet und »tprru« gemacht hatte, hielt er vor der Einfahrt still.

Der Portier der Schtscherbazkiy wußte augenscheinlich auch schon alles. Das war ersichtlich an dem Lächeln seiner Augen und an dem Tone, wie er sagte: »Recht lange nicht dagewesen, Konstantin Dmitritsch!« Der wußte nicht nur alles, o nein, der triumphierte sogar schon augenscheinlich und bemühte sich nur, seine Freude zu verbergen. Als Lewin ihm in die alten guten Augen blickte, gewahrte er noch etwas ganz Neues in seinem Glück.

»Ist man schon aufgestanden?«

»Bitte, bitte! Bleibt nur hier!« sagte er lächelnd, als Lewin umkehren wollte, um seinen Hut zu holen. Das hatte etwas zu bedeuten.

»Wem soll ich Euch melden?« frug ein Diener.

Der Diener, obgleich noch jung und einer von den neuen Bediensteten und ein Fant, war dennoch ein sehr guter und ganz hübscher Mensch, und wußte jedenfalls auch schon alles.

»Der Fürstin, dem Fürsten, der jungen Fürstin,« sagte Lewin.

Die erste Person, welche er erblickte, war Mademoiselle Linon. Sie schritt soeben durch den Saal und ihre Locken und ihr Gesicht glänzten. Er hatte kaum mit ihr zu sprechen begonnen, als plötzlich hinter der Thür das Rauschen eines Kleides ertönte und Mademoiselle Linon den Augen Lewins entschwand, während diesen selbst ein freudiger Schrecken über die Nähe seines Glückes überkam.

Mademoiselle Linon war fortgeeilt und hatte sich, ihn allein lassend, nach einer zweiten Thür begeben. Kaum war sie verschwunden, da ertönten schnell geflügelte Schritte auf dem Parkett, und sein Glück, sein Leben – er selbst– das Bessere seiner selbst, das, was er so lange gesucht und ersehnt hatte – schnell, schnell nahte es ihm. Sie kam nicht selbst, sondern mit unsichtbarer Macht ward sie zu ihm gezogen.

Er sah nun ihre klaren, treuen Augen, erschreckt von der nämlichen Freude der Liebe, die auch ihn und sein eignes Herz erfüllte. Diese Augen leuchteten näher und näher, sie blendeten ihn mit ihrem Liebesglanz. Dicht neben ihm blieb sie stehen, ihn berührend; ihre Arme hoben sich und schlangen sich um seine Schultern.

Sie hatte alles gethan, was sie thun konnte; sie war zu ihm geeilt und hatte sich ihm ganz gegeben, schämig, wonnevoll. Er umfing sie und preßte seine Lippen auf ihren Mund, der seinen Kuß suchte.

Auch sie hatte die ganze Nacht hindurch nicht geschlafen, und seiner den ganzen Morgen lang geharrt.

Vater und Mutter waren ohne Widerspruch einverstanden gewesen, glücklich in ihres Kindes Glück. Nun erwartete sie ihn; sie wollte als die Erste ihm ihr beiderseitiges Glück verkünden, und so hatte sie sich vorbereitet, ihn zu empfangen, und sich ihres Gedankens gefreut, obwohl sie schüchtern und verschämt werdend, selbst nicht recht wußte, was sie eigentlich thun sollte. Da hörte sie seine Schritte und seine Stimme, und wartete hinter der Thür, bis Mademoiselle Linon hinausgegangen sein würde, – und diese ging. Sie selbst aber, ohne sich zu bedenken oder sich selbst zu fragen nach dem Wie oder Was, eilte zu ihm und that was sie nun gethan hatte.

»Wir wollen zu Mama gehen!« sagte sie, ihn am Arme nehmend.

Lange vermochte er nichts zu sagen; weniger deswegen, weil er fürchtete, mit einem Worte die Erhabenheit seiner Empfindung zu beeinträchtigen, als deshalb, weil er, sobald er etwas sagen wollte, statt der Worte Thränen der Glückseligkeit sich hervordrängen fühlte. Er ergriff ihre Hand und küßte dieselbe.

»Ist es denn wahr?« sprach er endlich mit leiser Stimme, »ich kann es nicht glauben, daß du mich liebst.«

Sie lächelte bei diesem »du«, und über die Schüchternheit, mit welcher er sie anschaute.

»Ja,« sagte sie dann, bedeutungsvoll und langsam; »ich bin so glücklich.«

Ohne seinen Arm loszulassen, trat sie in den Salon. Die Fürstin atmete bei dem Anblick der beiden schnell auf und brach sogleich in Thränen aus; sogleich aber begann sie auch zu lächeln, und trat ihnen mit so energischen Schritten, wie sie Lewin nicht erwartet hätte, entgegen, den Kopf Lewins umfangend, ihn küssend, und seine Wange mit ihren Thränen netzend. »So ist denn alles gut! Wie freue ich mich! Liebe sie! Ich bin sehr glücklich – Kity!«

»Das hat sich ja recht schnell gemacht!« sagte der alte Fürst, sich bemühend, unbewegt zu erscheinen, aber Lewin bemerkte doch, daß seine Augen feucht waren, als er sich zu ihm wandte. »Lange, immer habe ich dies gewünscht!« sagte der Fürst, Lewin bei der Hand nehmend und ihn an sich ziehend, »schon damals, als jener Windbeutel dachte« –

– »Papa!« rief Kity, ihm den Mund mit der Hand verschließend.

»Nun, ich werde nicht plaudern,« fuhr er fort; »ich bin sehr, sehr gl– ei, ei, was ich doch für ein Dummkopf bin« –

Er umarmte Kity, küßte ihr Antlitz und ihre Hand, dann wiederum das Gesicht und segnete sie.

Lewin erfaßte ein neues Gefühl von Liebe zu dem Manne, der ihm fremd gewesen war – dem greisen Fürsten – als er gewahrte, wie Kity lange und innig seine fleischige Hand küßte.

16.

Die Fürstin saß im Lehnstuhl, schweigend und lächelnd, der Fürst neben ihr. Kity stand an dem Sessel des Vaters, noch immer seine Hand nicht freigebend. Alle schwiegen.

Die Fürstin verlieh dieser Stimmung, zuerst Worte und setzte alle Gedanken und Empfindungen in Lebensfragen um. Gleichwohl aber erschien dies ihnen allen seltsam und sogar unangenehm im ersten Augenblick.

»Wann wird es denn nun geschehen? Wir müssen die Verlobung feiern und bekannt machen. Und wenn soll die Hochzeit sein? Wie denkst du, Alexander?«

»Hier ist er,« antwortete der alte Fürst, auf Lewin zeigend, »die Hauptperson in dieser Frage.«

»Wann?« frug Lewin, errötend. »Morgen. Wenn Ihr mich fragt, so könnten wir nach meiner Meinung heute einsegnen und morgen Hochzeit machen.«

»Genug, mon cher, das sind Dummheiten,«

»Also denn in acht Tagen?«

»Er ist ja wie verrückt.«

»Nun, weshalb denn?«

»Aber ich bitte Euch!« fiel die Mutter ein, heiter lächelnd über diese Eilfertigkeit, »und die Aussteuer?«

»Muß da wirklich erst eine Aussteuer und anderes noch dabei sein?« dachte Lewin voll Schrecken. »Indessen kann die Aussteuer oder die Einsegnung und alles übrige – etwa mein Glück zerstören? Nichts kann es zerstören!« Er blickte Kity an und bemerkte, daß diese von dem Gedanken an die Aussteuer nicht im geringsten verletzt war; »wahrscheinlich muß es also so sein,« dachte er nun.

»Ich verstehe allerdings gar nichts von solchen Dingen, und äußerte nur meinen Wunsch,« sagte er, sich entschuldigend.

»So wollen wir also überlegen. Jetzt können wir die Einsegnung und die öffentliche Anzeige vornehmen.«

Die Fürstin trat zu ihrem Gatten, küßte ihn und wollte gehen, er aber hielt sie zurück, umfing sie, und küßte sie mehrmals zärtlich und lächelnd wie ein jugendlich Verliebter. Die beiden Alten gerieten offenbar einen Augenblick in Verwirrung und wußten nicht recht, ob sie wieder ineinander verliebt waren, oder ob nur ihre Tochter liebte. Als der Fürst und die Fürstin gegangen waren, trat Lewin zu seiner Braut, und ergriff sie bei der Hand. Er hatte jetzt seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und konnte nun sprechen; er hatte ihr soviel zu sagen. Aber doch sagte er durchaus nicht das, was er hätte sagen sollen.

»Wie hätte ich ahnen können, daß es doch noch in Erfüllung gehen würde! Nimmermehr habe ich dies gehofft, aber in meiner Seele war ich stets davon überzeugt,« sprach er, »und ich glaube, daß dies schon vorher bestimmt gewesen ist.«

»Und ich?« versetzte sie, »selbst damals« – sie stockte, fuhr aber dann fort, ihn mit ihren treuen Augen fest anblickend, »selbst damals, als ich mein Glück von mir wies, habe ich stets Euch allein geliebt, doch ich war verleitet. Ich muß es aussprechen – – könnt Ihr vergessen?«

»Vielleicht ist es zum Glück gewesen. Ihr müßt mir viel vergeben. Ich muß Euch gestehen« – er wollte das Eine von dem mitteilen, was er ihr mitzuteilen beschlossen hatte, und er hatte beschlossen, ihr von dem ersten Tage ab zweierlei mitzuteilen, das Eine, daß er nicht mehr so rein sei, wie sie; das Andere, daß er keinen Glauben habe. Es war dies peinlich, aber er hielt sich für verpflichtet, ihr dies und das andere zu sagen. »Doch nein; nicht jetzt, später!« sagte er.

»Gut: also später; aber Ihr werdet es mir sicher sagen. Ich fürchte nichts. Ich muß alles wissen. Jetzt ist alles gut!«

»Gut geworden ist das, daß Ihr mich nehmt, wie ich auch sein mag, daß Ihr mich nicht von Euch weist; nicht wahr?« ergänzte er.

»Jawohl!« –

Das Gespräch wurde durch den Eintritt der Mademoiselle Linon unterbrochen, welche, obwohl verschmitzt, so doch zeitlich lächelnd kam, ihren geliebten Zögling zu beglückwünschen. Sie war noch nicht wieder hinaus, da kam schon die Dienerschaft zur Beglückwünschung. Dann erschienen die Verwandten und nun begann jener selige Taumel, aus dem Lewin nun bis zum nächsten Tage nach seiner Hochzeit nicht mehr herauskam. Ihm selbst war es dabei beständig unbehaglich, langweilig zu Mut, allein die Aufregung über sein Glück wuchs mehr und mehr. Er fühlte beständig, daß von ihm jetzt vieles gefordert würde, was er noch nicht kenne – – er that alles, was man ihm sagte und dies alles verursachte ihm ein Gefühl des Glückes.

Er glaubte, daß sein Brautstand nichts Ähnliches mit demjenigen anderer haben würde, und die demselben sonst eigenen Umstände sein ganz besonderes Glück stören möchten; aber es kam so, daß er eben nur das Nämliche that, was alle anderen thun, und sein Glück wurde dadurch nur erhöht und gestaltete sich mehr und mehr zu einem ganz besonderen, das nichts Ähnliches je gehabt haben oder noch haben mochte.

»Nun wollen wir aber Konfekt essen,« meinte Mademoiselle Linon und Lewin fuhr sogleich fort, um Konfekt einzukaufen.

»Ah, sehr erfreut über Euer Glück,« sagte Swijashskiy, »ich rate Euch, die Bouquets bei Thomin zu holen.«

»Muß ich?« und er fuhr zu Thomin.

Sein Bruder sagte ihm, daß er Geld werde aufnehmen müssen, da viel Ausgaben, Geschenke, nötig werden würden. »Geschenke sind erforderlich?« frug er und eilte zu Fuld.

Und bei dem Konditor, wie bei Thomin und bei Fuld gewahrte er, daß man ihn erwartet habe, sich über ihn freue und über sein Glück frohlocke, wie es alle thaten, mit denen er in diesen Tagen zu thun hatte. Außergewöhnlich erschien ihm, daß jedermann ihn nicht nur liebte, sondern auch alle, die ihm früher nicht sympathisch gewesen waren, kühle und gleichgültige Menschen, von ihm entzückt waren, sich ihm in allem fügten, mit seinen Empfindungen zart und taktvoll umgingen und seine Überzeugung teilten, daß er der glücklichste Mensch auf Erden wäre, weil seine Braut noch mehr als die Vollkommenheit selbst sei.

Ganz das Nämliche empfand auch Kity. Als die Gräfin Nordstone sich erlaubte, Andeutungen zu machen, daß sie eigentlich etwas Besseres gewünscht hätte, geriet Kity in Zorn und legte ihr so eifrig, so überzeugt dar, daß es etwas Besseres als Lewin in der Welt nicht geben könne, daß die Gräfin Nordstone dies anerkennen mußte und in Gegenwart Kitys Lewin nicht mehr ohne ein Lächeln des Entzückens begegnete.

Die Erklärung, welche von ihm in Aussicht gestellt worden war, bildete das einzige Ereignis von Bedeutung in dieser Zeit. Lewin beriet sich mit dem alten Fürsten und übergab, nachdem er dessen Urteil gehört hatte, Kity sein Tagebuch, in welchem alles aufgezeichnet stand, was ihn bedrückte. Er hatte dieses Tagebuch eigens im Hinblick auf eine künftige Braut geschrieben. Zweierlei eben bedrückte seine Seele; er war nicht mehr unschuldig, und er glaubte nicht. Das Geständnis seines Unglaubens ging ungerügt vorüber. Kity war religiös, hatte nie an den Wahrheiten der Religion gezweifelt, aber sein äußerer Unglaube berührte sie dennoch nicht im geringsten. Sie kannte durch ihre Liebe seine ganze Seele, und in seiner Seele sah sie, was sie sehen wollte; daß aber sein seelischer Zustand noch ungläubig sein heißen könnte, war ihr gleichgültig. Das zweite Geständnis hingegen ließ sie in bittere Thränen ausbrechen.

Nicht ohne inneren Kampf hatte ihr Lewin sein Tagebuch übergeben. Er wußte, daß zwischen ihm und ihr kein Geheimnis bestehen könne und dürfe, und deshalb hatte er beschlossen, daß es auch so sein müsse. Doch gab er dabei sich selbst nicht Rechenschaft darüber, wie seine Handlungsweise auf sie wirken könne; er versetzte sich nicht in sie selbst. Als er indessen an diesem Abend vor dem Theater zu der Familie kam, in ihr Zimmer trat und das verweinte, durch das von ihm verursachte und nicht mehr gut zu machende Leid verzweifelnde, klägliche, liebe Gesicht erblickte, da erkannte er den Abgrund, der seine befleckte Vergangenheit von ihrer Taubenunschuld trennte, und er erschrak über das, was er gethan hatte.

»Nehmt sie, nehmt diese furchtbaren Bücher weg!« sagte sie, die vor ihr auf dem Tische liegenden Hefte wegstoßend. »Weshalb habt Ihr sie mir gegeben? Aber nein; es ist besser so,« fügte sie hinzu, Mitleid mit seiner verzweiflungsvollen Miene empfindend; »und doch ist es furchtbar, furchtbar!« –

Er ließ den Kopf hängen und blieb stumm; er vermochte nichts zu sagen.

»Ihr verzeiht mir nicht,« flüsterte er.

»Doch, ich habe vergeben – aber es ist furchtbar.«

Sein Glück war so groß, daß dieses Geständnis es nicht zerstörte, sondern ihm vielmehr nur eine neue Färbung verlieh. Sie hatte ihm vergeben, aber seitdem erachtete er sich ihrer noch viel weniger würdig, neigte er sich moralisch noch viel tiefer vor ihr, schätzte er sein unverdientes Glück noch viel höher.

11.

Jedermann hatte an der allgemeinen Unterhaltung teil genommen, mit Ausnahme von Kity und Lewin. Als man anfangs von dem Einfluß sprach, den ein Volk auf das andere habe, kam Lewin unwillkürlich das in den Kopf, was er über den Gegenstand zu sagen hatte; aber, diese Ideen, welche für ihn früher so wichtig gewesen waren, schimmerten jetzt nur noch wie Traumbilder in seinem Kopf und hatten auch nicht das geringste Interesse mehr für ihn. Es schien ihm sogar seltsam, weshalb die Leute hier sich so emsig mühten, über etwas zu reden, was niemand nützen konnte. Für Kity hätte doch ganz ebenso, wie es schien, das was man über die Rechte und die Bildung der Frauen sprach, von Interesse sein müssen; wie oft hatte sie darüber nachgesonnen, wenn sie ihrer Freundin Warenka im Ausland gedachte, und an deren drückende Abhängigkeit; wie oft hatte sie selbst daran gedacht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie nicht heiratete und wie oft hatte sie hierüber mit der Schwester gestritten. Jetzt aber interessierte sie dies nicht im geringsten mehr. Sie hatte ihre eigene Unterhaltung mit Lewin, nicht eine eigentliche Unterhaltung, sondern eine gewisse geheime Korrespondenz, die beide mit jeder Minute mehr näherte und in ihnen die Empfindung eines süßen Erschreckens vor dem noch Unbekannten, in das sie eintraten, erzeugte.

Lewin erzählte zuerst auf die Frage Kitys, wie er sie im vergangenen Jahre hätte im Wagen sehen können, da er von der Heuernte gekommen und ihr auf der Landstraße begegnet sei.

»Es war früh, sehr früh am Morgen und Ihr waret wohl so eben erwacht. Maman schlief noch in ihrer Ecke. Es war ein wundervoller Morgen. Ich ging und dachte, wer mag denn das sein, dort im Wagen. Eine herrliche Tschetwjorka mit Schellen; – in einem Augenblick kamet Ihr vorüber; ich sah durch das Fenster – da saßet Ihr, mit beiden Händen die Bänder des Häubchens haltend und schienet über irgend Etwas in tiefem Nachdenken zu sein,« erzählte er lächelnd. »Wie gern wüßte ich, woran Ihr damals gedacht habt. An etwas Wichtiges?«

»Sollte ich nicht sehr unordentlich ausgesehen haben? « dachte Kity; als sie indessen das entzückte Lächeln gewahrte, welches die Erinnerung an diese Einzelheiten auf seinen Zügen hervorrief, da empfand sie, daß im Gegenteil der Eindruck, den sie hervorgebracht, nur ein sehr guter gewesen sei. Sie errötete und lächelte freudig.

»Ich entsinne mich wirklich nicht mehr.«

»Wie herzlich lacht doch dieser Turowzin!« sagte Lewin, freundlich dessen feuchtschimmernde Augen und den sich schüttelnden Körper betrachtend.

»Ihr kennt ihn seit langem?« frug Kity.

»Wer sollte ihn nicht kennen?«

»Ich sehe, daß Ihr glaubt, er sei ein garstiger Mensch.«

»Nicht schlecht; aber unbedeutend.«

»Das ist nicht wahr! Und Ihr dürft fortan nicht mehr so über ihn denken;« sagte Kity, »ich selbst hegte nur eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er ist ein äußerst lieber und wunderbar gutmütiger Mensch. Sein Herz ist – wie Gold.« –

»Wie habt Ihr denn sein Herz erkennen können?«

»Ich bin mit ihm sehr befreundet und kenne ihn recht gut. Im vergangenen Sommer, bald darnach, als Ihr bei uns gewesen waret,« sagte sie mit schuldbewußtem und zugleich treuherzigem Lächeln, »lagen bei Dolly sämtliche Kinder am Scharlach darnieder und da hat er sie doch besucht. Und stellt Euch vor,« sprach sie flüsternd, »so sehr hat sie ihm leid gethan, daß er dort geblieben ist und ihr in der Pflege der Kinder beigestanden hat! Ja; drei Wochen hat er so bei uns verlebt und ist wie eine gute Wärterin mit den Kindern gewesen. – Ich erzähle Konstantin Dmitritsch von Turowzin beim Scharlachfieber,« sagte sie, sich nach ihrer Schwester hinbeugend.

»Ja; das war wunderbar, reizend!« versetzte Dolly, nach Turowzin schauend und diesem freundlich zulächelnd, welcher merkte, daß man von ihm sprach. Lewin blickte noch einmal nach Turowzin und geriet in Erstaunen, daß er vorher nicht all den Reiz dieses Mannes wahrgenommen hatte.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber ich werde niemals wieder übel über die Menschen denken,« sagte er alsdann heiter, und sprach dabei aufrichtig aus, was er jetzt fühlte.

12.

In dem angeregten Gespräch über die Frauenrechte tauchten auch Fragen über die Ungleichheit der Rechte in der Ehe auf, welche in Gegenwart der Damen heikler Natur waren. Peszoff hatte im Verlauf des Essens diese Fragen mehrmals gestreift, aber Sergey Iwanowitsch und Stefan Arkadjewitsch wichen denselben vorsichtig aus.

Als man sich vom Tische erhob und die Damen hinausgegangen waren, wandte sich Peszoff, der ihnen nicht folgte, an Aleksey Aleksandrowitsch und begann, diesem die wichtigste Ursache dieser Ungleichheit darzulegen. Die Ungleichheit unter Gatten bestand nach seiner Meinung darin, daß die Untreue des Weibes und die des Mannes von dem Gesetz und von der gesellschaftlichen Meinung nicht in gleichem Maße bestraft würden.

Stefan Arkadjewitsch trat schnell zu Aleksey Aleksandrowitsch, und lud ihn zum Rauchen ein.

»Danke, ich rauche nicht,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch ruhig und wandte sich, als ob er absichtlich zu zeigen wünschte, daß er dieses Thema nicht fürchte, mit kühlem Lächeln wieder an Peszoff.

»Ich glaube, daß die Gründe für diese Anschauung in der natürlichen Beschaffenheit der Dinge selbst liegen,« sagte er und wollte sich in den Salon begeben, aber da sprach ihn Plötzlich Turowzin an, der sich zu ihm wandte.

»Habt Ihr denn von Prjatschnikoff gehört?« frug Turowzin, lebhaft geworden von dem genossenen Champagner und schon lange auf die Gelegenheit wartend, das ihn beengende Schweigen brechen zu können, »Wasja Prjatschnikoff,« fuhr er mit seinem gutmütigen Lächeln auf den feuchten roten Lippen, sich vorzugsweise an den bedeutendsten der Gäste, Aleksey Aleksandrowitsch wendend fort, »man hat mir erzählt, daß er sich in Twer mit Kwytskiy geschlagen und diesen getötet hat.«

Wie es stets scheinen will, als ob man gerade an eine wunde Stelle nur gleichsam absichtlich stoße, so fühlte Stefan Arkadjewitsch, daß die Unterhaltung jetzt unglücklicherweise jeden Augenblick eine wunde Stelle in Aleksey Aleksandrowitsch berührte. Er wollte den Schwager deshalb abermals wegführen, allein Aleksey Aleksandrowitsch frug selbst voll Neugier weiter.

»Weshalb hat sich Prjatschnikoff geschlagen?«

»Wegen seines Weibes. Er hat mannhaft gehandelt, jenen gefordert, und ihn ins Jenseits befördert!«

»Ah,« machte Aleksey Aleksandrowitsch gleichmütig und begab sich alsdann, die Brauen in die Höhe ziehend, in den Salon.

»Wie freue ich mich, daß Ihr gekommen seid,« sagte Dolly zu ihm mit ängstlichem Lächeln, indem sie ihm in dem Zwischensalon entgegentrat, »ich habe etwas mit Euch zu sprechen, nehmen wir hier ein wenig Platz.«

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich mit dem nämlichen Ausdruck von Gleichgültigkeit, welchen ihm die emporgezogenen Brauen verliehen, neben Darja Aleksandrowna nieder und lächelte gezwungen.

»Um so angenehmer,« – sagte er, »als auch ich Euch um Entschuldigung bitten und mich zugleich verabschieden wollte. Ich muß morgen früh reisen.«

Darja Aleksandrowna war fest überzeugt von der Unschuld Annas und sie fühlte, wie sie bleich wurde und ihr die Lippen vor Zorn über diesen kalten gefühllosen Menschen zu beben begannen, der so ruhig entschlossen war, ihre unschuldige Freundin dem Verderben zu übergeben.

»Aleksey Aleksandrowitsch,« sagte sie, mit verzweifelter Entschlossenheit ihm ins Auge blickend, »ich habe Euch nach Anna gefragt und Ihr habt mir nicht geantwortet. Wie befindet sie sich?«

»Sie scheint sich wohl zu befinden, Darja Aleksandrowna,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch, ohne sie anzublicken.

»Aleksey Aleksandrowitsch, verzeiht mir, ich habe nicht das Recht – aber ich liebe und achte Anna wie eine Schwester; ich bitte und beschwöre Euch, mir zu sagen, was zwischen Euch beiden vorgefallen ist? Wessen beschuldigt Ihr sie?«

Aleksey Aleksandrowitsch runzelte die Stirn und senkte den Kopf, das Auge fest geschlossen.

»Ich glaube, Euer Gatte hat Euch die Ursachen mitgeteilt, wegen deren ich es für erforderlich erachte, meine bisherigen Beziehungen zu Anna Arkadjewna zu ändern,« sagte er, ohne ihr ins Auge zu blicken und mürrisch nach dem durch den Salon schreitenden Schtscherbazkiy schauend.

»Ich glaube es nicht; glaube es nicht und kann es nicht glauben!« fuhr Dolly mit energischer Gebärde, ihre knöchernen Finger vor sich hin ringend, dann erhob sie sich schnell und legte ihre Hand auf den Ärmel Aleksey Aleksandrowitschs. »Man stört uns hier. Kommt doch gefälligst mit hierher!«

Die Erregung Dollys wirkte auch auf Aleksey Aleksandrowitsch ein. Dieser stand auf und folgte ihr gehorsam in das Unterrichtszimmer. Hier ließen sie sich an einem Tische nieder, dessen Wachstuchüberzug von Federmessern zerschnitten war.

»Ich glaube es nicht, glaube es nicht!« fuhr Dolly fort, indem sie sich bemühte, seinen Blick, der sie mied, aufzufangen.

»Es ist unmöglich, an Thatsachen nicht zu glauben, Darja Aleksandrowna,« antwortete er, das Wort Thatsachen betonend.

»Aber was hat sie denn gethan?« frug Dolly, »was hat sie denn eigentlich gethan?«

»Sie hat ihre Pflicht vernachlässigt und ihren Gatten verraten. Das hat sie gethan,« sagte er.

»Nein, nein, das kann nicht sein! Nein, bei Gott, Ihr irrt,« fuhr Dolly fort, mit den Händen an ihre Schläfen fühlend und die Augen schließend.

Aleksey Aleksandrowitsch lächelte kalt, nur mit den Lippen, mit der Absicht, ihr und sich selbst damit die Festigkeit seiner Überzeugung zu beweisen; diese glühende Verteidigung öffnete die Wunde in ihm nur weiter, ohne daß sie ihn irre zu machen vermochte. Er begann mit großer Lebhaftigkeit:

»Es ist sehr schwierig, sich zu irren, wenn ein Weib selbst ihrem Manne die Mitteilung davon macht; wenn sie erklärt, daß acht Jahre ihres Lebens und ein Sohn – daß alles das ein Irrtum gewesen sei, und daß sie von neuem zu leben beginnen will,« sagte er erbittert, durch die Nase schluchzend.

»Anna und das Laster, – das kann ich nicht vereinen, das vermag ich nicht zu glauben!«

»Darja Aleksandrowna,« fuhr er fort, jetzt voll in ihr erregtes, gutes Antlitz blickend, und fühlend, daß ihm die Zunge unwillkürlich freier wurde, »gar viel hätte ich darum gegeben, einen Zweifel noch möglich bleiben zu lassen. So lange ich noch zweifelte, da war es mir zwar schwer ums Herz, aber doch leichter, als jetzt. Als ich noch zweifelte, hatte ich noch die Hoffnung, jetzt aber giebt es keine Hoffnung mehr, und doch zweifle ich noch an allem. Ich zweifle so an allem, daß ich meinen Sohn hasse und bisweilen nicht glaube, er sei mein Kind. Ich bin sehr unglücklich.«

Er hätte dies nicht noch zu sagen brauchen. Darja Aleksandrowna erkannte es, sobald sie ihm ins Gesicht geblickt hatte und er begann ihr leid zu thun. Ihr Glaube an die Unschuld ihrer Freundin war erschüttert.

»Ach, das ist schrecklich, schrecklich! Aber solltet Ihr Euch Wirklich zur Ehescheidung entschlossen haben?«

»Ich bin zum letzten Schritt entschlossen, mir bleibt weiter nichts übrig.«

»Weiter nichts übrig, nichts übrig,« wiederholte sie mit Thränen in den Augen. »Nein, o nein,« sagte sie. »Es ist furchtbar gerade bei dieser Art von Leid, daß man hier nicht, wie bei jedem anderen, bei einem Verlust oder Todesfall, sein Kreuz tragen kann, sondern handeln muß,« sagte er, gleichsam ihre Gedanken erratend. »Man muß sich aus dieser erniedrigenden Lage losmachen, in die man versetzt worden ist, denn es geht nicht an, zu Dreien zu leben.«

»Ich verstehe, ich verstehe recht wohl,« sagte Dolly und senkte das Haupt. Sie schwieg und dachte an sich selbst, an ihre unglückliche Ehe; dann erhob sie plötzlich wieder den Kopf mit energischer Gebärde und faltete beschwörend die Hände »aber wartet noch; Ihr seid doch ein Christ, denkt an sie selbst, was soll aus ihr werden, wenn Ihr sie verlaßt?«

»Ich habe schon gedacht, Darja Aleksandrowna; ich habe viel gedacht,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch. Auf seinem Gesicht waren rote Flecken erschienen und die trüben Augen richteten sich voll auf sie. Darja Aleksandrowna empfand jetzt aus voller Seele Mitleid mit ihm. »Ich habe es gethan, nachdem mir durch sie selbst meine Schande offenbart worden war – ich hatte noch alles beim Alten gelassen. – Ich hatte ihr die Möglichkeit zur Besserung gegeben und bemühte mich, sie zu retten. Aber was geschah? Nicht einmal die leichteste Bedingung hat sie erfüllt – die Beobachtung des Anstandes« – sagte er voll Erbitterung. »Man kann aber nur einen Menschen retten, welcher nicht untergehen will; ist nun die ganze Natur so verderbt, so ausschweifend, daß der Untergang selbst ihr noch als Rettung erscheint, – was ist dann noch zu thun?« –

»Alles; aber nicht die Scheidung!« antwortete Darja Aleksandrowna.

»Was denn dann – Alles?«

»Nein! Das wäre zu entsetzlich! Sie würde ein verlorenes Weib sein und untergehen.«

»Aber was kann ich thun?« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, die Schultern und die Brauen hochziehend. Die Erinnerung an den letzten Fehltritt seines Weibes hatte ihn so aufgebracht, daß er wieder kalt wurde, wie er es im Anfang des Gesprächs gewesen war. »Ich danke Euch sehr für Eure Teilnahme, allein es wird Zeit für mich« – er erhob sich bei diesen Worten.

»Ach, bleibt doch noch! Ihr dürft sie nicht verderben! Wartet noch, ich will Euch von mir erzählen. Ich habe geheiratet und mein Mann hat mich betrogen; in Zorn und Eifersucht wollte ich alles verlassen, und wollte selbst – – aber ich bin zur Besinnung gekommen. Und wer hatte dies erreicht? Anna hat mich gerettet. Meine Kinder gedeihen nun, mein Mann ist seiner Familie zurückgegeben und fühlt sein Unrecht, er wird sittenreiner, besser und ich lebe. – Ich habe ihm vergeben, und auch Ihr müßt vergeben!«

Aleksch Aleksandrowitsch hörte ihr wohl zu, aber ihre Worte wirkten nicht mehr auf ihn. In seiner Seele hatte sich wiederum der ganze Groll von jenem Tage geregt, an welchem er sich zur Scheidung entschlossen. Er schüttelte sich und begann mit durchdringender lauter Stimme:

»Vergeben kann ich nicht – will ich auch nicht – denn ich halte es für widerrechtlich. Alles habe ich für dieses Weib gethan, und alles hat es in den Kot getreten, der ihr nicht fremd ist. Ich bin kein böser Mensch, ich habe nie jemand gehaßt, sie aber hasse ich mit aller Kraft meiner Seele und ich kann ihr schon deshalb nicht vergeben, weil ich sie zu sehr hasse wegen all des Bösen, das sie mir gethan!« Thränen der Wut lagen in seiner Stimme, als er dies sagte.

»Liebet, die Euch hassen,« flüsterte Darja Aleksandrowna. Aleksch Aleksandrowitsch lächelte verächtlich. Er hatte das längst gewußt, aber es konnte auf seinen Fall nicht angewendet werden.

»Liebet, die Euch hassen, – aber diejenigen, die man selbst haßt, kann man doch nicht lieben! Verzeiht, wenn ich Euch verstimmt haben sollte, wir haben ja ein jeder genug des Leides!«

Wieder in Besitz seiner Selbstbeherrschung gelangt, verabschiedete sich Aleksch Aleksandrowitsch ruhig und ging.

11.

Lewin leerte sein Glas und beide schwiegen eine Zeitlang.

»Eins muß ich dir noch sagen. Du kennst wohl Wronskiy?« frug alsdann Stefan Arkadjewitsch Lewin.

»Nein, ich kenne ihn nicht. Weshalb fragst du so?«

»Eine andere Flasche,« wandte sich Stefan Arkadjewitsch an den Tataren, der die Gläser füllte und sich um beide herum bewegte; hauptsächlich dann, wenn er nicht erforderlich war.

»Du mußt Wronskiy deshalb kennen, weil er einer von deinen Nebenbuhlern ist.«

»Was ist das für ein Wronskiy?« frug Lewin, und seine Miene ging von dem Ausdruck des kindlichen Entzückens, mit dem er soeben noch Oblonskiy betrachtete, plötzlich zu dem des Hasses und der Feindseligkeit über.

»Wronskiy, ist einer der Söhne des Grafen Kyrill Iwanowitsch Wronskiy, einer der hellsten Sterne der jeunesse dorée von Petersburg. Ich habe ihn in Twer kennen gelernt, als ich dort in Dienst stand und er zur Rekrutenaushebung dorthin kam. Er ist ungeheuer reich, schön, hat mächtige Connexionen, ist Flügeladjutant und obenein ein sehr lieber guter Mensch. Aber mehr als dies gilt noch, daß er so, wie ich ihn hier kennen gelernt habe, auch Bildung besitzt und sehr klug ist; er ist ein Mensch, der es weit bringen wird.«

Lewin verfinsterte sich und blieb stumm.

»Nun, dieser Wronskiy also erschien hier, kurz nach deiner Abreise, und ist, so viel ich beurteilen kann, bis über die Ohren verliebt in Kity. Du weißt ja wohl, daß deren Mutter« –

»Entschuldige, aber ich verstehe von alledem gar nichts,« antwortete Lewin, sein Gesicht in finstere Falten legend. Sogleich erinnerte er sich wieder seines Bruders Nikolay und dessen, daß er ihn hatte vergessen können.

»Warte nur ruhig, warte,« sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd und seine Hand berührend. »Ich habe dir gesagt, was ich weiß und wiederhole, daß in dieser zarten Angelegenheit, so viel ich urteilen kann, mir die Chancen auf deiner Seite zu sein scheinen.«

Lewin warf sich in seinem Stuhle zurück; sein Gesicht sah bleich aus.

»Ich würde dir eben raten, die Sache sobald als möglich zur Entscheidung zu bringen. Heute rate ich dir nicht, zu reden,« fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, »aber morgen früh fahre zu ihr hin und mache ihr eine klassische Erklärung; Gott möge dich dabei segnen.«

»Was übrigens deine Absicht anlangt, zu mir zur Jagd zu kommen, so komme nur im Frühjahr zu mir,« antwortete Lewin. Er bereute jetzt aus ganzer Seele, dies ganze Gespräch mit Stefan Arkadjewitsch begonnen zu haben. Sein »Gefühl«, wie er seine Liebe nannte, war sowohl durch den Bericht über die Konkurrenz eines Petersburger Offiziers, als durch die Vorschläge und den Rat Stefan Arkadjewitschs verletzt.

Stefan Arkadjewitsch lächelte. Er verstand, was in der Seele Lewins vorging.

»Ich werde schon einmal kommen,« sagte er. »Ja, ja, liebster Freund, die Frauenzimmer sind eine Schraube, um die sich alles dreht. Auch meine Situation ist übel, sehr übel. Und alles kommt nur von den Weibern. Sprich einmal aufrichtig,« fuhr er fort, sich eine Cigarre nehmend und mit der anderen das Glas haltend, »und gieb mir einen Rat.«

»Worin?«

»Nun, im folgenden. Nehmen wir an, du wärest verheiratet, liebtest dein Weib, würdest aber von einer anderen verführt« –

»Entschuldige, das verstehe ich entschieden nicht, ebensowenig, wie ich etwa – es ist ja gleich was ich nehme – wie ich nicht begreifen könnte, wenn ich mir jetzt, nachdem wir uns satt gegessen haben, an einem Bäckerladen vorübergehend, eine Semmel stehlen sollte.«

Die Augen Stefan Arkadjewitschs glänzten mehr als gewöhnlich.

»Weshalb das? Die Semmel kann bisweilen so appetitlich duften, daß du es doch nicht aushältst:

»Himmlisch ist’s, wenn ich bezwungen
Meine irdische Begier;
Aber doch, wenn’s nicht gelungen,
Hatt‘ ich auch recht hübsch Plaisir.«

Stefan Arkadjewitsch lächelte fein bei diesen Worten, auch Lewin konnte gleichfalls nicht umhin zu lächeln.

»Ja, aber ohne Scherz,« fuhr Oblonskiy fort, »stelle dir vor, daß ein Frauenzimmer ein liebes, sanftes, liebevolles Wesen, arm, einsam, sich ganz dir opfert. Jetzt, da die Sache schon vollendet ist – verstehe recht – muß es da verlassen werden? Nehmen wir an, man müsse sich trennen, um das Familienleben nicht zu zerstören, soll man das arme Geschöpf da nicht bemitleiden, nicht unterstützen und seine Not nicht lindern?«

»O, entschuldige mich doch. Du weißt, daß alle Weiber für mich in zwei Klassen zerfallen, oder nein – richtiger – es giebt Weiber und es giebt – ich habe noch keine reizenden, gefallenen Geschöpfe gesehen und will keine sehen; solche aber, wie jene geschminkte Französin dort im Kontor mit ihren Bändern, sind für mich Unrat; überhaupt alle gefallenen sind es.« –

»Und die Büßerin in der Bibel?«

»O, halt‘ inne! Christus würde diese Worte nie gesprochen haben, hätte er wissen können, wie man mit ihnen Mißbrauch treiben würde. Aus dem ganzen Evangelium kennt man eben nur diese Worte. Übrigens spreche ich nicht das aus, was ich denke, sondern das, was ich fühle; ich habe einen Ekel vor den gefallenen Weibern. Man fürchtet sich wohl vor Spinnen – ich vor diesem Auswurf. Die Spinnen wirst du freilich wohl nach ihren Eigenarten nicht studiert haben und kennst ihre Art nicht – ich ebensowenig.« –

»Du hast gut reden; dir ist alles gleichgültig, wie jenem Herrn in einem Romane von Dickens, der alle unbequemen Fragen mit einer Bewegung der linken Hand nach der rechten Schulter von sich abweist; indessen eine Negierung einer Thatsache ist keine Antwort. Was ich thun soll, sage mir, was ich thun soll? Die Frau wird alt und man ist lebenslustig; man hat sich kaum umgeschaut, da fühlt man, daß man sein Weib nicht mehr in Leidenschaft zu lieben vermag, so sehr man sie auch achtet. Die Liebe hat sich dann plötzlich gewandt, sie ist dahin, dahin!« Stefan Arkadjewitsch sprach mit düsterer Verzweiflung.

Lewin lächelte.

»Jawohl; sie ist dahin,« fuhr Oblonskiy fort, »und was soll man dann thun?«

»Jedenfalls keine Semmeln stehlen!«

Stefan Arkadjewitsch brach in Gelächter aus.

»O, über diesen Moralprediger! Stelle dir doch nur vor; es handelt sich um zwei Weiber; die eine besteht nur auf ihrem Rechte und diese Rechte bestehen in deiner Liebe, die du ihr aber nicht geben kannst, die andere aber opfert sich dir dahin, und fordert nichts dafür. Was sollst du da thun? Wie handeln? Es ist ein entsetzliches Drama.«

»Willst du in der That meine Erklärung über die Sache, so sage ich dir, daß ich nicht glauben kann, es läge hier ein Drama vor. Und zwar aus folgendem Grunde: Nach meiner Meinung dient die Liebe – jede der beiden Arten von Liebe, wie sie wie du weißt, Plato im »Gastmahl« definiert, – als Probierstein für die Menschen. Die einen kennen nur die eine Art, die andern nur die andere. Die welche nur die nichtplatonische Liebe kennen, sprechen unnütz über das Vorhandensein eines Dramas. ›Ich danke bestens für das gehabte Vergnügen, meine besondere Hochachtung‹, das ist hier das ganze Drama. Für die platonische Liebe aber giebt es kein Drama, weil in einer solchen alles offen und rein ist, weil« –

In diesem Augenblick fielen Lewin seine eigenen Sünden bei und er gedachte der inneren Kämpfe, die er durchlebt hatte. Unerwarteterweise fügte er daher hinzu:

»Du kannst übrigens vielleicht doch recht haben; sehr recht. Doch ich weiß nichts, entschieden nichts.«

»Da hat man es,« antwortete Stefan Arkadjewitsch, »du bist ein sehr offener Mensch. Dies eben ist deine Eigenschaft und zugleich dein Fehler. Du bist ein unverfälschter Charakter und möchtest, das ganze Leben sollte sich aus offenkundigen Erscheinungen zusammensetzen, aber dies ist leider nicht der Fall. Daher verachtest du nun die Gesellschaft mit ihrer Dienstpflicht, weil es dich verlangt, zu sehen, daß die Arbeit stets dem Zwecke entspreche, aber dies ist leider auch nicht immer der Fall. Du willst ferner, daß die Thätigkeit eines Menschen stets einen Endzweck habe, daß also auch Liebe und Familienleben stets ein Einheitliches wären, aber auch dies ist leider nicht der Fall. Alle Abwechslung, aller Reiz, alle Schönheit des Lebens besteht aus Licht und Schatten.«

Lewin seufzte und antwortete nichts; er dachte an seine eigenen Angelegenheiten und hörte Oblonskiy gar nicht.

Plötzlich aber empfanden sie beide, daß obwohl sie Freunde waren, miteinander diniert und Wein getrunken hatten, was sie beide doch noch mehr nähern mußte, gleichwohl ein jeder von ihnen nur mit seinen eigenen Dingen zu thun hatte, und den einen die Angelegenheiten des anderen so gar nichts angingen.

Oblonskiy war nicht zum erstenmale dieser vollständigen Trennung an Stelle der Annäherung, wie sie sich heute nach dem Diner zeigte, inne geworden, und er wußte, was bei solchen Gelegenheiten zu thun war.

»Zahlen!« rief er und trat in den Nebensalon, wo er sogleich einen Bekannten, welcher Adjutant war antraf, mit dem er ins Gespräch über eine Schauspielerin und deren Freund geriet. In dieser Unterhaltung mit dem Adjutanten empfand Oblonskiy sogleich Erleichterung von dem Gespräch mit Lewin, der ihn stets zu einer allzu großen geistigen und seelischen Anstrengung veranlaßte.

Als der Tatar mit der Rechnung von sechsundzwanzig Rubel und einigen Kopeken erschien, zu denen noch ein Aufschlag für den Branntwein kam, verzog Lewin, den bei einer anderen Gelegenheit der Anteil seiner Rechnung von vierzehn Rubel als einen Landmann in Schrecken versetzt haben würde, keine Miene darüber, zahlte und begab sich dann nach Hause, um sich umzukleiden und zu den Schtscherbazkiy zu fahren, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte.