Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Arkadien des Nordens.

Am 29. Mai ging die Sonne zum ersten Male nicht unter; ihre Scheibe strich über dem Horizonte hin und streifte ihn kaum, um sogleich wieder zu steigen; man trat in die Periode der vierundzwanzigstündigen Tage ein. Am andern Tage erschien das strahlende Gestirn von einem prächtigen Hofe umgeben, einem leuchtenden Kreise, der in allen Regenbogenfarben spielte; das häufige Auftreten dieser Erscheinungen erregte die Aufmerksamkeit des Doctors, der stets das Datum, die Ausdehnung und die Art derselben aufzeichnete; die an erwähntem Tage beobachtete zeigte durch ihre elliptische Form eine noch wenig bekannte Erscheinungsweise.

Bald erschien das ganze Volk schreiender Vögel wieder; ganze Schwärme von Trappen und Canadagänsen, die aus dem so entfernten Florida oder Arkansas kamen, zogen mit erstaunlicher Schnelligkeit gen Norden und brachten den Frühling unter ihren Fittichen mit. Es gelang dem Doctor, einige derselben zu erlegen, sowie drei oder vier voreilige Kraniche, und selbst einen einsamen Storch.

Inzwischen schmolz unter Einwirkung der Sonne der Schnee auf allen Seiten, das auf dem Eisfelde durch die Risse und die Robbenlöcher ausgetretene Salzwasser zersetzte das Eis schnell; mit dem Seewasser vermengt bildet das letztere eine Art schmutzigen Teiges, den die Nordpolfahrer »Slush« nennen.

Breite Lachen bildeten sich auf dem Lande neben der Bai, und der bloßgelegte Boden schien, wie zu einer Vorstellung des arktischen Frühlings, mächtig zu treiben.

Der Doctor wiederholte nun seine Anpflanzungen; an Samen fehlte es ihm nicht; übrigens war er verwundert, zwischen den trockener gewordenen Steinmassen eine Art Sauerampfer wild wachsen zu sehen, und er bewunderte die Triebkraft der Natur, die so wenig braucht, um sichtbar zu werden. Er säete Kresse, deren junge Triebe nach drei Wochen schon über einen Zoll lang waren.

Auch Haidekraut begann schüchtern die kleinen Blüthen einer fast farblosen Rose zu zeigen. Kurz gesagt, ließ die Flora von Neu-Amerika viel zu wünschen übrig, dennoch sah man mit Vergnügen diese seltene, fast furchtsame Vegetation; es war ja Alles, was die schwachen Strahlen der Sonne zu leisten vermochten, ein letztes Liebeszeichen der Vorsehung, welche diese weitabliegenden Gegenden nicht gänzlich vergessen hatte.

Endlich wurde es wirklich warm; am 15. Juni beobachtete der Doctor, daß das Thermometer siebenundfünfzig Grade über Null (+14° hunderttheilig) zeigte; er traute seinen Augen kaum, aber überzeugte sich von der Richtigkeit; das Land wandelte sich um; unzählige murmelnde Wasserfälle sprudelten von den Gipfeln, welche die Sonne liebkoste, herab; das Eis verschob sich und die große Frage über das offene Meer am Pole nahte der Entscheidung … Die Luft erdröhnte von Lawinen, welche die Hügel herab in die Hohlwege stürzten, und das Bersten des Eises erscholl mit betäubendem Krachen.

Man unternahm einen Ausflug nach der Johnson-Insel; sie bestand nur aus einem dürren, wüsten Eilande, aber der alte Rüstmeister war deshalb nicht weniger stolz, daß die paar im Meere verlorenen Felsen seinen Namen trugen; er wollte ihn selbst, auf die Gefahr hin, den Hals dabei zu brechen, in einem hochragenden Steinblock eingraben.

Hatteras hatte bei seinen Ausflügen das Land bis jenseits Cap Washington genau durchforscht; das Schmelzen des Schnees veränderte das Aussehen der Umgebung merklich; Höhlungen und Abhänge erschienen da, wo der Winterteppisch scheinbar vollkommene Ebenen bedeckt hatte.

Das Haus und die Magazine drohten nun auch zu verschwinden, und man mußte sie häufig wieder in guten Stand bringen. Glücklicher Weise ist eine Temperatur von siebenundfünfzig Graden in jenen Breiten selten, und durchschnittlich erhebt sie sich dort kaum über den Gefrierpunkt.

Gegen den 15. Juni war die Schaluppe schon weit im Bau vorgeschritten und nahm ein gefälliges Aussehen an. Während Bell und Johnson an ihr arbeiteten, wurden einige große Jagden unternommen, welche reiche Ausbeute lieferten.

Es glückte auch, Rennthiere zu erlegen, denen man sich nur sehr schwer nähern kann; doch Altamont half sich mit der Methode der Indianer seines Vaterlandes, er kroch auf dem Boden hin, wobei er sein Gewehr und die Arme so hielt, daß sie den Hörnern eines solchen scheuen Vierfüßlers ähnelten, und so konnte er sie, indem er auf richtige Schußweite herankam, sicher treffen.

Aber das vorzüglichste Wild, der Bisonochse, den Parry in großen Heerden auf der Melville-Insel antraf, schien die Ufer der Victoria-Bai nicht zu besuchen. Es wurde demnach ein entfernterer Ausflug beschlossen, theils um dieses kostbare Thier zu jagen, theils um das Land im Osten kennen zu lernen; Hatteras hatte nicht vor, auf diesem Wege zum Pole vorzudringen, aber der Doctor war gar nicht böse, eine allgemeine Kenntniß des Landes zu gewinnen. Man entschloß sich also zu einem Abstecher östlich von Fort Providence. Altamont wollte jagen; Duk war natürlich bei der Gesellschaft.

So verließen also die drei Jäger, jeder mit Doppelflinte, Beil und Schneemesser ausgerüstet und von Duk gefolgt, am 17. Juni bei gutem Wetter, wobei das Thermometer einundvierzig Grad (+5° hunderttheilig) zeigte, und ruhiger, reiner Luft früh um sechs Uhr Doctors-House; sie waren auf eine vielleicht zwei bis drei Tage währende Excursion eingerichtet und führten demnach Proviant bei sich.

Um acht Uhr des Morgens hatte Hatteras mit seinen zwei Gefährten ungefähr sieben Meilen zurückgelegt. Noch kein lebendes Wesen hatte sie zu einem Schusse veranlaßt, und die Jagd schien in eine einfache Excursion umzuschlagen.

Das Land zeigte weite Ebenen, die sich über Sehweite hinaus verloren; Bäche von gestern furchten es zahlreich, und große Lachen, die wie Teiche ohne Bewegung waren, spiegelten die schief einfallenden Sonnenstrahlen wieder. Wo das Eis geschmolzen war, zeigte es einen Sedimentboden, der dem Wasser seine Entstehung verdankt und der auf der ganzen Erde so weit verbreitet ist.

Doch fanden sich einige erratische Blöcke von dem Boden ganz widersprechender Natur vor, deren Anwesenheit nur schwer erklärlich war; schiefrige Gesteine dagegen und die verschiedenen Bestandtheile der Kalkformation traf man in Ueberfluß an, und vorzüglich eine Art merkwürdiger, durchsichtiger und farbloser Krystalle, welche das eigenthümliche Lichtbrechungsvermögen des Isländischen Spathes zeigte.

Wenn er aber auch nicht jagte, so konnte der Doctor jetzt doch nicht Geolog sein; hier hieß es nur Schritt zu halten, denn seine Gefährten gingen sehr rasch. Doch studirte er das Terrain, und plauderte so viel als möglich, denn ohne ihn hätte ein vollkommenes Stillschweigen die kleine Gesellschaft beherrscht; Altamont hatte keine Lust mit dem Kapitän zu sprechen, und dieser wohl auch keine, ihm zu antworten.

Um zehn Uhr Morgens hatten die Jäger etwa ein Dutzend Meilen gegen Osten zurückgelegt; das Meer verschwand unter dem Horizonte; der Doctor schlug eine Rast zum Frühstücken vor. Der Imbiß wurde schnell eingenommen, und schon nach einer halben Stunde machte man sich wieder auf den Weg.

Das Land ward in sanfter Abdachung niedriger; einzelne durch ihre Lage oder durch überhängende Felsmassen noch erhaltene Schneestreifen gaben ihm ein wellenförmiges Ansehen; man konnte meinen, lange Wogen zu sehen, welche durch einen kräftigen Wind getrieben sich vom offenen Meere aus gegen das Land hin verliefen.

Noch immer bildeten vegetationslose Ebenen die Umgebung, die noch von keinem lebenden Wesen besucht zu sein schienen.

»Unstreitig haben wir kein Glück auf unseren Jagden, sagte Altamont zum Doctor; ich gebe zu, daß der Boden den Thieren wenig Nahrung bietet, aber das Wild der Polarländer brauchte doch nicht so zurückhaltend zu sein und könnte sich etwas entgegenkommender zeigen.

– Geben wir die Hoffnung nicht auf, antwortete der Doctor; wir stehen erst in Sommers Anfang, und wenn Parry auf der Melville-Insel so viele Thiere angetroffen hat, werden wir solche auch hier finden.

– Doch befinden wir uns nördlicher, bemerkte Hatteras.

– Allerdings, aber der Norden ist in dieser Frage nur ein Wort ohne Bedeutung; wir müssen vielmehr den Kältepol in’s Auge fassen, d. h. jene ungeheuern Eismassen, zwischen denen wir mit dem Forward überwinterten; je weiter wir jetzt hinauskommen, desto mehr entfernen wir uns von den kältesten Punkten der Erde und werden nach jener Seite hin dasselbe wieder finden, was Parry diesseits derselben antraf.

– Schließlich, sagte Altamont mit einem Seufzer des Bedauerns, sind wir bis jetzt mehr Reisende als Jäger!

– Geduld! entgegnete der Doctor, das Land verändert sich nach und nach, und es sollte mich sehr wundern, wenn wir in solchen Hohlwegen, wo etwas Pflanzenwuchs möglich ist, nicht Wild antreffen sollten.

– Man muß zugeben, erwiderte der Amerikaner, daß wir eine ebenso unbewohnte, als unbewohnbare Gegend durchstreifen.

– O, unbewohnbar, das ist ein großes Wort, versetzte der Doctor, ich glaube nicht an unbewohnbare Gegenden; der Menschh würde, wenn auch zuerst mit Opfern, indem er Generationen hindurch die Hilfsmittel der Landwirthschaftslehre anwendet, auch ein solches Land ertragsfähig machen.

– Sie glauben das? sagte Altamont.

– Allerdings! Wenn Sie sich nach den aus dem Kindesalter der Erde berühmten Gegenden, etwa nach Theben, Ninive oder Babylon, begeben, in jene fruchtbaren Thäler unserer Ahnen, so würde es Ihnen unmöglich scheinen, daß dort je hätten Menschen wohnen können; ja, die ganze Atmosphäre ist dort seit dem Verschwinden der Bewohner verdorben. Es ist das ein ganz allgemeines Gesetz der Natur, daß sie diejenigen Oertlichkeiten, welche wir nicht bewohnen, ebenso wie die, welche wir zu dicht bewohnen, unfruchtbar und ungesund werden läßt. Bedenken Sie wohl, daß es der Mensch ist, der sich seine Naturverhältnisse schafft, durch seine Gegenwart, seine Gewohnheiten, seine Industrie, ja ich gehe noch weiter, auch durch seinen Athem; er verändert nach und nach die Ausdünstungen des Bodens und die atmosphärischen Verhältnisse, und er verbessert schon dadurch, daß er athmet. Sonach giebt es wohl unbewohnte, aber nie unbewohnbare Orte.«

So gingen die Jäger plaudernd, indem sie Naturforscher geworden, immer weiter und erreichten ein weites Thal, in dessen Grunde ein fast eisfreier Fluß sich hinschlängelte; die Lage nach Süden hatte an seinen Ufern und etwas darüber hinaus einige Vegetation hervorgerufen. Der Boden schien mit Lust fruchtbar zu werden; es hätte nur einiger Zoll Erde bedurft, um ergiebig zu sein. Der Doctor machte auf dieses deutliche Streben aufmerksam.

»Sehen Sie, sagte er, könnten sich nicht einige unternehmende Colonisten zur Noth in diesem Thale niederlassen? Mit Fleiß und Ausdauer würden sie noch etwas ganz Anderes daraus machen; ich sage nicht etwa, Felder, wie in den gemäßigten Zonen, aber doch ein Land, das sich sehen lassen könnte. Ah, wenn ich mich nicht täusche, giebt es hier auch vierfüßige Bewohner! Die Schelme kennen die fetten Gegenden.

– Wahrhaftig, rief Altamont, sein Gewehr in Stand setzend, da sind Polarhasen.

– Warten Sie noch, sagte der Doctor, Sie hitziger Jäger! Die armen Thiere denken gar nicht an die Flucht. Lassen wir sie in Ruhe; sie kommen auf uns zu!«

In der That näherten sich drei bis vier junge Hasen, die sich in der niedrigen Haide und dem frischen Moose tummelten, den drei Männern, die sie gar nicht zu fürchten schienen; mit sorglos lustigen Sprüngen, welche Altamont fast entwaffneten, kamen sie heran.

Bald waren sie dem Doctor zwischen den Füßen, der sie mit der Hand streichelte und sagte:

»Warum auf Geschöpfe Feuer geben, welche zu freundlichem Verkehr mit uns herankommen? Der Tod dieser kleinen Thiere wäre uns doch unnütz.

– Sie haben Recht, Doctor, meinte Hatteras, wir wollen sie schonen.

– Und jene Schneehühner, die auf uns zufliegen, rief Altamont; und die Schnepfen, die dort auf ihren langen Beinen einherstolziren!«

Ein ganzes Volk von Federvieh erschien vor den Jägern, ohne Ahnung der Gefahr, welche nur der Doctor noch beschwor. Selbst Duk verhielt sich verwundert ganz ruhig.

Es war ein merkwürdiges, fast rührendes Schauspiel, die hübschen Thiere einherlaufen, hüpfen und umherflattern zu sehen; sie setzten sich auf die Schultern des guten Clawbonny, legten sich ihm zu Füßen und boten sich selbst den ungewohnten Liebkosungen desselben dar; sie schienen ihr Bestes zum Empfange der fremden Gäste zu thun, die zahlreichen Vögel stießen Freudenschreie aus, riefen immer einer den anderen, und bald kamen von allen Seiten noch mehr herzu. Der Doctor glich einem leibhaftigen Liebhaber. Die Jäger setzten, immer von der zutraulichen Gesellschaft gefolgt, ihren Weg an den feuchten Ufern des Flusses hinauf weiter fort, und als sie das Thal verließen, bemerkten sie eine Heerde von acht bis zehn Rennthieren, welche einige kümmerliche unter dem Schnee noch halb verborgene Flechten abweideten. Die graziösen stillen Thiere boten einen prächtigen Anblick mit ihrem gezahnten Geweih, welches das Weibchen ebenso stolz wie das Männchen trug; ihr scheinbar wolliger Pelz verlor schon das winterliche Weiß und tauschte dafür die graubraune Färbung für die Sommerzeit ein. Sie schienen ebensowenig scheu und ebenso zahm zu sein, wie die Hasen und die Vögel dieser friedlichen Gegend. – Solcher Art waren wohl die Beziehungen des ersten Menschen zur Thierwelt bald nach der Schöpfung der Erde.

Die Jäger gelangten in die Mitte der Truppe, die keinen Schritt entfloh; diesmal hatte der Doctor nicht wenig Mühe, Altamont’s Jagdtrieb zu zügeln; der Amerikaner konnte das herrliche Wild nicht sehen, ohne daß ihm das Blut berauschend zu Kopfe stieg. Hatteras betrachtete mit Rührung diese sanften Thiere, die ihre Nasen an den Kleidern des Doctors, der eben ein Freund aller lebenden Wesen war, rieben.

»Aber sind wir denn nicht eigentlich zum Jagen hierher gekommen? sagte Altamont.

– Um Bisonochsen zu erlegen, antwortete Hatteras, aber nichts Anderes! Wir wüßten mit diesem Wilde Nichts zu beginnen, da unsere Vorräthe noch reichlich sind. Wir wollen doch lieber das rührende Schauspiel genießen, den Menschen sich der Freude dieser schüchternen Thiere anschließen zu sehen, und ihnen keine Furcht einflößen.

– Das beweist uns, daß sie noch nie einen Menschen gesehen haben.

– Unzweifelhaft, bestätigte der Doctor, und daraus kann man auch noch den weiteren Schluß ziehen, daß diese Thiere nicht amerikanischen Ursprungs sind.

– Und warum das? fragte Altamont.

– Weil, wenn sie im nördlichen Amerika geboren wären, sie wissen würden, was sie von dem zweihändigen Geschöpfe, das man Mensch nennt, zu erwarten haben, und sie bei unserem Anblick dann sicher geflohen wären. Nein, wahrscheinlich sind sie aus dem Norden gekommen und entstammen jenen unbekannten Gegenden Asiens, denen Unseresgleichen sich noch nie genähert haben, von wo aus sie möglicher Weise die dem Pole benachbarten Continente überschritten. Demnach, Altamont, haben Sie nicht das Recht, sie als Landsleute zu beanspruchen.

– O, entgegnete Altamont, darauf sieht ein Jäger nicht so genau; das Wild gehört immer dem Lande desjenigen an, der es erlegt.

– Nun beruhigen Sie sich, tapferer Nimrod! Ich für meinen Theil würde lieber mein Lebenlang auf jeden Flintenschuß verzichten, als dieser liebenswürdigen Bevölkerung Schrecken einjagen. Sehen Sie, sogar Duk fraternisirt mit den allerliebsten Thieren. Glauben Sie mir, und bleiben wir gütig, so lange es möglich ist! Die Güte ist eine Macht!

– Schön, schön! entgegnete Altamont, der dieses Feinfühlen nicht ganz verstand, aber ich möchte Sie mit dieser Güte statt jeder Waffe mitten in einem Haufen von Bären oder Wölfen sehen.

– O, es fällt mir nicht ein, auch wilde Thiere zu liebkosen, entgegnete der Doctor, an die Zaubereien eines Orpheus glaube ich nicht sehr; übrigens würden Wölfe und Bären auch nicht wie jene Hasen, Hühner und Rennthiere auf uns zukommen.

– Und warum nicht, erwiderte Altamont, wenn auch sie noch keinen Menschen gesehen hätten.

– Weil derartige Thiere von Natur wild sind, und die Wildheit, so wie die Schlechtigkeit, den Verdacht nähren; das ist eine Beobachtung, die an Menschen und Thieren gleichmäßig zu machen ist. Wer schlecht ist, ist auch herausfordernd, und Furcht haben die selbst leicht, welche sie Anderen einzuflößen gewöhnt sind.«

Diese kleine philosophische Belehrung schloß die Unterhaltung.

Der ganze Tag verstrich in diesem Thale, welches der Doctor Arkadien des Nordens zu nennen beliebte, wogegen seine Genossen gar keinen Einwand erhoben; und als der Abend kam, schlummerten die drei Jäger nach einer Mahlzeit, welche keinem der Bewohner dieser Gegend das Leben gekostet hatte, in einer Felsenaushöhlung, die eigens für sie gemacht schien, friedlich ein.

Elftes Capitel.


Elftes Capitel.

Beunruhigende Spuren.

In der Nacht vom 26. zum 27. April schlug das Wetter um; das Thermometer sank merkbar, so daß die Insassen von Doctors-House die Kälte spürten, die bis unter ihre Decken drang. –

Altamont, der die Ofenwache hatte, bemühte sich, das Feuer nicht ausgehen zu lassen, und mußte tüchtig nachlegen, um die Temperatur im Innern auf fünfzig Grad über Null (+10° hunderttheilig) zu erhalten.

Der Wiedereintritt der Kälte bezeichnete das Ende des stürmischen Wetters, worüber sich der Doctor sehr freute; nun konnten ja die gewohnten Beschäftigungen, wie Jagden, Ausflüge, Erforschung des Landes und dergleichen wieder aufgenommen werden, was endlich der thätigkeitslosen Einsamkeit ein Ziel setzte, über die zuletzt auch die besten Menschen ärgerlich werden.

Am folgenden Morgen verließ der Doctor frühzeitig das Bett und bahnte sich durch die aufgehäuften eisigen Massen einen Weg bis zu dem Gipfel, auf dem der Leuchtthurm stand.

Der Wind war nach Norden umgesprungen; die Atmosphäre war klar; lange weiße Flächen boten dem Fuße ihren erhärteten Teppich.

Bald verließen die fünf Wintergenossen Doctors-House; ihre erste Sorge war, das Haus von den umhergelagerten Eismassen zu befreien; das Plateau erkannte man kaum wieder, es wäre unmöglich gewesen, darauf die Spuren einer Wohnung zu erkennen. Der Sturm, der die Unebenheiten des Terrains zufüllte, hatte Alles geebnet; mindestens um fünfzehn Fuß war der Boden erhöht.

Zuerst mußte man zum Wegräumen der Schneemassen schreiten; dann verlieh man dem Gebäude wieder eine architektonische Form, indem man seine Linien vereinigte und sein Aussehen wiederherstellte. Das war übrigens nicht allzuschwer, denn nachdem das Eis fortgeschafft war, genügte einige Arbeit mit dem Eismesser, den Mauern ihre normale Stärke wiederzugeben.

Nach zwei Stunden anhaltender Arbeit ward der Granitboden wieder sichtbar; dann wurde auch der Weg nach den Magazinen und dem Pulverhäuschen wieder gangbar gemacht.

Da sich bei dem so unzuverlässigen Klima ein solcher Zustand jeden Tag wiederholen konnte, entnahm man neuen Vorrath an Lebensmitteln und schaffte ihn in die Küche. Nun machte sich den durch das Salzfleisch gereizten Magen aber auch das Bedürfniß nach frischem Fleische fühlbar; die Jäger wurden demnach beauftragt, diese erhitzende Nahrungsweise einmal abzuändern, und sie bereiteten sich zu einer Partie.

Doch war mit Ende April der polare Frühling noch nicht gekommen; das dauerte noch mindestens sechs Wochen. Die noch schwachen Sonnenstrahlen vermochten diese Schneeflächen nicht zu durchdringen und dem Boden die dürftige Flora jener Gegenden zu entlocken. Man mußte wohl fürchten, daß die Thiere, Vögel und Vierfüßler noch sehr selten seien. Doch hätten ein Hase, einige Paar Schneehühner, selbst ein junger Fuchs die Tafel in Doctors-House geziert, und die Jäger waren entschlossen, unerbittlich Alles, was ihnen vor den Flintenlauf kam, zu erlegen.

Der Doctor, Altamont und Bell machten sich daran, das Land zu erforschen. Altamont mußte, seinem Auftreten nach, ein geschickter und entschlossener Jäger sein; er war ein trefflicher Schütze, aber auch etwas großsprecherisch. Er war also bei der Partie, ganz wie Duk, der in seiner Art gleichviel werth war, und weniger schwatzte.

Die drei Reisegenossen stiegen auf die östliche Erhöhung hinauf und drangen quer über die weißen Ebenen; sie brauchten indeß nicht weit zu gehen, denn kaum zweitausend Schritte vom Fort wurden zahlreiche Fährten sichtbar; von dieser Stelle aus gingen sie nach dem Ufer der Victoria-Bai und schienen rings das Fort in concentrischen Kreisen zu umschließen.

Nachdem die Jäger diese Spuren aufmerksam verfolgt, sahen sie sich einander an.

»Nun, sagte der Doctor, das scheint mir jetzt klar.

– Nur zu klar, setzte Bell hinzu; das sind Spuren von Bären.

– Ein prächtiges Stück Wild, antwortete Altamont, aber heute scheint es mir doch einen großen Fehler zu haben.

– Welchen? fragte der Doctor.

– Seine große Anzahl, erwiderte der Amerikaner.

– Was wollen Sie damit sagen, versetzte Bell.

– Ich will sagen, daß das die Spuren von fünf vollkommen zu unterscheidenden Bären sind; und fünf Bären auf fünf Menschen ist doch etwas viel.

– Sind Sie Ihrer Ansicht sicher? fragte der Doctor.

– Sehen und urtheilen Sie selbst; hier ist eine Fährte, die jener anderen nicht gleicht; die Krallen von diesen hier sind weiter abstehend, als die von jenen; da ist auch noch die Fußtapfe eines kleineren Bären. Wenn Sie vergleichen, werden Sie in bestimmtem Raume immer die Spuren von fünf Thieren finden.

– Es ist unzweifelhaft, sagte Bell, nachdem er sich die Sache genau angesehen.

– Dann, meinte der Doctor, gilt es hier nicht unnütze Bravour zu zeigen, sondern auf unserer Hut zu sein; diese Thiere sind durch den strengen Winter ausgehungert, und können deshalb sehr gefährlich werden; und da über ihre Zahl kein Zweifel sein kann …

– Und auch nicht über ihre Absichten, fiel Altamont ein.

– Sie glauben, sagte der Erstere, daß diese unseren Aufenthalt an der Küste aufgespürt haben?

– Gewiß, wenn wir nicht nur auf eine Wechselfährte der Bären gestoßen sind. Aber warum gehen diese Spuren rund herum und verlieren sich nicht in der Ferne? Da sehen Sie, von Südosten sind die Thiere gekommen, haben dann hier Halt gemacht, und von dieser Stelle aus das Terrain durchstöbert.

– Sie haben Recht, sagte der Doctor; es steht sogar fest, daß sie diese Nacht gekommen sind.

– Und ohne Zweifel auch die früheren Nächte, antwortete Altamont, nur wird der Schnee ihre Spuren verdeckt haben.

– Nein, erwiderte der Doctor, es ist vielmehr anzunehmen, daß die Bären auch das Ende der Stürme abgewartet haben; durch die Noth getrieben, haben sie sich dann nach der Küste der Bai aufgemacht, um einige Robben zu fangen, und haben uns dabei ausgewittert.

– So ist’s gerade, sagte Altamont; übrigens können wir leicht erfahren, ob sie nächste Nacht wiederkehren.

– Wie das? fragte Bell.

– Wir verwischen die Spuren auf einer Strecke Weges, und wenn wir morgen frische eingedrückte Spuren bemerken, ist es sicher, daß das Fort Providence das Ziel ist, nach dem sie trachten.

– Gut, sagte der Doctor, dann werden wir wenigstens wissen, woran wir sind.«

Die drei Jäger gingen an’s Werk, und indem sie den Schnee darüber scharrten, hatten sie bald auf eine Entfernung von sechshundert Fuß jede Fährte zerstört.

»Es ist doch auffallend, sagte Bell, daß die Thiere uns auf eine so große Entfernung hin aufspüren konnten, da wir kein Fett verbrannt haben, das sie hätte anlocken können.

– O, sagte der Doctor, die Bären haben sehr scharfen Gesichts- und sehr feinen Geruchssinn; dazu sind sie sehr gescheit, wenn nicht die gescheitesten aller Thiere, und haben von hier aus gewiß etwas Ungewohntes gewittert.

– Wer sagt uns übrigens, bemerkte Bell, daß sie nicht während des Sturmes sogar bis zu dem Plateau gekommen sind?

– Ja, sagte der Amerikaner, warum hätten sie sich dann aber letzte Nacht gerade auf diese Grenze beschränkt?

– Darauf giebt es freilich keine Antwort, erwiderte der Doctor, und wir müssen annehmen, daß sie den Kreis ihrer Nachforschungen immer enger um das Fort Providence ziehen werden.

– Das werden wir wohl sehen, antwortete der Amerikaner.

– Nun wollen wir unseren Weg fortsetzen, sagte der Doctor, aber wachsamen Auges!«

Die Jäger lugten scharf aus; sie mochten fürchten, hinter irgend einem kleinen Eisberge lauere ein Bär; häufig hielten sie große Blöcke, die ungefähr die Form und Farbe derselben hatten, auch selbst für solche; aber zuletzt und zu ihrer großen Befriedigung war es immer eine Täuschung.

Endlich kamen sie dem Bergkegel wieder nahe, von wo aus ihr Blick vergeblich vom Cap Washington bis zur Insel Johnson streifte.

Sie sahen Nichts; Alles war unbeweglich und weiß; kein Geräusch, kein Krachen des Eises war hörbar.

So kehrten sie in das Schneehaus zurück.

Hatteras und Johnson wurden mit dem Vorgefallenen bekannt gemacht, und man beschloß mit angestrengtester Aufmerksamkeit zu wachen. Die Nacht kam; Nichts störte ihre Ruhe, Nichts ließ sich hören, was die Nähe einer Gefahr verrathen hätte.

Am folgenden Tage machten sich Hatteras und seine Begleiter schon mit der Morgendämmerung wohlbewaffnet auf, den Zustand der Schneefläche nachzusehen; sie entdeckten Spuren, die denen des vorigen Tages vollkommen entsprachen, aber näher waren. Offenbar machten die Feinde Anstalt, das Fort Providence zu belagern.

»Sie haben ihre zweite Parallele eröffnet, sagte der Doctor.

– Sie haben sogar einen Posten vorgeschoben, erwiderte Altamont; sehen Sie dort diese Fährte, sie gehört einem gewaltigen Thiere an.

– Ja, sagte Johnson, diese Bären kommen nach und nach heran; es ist augenscheinlich, daß sie uns angreifen wollen.

– Das unterliegt keinem Zweifel, entgegnete der Doctor, darum vermeiden wir, uns sehen zu lassen. Wir sind nicht stark genug, um mit Erfolg einen offenen Kampf aufzunehmen.

– Aber wo mögen diese verdammten Bären sein? rief Bell.

– Hinter irgend einem Schollenhaufen im Osten, von wo aus sie uns beobachten; wir wollen uns keinem unklugen Abenteuer aussetzen.

– Und die Jagd? warf Altamont ein.

– Werden wir einige Tage aufschieben; wir wollen auf’s Neue die nächsten Fährten verlöschen, und morgen nachsehen, ob sie wieder da sind. So werden wir uns bezüglich der Manoeuvres unserer Feinde auf dem Laufenden erhalten.«

Des Doctors Rath ward befolgt, und man zog sich wieder in das Fort zurück. Die Anwesenheit dieser furchtbaren Thiere machte jeden Ausflug unmöglich. Man überwachte aufmerksam die Umgebungen der Victoria-Bai. Der Leuchtthurm wurde gelöscht, er hatte jetzt keinen thatsächlichen Nutzen und erregte eher die Aufmerksamkeit der Thiere; die Laterne und die Leitungsschnüre wurden in das Haus hereingenommen; ferner begab sich Einer nach dem Anderen zur Umschau auf das obere Plateau.

Nun hatten sie auf’s Neue die Unlust der Abschließung auszuhalten; aber konnten sie anders handeln? In einen so ungleichen Kampf konnte man sich nicht einlassen, und das Leben jedes Einzelnen war zu kostbar, um es unklug auf’s Spiel zu setzen. Wenn die Bären Nichts mehr sahen, gaben sie vielleicht das Spüren auf, und traf man sie bei einem Ausfluge einzeln, so waren sie schon mit Erfolg anzugreifen.

Diese Unthätigkeit wurde indeß auch durch ein neues Interesse belebt; es galt zu wachen, und Keiner bedauerte, ein wenig Vorposten stehen zu müssen.

Der 28. April verging ohne ein Lebenszeichen der Feinde.

Am anderen Tage suchte man mit lebhafter Neugierde die Fährte wieder auf, und war nicht wenig erstaunt, keine zu finden. Weit und breit sah man nur die unberührte Schneefläche.

»Gut! rief Altamont, die Bären haben ihr Spüren aufgegeben, sie hatten keine Ausdauer und wurden des Wartens müde. Sie sind fort! Glückliche Reise! Und nun auf, zur Jagd!

– Halt! Halt! wendete der Doctor ein, wer weiß? Zu größerer Sicherheit, meine Freunde, verlange ich noch einen Tag Ueberwachung; sicher ist nur, daß der Feind diese Nacht nicht zurückgekehrt ist, mindestens nicht von dieser Seite her …

– So umgehen wir das ganze Plateau, sagte Altamont, dann wissen wir gleich, woran wir sind.

– Recht gern!« erwiderte der Doctor.

Aber mochte man auch noch so achtsam den ganzen Raum innerhalb zwei Meilen absuchen, es war unmöglich, nur die geringste Fährte zu entdecken.

»Nun, gehen wir nun jagen? fragte ungeduldig der Amerikaner.

– Warten wir bis morgen, entgegnete der Doctor.

– Also bis morgen«, versetzte Altamont, der sich nur mit Mühe zurückhielt.

Alle gingen in’s Fort zurück und Jeder mußte, wie den Tag vorher, immer eine Stunde auf dem Beobachtungspunkte verbleiben.

Als die Reihe an Altamont kam, verfügte er sich zur Ablösung Bell’s nach dem Bergkegel.

Sobald er nur hinaus war, rief Hatteras seine Gefährten um sich zusammen. Der Doctor verließ sein Notizenheft und Johnson die Oefen.

Man hätte glauben können, daß Hatteras mit ihnen über die Gefahren ihrer Lage habe reden wollen; aber daran dachte er nicht.

»Meine Freunde, sagte er, benutzen wir die Abwesenheit dieses Amerikaners, um einmal von unseren Angelegenheiten zu sprechen; es giebt Sachen, die ihn Nichts angehen und in welche ich seine Einmischung nicht wünschte.«

Die Angeredeten sahen sich an, da sie noch nicht wußten, wo er hinaus wolle.

»Ich wünsche mich mit Euch, fuhr er fort, über unsere zukünftigen Projecte zu verständigen.

– Gut, gut, erwiderte der Doctor, darüber wollen wir reden, da wir allein sind.

– In einem Monate, sagte Hatteras, spätestens in sechs Wochen wird die Zeit zu größeren Ausflügen wieder da sein. Habt Ihr daran gedacht, was wir wohl während des Sommers unternehmen sollen?

– Und Sie, Kapitän, fragte Johnson.

– Ich, ich kann sagen, daß mir keine Stunde verstreicht, die mich nicht mit meiner Idee beschäftigt fände. Ich nehme an, daß Keiner die Absicht hat, den Weg rückwärts zu gehen?«

Diese Anmuthung blieb ohne augenblickliche Antwort.

»Was mich betrifft, fuhr Hatteras fort, und müßte ich allein gehen, ich ginge bis zum Nordpole, von dem wir höchstens noch dreihundert Meilen entfernt sind. Noch niemals näherten sich Menschen soweit diesem ersehnten Ziele, und ich möchte eine solche Gelegenheit nicht verlieren, ohne Alles versucht zu haben, selbst das Unmögliche. Was sind in dieser Hinsicht Ihre Absichten?

– Die Ihrigen, antwortete lebhaft der Doctor.

– Und die Ihrigen, Johnson?

– Die des Doctors, erwiderte der alte Schiffer.

– Es ist noch an Ihnen, zu sprechen, Bell, sagte Hatteras.

– Kapitän, entgegnete der Zimmermann, uns erwartet keine Familie in England, das ist wahr, aber die Heimat bleibt doch die Heimat! Denken Sie denn an keine Rückkehr?

– Die Rückkehr wird sich nach der Entdeckung des Poles noch ebensogut ausführen lassen, erwiderte der Kapitän. Selbst noch besser. Die Schwierigkeiten derselben werden nicht größer geworden sein, denn bei der Rückkehr entfernen wir uns immer mehr von den kältesten Punkten der Erdkugel. Wir haben noch für lange Zeit Brennmaterial und Nahrungsmittel. Nichts kann uns demnach abhalten, und wir würden uns eine wahre Schuld aufladen, nicht bis an’s Ziel gegangen zu sein.

– Nun denn, sagte Bell, wir sind Alle Ihrer Meinung, Kapitän.

– Gut, antwortete Hatteras, ich habe auch nie an Ihnen gezweifelt. Wir werden siegen, meine Freunde, und England wird den vollen Ruhm unseres Erfolges haben.

– Aber es ist ein Amerikaner unter uns«, sagte Johnson.

Hatteras vermochte bei dieser Bemerkung eine zornige Bewegung nicht zu unterdrücken.

»Ich weiß es, sagte er ernst.

– Wir können ihn hier nicht zurücklassen, meinte der Doctor.

– Nein, das können wir nicht, sagte mechanisch Hatteras.

– Und er wird bestimmt mitkommen.

– Ja! Er wird mitkommen! Aber wer wird den Befehl führen?

– Sie, Kapitän.

– Und wenn Ihr Anderen mir gehorcht, sollte dieser Yankee den Gehorsam verweigern?

– Ich glaube es nicht, antwortete Johnson; und wenn er sich wirklich Ihren Anordnungen nicht fügen wollte …

– So wäre das dann eine Frage zwischen ihm und mir.«

Schweigend sahen die drei Engländer Hatteras an. Der Doctor ergriff wieder das Wort.

»Wie werden wir reisen? sagte er.

– So viel als möglich längs der Küste, erwiderte Hatteras.

– Aber wenn wir, wie es wahrscheinlich ist, auf ein offenes Meer stoßen?

– Nun gut, dann setzen wir hinüber.

– Aber wie? Wir haben kein Fahrzeug.«

Hatteras blieb die Antwort schuldig; er war offenbar in Verlegenheit.

»Man könnte vielleicht, sagte Bell, eine Schaluppe aus den Trümmern des Porpoise bauen.

– Nimmermehr! fuhr Hatteras heftig auf.

– Nimmermehr?« fragte Johnson.

Der Doctor schüttelte den Kopf; er verstand das Widerstreben des Kapitäns.

»Nimmermehr! wiederholte dieser. Eine Schaluppe aus dem Holze eines amerikanischen Schiffes gebaut, wäre auch eine amerikanische! …

– Aber, Kapitän! …« begann Johnson.

Der Doctor gab dem alten Schiffer einen Wink, jetzt nicht hierbei zu verharren. Diese Frage mußte für einen gelegeneren Augenblick erspart bleiben. Wenn der Doctor auch Hatteras‘ Widerstand vollkommen begriff, so theilte er ihn doch nicht, und hoffte schon, den Freund wieder von seiner so bestimmten Entschließung zurückzubringen. Er sprach nun von Anderem; von der Möglichkeit, von der Küste aus direct nach Norden zu dringen, und von jenem unbekannten Punkte der Erdkugel, den man den Nordpol nennt.

Kurz, er vermied die gefährlicheren Seiten der Unterhaltung bis zu dem Augenblick, wo sie plötzlich unterbrochen wurde, und das war beim Wiedereintritt Altamont’s.

Dieser hatte nichts Neues mitzutheilen.

So endete der Tag, und auch die Nacht verlief ruhig. Offenbar waren die Bären verschwunden.

Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Im Eis-Gefängniß.

Am folgenden Tage dachte man daran, einen Jagdzug zu unternehmen, an dem Hatteras, Altamont und der Zimmermann theilnehmen sollten. Verdächtige Spuren waren nicht wieder bemerkt worden, und die Bären hatten gewiß auf einen Angriff verzichtet, sei es aus Furcht vor ihren unbekannten Feinden, oder weil ihnen neuerdings Nichts die Anwesenheit lebender Wesen in jener Schneemasse verrathen hatte.

Während der Abwesenheit der drei Jäger sollte der Doctor zur Insel Johnson vordringen, den Zustand des Eises untersuchen und einige hydrographische Aufnahmen vornehmen. Es war zwar eine sehr lebhafte Kälte, aber die Ueberwinternden vertrugen sie gut; ihre Haut hatte sich an diese ungeheure Kälte bereits gewöhnt.

Der Rüstmeister sollte in Doctors-House zurückbleiben, um die Wohnung zu überwachen.

Die Jäger trafen ihre Vorbereitungen; sie bewaffneten sich Jeder mit einem gezogenen Doppelgewehre und Spitzkugeln, und nahmen etwas Pemmican mit, für den Fall, daß die Nacht sie vor Beendigung ihres Ausflugs überraschte; außerdem trugen sie das unvermeidliche Schneemesser mit sich, das unentbehrlichste Werkzeug in jenen Gegenden, und ein Beil steckte im Gürtel ihrer Damwildjacken.

So ausgerüstet, bekleidet und bewaffnet konnten sie wohl ziemlich weit gehen, und, gewandt und kühn wie sie waren, auf einen guten Erfolg ihrer Jagd rechnen.

Um acht Uhr Morgens waren sie fertig und brachen auf. Duk sprang munter voran; sie stiegen die kleine Höhe im Osten hinauf, umgingen den Leuchtthurm und verloren sich in der weiten, im Süden durch den Mount Bell begrenzten Ebene.

Der Doctor seinerseits ging, nachdem er mit Johnson ein Alarmsignal für den Fall einer Gefahr verabredet hatte, nach dem Ufer hinab, um zu den vielgestaltigen Eismassen zu gelangen, welche die Bai Victoria umstarrten.

Der Rüstmeister blieb im Fort Providence allein, aber nicht müßig. Er ließ zuerst die Grönländer Hunde, die im Doggenpalast unruhig wurden, in’s Freie, wo sie sich lustig im Schnee wälzten. Dann beschäftigte sich Johnson mit den vielerlei Einzelheiten des Haushalts. Er mußte Brennmaterial und Speisevorräthe herbeischaffen, die Magazine in Ordnung bringen, manch‘ zerbrochenes Geräth wiederherstellen, die schlecht gewordenen Decken ausbessern und Schuhwerk für die weiten Sommerausflüge in Stand setzen. An Arbeit fehlte es ihm nicht, und der Rüstmeister gab sich ihr mit jener, dem Seemann eigenthümlichen Geschicklichkeit hin, die sich in Alles zu finden weiß.

Als er sich so beschäftigte, kam ihm die Unterhaltung des vergangenen Tages wieder in den Sinn; er dachte an den Kapitän und dessen nach Allem so heroischen und ehrenhaften Eigensinn, der nicht wollte, daß ein Amerikaner, nicht einmal eine amerikanische Schaluppe vor oder mit ihm den Pol erreichen sollte.

»Es scheint mir immerhin schwer, sprach er bei sich, den Ocean ohne ein Fahrzeug zu passiren, und wenn wir erst das offene Meer vor uns haben, wird man sich wohl der Nothwendigkeit, zu Schiffe zu gehen, nicht entschlagen können. Dreihundert Meilen weit kann man nicht schwimmen, und wenn man der beste Engländer wäre; der Patriotismus hat eben seine Grenzen. Nun wir werden’s ja sehen. Noch haben wir Zeit vor uns; Herr Clawbonny hat sein letztes Wort in dieser Sache auch noch nicht gesprochen; er ist der Mann dazu, den Kapitän die Sache noch einmal überlegen zu lassen. Ich möchte wetten, daß er von der Küste der Insel her schon einen Blick auf das Wrack des Porpoise wirft, und dann am besten wissen wird, was sich daraus machen läßt.«

Bis hierher kam Johnson mit seinen Betrachtungen, und die Jäger waren etwa eine Stunde lang fort, als er zwei bis drei Meilen unter dem Winde einen heftigen, deutlichen Knall hörte.

»Schön! sagte der alte Seemann, sie haben Etwas gefunden, und ohne weit zu gehen, da man den Schall so deutlich hört. Zudem ist die Atmosphäre sehr rein!«

Ein zweiter Knall und ein dritter folgten sich Schlag auf Schlag.

»Nun, sagte Johnson, die sind an einem guten Platze.«

Da fielen noch, offenbar näher, drei weitere Schüsse.

»Sechs Schuß! stutzte Johnson, nun haben sie keine Ladung mehr in den Gewehren, das muß heiß hergegangen sein. Oder sollten etwa gar …..«

Johnson erblaßte bei dem Gedanken, der ihm kam; schnell sprang er aus dem Hause und klomm in wenigen Augenblicken den kleinen Abhang bis zum Gipfel des Kegels empor. Was er sah, machte ihn erzittern.

»Die Bären!« rief er aus.

Die drei Jäger kamen, gefolgt von Duk, in vollem Laufe daher, verfolgt von fünf gewaltigen Thieren; ihre sechs Kugeln hatten jene nicht abzuwehren vermocht; die Bären liefen schneller als sie; Hatteras, der zurück war, verlor an Zwischenraum zwischen sich und den Thieren, und konnte diesen nur dadurch, daß er seine Mütze, seine Hacke und sogar seine Flinte wegwarf, erhalten. Die Bären hielten ihrer Gewohnheit gemäß an, um jeden ihrer Neugierde preisgegebenen Gegenstand zu beschnüffeln, und verloren so etwas an Terrain, während sie sonst das schnellste Pferd überholt hätten.

So kamen Hatteras, Altamont und Bell, außer Athem vom Laufen, bei Johnson an und ließen sich mit ihm die Böschung nach dem Schneehaufe hinabgleiten.

Die fünf Bären waren ihnen dicht auf dem Nacken, und der Kapitän mußte noch mit seinem Messer einen Tatzenschlag pariren, der kräftig nach ihm geführt wurde.

In Zeit von einem Augenblicke waren Hatteras und seine Genossen im Hause eingeschlossen. Die Bären waren zunächst auf dem durch die Abstumpfung des Kegelberges gebildeten Plateau zurückgeblieben.

»Endlich, rief Hatteras, werden wir uns nun besser vertheidigen können, Fünf gegen Fünf!

– Nur Vier gegen Fünf, sagte Johnson voll Schrecken.

– Wie das? fragte Hatteras.

– Der Doctor! antwortete Johnson nur, auf das leere Zimmer zeigend.

– Nun?

– Er ist nach der Insel zu gegangen!

– Der Unglückliche! rief Bell aus.

– So können wir ihn nicht verlassen, meinte Altamont.

– Nein, machen wir uns auf!« sprach Hatteras.

Schnell öffnete er die Thür, aber konnte sie kaum rechtzeitig wieder schließen; ein Bär hätte ihm beinahe mit einem Tatzenschlage den Schädel zertrümmert.

»Sie sind da! schrie er.

– Alle? fragte Bell.

– Alle!« erwiderte Hatteras.

Altamont sprang nach den Fenstern, deren Oeffnungen er mit Eisstücken aus den inneren Wänden verrammelte; seine Genossen thaten dasselbe; durch Nichts ward das Schweigen unterbrochen, als durch Duks verhaltenes Bellen.

Das muß man jedoch den Männern nachsagen, daß sie nur Ein Gedanke beseelte: sie vergaßen die eigene Gefahr und dachten nur an den Doctor; an ihn, nicht an sich. Der arme Clawbonny! So gut, so ergeben, die Seele der kleinen Colonie! Zum ersten Male war er nicht da; die größten Gefahren, vielleicht gar ein schrecklicher Tod warteten sein, denn nach Beendigung seines Ausflugs würde er ruhig nach Fort Providence zurückkehren und plötzlich vor den wilden Bestien stehen.

Und es gab kein Mittel, das zu verhüten!

»Jedoch, wenn ich mich nicht sehr täusche, sagte Johnson, wird er auf seiner Hut sein; Ihr wiederholtes Feuern muß ihn aufmerksam gemacht haben und ihn glauben lassen, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgehe.

– Wenn er aber zu fern von hier war, antwortete Altamont, und es nicht gehört hätte? Mit der Wahrscheinlichkeit von acht zu zehn wird er ohne Ahnung einer Gefahr zurückkehren. Die Bären sind durch den Wall des Forts verdeckt, so daß er sie vorher nicht sehen kann.

– Wir müssen uns also von diesen gefährlichen Gästen vor seiner Rückkehr befreien, erwiderte Hatteras.

– Aber wie?« fragte Bell.

Die Antwort hierauf war nicht leicht. Ein Ausfall erschien unausführbar. Man hatte Mühe gehabt, den Verbindungsgang zu verbarrikadiren, aber die Bären konnten, wenn es ihnen einfiel, dieser Hindernisse leicht Meister werden; sie wußten recht gut, wie sie bezüglich der Zahl und der Stärke ihrer Gegner daran waren, welche ohne Schwierigkeit bis zu ihnen gelangen konnten.

Die Gefangenen vertheilten sich in alle Räume von Doctors-House, um jeden Versuch eines Einbruchs zu überwachen; wenn sie lauschten, hörten sie die Bären hin und her laufen, dumpf brummen und mit ihren ungeheuren Tatzen an den Wänden scharren.

Doch, man mußte handeln; die Zeit drängte. Altamont beschloß eine Schießluke herzustellen, um auf die Angreifer zu feuern; in wenigen Minuten hatte er ein Loch in der Eismauer ausgehöhlt, in welches er sein Gewehr einlegte; kaum aber erschien dasselbe außerhalb mit der Mündung, als es seinen Händen auch schon mit unwiderstehlicher Gewalt entrissen wurde, ohne daß er zum Schießen kam.

»Zum Teufel! rief er; dagegen sind wir nicht stark genug!« und beeilte sich, die Schießscharte wieder zu verstopfen.

Diese Lage währte nun schon eine Stunde, und ihr Ende war vorläufig nicht abzusehen. Die Aussichten eines Ausfalls wurden noch besprochen; sie waren nur schwach, da man die Bären nicht würde einzeln bekämpfen können. Nichtsdestoweniger gedachten Hatteras und seine Genossen, die diese Lage gern ändern wollten, und, man muß es gestehen, sehr beschämt und verwirrt waren, so von Thieren gefangen gehalten zu werden, einen directen Angriff unternehmen, als der Kapitän noch auf ein neues Vertheidigungsmittel verfiel.

Er nahm den Poker, der Johnson zum Reinigen der Ofenroste diente, und legte ihn in die Kohlengluth; dann machte er eine Oeffnung in die Schneemauer, ohne sie für jetzt bis nach Außen zu verlängern, so daß also noch eine dünne Eiskruste an der Mündung stehen blieb.

Seine Gefährten sahen ihm zu. Als der Poker weißglühend geworden war, sagte Hatteras:

»Diese weißglühende Stange soll mir dazu dienen, die Bären, welche sie nicht halten können, zurückzutreiben, und durch die Schießscharte wird ein wohlgenährtes Feuer auf sie gerichtet werden können, ohne daß sie uns die Waffen zu entreißen vermögen.

– Gut ausgedacht!« rief Bell, der neben Altamont Posto faßte.

Darauf nahm Hatteras das Eisen aus der Gluth und stieß es schnell vollends durch die Mauer. Der Schnee, der in Berührung damit schmolz und verdampfte, zischte mit betäubendem Geräusche. Zwei Bären sprangen herbei, faßten die noch rothglühende Stange an, und stießen ein schreckliches Geheul aus; in demselben Augenblick fielen vier Schüsse Schlag auf Schlag.

»Getroffen! rief der Amerikaner.

– Getroffen! wiederholte hurtig Bell.

– Wiederholen wir’s«, sagte Hatteras, und verstopfte die Oeffnung augenblicklich wieder.

Das Schüreisen kam wieder in den Ofen; nach einigen Minuten war es rothglühend.

Altamont und Bell, welche die Gewehre wieder geladen hatten, nahmen ihre Plätze wieder ein; Hatteras reinigte die Schießscharte wieder und brachte das weißglühende Eisen auf’s Neue hinein.

Diesmal aber stieß es auf eine undurchdringliche Schicht.

»Verdammt! rief der Amerikaner.

– Was ist los? fragte Johnson.

– Was los ist! Nun, daß diese verwünschten Thiere Blöcke auf Blöcke häufen, so daß sie uns in unserem Hause einmauern und lebendig begraben.

– Unmöglich!

– Sehen Sie doch, das Schüreisen dringt nicht mehr durch; das wird am Ende spaßhaft!«

Spaßhaft war es nicht mehr, es wurde beunruhigend; die Lage verschlimmerte sich. Die Bären, als sehr gescheite Thiere, wandten dies Mittel an, ihre Beute zu ersticken. Sie häuften die Schollen derart an, daß jede Flucht unmöglich wurde.

»Das ist hart! sagte der alte Johnson mit höchst ärgerlicher Miene. Wenn Menschen uns so behandelten, möchte es noch gehen, aber Bären!«

Hierauf verflossen noch zwei Stunden ohne wesentliche Veränderung der Lage; ein Ausfall war unausführbar geworden, die verdickten Mauern hielten auch jedes von Außen kommende Geräusch ab. Altamont ging unruhig umher, wie ein muthiger Mann, der erbittert ist über eine Gefahr, die alle seine Kühnheit übersteigt. Hatteras gedachte mit Schrecken des Doctors und der ernstlichen Gefahr, die ihm bei der Rückkehr drohte.

»Ach! rief Johnson, wäre doch Herr Clawbonny hier!

– Nun, was würde er beginnen? fragte Altamont.

– Er würde uns gewiß aus der Noth zu helfen wissen.

– Und womit? fragte lächelnd der Amerikaner.

– Ja, wenn ich das wüßte, erwiderte Johnson, dann brauchte ich ihn nicht. Doch, einen Rath, den er uns jetzt geben würde, weiß ich doch.

– Der wäre?

– Den, einen Imbiß zu nehmen! Gewiß kann uns das nichts schaden, im Gegentheil. Was meinen Sie darüber, Herr Altamont?

– Wir wollen essen, wenn es Ihnen Vergnügen macht, antwortete der Letztere, obgleich es in unserer Lage etwas Albernes, um nicht zu sagen Demüthigendes ist.

– Ich wette, daß wir nach dem Essen irgend ein Mittel entdecken, hier heraus zu kommen«, sagte Johnson.

Niemand antwortete, aber man setzte sich zu Tisch. Zwar versuchte Johnson, der in des Doctors Schule gebildet war, gegenüber der Gefahr den Philosophen zu spielen; doch gelang es ihm nur schlecht. Uebrigens fingen die Gefangenen auch allmälig an, sich unbehaglich zu fühlen; die Luft verschlechterte sich in diesem hermetisch verschlossenen Raume; die Atmosphäre konnte sich durch die Rauchfänge der Oefen, welche schlecht zogen, nicht erneuern, und es war leicht vorauszusehen, daß in nicht ferner Zeit das Feuer erlöschen werde; der Sauerstoff, welcher durch das Athmen und das Feuer verzehrt wurde, mußte bald der Kohlensäure, deren verderbliche Wirkung bekannt ist, Platz machen.

Hatteras erkannte diese neue Gefahr zuerst und wollte sie seinen Gefährten nicht verheimlichen.

»So werden wir also um jeden Preis hinaus müssen, sagte Altamont.

– Ja, erwiderte Hatteras; aber wir wollen die Nacht abwarten, dann machen wir eine Oeffnung in die Decke, die uns frische Luft zuführen wird, dann nimmt Einer von uns auf dieser Stelle Platz, um auf die Bären zu feuern.

– Das ist der einzige Ausweg«, erwiderte der Amerikaner.

Als man dahin übereingekommen war, wartete man gespannt auf die Zeit zum Versuche dieses Abenteuers, doch machte in den folgenden Stunden Altamont seinen Verwünschungen Luft über eine Lage der Dinge, »in welche, wie er sagte, Bären und Menschen gekommen seien, und in der die Letzteren nicht die schönste Rolle spielten.«

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Die Mine.

Die Nacht kam heran, und schon begann die Lampe in der sauerstoffarmen Atmosphäre des Salons düster zu werden.

Um acht Uhr traf man die letzten Vorbereitungen. Die Gewehre wurden sorgfältig geladen, und eine Oeffnung in die Decke des Eishauses gemacht.

Die Arbeit dauerte schon einige Minuten, und Bell unterzog sich ihr ganz geschickt, als Johnson aus dem Schlafraume, in dem er sich zum Aufpassen befand, eilig zu den Anderen gelaufen kam.

Er schien unruhig zu sein.

»Was ist Ihnen, fragte der Kapitän.

– Was mir ist? Nichts, erwiderte der alte Seefahrer stockend, und doch ….

– Nun, was giebt’s? sagte Altamont.

– Stille! Hören Sie nicht ein sonderbares Geräusch?

– Von welcher Seite?

– Da! Es geht irgend Etwas in der Mauer des Zimmers vor.«

Bell unterbrach seine Arbeit; Jeder horchte.

Ein noch entferntes Geräusch war zu vernehmen, das aus der Seitenwand herzukommen schien; offenbar wurde ein Loch in das Eis gemacht.

»Man scharrt daran! sagte Johnson.

– Ohne Zweifel, erwiderte Altamont.

– Die Bären? fragte Bell.

– Ja, die Bären, versetzte dieser.

– Die haben ihre Taktik geändert, sagte der alte Seemann; sie haben es aufgegeben, uns zu ersticken.

– Oder sie halten uns schon für abgethan, erwiderte der Amerikaner, in dem der Zorn aufschäumte.

– Nun werden wir angegriffen werden, meinte Bell.

– Nun gut! sagte Hatteras, so werden wir Auge in Auge kämpfen.

– Tausend Teufel! rief Altamont, das ist mir lieber; ich für meinen Theil bin dieser unsichtbaren Feinde überdrüssig; jetzt wird man sich sehen und sich schlagen.

– Ja wohl, erwiderte Johnson, aber nicht mit Flintenschüssen, das geht in dem engen Raume nicht an.

– Nun gut, dann mit dem Beil, dem Messer!«

Das Geräusch wurde hörbarer, man vernahm deutlich das Kratzen der Krallen. Die Bären hatten die Mauer an dem Winkel in Angriff genommen, wo sich das Haus an den eisigen Abhang des Felsens lehnte.

»Das Thier, welches da arbeitet, ist jetzt keine sechs Fuß mehr von uns, sagte Johnson.

– Sie haben Recht, antwortete der Amerikaner, aber es bleibt uns Zeit, uns zu seinem Empfange vorzubereiten.«

Der Amerikaner nahm sein Beil in die eine, sein Messer in die andere Hand; auf den rechten Fuß gestützt, und den Körper zurückgebogen, hielt er sich zum Angriff bereit. Hatteras und Bell thaten desgleichen. Johnson hatte die Flinte bei der Hand, für den Fall, daß der Gebrauch der Feuerwaffe nöthig erschiene.

Immer stärker wurde das Geräusch; das Eis krachte unter der Gewalt der stählernen Krallen.

Endlich trennte nur noch eine dünne Kruste den Angreifer und seine Gegner. Plötzlich spaltete sich auch diese Zwischenwand, und ein großer schwarzer Körper erschien in dem Halbdunkel des Zimmers.

Schnell erhob Altamont seine Hand zum Schlage.

»Halt! Um des Himmels willen! rief da eine bekannte Stimme.

– Der Doctor! der Doctor!« jauchzte Johnson.

Wirklich, es war der Doctor, der mit der Wucht seines Leibes mitten in’s Zimmer kollerte.

»Nun, guten Tag, meine tapferen Freunde!« sagte er, indem er flink aufsprang.

Seine Gefährten waren ganz verdutzt, aber auf dieses Staunen folgte die Freude; Jeder wollte den wackern Mann in seine Arme schließen; Hatteras drückte ihn, tief gerührt, lange Zeit an’s Herz; der Doctor antwortete ihm mit einem warmen Händedruck.

»Was, Sie sind es, Herr Clawbonny! rief der Rüstmeister.

– Ich bin es, mein alter Johnson, und ich war über Ihr Loos gewiß unruhiger, als Sie es um das meinige sein konnten.

– Aber wie haben Sie wissen können, daß wir durch eine Rotte Bären angegriffen waren? fragte Altamont; unsere Hauptsorge war die, Sie möchten ruhig, ohne Ahnung der Gefahr, nach Fort Providence zurückkehren.

– O, ich habe Alles mit angesehen, erwiderte der Doctor; Ihre Flintenschüsse machten mich aufmerksam; ich war in dem Augenblicke nahe dem Wrack des Porpoise; ich erkletterte einen Eishügel und bemerkte die fünf Bären, die Ihnen auch auf der Ferse waren; ach, welche Angst hab‘ ich für Sie ausgestanden! Als ich Sie aber endlich von der Höhe des Hügels herabgleiten und die Bären Halt machen sah, war ich für den Augenblick beruhigt; ich nahm an, daß Sie noch Zeit hatten, sich im Hause verschanzen zu können. Dann hab‘ ich mich nach und nach genähert, bald kriechend, bald zwischen den Eisschollen gleitend; ich kam dem Fort nahe, und sah die gewaltigen Thiere, wie große Biber, bei der Arbeit; sie schlugen den Schnee an, thürmten die Blöcke, mit einem Worte, sie mauerten Sie lebendig ein. Glücklicherweise kamen sie nicht auf den Einfall, Blöcke von dem Berggipfel herabzuschleudern, denn dann würden Sie ohne Gnade zerschmettert worden sein.

– Aber, sagte Bell, Sie waren doch nicht in Sicherheit, Herr Clawbonny; konnten die Ungethüme nicht ihren Platz verlassen und gegen Sie vorgehen?

– Das fiel ihnen gar nicht ein; die Grönländer Hunde, welche Johnson losgelassen hatte, streiften mehrmals dicht bei jenen herum, ohne daß ihnen der Gedanke kam, auf sie Jagd zu machen; nein, die waren sich einer leckereren Beute gewiß.

– Ich danke für das Compliment, sagte Altamont lachend.

– O, darauf dürfen Sie nicht stolz sein. Als ich die Taktik der Bären durchschaute, beschloß ich zu Ihnen einzudringen; aus Vorsicht mußte ich die Nacht abwarten. Schon mit Eintritt der Dämmerung glitt ich geräuschlos nach dem Abhange von der Seite des Pulverhäuschens her. Diesen Weg wählte ich aus ganz bestimmten Gründen; ich wollte hier einen verdeckten Gang anlegen. Ich ging also an die Arbeit und griff das Eis mit meinem Schneemesser – wahrlich, ein prächtiges Stück Werkzeug das, entschlossen an. Ich hackte, bohrte, arbeitete, und da bin ich nun, zwar ausgehungert und kreuzlahm, aber doch angekommen …

– Um unser Loos zu theilen? sagte Altamont.

– Nein, um Alle zu retten; aber erst geben Sie mir etwas Zwieback und Fleisch, ich falle fast um vor Hunger.«

Bald zermalmten des Doctors weiße Zähne ein tüchtiges Stück Pökelfleisch; noch während des Essens gab er auf die ihn bestürmenden Fragen Antwort.

»Uns retten! wiederholte Bell.

– Ohne Zweifel, erwiderte der Doctor, der mit gewaltiger Anstrengung der Kaumuskeln seiner Antwort Bahn machte.

– Uebrigens, sagte Bell, da Herr Clawbonny hereingekommen ist, können wir auch auf demselben Wege wieder hinauskommen.

– Ja freilich, erwiderte der Doctor, und können der bösen Brut das Feld räumen, die zuletzt unsere Vorräthe entdecken und plündern wird.

– Wir müssen hier aushalten, sagte Hatteras.

– Ohne Zweifel, bestätigte der Doctor, aber uns nichtsdestoweniger bald jene Thiere vom Halse schaffen.

– Und dazu gäbe es ein Mittel? fragte Bell.

– Ein ganz sichres, erwiderte der Doctor.

– Ich hab’s doch immer gesagt, frohlockte Johnson, sich die Hände reibend; mit Herrn Clawbonny braucht man an Nichts zu verzweifeln; er hat in seinem Wissenssacke immer noch eine Aushilfe.

– O, o! Mein armer Quersack ist sehr schmächtig, wenn man ihn aber tüchtig durchsucht …

– Doctor, fiel Altamont ein, die Bären können doch nicht durch den Gang, den Sie ausgehöhlt haben, nachdringen?

– Nein, den habe ich hinter mir wieder gut verstopft; jetzt können wir von hier wenigstens nach dem Pulverhäuschen, ohne daß sie Etwas davon merken.

– Gut! Aber nun theilen Sie uns auch mit, wie Sie uns die lächerlichen Belagerer vom Halse zu schaffen gedenken.

– Das ist ein sehr einfaches Mittel, wofür die Vorarbeiten schon theilweise ausgeführt sind.

– Wie so?

– Das werden Sie gleich sehen. Doch ich vergesse ganz, daß ich ja nicht allein gekommen bin.

– Was sagen Sie? fragte Johnson.

– Ich habe Ihnen da einen Begleiter vorzustellen.«

Bei diesen Worten holte der Doctor aus dem Gange einen frisch geschossenen Fuchs.

»Ah, ein Fuchs! rief Bell.

– Meine Jagdbeute von heute früh, erklärte bescheiden der Doctor, und Sie sollen einsehen, daß noch nie ein Fuchs zu gelegenerer Zeit erlegt worden ist.

– Aber was haben Sie für einen Plan? fragte Altamont.

– Ich will die Bären alle miteinander mit einem Centner Pulver in die Luft sprengen«, erwiderte der Doctor.

Erstaunt sahen sie den Letzteren an.

»Aber das Pulver? fragte man.

– Ist im Magazin.

– Und das Magazin?

– Dieser enge Gang führt dahin. Ich habe doch nicht ohne Grund einen sechzig Fuß langen Stollen ausgegraben; ich hätte von der Brüstung aus auf näherem Wege in das Haus gelangen können, aber ich hatte so meine Gedanken dabei.

– Nun, und die Mine, fragte der Amerikaner, wo wollen Sie diese anlegen?

– Vor unserer Böschung, d. h. so entfernt von dem Hause, der Pulverkammer und den Magazinen als möglich.

– Aber wie sollen die Bären dahin gelockt werden?

– Das übernehme ich schon, antwortete der Doctor; genug der Worte, gehen wir zu Thaten. Während der Nacht haben wir einen etwa hundert Fuß langen Gang auszuhöhlen; das ist eine anstrengende Arbeit, aber zu Fünf werden wir, wenn wir uns ablösen, auch damit fertig. Bell mag anfangen und wir ruhen indessen aus.

– Alle Wetter, rief Johnson, je mehr ich mir es überlege, desto besser erscheint mir Herr Clawbonny’s Mittel.

– Es ist wenigstens ein sicheres, erwiderte der Doctor.

– O, von dem Augenblicke an, da Sie es sagen, sind die Bären schon so gut wie todt, und ich fühle schon ihre Pelze auf der Schulter.

– Nun denn, an’s Werk!«

Der Doctor verschwand in dem dunkeln Gange, und Bell folgte ihm; die Gefährten wußten, daß er bei einer Sache, die er einmal anfing, auch mit frohem Muthe war. Die beiden Mineure kamen am Pulverhäuschen an und machten sich eine Oeffnung, die sie mitten unter die bestens geordneten Fäßchen führte. Der Doctor gab Bell die nöthigen Anweisungen, und der Zimmermann arbeitete durch die entgegengesetzte Mauer, auf welche sich die Böschung stützte, während sein Begleiter nach dem Hause zurückkehrte.

Bell arbeitete eine Stunde lang und schachtete einen etwa zehn Fuß langen engen Gang aus, der kriechend passirt werden konnte. Nach dieser Zeit trat Altamont an seine Stelle, welcher ungefähr eben so viel förderte. Der aus dem Gange fortgeschaffte Schnee wurde nach der Küche gebracht, wo ihn der Doctor der Raumersparniß wegen einschmolz.

Auf den Amerikaner folgte der Kapitän, auf diesen Johnson; in zehn Stunden, d. h. bis gegen früh acht Uhr, war der Gang vollendet.

Beim ersten Morgengrauen beobachtete der Doctor die Bären durch die Luke, die er in die Wand des Pulverhäuschens gebrochen hatte.

Die geduldigen Thiere waren nicht von der Stelle gewichen; er sah sie hin- und hergehen und brummen, aber im Ganzen standen sie doch mit bewundernswerther Ausdauer Schildwache; sie tummelten sich rund um das Haus, das der Eisblöcke wegen kaum sichtbar war. Plötzlich aber schien ihre Geduld zu Ende zu sein, denn der Doctor sah sie die Eisschollen, die sie erst aufgethürmt hatten, wieder wegräumen.

»Schön! sagte er zum Kapitän, der neben ihm stand.

– Was fangen sie an? fragte dieser.

– Es scheint mir, als wollten sie ihr eigenes Werk wieder zerstören und bis zu uns vordringen! Aber Geduld, sie werden vorher zerschmettert sein; auf jeden Fall ist nun keine Zeit zu verlieren!«

Der Doctor glitt bis zu dem Punkte, wo die Mine angelegt werden sollte; dort ließ er die Kammer zur ganzen Höhe und Breite der Böschung ausweiten; bald war diese nur noch von einer dünnen, kaum einen Fuß mächtigen Eiskruste bedeckt; man mußte sie stützen, damit sie sich nicht senkte.

Ein auf dem Granitboden aufgestemmter Pfahl diente als Pfeiler; oben wurde der Fuchs daran gebunden, unten ein langer Strick, der bis zum Pulverhäuschen hinlief.

Die Genossen des Doctors folgten seinen Anordnungen, ohne sie noch völlig zu verstehen.

»Da ist die Lockspeise«, sagte er, auf den Fuchs weisend.

Neben den Pfeiler rollte er ein Tönnchen, das einen Centner Pulver enthalten mochte.

»Und hier ist die Mine, fügte er hinzu.

– Aber, fragte Hatteras, mit den Bären werden wir gleichzeitig in die Luft gehen.

– Nein, wir sind von dem Orte der Explosion weit genug entfernt; übrigens ist unser Haus fest, und wenn es etwas aus den Fugen ginge, nun, so werden wir es wiederherstellen.

– Gut, erwiderte Altamont; aber wie wollen Sie zu Werke gehen?

– Folgendermaßen: Wenn wir diesen Strick anziehen, reißen wir den Pfeiler um, der die Eisdecke über der Mine hält; der Balg des Fuchses wird dann sichtbar werden und Sie werden zugeben, daß die durch langes Fasten ausgehungerten Thiere sogleich darüber herfallen werden.

– Zugegeben.

– Nun wohl, in demselben Augenblicke lege ich Feuer an die Mine, und sprenge Mahlzeit und Gäste auf einmal in die Luft.

– Schön, schön!« rief Johnson, welcher der Unterhaltung mit lebhaftem Interesse gefolgt war.

Hatteras hatte zu seinem Freunde so vollkommenes Vertrauen, daß er nach keiner weiteren Erklärung verlangte; er wartete es ruhig ab. Altamont wollte aber näher unterrichtet sein.

»Doctor, sagte er, wie wollen Sie die Brennzeit ihre Lunte so genau berechnen, daß die Explosion im rechten Augenblicke erfolgt?

– Das ist sehr einfach, denn ich berechne sie gar nicht.

– Sie haben doch eine hundert Fuß lange Lunte?

– Nein.

– Dann wollen Sie wohl eine Pulverspur anlegen?

– Nein, die könnte versagen.

– Dann wird sich also Einer entschließen müssen, die Mine zu entzünden?

– Wenn es eines Mannes mit gutem Willen bedarf, sagte Johnson opferwillig, so biete ich mich freiwillig an.

– Das ist unnöthig, mein würdiger Freund, antwortete der Doctor dem alten Rüstmeister, unsere fünf Leben sind kostbar, und sollen, Gott sei Dank, geschont werden.

Dann höre ich auf, zu rathen, bemerkte der Amerikaner.

– Aber, sagte der Doctor lachend, wenn man sich hierbei nicht helfen könnte, wozu hätte man dann Physik studirt!

– Ah, sagte Johnson freudestrahlend, – die Physik hilft!

– Natürlich. Haben wir da nicht eine elektrische Batterie mit hinreichend langen Leitungsdrähten? Ich meine dieselben, die uns beim Leuchtthurme dienten.

– Nun, und …?

– Nun, damit werden wir augenblicklich, wenn es uns gefällt, und ganz ohne Gefahr, die Mine entzünden.

– Hurrah! rief Johnson.

– Hurrah!« die Anderen, unbekümmert, ob es die Feinde hörten oder nicht.

Sogleich wurden die Drähte von dem Hause aus bis nach der Minenkammer gelegt. Ihr eines Ende blieb an der Batterie befestigt, die anderen tauchten in das Pulver, indem sie sich unweit gegenüberstanden.

Um neun Uhr Morgens war Alles beendet; es ward auch die höchste Zeit; wüthend betrieben die Bären das Werk der Zerstörung.

Der Doctor erklärte den Augenblick für gekommen.

Johnson wurde in dem Pulverhäuschen damit beauftragt, den mit dem Pfeiler verbundenen Strick anzuziehen. Er bezog seinen Posten.

»Jetzt, sagte der Doctor zu seinen Gefährten, halten Sie auch die Gewehre bereit für den Fall, daß die Belagerer nicht auf einen Schlag getödtet würden, und halten Sie sich an Johnson’s Seite; sogleich nach der Explosion brechen Sie aus.

– Einverstanden, sagte der Amerikaner.

– Und jetzt haben wir Alles gethan, was Menschen thun können! Wir haben uns geholfen, nun helfe der Himmel weiter!«

Hatteras, Altamont und Bell verfügten sich nach dem Pulverhäuschen. Bei der Batterie blieb der Doctor allein.

Bald hörte er den entfernten Zuruf Johnson’s:

»Achtung!

– Es geht Alles nach Wunsch!« antwortete er.

Johnson zog heftig an dem Taue, es gab nach, indem es die Stütze umriß, dann eilte er nach der Luke und sah nach dem Erfolge.

Die Decke der Boschung senkte sich nieder; über den Bruchstücken ward der Körper des Fuchses sichtbar. Die Bären, welche zuerst erstaunt schienen, stürzten sich doch bald dicht an einander gedrängt auf die willkommene Beute.

»Feuer!« rief Johnson schnell.

Sogleich schloß der Doctor den elektrischen Strom; eine furchtbare Explosion fand statt – das Haus erzitterte wie von einem Erdbeben; die Mauern barsten. Hatteras, Altamont und Bell stürzten hervor, um nöthigenfalls zu feuern.

Aber ihre Waffen waren unnöthig; vier von den fünf Bären, welche die Explosion getroffen hatte, fielen da und dort zerrissen, unkennbar, verstümmelt und verbrannt nieder, während der Letzte, halb geröstet, sein Heil in eiliger Flucht suchte.

»Hurrah! Hurrah! Hurrah!« riefen die Genossen Clawbonny’s, während dieser freudig in ihre Arme fiel.

Vierzehntes Capitel.


Vierzehntes Capitel.

Arktischer Frühling.

Die Gefangenen waren erlöst; ihre Freude sprach sich in lauten Ausbrüchen und lebhaften Dankesbezeugungen gegen den Doctor aus. Die verbrannten und zu keiner Anwendung mehr tauglichen Felle der Bären bedauerte der alte Johnson zwar, ohne daß dies indeß seiner guten Laune besonderen Abbruch that.

Der Tag verging mit Wiederausbesserung des Eishauses, das merkliche Spuren von der Explosion davon getragen hatte.

Man entfernte die von den Thieren herangewälzten Blöcke wieder und verschloß die Mauerfugen auf’s Neue. Die Arbeit schritt, begleitet vom lustigen Gesang des Rüstmeisters, rasch vorwärts.

Am anderen Tage besserte sich die Temperatur wesentlich, und das Thermometer stieg in Folge einer plötzlichen Drehung des Windes bis auf fünfzehn Grad über Null (-9° hunderttheilig). Eine so beträchtliche Differenz war an lebenden und todten Wesen sehr bemerkbar. Der südliche Seewind brachte die ersten Anzeichen des nahenden polaren Frühlings.

Diese relative Wärme dauerte mehrere Tage an; das Thermometer zeigte, geschützt vor dem Winde, sogar einunddreißig Grad über Null (-1° hunderttheilig); es traten Anzeichen von Thauwetter ein.

Das Eis bekam Risse; da und dort sprang schon etwas Salzwasser hervor, wie die Wasserstrahlen in englischen Parks, und einige Tage später strömte reichlicher Regen herab.

Ein dichter Dunst lagerte über dem Schnee; er war ein gutes Vorzeichen und verkündete die baldige Schmelzung der ungeheuren Massen. Die blasse Scheibe der Sonne färbte sich lebhafter und beschrieb längere Bogen am Himmel; die Nacht dauerte jetzt kaum drei Stunden.

Ein anderes nicht weniger bezeichnendes Symptom bildeten die in großer Anzahl wiederkehrenden Schneehühner, Polargänse, Regenvögel und Birkhühner; die Luft ertönte nach und nach von jenem betäubenden Geschrei, dessen sich die Seefahrer noch vom vorigen Frühling her erinnerten; Hasen, welche man in großer Zahl schoß, erschienen an den Ufern der Bai, ebenso wie die arktische Maus, deren Bau eine Reihe regelmäßiger Zellen bildet.

Der Doctor machte seine Gefährten darauf aufmerksam, wie fast alle diese Thiere ihre weißen Winterhaare oder –Federn verloren und gegen die Sommer-Pelze oder –Gefieder umtauschten, sie »machten selbst Frühling«, während die Natur ringsherum ihre Nahrung in Form von Moos, Mohn, Steinbrech und Zwergrasen hervorsprießen ließ. Ein ganz neues Leben brach durch den verschwindenden Schnee hervor.

Mit den unschuldigen Thieren kamen aber auch deren ausgehungerte Feinde wieder; Füchse und Wölfe trabten ihrer Beute nach; und klägliches Geheul erscholl während der kurzen Dunkelheit der Nacht.

Der Wolf dieser Gegend ist unserm Hunde nahe verwandt; er bellt wie dieser, und so täuschend, daß sich auch die geübtesten Ohren, nämlich die der Hunderace selbst, täuschen lassen; man erzählt sogar, daß diese Thiere jene Kriegslist anwenden, um Hunde heranzulocken und diese zu verzehren. Diese Thatsache wurde ebenso in den Hudson-Bai-Ländern beobachtet, wie sie der Doctor in Neu-Amerika bestätigen konnte, und Johnson sorgte deshalb, daß die Hunde des Gespanns, die sich in dieser Schlinge hätten fangen können, nicht umher liefen. Was Duk betraf, so hatte dieser zu viele gesehen, und war zu klug, um in den Rachen eines Wolfs zu laufen.

Während vierzehn Tagen jagte man sehr fleißig und hatte bald frische Fleischvorräthe in Ueberfluß. Man erlegte Schneehühner, Rebhühner und Schnee-Ortolane, die eine leckere Speise boten. Weit vom Fort Providence brauchten sich die Jäger gar nicht zu entfernen; man konnte sagen, daß das kleine Wild ihnen selbst vor die Flinte lief; es belebte durch seine Gegenwart diese sonst so schweigsamen Gegenden ganz eigenthümlich, und die Bai Victoria gewann ein ebenso ungewohntes, als den Augen erquickliches Ansehen.

Die vierzehn Tage nach dem ernsthaften Zusammenstoße mit den Bären wurden so auf wechselnde Art verbracht; das Thauwetter machte sichtliche Fortschritte; das Thermometer stieg auf zweiunddreißig Grad über Null (0° hunderttheilig). Bergströme rauschten in den Hohlwegen und tausend Wasserfälle bildeten sich an den Abhängen der Hügel.

Der Doctor räumte etwa einen Morgen Landes auf und säete darein Kresse, Sauerampher und Löffelkraut, die eine so vortreffliche Heilwirkung beim Scorbut äußern. Schon sproßten kleine grüne Blättchen aus der Erde auf, als der Frost plötzlich wieder die Oberhand in seinem Reiche gewann.

In einer Nacht sank das Thermometer bei strengem Nordwind etwa vierzig Grade, bis auf acht unter Null (-22° hunderttheilig). Alles war wieder gefroren; Vögel, Vierfüßler und Amphibien verschwanden wie durch Zauberschlag; die Robbenlöcher schlossen sich wieder; die Risse verschwanden und das Eis bekam wieder die Härte des Granites, während die Cascaden, in ihrem Herabsturz gehemmt, lange Krystallzapfen bildeten.

Eine merkwürdige Veränderung des Anblicks ging in der Nacht vom 11. zum 12. Mai vor, und als Bell am Morgen die Nase in diesen schneidenden Frost hinaussteckte, hätte er sie beinahe draußen gelassen.

»O, über diesen Norden, rief der Doctor etwas verdrießlich, das ist so eine seiner Plagen! Nun werde ich mein Säen von Neuem anfangen können.«

Hatteras nahm die Sache weniger philosophisch, so sehr trieb es ihn, seine Untersuchungen aufzunehmen, doch wohl oder übel mußte er sich fügen.

»Und werden wir diese Kälte lange Zeit haben? fragte Johnson.

– Nein, mein Freund, antwortete Clawbonny, das ist gewöhnlich der letzte Anfall des Frostes! Sie wissen, daß er hier zu Hause ist und ohne Widerstand läßt er sich nicht vertreiben.

– Er vertheidigt sich wirklich gut, warf Bell ein, sich das Gesicht reibend.

– Ja wohl, bestätigte der Doctor; aber ich hätte das wissen können und meine Sämereien nicht wie ein Unwissender vergeuden sollen, zumal da ich sie nöthigenfalls in der Nähe des Küchenofens hätte treiben lassen können.

– Wie, sagte Altamont, Sie konnten diesen Temperaturwechsel voraussehen?

– Gewiß, und ohne deshalb Prophet zu sein. Ich hätte wenigstens meine Sämereien unter den unmittelbaren Schutz der Heiligen Mamertus, Pancratius und Servatius stellen müssen, deren Namenstage auf den 11., 12. und 13. dieses Monats fallen.

– Können Sie mir beispielsweise sagen, Doctor, rief Altamont, welchen Einfluß die genannten drei Heiligen auf die Temperatur haben könnten?

– Einen sehr großen, wenn man den Gärtnern, welche sie ‚die drei Eisheiligen‘ nennen, Glauben schenkt.

– Und wie das, wenn ich fragen darf?

– Weil gewöhnlich im Monat Mai ein periodisches Froststadium einfällt, und der niedrigste Stand der Temperatur vom 11. bis 13. stattfindet. Das ist mindestens Thatsache.

– Es ist merkwürdig; doch hat man eine Erklärung dafür? fragte der Amerikaner.

– Ja; sogar zwei: Entweder erklärt man es durch die Annahme einer größeren Zahl Asteroïden, die an diesem Tage zwischen Sonne und Erde vorüberziehen sollen; oder einfacher durch die Schmelzung der Schneemassen, welche eine große Menge Wärme bindet. Beide Erklärungen haben Etwas für sich. Muß man die Richtigkeit derselben anerkennen? – Ich weiß es nicht; aber wenn ich das auch nicht thue, durfte ich doch die Thatsache nicht außer Acht lassen und dadurch meine Pflanzungen in Gefahr bringen.«

Der Doctor hatte Recht; mochte nun Dies oder Jenes die Ursache sein, die Kälte hielt bis Ende des Monats an; die Jagd mußte unterbrochen werden, nicht weil der Frost zu heftig gewesen wäre, als weil es Nichts zu jagen gab; zum Glück waren die Vorräthe an frischem Fleische bei Weitem noch nicht erschöpft.

Die Ueberwinternden waren also zu neuer Unthätigkeit verurtheilt; während der nächsten vierzehn Tage, vom 11. bis 25. Mai, wurde ihr eintöniges Leben nur von einem einzigen Ereigniß unterbrochen, einer schweren Krankheit, die Rachenbräune, welche den Zimmermann unerwartet überfiel; bei den heftig geschwollenen Mandeln und den falschen Membranen, die darauf abgelagert waren, konnte der Doctor bezüglich der Diagnose nicht in Zweifel sein; hier war er aber in seinem Elemente, und die böse Krankheit, die auf ihn gewiß nicht gerechnet hatte, wurde bald abgewendet. Die Behandlung Bell’s war sehr einfach, und die Apotheke nicht weit. Der Doctor that Nichts weiter, als daß er den Kranken Eisstückchen in den Mund nehmen ließ; schon nach einigen Stunden sank die Anschwellung zusammen und die falschen Membranen stießen sich los; vierundzwanzig Stunden später war Bell wieder auf den Füßen.

Als man sich über das Verfahren des Doctors wunderte, antwortete dieser:

»Hier zu Lande sind die Halsentzündungen einheimisch, und das Heilmittel dagegen muß nahe dem Uebel sein.

– Das Heilmittel und besonders der Arzt«, fügte Johnson hinzu, in dessen Augen der Doctor zu wahrhaft pyramidalem Ansehen stieg.

Während dieser neuen Muße beschloß der Letztere mit dem Kapitän eine wichtige Auseinandersetzung zu veranlassen; es handelte sich darum, Hatteras darauf zurückzuführen, daß der Weg nach Norden unternommen werden solle, ohne eine Schaluppe, ein Canot, ein Stück Holz mitzunehmen, um mit ihm die See oder Meerengen zu überschreiten. Der Kapitän, der unbeugsam auf seinen Ideen beharrte, hatte sich ja in aller Form gegen die Erbauung eines Fahrzeuges aus den Resten des Porpoise ausgesprochen.

Es wurde demnach dem Doctor nicht leicht, jenes Thema anzufassen, und doch war es wichtig, dasselbe gründlich bis zur Entscheidung zu behandeln, denn bald mußte nun ja der Juni die Zeit der größeren Ausflüge herbeiführen. Nach reiflicher Ueberlegung nahm er Hatteras endlich einmal bei Seite und sprach zu ihm mit dem Ausdrucke sanfter Freundlichkeit:

»Hatteras, halten Sie mich für Ihren Freund?

– Gewiß, erwiderte der Kapitän schnell, für den besten, vielleicht für den einzigen.

– Wenn ich Ihnen einen, wenn auch unverlangten Rath ertheile, fuhr der Doctor fort, glauben Sie, daß ich das aus Eigennutz thue?

– Nein, denn das persönliche Interesse hat nie Ihre Handlungen bestimmt; aber wohinaus zielen Sie?

– Erlauben Sie mir noch eine Frage, Hatteras; halten Sie mich für einen eben so guten Engländer als Sie, und für eben so ehrgeizig auf den Ruhm unseres Vaterlandes?«

Erstaunt maß Hatteras den Doctor mit den Augen.

»Ja, erwiderte er, und forschte mit den Augen nach dem Zwecke seiner Fragen.

– Sie wollen bis zum Nordpol vordringen, fuhr der Doctor fort; ich begreife Ihren Ehrgeiz, ja, ich theile ihn; aber um dieses Ziel zu erreichen, würden wir nichts Nothwendiges unterlassen dürfen.

– Nun, habe ich bis jetzt nicht Alles diesem Zwecke geopfert?

– Nein, Hatteras, Ihr persönliches Widerstreben haben Sie nicht geopfert, und noch jetzt sehe ich Sie die unumgänglichsten Hilfsmittel, den Pol zu erreichen, ausschlagen.

– Aha, fiel Hatteras ein, Sie wollen von jener Schaluppe, von jenem Manne sprechen …

– Hatteras, wir wollen ganz ruhig und kaltblütig verhandeln, und die Sache von allen Seiten betrachten. Diese Küste, auf der wir den Winter zugebracht haben, kann unterbrochen sein; Nichts giebt uns einen Beweis, daß sie sich durch sechs Breitengrade bis zum Pole erstrecke; wenn die Angaben, welche uns bis hierher führten, sich bestätigen, so werden wir während des Sommers eine große Fläche freien Wassers vorfinden. Nun, und wenn wir vor dem Arktischen Ocean stehen, der frei von Eis, aber ohne Hinderniß für die Schifffahrt ist, was werden wir beginnen, wenn uns die Mittel fehlen, darüber zu setzen?«

Hatteras antwortete nicht.

»Wird es Ihnen genehm sein, sich wenige Meilen vom Pole entfernt zu befinden, ohne bis dahin gelangen zu können?«

Der Kapitän hatte den Kopf in die Hände sinken lassen.

»Und nun, betrachten wir die Frage einmal vom moralischen Standpunkte aus. Ich begreife, daß ein Engländer sein Vermögen, ja, seine Existenz einsetzt, um England ein neues Lorbeerblatt zu erwerben. Aber weil ein Boot aus einigen, von einem amerikanischen Schiffe genommenen Planken gezimmert worden ist, kann das die Ehre der Entdeckung schmälern? Und wenn Sie nun selbst hier ein verlassenes Schiff aufgefunden hätten, würden Sie Anstand genommen haben, sich seiner zu bedienen? Kommen nicht dem Chef einer Expedition allein die Früchte des Erfolges zu? – und ich frage Sie noch, wird denn diese Schaluppe, welche vier Engländer erbauen, und vier Engländer bemannen, wird sie nicht vom Kiel bis zum Deck eine englische sein?«

Hatteras schwieg noch immer.

»Nein, nahm der Doctor wieder das Wort, sprechen wir offenherzig, nicht die Schaluppe liegt Ihnen am Herzen, sondern der Mann.

– Ja, Doctor, ja, erwiderte der Kapitän, dieser Amerikaner, der meinen ganzen englischen Haß wachruft; dieser Mann, den das Schicksal mir in den Weg werfen mußte …

– Um Sie zu retten!

– Um mich zu verderben! Mir scheint es, als hänsele er mich, als rede er hier als Herr und Meister, als bilde er sich ein, mein Geschick in der Hand und meine Pläne errathen zu haben. Bekannte er nicht schon Farbe, als es sich darum handelte, diese neuen Länder zu taufen? Hat er je eingestanden, was er in diesen Breiten überhaupt vorhabe? Sie werden mir nicht einen Gedanken, der mich martert, nehmen können, nämlich den, daß er der Chef einer von der Unionsregierung auf Entdeckungsreisen ausgesendeten Expedition ist.

– Und wenn das wäre, wer beweist, daß diese Expedition auch den Nordpol zum Ziele hatte? Kann Amerika nicht eben so gut wie England die nordwestliche Durchfahrt suchen? Jedenfalls kennt Altamont Ihre Absichten nicht im Mindesten, denn weder Johnson, noch Bell, noch Sie, noch ich haben vor ihm je ein Wort davon gesprochen!

– Nun gut, so möge er sie auch nie kennen lernen.

– Das wird nicht angehen, denn wir können ihn doch nicht allein hier zurücklassen?

– Warum das nicht? fragte Hatteras mit einer gewissen Heftigkeit; kann er nicht im Fort Providence wohnen bleiben?

– Da würde er schwerlich zustimmen, Hatteras; übrigens, diesen Mann zu verlassen, den wiederzufinden wir bei der Rückkehr nicht einmal sicher sind, wäre mehr als unklug, es wäre unmenschlich; Altamont wird mitkommen und muß es auch! Da es aber unnütz wäre, ihm jetzt Gedanken beizubringen, die er noch nicht hat, so sagen wir ihm auch nichts, sondern bauen eine Schaluppe, die scheinbar zur Erforschung dieser neuen Ufer bestimmt ist.«

Noch vermochte Hatteras nicht auf die Ideen seines Freundes einzugehen; dieser erwartete vergeblich eine Antwort.

»Und wenn dieser Mann die Zerstückelung seines Schiffes nicht zugäbe? sagte endlich der Kapitän.

– In diesem Falle wäre das volle Recht auf Ihrer Seite; Sie würden trotz seines Widerspruchs eine Schaluppe bauen lassen und er hätte keinen weiteren Anspruch.

– Gebe der Himmel, daß er es abschlägt! rief Hatteras.

– Vorher aber, erwiderte der Doctor, ist eine Anfrage nöthig; ich erbiete mich, diese zu stellen.«

Wirklich brachte noch denselben Abend, beim Essen, Clawbonny das Gespräch auf gewisse Projecte zu Ausflügen während der Sommermonate, wobei die Küste hydrographisch aufgenommen werden sollte.

»Ich denke, Sie werden sich uns anschließen, Altamont, sagte er.

– Gewiß, antwortete der Amerikaner, wir müssen doch wissen, wie weit sich Neu-Amerika erstreckt.«

Hatteras sah seinen Nebenbuhler, als dieser so sprach, scharf an.

»Und dazu, fuhr Altamont fort, müssen wir aus den Resten des Porpoise den besten Nutzen zu ziehen suchen. Wir wollen eine feste Schaluppe bauen, die uns weit tragen kann.

– Sie hören es, Bell, sagte lebhaft der Doctor, von morgen an gehen wir an’s Werk.«

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Die Inventur des Doctors.

Ein verwegenes Unternehmen war es von Seiten des Kapitän Hatteras, daß er nach dem hohen Norden drang, nur um seinem Vaterlande England die Ehre der Entdeckung des Nordpols zu sichern. Was Menschenkraft nur zu leisten vermochte, dieser kühne Seemann hatte es vollbracht. Und jetzt, – nachdem er neun volle Monate gegen Strömungen und Stürme gekämpft, Eisberge durchbrochen und Eisdecken zertrümmert hatte, – jetzt, wo er einen Winterfrost, der auch in jenen hohen Breiten fast ohne Gleichen war, überstanden und auf seiner Reise die Arbeiten aller Vorgänger zusammenfassend, die Geschichte der arktischen Entdeckungen gewissermaßen controlirt und vervollständigt hatte; wo er mit seiner Brigg, dem Forward, schon außerhalb bekannter Meere weilte und sein Unternehmen schon halb gelungen schien – jetzt war Alles mit einem Schlage vernichtet. Der Verrath, oder sagen wir lieber die Entmuthigung der vielleicht zu hart geprüften Mannschaft, und die verbrecherische Thorheit einiger Rädelsführer hatten ihn in eine entsetzliche Lage gebracht. Von achtzehn auf der Brigg eingeschifften Männern waren nun noch vier übrig, die entblößt von allen Hilfsmitteln und ohne Fahrzeug mehr als zweitausendfünfhundert Meilen von ihrer Heimat entfernt waren.

Die Explosion des Forward, welche soeben vor ihren Augen stattfand, beraubte sie auch noch der letzten Subsistenzmittel.

Trotzdem war diese furchtbare Katastrophe nicht im Stande, Hatteras‘ Muth zu brechen. Die Männer, welche ihm noch blieben, waren die besten der ganzen Gesellschaft und ihr Heldenmuth bewährt. Er appellirte an die Energie und den Wissensdrang des Doctor Clawbonny, an die Ergebenheit Johnson’s und Bell’s, er betonte sein eigenes Vertrauen zu dem Unternehmen; jetzt, in der verzweifeltsten Lage, sprach er voller Hoffnung und fand Gehör bei seinen beherzten Kameraden, von welchen die vergangene Zeit auch für die Zukunft das Beste erwarten ließ.

Nach den kräftigen Worten des Kapitäns wollte der Doctor sich genau über ihre jetzige Lage unterrichten und verließ die Anderen, die etwa fünfhundert Schritte von dem Wrack standen, um sich nach dem Schauplatz des Unglücks zu begeben.

Von dem Forward selbst, der mit so großer, berechnender Sorgfalt gebauten und ohne Rücksichten auf die Kosten ausgestatteten Brigg, war so gut wie nichts übrig; zerrissene Eisstücke, formlose, geschwärzte, halb geschmolzene Trümmer, verbogene Eisentheile, Taustücke, welche noch wie Lunten fortglimmten, und in der Ferne einige Rauchwolken, die da und dorthin auf dem Eisfeld emporwirbelten, zeugten von der Heftigkeit der Explosion. Die Kanone vom Vordercastell war mehrere Klafter weit zurückgeschleudert und lag auf einem Eisblock, wie auf einer Laffette. Im Umkreise wohl von hundert Klaftern war der Boden mit Bruchstücken jeder Art bedeckt; der Kiel der Brigg in einen Eishaufen eingebohrt, und die Eisberge, welche vorher da und dort geschmolzen waren, hatten schon wieder ihre Granithärte bekommen.

Trauernd gedachte der Doctor seiner verwüsteten Cabine, seiner verlorenen Sammlungen und der kostbaren, nun zertrümmerten Instrumente, seiner zerrissenen oder verbrannten Bücher. Alle diese Schätze waren vernichtet! Feuchten Auges übersah er das ungeheure Unheil, ohne der Zukunft zu gedenken, nur ergriffen von den fast unersetzlichen Verlusten, die ihn vor Allen schmerzlich getroffen.

Bald gesellte sich Johnson zu ihm; seine Züge trugen die Spuren der Leiden, die er überstanden, und des Kampfes, den er gegen die rebellische Mannschaft aufgenommen hatte, um das ihm anvertraute Fahrzeug zu retten.

Der Doctor reichte ihm eine Hand entgegen, die der Schiffer kummervoll drückte.

»Was soll nun aus uns werden? fragte jener.

– Das weiß Gott allein, erwiderte Johnson.

– Vor Allem, versetzte der Doctor, gilt es, jetzt nicht zu verzweifeln und den Mannesmuth zu bewahren.

– Ja, Herr Clawbonny, sagte der alte Seemann, Sie haben Recht, ein großes Unglück verlangt große Entschlüsse. Wohl sind wir in übler Lage, nun heißt es, sich herauszuziehen.

– Das arme Schiff! seufzte der Doctor, wie fühlte ich mich daran gefesselt und liebte es fast wie den heimischen Heerd, wie das Haus, in dem sich unser ganzes Leben abspielte – und kaum ein Stück ist von jenem noch erkennbar!

– Ja, wer sollte es glauben, Herr Clawbonny, daß solch‘ ein Bauwerk von Balken und Brettern uns so sehr an’s Herz wachsen könnte.

– Und die Schaluppe? fragte der Doctor sich umsehend, ist auch diese dem Verderben nicht entgangen?

– Ja wohl, Herr Clawbonny; Shandon und die anderen Entwichenen haben sie aber entführt.

– Und die Pirogue?

– Ist in tausend Stücken; da, sehen Sie die noch warmen Blechstücke, das sind Ueberreste derselben.

– So bleibt uns also nur noch das Halkett-Boot?

– Ja, das danken wir Ihrem Einfall, es bei Ihrem Abstecher mitzunehmen.

– Das ist freilich wenig, sagte der Doctor.

– O, über die elenden, entflohenen Schurken! rief Johnson; strafe sie der Himmel, wie sie es verdient haben.

– Johnson, mahnte begütigend der Doctor, vergessen wir nicht, daß ihnen eine harte Prüfung auferlegt war. Nur die Besten bleiben auch im Unglück wacker, wo die Schwächeren unterliegen. Beklagen können wir unsere Unglücksgefährten, verdammen dürfen wir sie nicht!«

Einige Augenblicke verharrte der Doctor schweigend, und sandte unruhige, forschende Blicke rund umher.

»Was ist denn aus dem Schlitten geworden? fragte Johnson.

– Der ist nur eine Meile rückwärts geblieben.

– Unter Simpson’s Aufsicht, nicht wahr?

– Nein, guter Freund, der arme Simpson ist den Strapazen erlegen.

– Er ist todt? fragte bestürzt der Schiffer.

– Todt! erwiderte der Doctor.

– Der Unglückliche! meinte Johnson, und doch, wer weiß, ob wir nicht bald sein Schicksal zu beneiden haben!

– Aber für einen Todten, den wir zurücklassen mußten, haben wir einen Sterbenden mitgebracht.

– Einen Sterbenden?

– Ja, den Kapitän Altamont.«

Mit kurzen Worten erzählte der Doctor dem Schiffer das Vorgefallene.

»Also ein Amerikaner! sagte nachdenklich Johnson.

– Ja, Alles deutet darauf hin, daß jener ein Bürger der nordamerikanischen Freistaaten ist. Unklar bleibt, was es mit dem Schiffe ‚Porpoise‘, das offenbar Schiffbruch erlitten, für ein Bewandtniß hat, und was es in diesen Breiten bezweckte.

– Es ist eben untergegangen, entgegnete Johnson, es hatte seine Bemannung zur Todesfahrt eingeschifft, wie alle Diejenigen, welche ihre Kühnheit in diese Gegenden trieb. Aber sagen Sie mir zunächst, Herr Clawbonny, hat denn Ihre Excursion das beabsichtigte Ziel erreicht?

– Das Kohlenlager? fragte der Doctor.

– Ja, dieses.«

Schweigend schüttelte der Doctor den Kopf.

»Also Nichts erreicht? sagte der alte Seemann.

– Nichts. Uns gingen die Lebensmittel aus, und Erschöpfung überfiel uns unterwegs. Nicht einmal die von Edward Belcher bezeichnete Küste erreichten wir!

– Also, setzte der ergraute Schiffer hinzu, auch kein Brennmaterial erlangten Sie?

– Nein!

– Keine Lebensmittel?

– Nein!

– Und kein Schiff trafen Sie, um nach England heimkehren zu können?«

Der Doctor schwieg und Johnson auch; wahrlich, es gehörte kühner Muth dazu, die entsetzliche Lage ruhig zu überschauen.

»Nun denn, nahm der Schiffer wieder das Wort, unsere Verhältnisse klären sich wenigstens; wir wissen, was uns bevorsteht. Darum gehen wir zuerst an das Nöthigste; die Kälte ist bitter und wir brauchen zuerst irgend ein Unterkommen.

– Ja wohl, erwiderte der Doctor, und mit Bell’s Hilfe wird sich ein Eishaus leicht herstellen lassen; dann wollen wir den Schlitten herholen, den Amerikaner versorgen und mit Hatteras das Weitere berathschlagen.

– Der arme Kapitän! meinte Johnson, der sich selbst dabei vergaß, wie wird er zu leiden haben!«

Der Doctor und der Schiffer schlossen sich den Anderen wieder an.

Da stand Hatteras, unbeweglich, mit gekreuzten Armen, und stumm die Pläne für die Zukunft überdenkend. Seine Gesichtszüge zeigten wieder die alte unbeugsame Festigkeit. Woran dachte wohl dieser ganz außergewöhnliche Mann? War es an seine verzweifelte Lage oder an seine zerstörten Pläne? Ueberlegte er doch vielleicht den Rückzug, da Menschen und Elemente sich gegen ihn verschworen zu haben schienen?

Seine Gedanken vermochte Keiner zu errathen, er wußte sie tief verborgen zu halten. Der treue Duk lag neben ihm schlafend, er trotzte einer Kälte von zweiunddreißig Grad unter Null (-36° hunderttheilig).

Bell, der auf dem Eise ausgestreckt, wie leblos dalag, bewegte sich gar nicht; seine Unempfindlichkeit konnte ihm das Leben kosten, er war in Gefahr, zu Stein zu gefrieren.

Johnson rüttelte ihn kräftig auf und rieb ihn mit Schnee ab, dennoch konnte er ihn nur schwer seiner Erstarrung entreißen.

»Frisch auf, Bell! Muth, Muth, rief er ihm zu, laß Dich nicht übermannen; steh‘ auf, wir haben zu reden zusammen, wir brauchen ein Obdach. Hast Du’s denn ganz vergessen, wie ein Eishaus gebaut wird? Komm, hilf, Bell! Da ist ein kleiner Eisberg, den wir nur auszuhöhlen brauchen. An’s Werk denn! Das giebt uns zuerst Kraft und Muth wieder, die wir hier vor Allem brauchen!«

Bell, den auch diese Worte noch etwas gleichgiltig ließen, folgte doch der Leitung des alten Seemanns.

»Unterdessen, fügte dieser noch hinzu, wird sich Herr Clawbonny der Mühe unterziehen, zum Schlitten zu gehen und diesen sammt den Hunden herzubringen.

– Ich bin bereit, erwiderte der Doctor, und kann wohl in einer Stunde zurück sein.

– Begleiten Sie ihn, Kapitän?« wandte sich Johnson fragend an Hatteras.

Obgleich noch vertieft in seine Gedanken, hatte dieser den Vorschlag seines Schiffers doch vernommen, denn er erwiderte mit weicher Stimme:

»Nein, mein Freund, wenn sich der Doctor der Sache annehmen will … Noch diesen Tag muß ein Entschluß gefaßt sein, und ich will allein sein, um ungestört nachzudenken. Geht, macht, was Alle den Augenblick für das Nöthigste halten, ich denke an die Zukunft.«

Johnson näherte sich dem Doctor.

»Das ist merkwürdig, sagte er, der Kapitän scheint schon allen Zorn vergessen zu haben, nie war seine Stimme so sanft und weich.

– Recht gut, entgegnete der Doctor, so hat er auch sein kaltes Blut wieder. Glauben Sie mir, Johnson, dieser Mann und kein Anderer ist im Stande, uns Alle zu retten.«

Der Doctor hüllte sich so gut wie möglich ein, und ging, den eisenbeschlagenen

Stock in der Hand, in der Richtung nach dem Schlitten, mitten durch den Nebel, den der Mond einigermaßen durchdrang.

Johnson und Bell gingen nun sogleich an’s Werk. Der alte Seefahrer trieb immer den Zimmermann an, der schweigend arbeitete; zu bauen gab es eben eigentlich Nichts, der gewählte Block war nur auszuhöhlen. Das harte Eis setzte ihnen vielen Widerstand entgegen, dafür versprach das Obdach desto fester und sicherer zu werden. Bald konnten die Beiden schon von der ersten Aushöhlung gedeckt arbeiten, indem sie die losgelösten Eisstücke hinter sich entfernten.

Hatteras setzte sich von Zeit zu Zeit in Bewegung, aber immer blieb er bald wieder stehen, offenbar scheute er sich, bis an das Todtenbett seiner Brigg zu gelangen.

Wie er versprochen, kam der Doctor bald zurück; auf dem Schlitten ausgestreckt und mit dem Zeltstoffe möglichst umwickelt, lag Altamont; nur mit Mühe noch zogen die mageren, entkräfteten und hungrigen grönländer Hunde; es war höchste Zeit, daß die ganze Gesellschaft, Menschen und Thiere, neue Nahrung und Ruhe fand.

Während das Eishaus an Tiefe zunahm, hatte der Doctor, der immer hier und dorthin spähend umherging, das Glück, einen kleinen Ofen zu finden, den die Explosion fast unverletzt gelassen hatte, und dessen zusammengequetschtes Rohr unschwer wieder aufzubiegen war. Triumphirend schleppte ihn der Doctor herbei. Nach drei Stunden war das Eishaus im Ganzen fertig, der Ofen wurde darin aufgestellt; man füllte ihn mit Holzspänen, und bald knisterte das Feuer darin, eine behagliche Wärme verbreitend.

Der Amerikaner wurde unter Dach und Fach gebracht und im Hintergrunde auf Decken gelagert. Die vier Engländer nahmen nahe dem Ofen Platz. Die letzten Lebensmittel aus dem Schlitten, etwas Zwieback und heißer Thee, erfrischten ihre Lebensgeister; Hatteras sprach nicht, und die Anderen respectirten sein Schweigen.

Als die Mahlzeit vollendet war, winkte der Doctor Johnson, ihm nach außen zu folgen.

»Jetzt, sagte er, wollen wir zunächst eine Inventur über den Rest unserer Habe aufstellen, denn wir müssen den Bestand unseres Besitzthums genau kennen. Alles ist umhergestreut, also wollen wir es sammeln, denn jeden Augenblick kann frischer Schnee fallen, und dann dürften wir wohl vergeblich nach irgend einem Ueberbleibsel aus dem Schiffe suchen.

– So wollen wir also keinen Augenblick verlieren, versetzte Johnson, Lebensmittel und Holz sind für uns ja wohl das Wichtigste.

– Nun gut, so wollen wir Beide dies sammeln, antwortete der Doctor, und den ganzen von der Explosion überstreuten Kreis absuchen; fangen wir in der Mitte an und machen immer größere Kreise bis zum Rande.«

Sofort begaben sich die Beiden nach dem Eisbette, das der Forward eingenommen hatte, und jeder suchte sorgfältig bei dem zweifelhaften Lichte des Mondes nach den Trümmern des Schiffes. Es war eine wahre Jagd, auch hatte der Doctor dazu die Leidenschaft, ja dabei fast das Vergnügen eines Jägers, und das Herz schlug ihm lebhaft, wenn er eine halbwegs unversehrte Kiste entdeckte; aber die meisten waren leer, und nur ihre Trümmer bedeckten den Umkreis.

Die Gewalt der Explosion mußte beträchtlich gewesen sein; eine große Menge Gegenstände war geradezu in Staub und Asche verwandelt; große Theile der Schiffsmaschine lagen da und dort, verbogen und zerbrochen; die zerbrochenen Flügel der Schraube fanden sich zwanzig Toisen weit weggeschleudert und tief in den harten Schnee eingesunken; die verbogenen Cylinder waren von ihrem Zapfen abgerissen; der in seiner ganzen Länge gespaltene Schornstein, an dessen oberem Theile noch Reste von Ketten hingen, lag zur Hälfte zerdrückt unter einem großen Eisstücke; Nägel, Haken, Segeltheile von den Masten, Eisentheile des Steuers, Platten vom Schiffsbeschlag, und alle Metalltheile der Brigg lagen zerstreut, wie aus Kartätschen geschossen, umher.

Aber dieses Eisen, das einen ganzen Eskimostamm hätte glücklich machen können, hatte im Augenblick für die Verunglückten gar keinen Werth; auf Lebensmittel war ihr Verlangen gerichtet, und solche entdeckte der Doctor nur wenige.

»Das läßt sich schlecht an, sprach er zu sich selbst; offenbar ist die Vorrathskammer, welche gleich neben der Pulverkammer lag, durch die Explosion total zerstört worden, und was nicht verbrannte, ist in tausend Stücke gegangen. Das ist schlimm, sehr schlimm, und wenn Johnson nicht mehr auffindet, als ich, sehe ich nicht wohl ein, was aus uns werden soll.«

Dennoch entdeckte der Doctor, als er größere Kreise seiner Nachforschung unterzog, noch einige Reste Pemmican, etwa fünfzehn Pfund, und vier Krüge, welche, trotzdem sie weit weggeschleudert waren, doch durch den weichen Schnee, auf den sie zufällig gefallen, der Zerstörung entgangen waren und noch fünf bis sechs Pinten Branntwein enthielten.

Weiter fand er noch zwei Päcke mit Meerrettich, der nach dem Verluste alles Citronensaftes deshalb sehr erwünscht war, da er denselben bei der Bekämpfung des Scorbuts wohl ersetzen konnte.

Nach zwei Stunden fanden sich der Doctor und Johnson wieder zusammen. Sie theilten einander mit, was sie gefunden hatten, doch leider war das bezüglich der Nahrungsmittel nur wenig: kaum einige Stücke eingesalzenes Fleisch, etwa fünfzig Pfund Pemmican, drei Säcke mit Zwieback, einen kleinen Rest Chocolade, Branntwein und etwa zwei Pfund Kaffee, welcher aber Bohne für Bohne hatte aufgelesen werden müssen.

Keine Decken, Hängematten oder Kleidungsstücke waren aufgefunden worden, offenbar waren diese vom Feuer verzehrt.

Alles in Allem hatten der Doctor und der Rüstmeister Lebensmittel für etwa drei Wochen gefunden, wenn man deren Verbrauch auf’s Aeußerste beschränkte; freilich war da schlechte Aussicht, die Erschöpften wieder zu kräftigen. So sah sich Hatteras, nachdem schon die Kohle ausgegangen, in Folge unglücklicher Umstände auch am Vorabende der Hungersnoth.

Brennmaterial lieferten wohl die Trümmer des Schiffes, die Stücke der Masten und des Kieles auf ungefähr drei Wochen; bevor man diese aber zur Heizung in dem Eishause bestimmte, stellte der Doctor an Johnson die Frage, ob man aus diesen Resten nicht ein neues kleines Fahrzeug, mindestens eine Schaluppe, herzustellen vermöge.

»Nein, Herr Clawbonny, erwiderte der Rüstmeister, daran ist nicht zu denken; da ist kein Stück Holz so unversehrt, um es benutzen zu können; Alles ist nur noch gut genug, uns ein paar Tage zu erwärmen, und dann …

– Nun, dann? versetzte der Doctor.

– Dann, wie Gott will«, sagte der alte Seemann.

Als die Inventur fertig war, begaben sich der Doctor und Johnson wieder zum Schlitten; wohl oder übel mußten sich die ermatteten Hunde anschirren lassen, und so kehrte man auf den Schauplatz der Explosion zurück. Dort wurden die wenigen, aber desto kostbareren, noch irgend wie tauglichen Ueberreste aufgeladen und in die Nähe des Eishauses geschafft; dann erst nahmen Beide, halb erfroren, neben ihren Leidensgefährten Platz.

Zweites Capitel.


Zweites Capitel.

Altamont’s erste Worte.

Als gegen acht Uhr Abends der Himmel eine kurze Zeit von den ihn erfüllenden Nebelmassen frei war, glänzte ein sternenreiches Firmament durch die klare, aber bitterkalte Luft.

Hatteras benutzte sogleich diese Gelegenheit, um die Höhe einiger Sterne zu bestimmen; ohne ein Wort zu sagen, ging er mit den nöthigen Instrumenten hinaus. Er wollte ihre Stellung bestimmen und sich vergewissern, ob das ganze Eisfeld sich etwa fortbewegt habe, oder nicht.

Nach einer halben Stunde trat er wieder ein, warf sich in einer Ecke des Hauses nieder und verharrte dort in tiefer Ruhe, fiel aber nicht in Schlaf.

Am andern Morgen fiel wieder reichlich Schnee; der Doctor konnte froh sein, daß er seine Nachforschungen schon Tags vorher angestellt hatte, denn bald verhüllte eine ungeheure weiße Decke das Eisfeld, und jede Spur von der Explosion war unter einer drei Fuß mächtigen Schicht verschwunden.

Während dieses ganzen Tages konnte man keinen Fuß in’s Freie setzen; zum Glück bot die Wohnung genügende Bequemlichkeiten, mindestens erschien es unsern abgehetzten Reisenden so. Der kleine Ofen that gute Dienste, nur daß dann und wann ein ungestümer Windstoß den Rauch nach innen trieb; an seinen Flammen bereitete man sich Thee oder Kaffee, Genüsse, welche bei so niedriger Lufttemperatur doppelt wohlthätig waren.

Die Schiffbrüchigen, denn diesen Namen verdienten sie wohl in der That, verspürten ein Wohlbehagen, das ihnen lange fremd geblieben war; dabei erfreuten sie sich nur an der Gegenwart, an der wohlthuenden Wärme und der augenblicklichen Ruhe, und vergaßen der grausigen Zukunft, die sie doch mit nahem Tode bedrohte.

Der Amerikaner litt jetzt weniger und kam nach und nach in’s Leben zurück; er öffnete schon die Augen, sprach aber noch nicht; seine Lippen zeigten die Spuren des Scorbuts und vermochten noch keinen verständlichen Laut zu bilden; doch da er nun offenbar hörte, wurde er von seiner Lage in Kenntniß gesetzt. Er bewegte nur den Kopf als Dank; er erkannte seine Rettung aus dem Schnee- und Eisgrabe, doch vermied der Doctor noch, ihm mitzutheilen, wie nahe er dem Tode gewesen war, und wie kurze Zeit dieser nur aufgeschoben schien, da ihnen Allen in höchstens drei Wochen die Nahrungsmittel völlig ausgehen mußten.

Erst gegen Mittag regte sich Hatteras wieder und näherte sich den drei Anderen.

»Meine Freunde, sagte er, wir müssen nun zunächst einen bestimmten Entschluß fassen, was wir jetzt vornehmen. Zuerst ersuche ich aber Johnson, zu erzählen, wie jener Schurkenstreich, der uns vielleicht Alle in’s Verderben bringt, ausgeführt wurde.

– Aber wozu das? meinte der Doctor, die Thatsache steht fest, und es ist wohl besser, ihrer nicht mehr zu gedenken.

– Im Gegentheil, jetzt denke ich noch sehr daran, erwiderte Hatteras; nach Johnson’s Bericht mag sie vergessen sein.

– Nun gut, ich werde Alles erzählen, begann der Rüstmeister. Ich habe Alles gethan, das Verbrechen zu hindern …

– Das weiß ich, Johnson, und füge gleich hinzu, daß ich die Sache überhaupt schon für einen seit Langem geplanten Streich halte.

– Ganz meine Meinung, fiel der Doctor ein.

– Die meinige auch, nahm Johnson wieder das Wort, denn gleich nach Ihrer Abreise, Kapitän, schon den andern Morgen, zeigte sich Shandon, der uns immer das Leben sauer machte, in seiner ganzen Schlechtigkeit und maßte sich, von der ganzen Rotte unterstützt, zunächst das Commando auf dem Schiffe an; was half mir Einzigem da mein Einspruch dagegen? Von da ab handelte fast jeder nach eigenem Gutdünken, und Shandon ließ es zu; es kam ihm darauf an, der Mannschaft zu zeigen, daß nun die Zeit der Arbeit und der nöthigen Einschränkung vorüber sei. Nun wurde nichts mehr gespart; immer glühte der Ofen, der unbarmherzig vom Holze der Brigg geheizt wurde. Ueber den Proviant schaltete Jeder nach Willkür, über die geistigen Getränke desgleichen, und Sie können sich leicht denken, welchen Mißbrauch Leute, die bei dem Verlangen darnach sie doch so lange entbehrt hatten, damit trieben. So verlief die Zeit etwa vom 7. bis zum 15. Januar.

– Also Shandon war es, der die Leute in Aufruhr brachte, sprach Hatteras mit ernstem Tone.

– Ja, Kapitän.

– Erwähnen Sie den Schurken nicht wieder. Jetzt fahren Sie fort!

– Etwa am 24. oder 25. Januar kam nun die Absicht zum Vorschein, das Schiff zu verlassen. Sie wollten die westliche Küste der Baffins-Bai zu erreichen suchen, von dort sollte mit Hilfe der Schaluppe ein Wallfischfahrer gesucht oder doch auf die Grönländer Niederlassungen an der Ostseite losgesteuert werden. Proviant hatten sie in Ueberfluß; auch die Kranken erholten sich durch die Hoffnung auf die Rückkehr ganz auffallend. Nun betrieb man die Vorbereitungen zur Flucht. Zunächst wurde ein Schlitten gebaut, der Nahrungsmittel, Brennmaterial und die Schaluppe tragen sollte; die Mannschaft selbst sollte ihn ziehen. Das dauerte etwa bis Mitte Februar; Tag für Tag erwartete ich Ihre Rückkehr, Kapitän, und doch fürchtete ich sie fast; auch Sie hätten bei den Leuten nichts ausgerichtet, welche Sie eher ermordet hätten, als daß sie auf dem Schiffe geblieben wären. Ein wahrer Freiheitsschwindel hatte sie erfaßt. Ich nahm die Mannschaft Einen nach dem Anderen vor, ich bat sie, ermahnte, stellte ihnen die Gefahren ihres Vorhabens vor Augen; ich sagte ihnen auch, daß sie im Begriff wären, einen elenden Schurkenstreich zu begehen. Es war Alles umsonst, auch bei den Besten von ihnen! Die Abfahrt wurde auf den 22. Februar festgesetzt. Shandon wurde ungeduldig. Es wurde auf den Schlitten und in die Schaluppe gebracht, was nur an Proviant und Getränken aufzutreiben war; mit Holz versahen sie sich reichlich, wozu die Steuerbordseite bis auf die Wasserlinie herunter hatte herhalten müssen. Den letzten Tag gab es nun noch eine wahre Orgie; sie plünderten nach Herzenslust, und als sie toll und voll betrunken waren, steckte Pen mit noch zwei oder drei Anderen das Schiff in Brand. Ich stritt aus Leibeskräften dagegen; sie überwältigten und schlugen mich; dann wandten sich die Schufte, Shandon an der Spitze, nach Osten und entschwanden meinen Blicken. Ich war nun allein; was konnte ich aber gegen das Feuer anfangen, das schon an dem ganzen Schiffe fraß? Selbst unser Wasserloch war dick übereist und so hatte ich keinen Tropfen. Zwei Tage stand der Forward in Flammen, und – das Ende wissen Sie.«

Dumpfes Schweigen herrschte in dem Eishause, als dieser Bericht beendet war. Das düstere Bild des brennenden Fahrzeuges, der Verlust der kostbaren Brigg, trat den armen Schiffbrüchigen grell vor die Augen; sie fühlten sich nur einer Unmöglichkeit gegenüber, der Unmöglichkeit nach England zurückzukehren. Kaum wagten sie einander anzusehen, aus Furcht, Einer möge auf des Anderen Antlitz die helle Verzweiflung lesen. Nur der beklommene Athem des Amerikaners war hörbar.

Endlich nahm Hatteras das Wort:.

»Ich danke Ihnen, Johnson, sagte er, Sie haben gethan, was in Ihren Kräften stand, mein Schiff zu retten. Aber allein vermochten Sie das nicht; noch einmal, ich danke Ihnen von Herzen, und nun – wollen wir von diesem Unglück nicht mehr sprechen. Mit vereinten Kräften laßt uns zur Rettung Aller wohl zusammenwirken. Vier Schicksalsgenossen sind wir hier, vier Freunde; des Einen Leben gilt so viel, wie das des Anderen. Nun gebe Jeder seine Meinung ab, was wir beginnen sollen.

– Fragen Sie uns, Hatteras, begann der Doctor; wir sind Ihnen Alle ergeben, unsere Worte werden vom Herzen kommen. Aber haben Sie nicht zunächst selbst einen Vorschlag?

– Ich darf noch mit keinem solchen hervortreten. Mein Urtheil könnte eigensüchtig aussehen. Erst möchte ich die Ansicht der Anderen hören.

– Kapitän, sagte Johnson, bevor wir uns unter so schwierigen Umständen aussprechen, hätte ich noch eine Frage.

– Reden Sie, Johnson.

– Sie haben gestern unsere Position bestimmt; ist nun das Eisfeld weiter getrieben, oder sind wir noch an derselben Stelle?

– Es hat seine Lage nicht verändert, erwiderte Hatteras. Ganz wie vor unserer Expedition habe ich achtzig Grad fünfzehn Minuten nördlicher Breite und siebenundneunzig Grad fünfunddreißig Minuten Länge gefunden.

– Und, sagte Johnson, wie weit sind wir von dem nächsten Meere im Westen entfernt?

– Gegen sechshundert (englische) Meilen.

– Und dieses Meer ist? …

– Der Smith-Sund.

– Also dasselbe, bis zu dem wir im vergangenen April nicht vorzudringen vermochten?

– Dasselbe.

– Gut, Kapitän, nun, da unsere Ortslage bekannt ist, können wir darauf hin einen Entschluß fassen.

– So sprechen Sie«, sagte Hatteras, der den Kopf in beide Hände senkte.

Er konnte so seine Gefährten hören, ohne sie anzusehen.

»Nun denn, Bell, forderte der Doctor diesen auf, was ist nach Ihrer Ansicht am gerathensten zu thun?

– Das bedarf wohl kein langes Ueberlegen, erwiderte der Zimmermann; wir müssen, ohne einen Tag, ohne eine Stunde zu verlieren, nach Ost oder West aufbrechen, und die nächste Küste zu erreichen suchen … und sollten wir auch zwei Monate Zeit dazu brauchen.

– Wir haben nur für drei Wochen zu leben, warf Hatteras ein, ohne den Kopf zu erheben.

– Gut, sagte Johnson, so sind wir gezwungen, die nöthige Strecke in drei Wochen zurückzulegen, denn das bietet uns die einzige Aussicht auf Rettung; und sollten wir uns auf den Knieen fortschleppen, in fünfundzwanzig Tagen müssen wir an der Küste sein.

– Aber dieser Theil des hohen Nordens ist noch ganz unbekannt, entgegnete Hatteras. Wir können auf unzählige Hindernisse, Berge und Gletscher stoßen, die uns den Weg völlig versperren.

– Darin sehe ich keinen Grund, behauptete der Doctor, wenigstens nicht den Versuch zu wagen. Wir werden Beschwerden haben, vielleicht viele, und müssen uns mit der Nahrung auf’s Aeußerste beschränken, wenn nicht zufällig die Jagd …

– Wir haben nur noch ein halbes Pfund Pulver, erwiderte Hatteras.

– Wohlan, Hatteras, sagte der Doctor, ich unterschätze die Bedeutung Ihrer Einwürfe nicht und wiege mich nicht in leerer Hoffnung. Aber ich glaube, Ihre Gedanken zu errathen; haben Sie einen ausführbaren Vorschlag?

– Nein, erwiderte der Kapitän nach einigem Zögern.

– Sie mißtrauen unserem Muthe nicht, fuhr Clawbonny fort, Sie kennen uns Alle als Männer, die Ihnen bis zum Ende folgen; aber müssen wir nicht für jetzt jede Hoffnung aufgeben, noch bis zum Pole hinauszudringen? Eine Verrätherei hat Ihre Pläne zum Scheitern gebracht; den Widerstand der Elemente konnten Sie bekämpfen und besiegen, nicht so die Treulosigkeit und Schwäche der Menschen; Sie haben Alles gethan, was menschenmöglich war, und würden den Erfolg errungen haben, das glaube ich gern, aber angesichts unserer heutigen Lage, sollten Sie sich nicht gezwungen fühlen, Ihre Pläne zu verschieben und nach England, sei es auch nur aus dem Grunde zurückzukehren, um jene ein andermal wieder aufzunehmen?

– Nun, was meinen Sie, Kapitän?« wandte sich auch Johnson an Hatteras, der eine Antwort lange schuldig blieb.

Endlich erhob dieser den Kopf und sagte mit gepreßter Stimme:

»Ihr glaubt also wirklich Alle, ermüdet wie wir sind und fast ohne Nahrungsmittel, die Küste der Meerenge zu erreichen?

– Nein, erwiderte der Doctor, aber auf keinen Fall wird die Küste zu uns kommen. Wir müssen sie also aufsuchen. Vielleicht treffen wir auch weiter südlich auf einen Eskimostamm, mit dem wir leicht in Verbindung treten könnten.

– Könnten wir nicht auch, fügte Johnson hinzu, in der Meerenge auf ein Fahrzeug stoßen, das dort zu überwintern gezwungen wäre?

– Und im Nothfalle, sagte noch der Doctor, wenn die Meerenge zugefroren ist, könnten wir nicht über dieselbe hinaus bis zur Westküste von Grönland gelangen, und von da entweder über das Prudhon-Land oder über das Cap York bis zu einer dänischen Niederlassung vordringen? Nun, Hatteras, keine dieser Möglichkeiten bietet das Eisfeld hier! Der Weg nach England führt dahinunter, nach Süden, nicht dorthinauf nach Norden!

– Ja, sagte Bell, Herr Clawbonny hat Recht, wir müssen uns ohne Zögern aufmachen. Bis jetzt haben wir die Heimat und Alle, die uns dort lieb und theuer sind, zu sehr vergessen.

– Das ist also Ihre Ansicht, Johnson, fragte Hatteras noch einmal.

– Ja, Kapitän.

– Und die Ihre, Doctor?

– Auch die meine, Hatteras.«

Noch immer verharrte dieser Letztere schweigend; seine Gesichtszüge verriethen aber wider seinen Willen, was in ihm vorging. An die Entscheidung, welche er zu fällen im Begriff war, knüpfte sich ja das Schicksal seines ganzen Lebens. Wenn er jetzt zurückkehrte, war es wohl mit seinen kühnen Entwürfen für immer vorbei; er konnte nicht hoffen, zum vierten Male ein derartiges Unternehmen zu Stande zu bringen.

Wieder ergriff der Doctor, da der Kapitän noch immer schwieg, das Wort:

»Lassen Sie mich noch erwähnen, Hatteras, sagte er, daß wir keinen Augenblick zu verlieren haben; wir werden den Schlitten mit allem disponiblen Proviant und soviel Holz beladen müssen, als eben möglich ist. Ein Weg von sechshundert Meilen wird unter solchen Umständen lang, ich weiß das, aber nicht ohne Ende sein; wir können oder müßten vielmehr jeden Tag zwanzig Meilen zurücklegen, um binnen einem Monate, d. h. gegen den 26. März, die Küste zu erreichen …

– Aber, sagte Hatteras, könnten wir nicht einige Tage damit warten?

– Worauf hoffen Sie? fragte Johnson.

– Weiß ich das? Wer kann die Zukunft durchschauen? Nur einige Tage noch! Wir wollen unseren erschöpften Kräften aufhelfen. Keine zwei Tagereisen würdet Ihr zurücklegen und vor Müdigkeit umsinken, ohne ein Eishaus zum Schutze zu haben.

– Aber hier erwartet uns ein furchtbarer Tod! rief Bell.

– Freunde, sagte Hatteras fast mit bittender Stimme, Ihr verzweifelt etwas zu früh. Schlüge ich vor, im Norden den Weg des Heils zu suchen, so würdet Ihr mir wohl nicht folgen mögen. Uebrigens, leben ganz nahe am Pole nicht auch noch Eskimos, wie am Smith-Sunde? Jenes offene Meer, dessen Existenz so gut wie sicher ist, muß wieder Festland umspült sein. Die Natur verfährt logisch in allen ihren Werken. So muß man auch annehmen, daß die Vegetation da wieder zum Leben erwacht, wo der heftige Frost aufhört. Haben wir nicht ein Land in Aussicht, das unser im Norden harrt, und welches Ihr auf Nimmerwiederkehr fliehen wollt?«

Hatteras wurde lebhafter durch die Rede; sein erregter Geist malte ihm Lieblingsbilder dieser doch so sehr problematischen Gegenden vor.

»Noch einen Tag nur, wiederholte er, nur noch eine Stunde!«

Doctor Clawbonny fühlte sich bei seinem abenteuerlustigen Charakter und regen Vorstellungsvermögen schon halb gewonnen; er wollte bereits nachgeben.

Doch Johnson, der überlegender und kühler war, rief ihn noch zur Vernunft und Pflicht zurück.

»Frisch auf, Bell, rief dieser, zum Schlitten!

– Vorwärts denn! antwortete Bell.

– O, Johnson! Auch Sie! Auch Sie! sagte der Kapitän, doch, es ist gut, geht, geht Alle! Ich bleibe!

– Kapitän! fiel Johnson ein und blieb wider Willen stehen.

– Ich bleibe, sage ich! Reist ab! Verlaßt mich so gut, wie die Anderen! Geht mit Gott! Komm her, Duk, wir Beide halten aus!«

Bellend schmiegte sich das treue Thier an seinen Herrn.

Johnson sah den Doctor an. Dieser war zweifelhaft, was er thun sollte, das Beste schien zu sein, Hatteras dadurch zu beruhigen, daß man für einen Tag auf seine Ideen einging. Der Doctor war schon dazu entschlossen, als er plötzlich seinen Arm berührt fühlte.

Er drehte sich um. Der Amerikaner hatte seine Decken abgeworfen, er lag noch auf dem Boden, mühsam erhob er sich auf die Kniee und von seinen Lippen quollen einige unarticulirte Laute.

Erstaunt, fast erschrocken sah ihn der Doctor schweigend an. Hatteras seinerseits näherte sich ihm und nahm ihn forschend scharf in’s Auge. Er suchte die Worte zu errathen, die der Kranke nicht auszusprechen vermochte. Nach minutenlanger Anstrengung ward endlich ein Wort hörbar.

»Porpoise …

– Der Porpoise! rief der Kapitän aus.

– Der Amerikaner bejahte durch Zeichen.

– In diesen Gewässern?« frug Hatteras klopfenden Herzens.

Der Kranke gab dieselbe Antwort.

»Im Norden von hier?

– Ja! erwiderte der Unglückliche.

– Und Sie wissen seinen Ort?

– Ja!

– Genau?

– Ja wohl!« sagte Altamont.

Einen Augenblick schwieg Alles; gespannt horchten die Zuschauer dieser unerwarteten Scene.

»Passen Sie wohl auf, sagte endlich Hatteras zu dem Kranken, wir müssen die Lage des Schiffes natürlich genau wissen. Ich werde die Grade mit lauter Stimme zählen und Sie unterbrechen mich durch ein Zeichen.«

– Der Amerikaner nickte zustimmend.

»Nun gut, sagte Hatteras, bestimmen wir erst die Längengrade. Hundertfünf? Nein. – Hundertsechs? Hundertsieben? Hundertacht? – Wir meinen doch westliche Länge?

– Ja, sagte mühsam der Amerikaner.

– Also weiter. – Hundertneun? Hundertzehn? Hundertzwölf? Hundertvierzehn? Hundertsechzehn? Hundertachtzehn? Hundertneunzehn? Hundertzwanzig …?«

Der Amerikaner machte ein Zeichen.

»Hundertzwanzig Grad westlicher Länge? fragte nochmals Hatteras. Und wieviel Minuten? Ich zähle wieder …«

Er begann bei Eins; bei Fünfzehn gab Altamont das Zeichen, inne zu halten.

»Schön, sagte der Kapitän. Und nun gehen wir zur geographischen Breite über. Sie verstehen mich doch? – Achtzig? Einundachtzig? Zweiundachtzig? Dreiundachtzig?«

Der Amerikaner hielt ihn durch eine Handbewegung an.

»Gut. Und die Minuten? Fünf? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Dreißig? Fünfunddreißig?«

Abermals machte Altamont lächelnd sein Zeichen.

»Also, wiederholte Hatteras mit ernster Stimme, der Porpoise findet sich bei hundertzwanzig Grad fünfzehn Minuten westlicher Länge und dreiundachtzig Grad fünfunddreißig Minuten nördlicher Breite?

– Ja«, stammelte noch einmal der Amerikaner, der kraftlos in die Arme des Doctors zurücksank.

Die Anstrengung hatte ihn erschöpft.

»Meine Freunde, rief Hatteras aus, Ihr seht, unser Heil liegt im Norden, immer im Norden! – Wir werden gerettet sein!«

Aber gleich nach diesem Ausbruch der Freude schien es, als ob ein furchtbarer Gedanke ihn packe. Sein ganzes Wesen veränderte sich. – Die Schlange der Eifersucht biß sich in sein Herz.

Ein Anderer, und noch dazu ein Amerikaner, hatte ihn in der Richtung zum Pole um drei Grade überholt. Warum? Zu welchem Ende war er in so hoher Breite?

Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Die große Polarströmung.

Bald ließen sich zahlreichere Schaaren von Vögeln, Sturmvögel und andere Bewohner dieser öden Gegenden sehen, woraus man die Nähe Grönlands erkannte. Der Forward fuhr rasch nordwärts.

Am Dienstag, den 17. April, gegen elf Uhr Vormittags, meldete der Eismeister das erste Erscheinen des Eis-Blink, welches sich mindestens zwanzig Meilen in Nord-Nord-West zeigte. Es war ein blendend weißer Streifen, welcher trotz dichten Gewölkes den ganzen benachbarten Theil der Atmosphäre lebhaft erhellte. Die Leute von Erfahrung an Bord konnten über die Erscheinung keinen Zweifel haben, und sie erkannten an dem weißen Schein, daß dieser Blink von einem ausgedehnten Eisfeld dreißig Meilen über dem Gesichtskreis hinauskommen mußte, und durch Brechung der Lichtstrahlen entstand.

Gegen Abend schlug der Wind südlich um, und ward günstig; Shandon konnte tüchtig Segel aufspannen und ließ aus Sparsamkeit die Heizung aufhören. Der Forward fuhr mit vollen Segeln dem Cap Farewell zu.

Am 18. um drei Uhr ließ sich an einem weißen, nicht eben dichten, aber glänzenden Streifen, der lebhaft zwischen den Linien des Meeres und Himmels abstach, ein Eisstrom erkennen. Er trieb offenbar vielmehr von der Ostküste Grönlands her, als von der Davis-Straße, denn die Eisblöcke ziehen sich vorzugsweise an den Westrand des Baffins-Meeres. Eine Stunde nachher fuhr der Forward mitten durch abgesonderte Blöcke des Eisstroms, und da wo sie am meisten zusammenhingen, folgten sie der Wellenbewegung.

Am folgenden Morgen, bei Tagesanbruch, meldete die Wache ein Schiff: es war eine dänische Corvette, Walküre, welche in entgegengesetzter Richtung des Forward der Bank von New-Foundland zufuhr. Die Strömung von der Straße her machte sich schon fühlbar, und Shandon mußte die Segel verstärken, um dagegen zu steuern.

Damals befanden sich der Commandant, der Doctor, James Wall und Johnson beisammen auf dem Hinterdeck, um die Richtung und Kraft dieser Strömung zu untersuchen. Der Doctor fragte, ob wirklich diese Strömung gleichmäßig im Baffins-Meer existire.

»Allerdings, erwiderte Shandon, und die Segelschiffe können nur mit Mühe dem Polarstrom entgegen steuern.

– Um so mehr, fügte James Wall bei, als man ihn ebensowohl auf der Ostküste Amerika’s als auf der Westküste Grönlands findet.

– Nun, sagte der Doctor, das giebt den Aufsuchern der nordwestlichen Durchfahrt einen besondern Grund! Dieser Strom fließt mit einer Schnelligkeit von etwa fünf Meilen die Stunde, und es ist schwerlich vorauszusetzen, daß er im Innern des Golfs entsteht.

– Dies ist um so richtiger, Doctor, fuhr Shandon fort, als man gleich dieser Strömung von Norden nach Süden eine entgegengesetzte von Süden nach Norden in der Behrings-Straße findet, welche den Ursprung dieser bildet.

– Demnach, meine Herren, sagte der Doctor, muß man zugeben, daß Amerika völlig von den Polarlanden losgetrennt ist, und daß die Gewässer des Stillen Meeres um diese Küsten herum bis in’s Atlantische fließen. Uebrigens ergiebt sich auch aus dem höhern Niveau der Gewässer des erstern noch ein Grund für deren Abfluß in die Meere Europas.

– Aber, fuhr Shandon fort, es muß doch Gründe für diese Theorie geben, und wenn das der Fall ist, muß unser Universal-Gelehrter sie kennen.

– Wahrhaftig, versetzte letzterer mit liebenswürdiger Befriedigung, wenn dies Sie interessiren kann, so will ich Ihnen sagen, daß Wallfische, die in der Davis-Straße verwundet wurden, einige Zeit nachher in der Nähe der Tartarei noch mit der europäischen Harpune im Leibe gefangen wurden.

– Wofern sie also nicht um’s Cap Horn, oder das der guten Hoffnung gefahren sind, erwiderte Shandon, so müssen sie nothwendig ihren Weg um die Nordküste Amerika’s herum genommen haben. Das ist unbestreitbar, Doctor.

– Wenn Sie jedoch nicht überzeugt wären, mein wackerer Shandon, sagte der Doctor lachend, so könnte ich noch andere Thatsachen vorbringen, z. B. das in der Davis-Straße flößende Holz, Lärchen, Zitterespen und andere Producte der tropischen Zone. Nun wissen wir, daß des Golfstromes wegen dieses Holz nicht in die Enge hineintreiben kann; wenn sie also aus demselben heraustreiben, so konnten sie nur durch die Behrings-Straße in denselben hineinkommen.

– Ich bin überzeugt, Doctor, und gestehe, daß man bei Ihren Beweisen schwerlich ungläubig bleiben kann.

– Meiner Treu! sagte Johnson, da kommt just etwas, was die Sache klar machen kann. Ich sehe da draußen ein hübsch großes Stück Holz. Mit Erlaubniß des Commandanten wollen wir den Baumstamm auffischen, an Bord ziehen und um sein Heimatland befragen.

– Ganz recht, sagte der Doctor, das Beispiel nach der Regel.«

Shandon gab den Befehl dazu; die Brigg fuhr auf das wahrgenommene Holz und bald darauf zog es die Mannschaft, mit einiger Mühe, an Bord.

Es war ein Acajoustamm, der vom Gewürm bis in den Kern zerfressen war, sonst hätte er nicht obenauf schwimmen können.

»Das ist ja überführend, rief der Doctor freudig, denn, da die Strömungen des Atlantischen Oceans denselben nicht haben in die Davis-Straße treiben können, weil er nicht durch nordamerikanische Flüsse in das Polar-Becken getrieben werden konnte, da der Baum in der Gegend des Aequators wächst, so ist es klar, daß er direct aus der Behrings-Straße kommt. Und sehen Sie, meine Herren, dies Meergewürm, von dem es durchfressen wurde; es gehört zu den Gattungen der heißen Zone.

Offenbar, versetzte Wall, haben die Widersacher der Durchfahrt Unrecht.

– Mit diesem da sind sie gänzlich geschlagen! erwiderte der Doctor. Geben Sie Acht, ich will Ihnen den Weg beschreiben, welchen dieses Acajouholz gemacht hat. Es ist durch einen Fluß des Isthmus von Panama oder aus Guatemala in den Stillen Ocean geflößt worden; von da aus hat die Strömung längs der amerikanischen Küsten es bis zur Behrings-Straße geführt, und, gutwillig oder nicht, es mußte in die Polarmeere hinein; es kann noch nicht lange her sein, daß es aus seiner Heimat abgefahren ist; sodann ist es glücklich über alle Hindernisse der langen Reihe von Engen bis zum Baffins-Meer hinausgekommen, und von der aus dem Norden kommenden Strömung lebhaft ergriffen ist es durch die Davis-Straße getrieben, um an Bord des Forward aufgefischt zu werden zu großer Freude des Doctor Clawbonny, welcher den Commandanten um die Erlaubniß ersucht, ein Musterpröbchen davon aufzuheben.

– Thun Sie es nur, versetzte Shandon; aber gestatten Sie auch mir, Ihnen mitzutheilen, daß Sie nicht der einzige Besitzer eines solchen Strandgutes sind. Der dänische Statthalter der Insel Disco …

– An der Küste Grönlands, fuhr der Doctor fort, besitzt einen Tisch, der aus einem Block desselben Holzes gefertigt ist, welcher unter gleichen Umständen aufgefischt wurde; es ist mir dies nicht unbekannt, lieber Shandon; nun, ich beneide ihn nicht um seinen Tisch, denn, wenn es nicht zu viel zu schaffen machte, so hätte ich hier genug, um mir ein ganzes Schlafgemach zu zimmern.« Während der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag wehte der Wind äußerst heftig; das Treibholz zeigte sich häufiger; die Annäherung an die Küste war gefährlich zu einer Zeit, wo die Eisberge sehr zahlreich sind; der Commandant ließ daher die Zahl der Segel vermindern, und der Forward fuhr dann mit nur zweien.

Das Thermometer fiel unter den Gefrierpunkt. Shandon ließ angemessene Kleidung an die Mannschaft vertheilen, wollene Jacke und Hosen, flanellnes Hemd, Strümpfe von Wadmel, wie die norwegische Bauern tragen. Desgleichen wurde jeder Mann mit einem Paar völlig wasserdichten Meerstiefeln versehen.

Kapitän Hund war mit seinem natürlichen Pelz zufrieden; er schien gegen die Veränderungen der Temperatur wenig empfindlich; er mußte schon mehr wie einmal die Probe bestanden haben. Er war fast immer in den dunkeln Schiffsräumen versteckt.

Gegen Abend ließ sich durch eine Lichtung im Nebel, unter 37° 2′ 7″ Länge die Küste Grönlands sehen; der Doctor konnte vermittelst seines Fernrohrs eine Reihe Pics mit breiten Gletschern erkennen.

Der Forward befand sich am 20. April früh im Angesicht eines hundertundfünfzig Fuß hohen Eisbergs, der seit undenklichen Zeiten an dieser Stelle festliegt; das Thauwetter hat ihn noch nie bewältigt und seine seltsamen Formen nicht angetastet. Snow hat ihn gesehen; James Roß im Jahre 1829 eine Zeichnung desselben aufgenommen, und der französische Lieutenant Bellot an Bord des Prinzen Albert hat ihn im Jahre 1851 bemerkt.

Auch der Doctor entwarf eine gelungene Skizze desselben.

Solche unüberwindlich festliegenden Massen finden sich mitunter; dann haben sie gegen jeden Fuß Höhe über dem Wasser zwei unter demselben, was also bei diesem dreihundert Fuß Tiefe, also zusammen vierhundert Fuß beträgt.

Endlich bei einer Temperatur, die Mittags zwölf Grad (-11° hunderttheilig) betrug, bekam man in nebeligem Schneewetter Cap Farewell zu sehen.

»Da ist denn, sagte bei sich der Doctor, das berühmte, richtig benannte Cap.1 Viele sind daran vorüber gefahren, und haben es nimmer wieder gesehen. So sind Frobisher, Knight, Barlow, Vaugham, Scroggs, Barentz, Hudson, Blosseville, Franklin, Crozier, Bellot, nie zum heimischen Heerd zurückgekehrt, ihnen rief es ein letztes Lebewohl zu.«

Grönland wurde von isländischen Seefahrern schon um’s Jahr 970 entdeckt. Sebastian Cabot drang im Jahre 1498 bis zum sechsundfünfzigsten Breitegrad, Gaspard und Michel Cotreal, 1500 bis 1502, gelangten bis zum sechzigsten Grade, und Martin Frobisher 1576 bis zu der nach ihm benannten Bai.

John Davis entdeckte 1585 die Straße, welche seinen Namen führt, und zwei Jahre später, bei einer dritten Reise, gelangte dieser kühne Seefahrer und Wallfischjäger bis zum 73°, noch siebenzehn Grad vom Pol. Barentz 1596, Weymuth 1602, James Hall 1605 und 1607, Hudson, nach welchem die große Bai benannt ist, die sich so tief in’s Festland hineinzieht, James Poole 1611, drangen weiter in der Straße vor, um die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, durch welche der Verkehr zwischen den beiden Welten so sehr abgekürzt worden wäre.

Baffin, 1616, fand in dem Meere seines Namens die Lancaster-Straße; ihm folgte 1619 James Munk, und 1719 Knight, Barlow, Vaugham und Scroggs, von welchen man nie wieder Nachricht bekam.

Im Jahre 1776 erreichte der Lieutenant Pickersgill, welcher dem Kapitän Cook entgegen geschickt wurde, den 68°; im folgenden Jahr drang Young bis zur Fraueninsel vor.

Nun kam James Roß, der 1818 die Küsten des Baffins-Meeres aufnahm und die hydrographischen Irrthümer seiner Vorgänger verbesserte.

Endlich, 1819 und 1820, drang der berühmte Parry durch den Lancaster-Sund inmitten unzähliger Schwierigkeiten bis zur Insel Melville und gewann den Preis von fünftausend Pfund, welcher durch eine Parlamentsacte den englischen Seefahrern versprochen war, die bei einer höhern Breite als 77° über den hundertundsiebenzigsten Meridian gelangen würden.

Im Jahre 1826 kam Beechey bis zur Insel Chamisso; James Roß überwinterte 1829–1830 in der Prinz-Regenten-Straße, und entdeckte, neben andern wichtigen Leistungen, den magnetischen Pol.

Während dieser Zeit erforschte Franklin, auf dem Landweg, die Nordküsten Amerika’s vom Mackenziefluß bis zu der Umkehr-Spitze; der Kapitän Back verfolgte von 1823–1835 diese Bahn weiter, und seine Entdeckungen wurden 1839 durch Dease, Simpson und den Doctor Rae vervollständigt. Endlich fuhr Sir John Franklin, voll Eifer, die nordwestliche Durchfahrt aufzufinden, im Jahre 1845 auf dem Erebus und Terror aus England ab, drang in’s Baffins-Meer hinein, und seit er bei der Insel Disco vorbeigekommen, bekam man keine Nachricht mehr von seiner Expedition.

Diese zahlreichen Entdeckungsfahrten haben zur Auffindung der Durchfahrt und zur Aufnahme der so tief ausgezackten Polar-Continente geführt; die unverzagtesten Seemänner Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten wagten sich in die schrecklichen Gegenden, und ihren Anstrengungen ist zu verdanken, daß die so schwierige Karte dieser Landschaften im Archiv der königlichen Geographischen Gesellschaft zu London nun prangen kann.

So überblickte der Doctor im Geiste die merkwürdige Entdeckungsgeschichte dieser Landschaften, während er auf die Seite gelehnt mit den Augen dem langen Kielwasser der Brigg folgte.

  1. »Lebewohl.«

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Die Davis-Straße.

Diesen Tag über bahnte sich der Forward einen leichten Weg zwischen den halb zerbröckelten Eisblöcken; der Wind war günstig, aber die Temperatur sehr niedrig; die über die Eisfelder streichende Luft durchdrang mit frischer Kälte. Die Nacht erforderte die strengste Achtsamkeit; die schwimmenden Berge drängten sich in der engen Straße zusammen: man zählte ihrer oft bei hundert am Horizont; sie lösten sich durch Einwirkung der benagenden Wellen und der Aprilsonne von den vorragenden Küsten ab, um zu zerschmelzen oder in die Tiefen des Oceans zu versinken. Man begegnete auch langen Flößen Treibholz, mit welchen man nicht zusammenstoßen durfte. Darum wurde auch das »Krähennest« an der Spitze eines Mastes angebracht, bestehend aus einer Tonne mit beweglichem Boden, worin der Eismeister, zum Theil gegen den Wind geschützt, das Meer überschaute, die herannahenden Eisblöcke meldete, und selbst nöthigenfalls das Manoeuvriren des Schiffes angab. Die Nächte waren kurz; die Sonne war in Folge der Strahlenbrechung seit dem 31. Januar wieder zum Vorschein gekommen, und hielt sich allmälig länger über dem Horizont. Aber durch den Schnee war die Aussicht gehemmt, und wenn er auch nicht Dunkelheit veranlaßte, so machte er doch die Fahrt schwierig.

Am 21. April zeigte sich mitten im Nebel das Cap Desolation; die Mannschaft war durch das Manoeuvriren erschöpft; seitdem die Brigg zwischen den Eisblöcken fuhr, hatten die Matrosen nicht einen Augenblick Ruhe gehabt; man mußte bald den Dampf zu Hilfe nehmen, um sich mitten durch aufgeschichtete Blöcke einen Weg zu bahnen.

Der Doctor und Meister Johnson plauderten auf dem Hinterverdeck mit einander, während Shandon in seiner Cabine einige Stunden Schlaf genoß. Clawbonny suchte die Unterhaltung des alten Matrosen auf, welchem seine zahlreichen Reisen eine interessante und verständige Erziehung gegeben hatten. Der Doctor gewann ihn sehr lieb, und der Rüstmeister blieb ihm nichts schuldig.

»Sehen Sie, Herr Clawbonny, sagte Johnson, dieses Land ist nicht wie alle andern; sein Name bedeutet »Grünes Land«, aber nur wenig Wochen im Jahre ist diese Benennung gerechtfertigt!

– Wer weiß, wackerer Johnson, erwiderte der Doctor, ob nicht im zehnten Jahrhundert dieses Land Anspruch auf eine solche Benennung haben konnte. Auf unserm Erdball ist schon manche Umänderung dieser Art vorgekommen, und Sie werden vielleicht staunen, wenn ich Ihnen sage, daß isländischen Chroniken zufolge vor acht bis neunhundert Jahren zweihundert Dorfschaften auf diesem Continent blühten.

– Diese Aeußerung, Herr Clawbonny, versetzt mich dermaßen in Staunen, daß ich ihr nicht einmal Glauben beimessen kann, denn ’s ist ein ödes Land!

– Gut! So öde es auch sein mag, so bietet es doch Bewohnern, und selbst civilisirten Europäern, hinreichend eine Stätte ruhiger Abgeschiedenheit.

– Allerdings! Zu Disco, zu Uppernawik werden wir Leute finden, die mit einem Leben in solchem Klima zufrieden sind; aber ich habe immer gedacht, sie hätten diesen Aufenthalt nicht mit Vorliebe, sondern nothgedrungen, gewählt.

– Ich glaube es gern; doch gewöhnt sich der Mensch an alles, und es scheint mir, diese Grönländer sind nicht ebenso zu beklagen, als die Arbeiter in unsern großen Städten; sie können unglücklich sein, aber sicherlich im Elend leben sie nicht, ferner, ich sage wohl unglücklich, aber dieses Wort drückt nicht völlig meinen Gedanken aus; in der That, leben diese Leute auch nicht so im Wohlbehagen, wie wir in der gemäßigten Zone; in diesem Klima geboren, finden sie offenbar darin Genüsse, für welche uns der Begriff abgeht!

– Das muß man wohl annehmen, Herr Clawbonny, weil der Himmel gerecht ist; aber ich bin vielfach auf Reisen an diese Küsten gekommen, und der Anblick dieser traurigen Einöden hat mir stets das Herz zusammengeschnürt; man hätte z. B. den Caps, Vorgebirgen, Baien freundlichere Namen geben sollen, denn die Bezeichnungen Farewell und Desolation sind nicht geeignet, die Seefahrer anzuziehen!

– Diese Bemerkung habe ich ebenfalls gemacht, erwiderte der Doctor; aber diese Namen haben unverkennbar ein geographisches Interesse; sie bezeichnen die Erlebnisse derer, welche die Namen beigelegt haben; wenn ich neben den Namen Davis, Baffin, Hudson, Roß, Parry, Franklin das Cap Desolation (Trostlosigkeit) finde, so stoße ich bald auf die Bai der Gnade (Mercy): es ist da die ununterbrochene Reihe von Gefahren, Hindernissen, Erfolgen, Verzweifeln und Gelingen verbunden mit den großen Namen meines Vaterlandes, daß ich die ganze Geschichte dieser Meere darin lesen kann.

– Richtig geurtheilt, Herr Clawbonny, und möchten wir nur bei unserer Reise auf mehr Baien des Erfolges (Succès), als Caps der Desolation treffen!

– Das wünsch‘ ich, Johnson; aber, sagen Sie mir, hat sich die Mannschaft ein wenig von ihren Strapazen erholt?

– Ein wenig, mein Herr; und doch, um alles herauszusagen, seit unserer Einfahrt in die Straße hat man wieder angefangen, sich über den eingebildeten Kapitän Gedanken zu machen; mancher war darauf gespannt, daß er an der Spitze von Grönland erschiene, und bis jetzt, nichts! Sehen Sie, Herr Clawbonny, unter uns, ist das nicht etwas zum Verwundern?

– Ja wohl, Johnson.

– Glauben Sie, daß der Kapitän existirt?

– Ganz gewiß.

– Aber was konnte er für Gründe haben, so zu handeln?

– Soll ich völlig heraussagen, was ich denke, so glaube ich, dieser Mann wollte die Mannschaft erst weit genug fortziehen, daß sie nicht mehr umkehren konnte. Wäre er nun im Moment der Abfahrt an seinem Bord erschienen, so hätte jeder die Bestimmung des Schiffes haben hören wollen, wodurch er in Verlegenheit gerathen wäre.

– Und weshalb?

– Wahrhaftig, wenn er eine übermenschliche Unternehmung wagen, wenn er vordringen will, wohin so viele Andere vor ihm nicht konnten, glauben Sie, daß er seine Mannschaft beisammen behalten hätte? Dagegen, wenn man einmal unterwegs ist, kann man so weit gehen, daß das Vorwärtsdringen zu einer Nothwendigkeit wird.

– Das ist möglich, Herr Clawbonny; ich habe mehr als einen unerschrockenen Abenteurer kennen gelernt, dessen bloßer Name in Schrecken setzte, und der keinen Mann gefunden hätte, um ihn bei seinen gefährlichen Unternehmungen zu begleiten …

– Mich ausgenommen, sagte der Doctor.

– Und mich nach Ihnen, erwiderte Johnson, und um mich Ihnen anzuschließen! Ich nehme also an, daß unser Kapitän ohne Zweifel zu solchen Abenteurern gehört. Wir werden es am Ende sehen; ich vermuthe, daß in der Gegend von Uppernawik oder der Bai Melville dieser tapfere Unbekannte sich im Stillen an Bord einfinden und uns zu erkennen geben wird, bis wohin seine Phantasie das Schiff fortzuziehen im Sinne hat.

– Der Meinung bin ich auch, Johnson; aber die Schwierigkeit wird darin bestehen, bis zu dieser Bai Melville zu gelangen; sehen Sie, wie auf allen Seiten diese Eisblöcke uns umgeben! Sie lassen ja dem Forward kaum einen Durchweg. Betrachten Sie nur diese unermeßliche Ebene.

– Wir Wallfischfänger, Herr Clawbonny, nennen dies ein Eisfeld, d. h. eine Fläche zusammenhängender Eisblöcke, deren Ende man nicht absieht.

– Und hier, dieses unterbrochene Feld, diese langen Stücke, welche mehr oder minder an einander anstoßen?

– Das heißen wir pack, und palch, wenn die Form rund ist, sowie stream, wenn sie lang.

– Und diese schwimmenden Blöcke?

– Das ist Treibeis; sind sie etwas höher, so nennt man sie Eisberge; ein Zusammenstoßen mit ihnen ist den Schiffen gefährlich, und man muß sie sorgfältig meiden. Sehen Sie, dort unten auf jenem Eisfeld, eine vom Druck der Eisblöcke verursachte höher emporragende Stelle, die nennen wir hummock, und wenn sie an ihrer Basis unter Wasser ist, calf; diese Benennungen gab man, um sich darüber verständlich zu machen.

– Ah! Das ist wahrhaftig ein merkwürdiger Anblick, rief der Doctor beim Betrachten dieser Wunder des Eismeeres aus, und was machen diese verschiedenen Anschauungen für einen lebhaften Eindruck auf die Phantasie!

– Allerdings, erwiderte Johnson; die Eisschollen nehmen manchmal phantastische Formen an, und unsere Leute sind nicht in Verlegenheit, sie in ihrer Weise zu deuten.

– Schauen Sie, Johnson, und staunen über dies Gesammtbild von Eisblöcken! Sieht es nicht wie eine sonderbare Stadt, eine orientalische mit Minarets und Moscheen in bleichem Mondschein? Weiter dort eine lange Reihe gothischer Bogen gleich der Capelle Heinrich’s VII., oder wie am Parlamentshaus.

– Wirklich, Herr Clawbonny; aber es wäre doch gefährlich, darinnen zu wohnen, und man darf ihnen nicht allzu nahe kommen. Es giebt da Minarets, die wanken auf ihrer Basis, und könnten ein Schiff wie den Forward zertrümmern.

– Und man hat sich in die Gefahr dieser Meere hineingewagt, fuhr der Doctor fort, ohne den Dampf bereit zu haben! Wie ist es möglich, daß ein Segelschiff mitten zwischen diesen schwimmenden Klippen eine Richtung verfolgen kann?

– Man hat’s jedoch ausgeführt, Herr Clawbonny; wenn der Wind widrig wurde, was mir mehr wie einmal begegnete, hing man sich geduldig mit dem Anker an einen solchen Block fest, trieb mehr oder minder mit ihm, und wartete so die günstige Stunde zum Weiterfahren ab; zwar brauchte man bei dieser Art zu reisen einige Monate Zeit da, wo bei einigem Glück wir nur einige Tage darauf wenden.

– Es kommt mir vor, sagte der Doctor, als sinke die Temperatur noch mehr.

– Das wäre schlimm, erwiderte Johnson, denn es ist Thauwetter nöthig, daß diese Massen sich zertheilen und sich im Atlantischen Meere verlieren; sie sind übrigens in der Davis-Straße zahlreicher, weil zwischen dem Cap Walsingham und Holsteinborg das Land merklich näher beisammen ist; doch über den siebenundsechzigsten Grad hinaus werden wir finden, daß im Mai und Juni die Meere leichter zu befahren sind.

– Ja; aber man muß erst hinkommen.

– Ja wohl, Herr Clawbonny; im Juni und Juli hätten wir die Fahrt frei gefunden, wie die Wallfischfänger auch; aber es war uns genau anbefohlen, daß wir im April uns hier einfänden. Darum irre ich sehr, oder unser Kapitän ist ein tüchtiger Schelm, der weiß, was er will; er ist nur deshalb so frühzeitig abgefahren, um recht weit zu fahren. Schließlich werden wir es sehen.«

Der Doctor hatte sich in seiner Aeußerung über das Sinken der Temperatur nicht geirrt; das Thermometer zeigte um Mittag nur sechs Grad (-14° hunderttheilig) und es herrschte ein Nord-West, der, obwohl er die Witterung heiter machte, doch zugleich mit der Strömung die schwimmenden Eisblöcke heftiger dem Forward entgegen beförderte. Es trieben jedoch nicht alle in derselben Richtung; nicht selten traf man solche, und zwar die höchsten, welche, an ihrer Basis von einer unterseeischen Strömung gefaßt, in entgegengesetzter Richtung trieben.

Natürlich entstanden dadurch Schwierigkeiten für die Schifffahrt; die Maschinisten hatten nicht einen Augenblick Ruhe; die Leitung der Dampfkraft wurde unmittelbar auf dem Verdeck vorgenommen vermittelst Hebel, welche sie verstärkten, hemmten, plötzlich, nach Befehl des Officiers der Wache, in umgekehrte Richtung brachten. Bald mußte man eilen, um durch eine Oeffnung im Eisfeld zu dringen, bald an Schnelligkeit einem Eisberg, der den einzigen Weg zu versperren drohte, zuvorkommen; oder auch es nöthigte ein unversehens rückwärts fallender Block zu raschem Umkehren, um nicht zerschmettert zu werden. Diese Anhäufung von Eisblöcken, welche von der Strömung aus Norden fortgetrieben und aufgeschichtet wurden, drängte sich in der Enge, und wenn der Frost sie festhielt, konnten sie dem Forward eine unüberwindliche Schranke setzen.

Es zeigte sich in diesen Gegenden eine unzählige Menge Gevögel; Sturmvögel flatterten überall mit betäubendem Geschrei, und Möven mit dickem Kopf und langen Flügeln trotzten scherzend dem vom Sturm gepeitschten Schnee. Diese Munterkeit des Geflügels belebte die Gegend.

Zahlreiche Stücke Treibholz stießen wider einander; einige Pottfische mit enormen Köpfen kamen in die Nähe des Schiffes, aber zum Harpunieren war keine Zeit. Gegen Abend sah man auch einige Robben zwischen den Blöcken schwimmen.

Am 22. sank die Temperatur noch mehr; der Forward verstärkte seinen Dampf, um günstige Fahrwege zu gewinnen; der Wind war entschieden Nord-West geworden; die Segel wurden eingezogen.

Während dieses Tages, der ein Sonntag war, hatten die Matrosen wenig zu manoeuvriren. Nach dem von Shandon verrichteten Gottesdienst beschäftigte sich die Mannschaft mit der Jagd auf Weißmäntel, und fing deren viele. Diese Vögel lieferten, gehörig zubereitet, ein angenehmes Gericht für die Tafel.

Um drei Uhr Nachmittags hatte der Forward nordöstlich Kin de Sael erreicht, und das Gebirge Sukkertop lag südöstlich; die See ging sehr hohl; von Zeit zu Zeit senkte sich ein ungeheurer Nebel unvermuthet vom grauen Himmel herab. Doch konnte zu Mittag eine genaue Beobachtung gemacht werden, und es zeigte sich, daß das Schiff sich unter 65° 20′ Breite, und 54° 22′ Länge befand. Man mußte noch um zwei Grad weiter vorwärts dringen, um bessere Fahrt auf freiem Meer zu bekommen.

Während der drei folgenden Tage, am 24., 25. und 26. April, hatte man beständig mit den Eisblöcken zu kämpfen; die Behandlung der Maschine wurde sehr ermüdend.

Im dichten Nebel konnte man die Annäherung der Eisberge nur am dumpfen Getöse erkennen, welches von den Lavinen herrührte; dann wendete das Schiff sogleich; man kam in Gefahr, wider Eismassen aus süßem Gewässer zu stoßen, welche an der Durchsichtigkeit und einer Felsen gleichen Härte zu erkennen waren. Richard Shandon versah sich zur Ergänzung seines Trinkwassers täglich mit einigen Tonnen solchen Eises.

Der Doctor konnte sich nicht an die optischen Täuschungen gewöhnen, welche die Strahlenbrechung in diesen Gegenden erzeugte; in der That, mancher Eisberg, der zehn bis zwölf Meilen von der Brigg entfernt war, kam ihm wie eine kleine weiße Masse in nächster Nähe vor.

Endlich war die Mannschaft, theils durch das Fortziehen des Schiffes längs der Eisfelder, theils durch das Fernhalten drohender Blöcke vermittelst langer Stangen, vor Ermüdung fast erschöpft, und doch war Freitags, den 27. April, der Forward noch auf der Linie des Polarkreises zurückgehalten.

Achtes Capitel.


Achtes Capitel.

Gespräche der Mannschaft.

Inzwischen gelang es dem Forward, indem er geschickt in den Fahrwassern durchglitt, einige Minuten weiter nördlich zu dringen; aber anstatt dem Feind auszuweichen, mußte man bald ihn angreifen; Eisfelder von mehreren Meilen Umfang waren im Anzuge, und da diese Massen in Bewegung oft einen Druck von mehr als zehn Millionen Tonnen darstellen, so mußte man sich sorgfältig hüten, nicht erdrückt zu werden. Es wurden daher im Innern des Schiffes Eissägen hergerichtet, dergestalt, daß sie unverzüglich in Anwendung gebracht werden konnten.

Ein Theil der Mannschaft ließ sich diese harten Arbeiten philosophisch gefallen, aber andere beklagten sich, oder wollten gar den Gehorsam verweigern. Als man zur Herrichtung der Instrumente schritt, tauschten Garry, Bolton, Pen und Gripper ihre verschiedenen Ansichten.

»Beim Teufel! sagte munter Bolton, es kommt mir, ich weiß nicht wie, der Gedanke, daß es in Waterstreet eine hübsche Schenke giebt, wo man zwischen einem Glas Gin und einer Flasche Porter nicht übel beisammen sitzt. Du siehst das von hier aus, Gripper?

– Die Wahrheit zu sagen, entgegnete der Matrose, der im Allgemeinen meist übler Laune war, ich versichere Dich, dass ich das von hier aus nicht sehe.

– Es ist nur eine Redensart, Gripper; es ist wohl klar, daß es in den Schneestädten, welche Herr Clawbonny bewundert, nicht das kleinste Wirthshaus giebt, worin ein braver Matrose sich mit einigen Gläschen Branntwein erquicken könnte.

– Darüber kannst Du wohl sicher sein, Bolton; und Du könntest wohl noch beifügen, daß man nicht einmal hier sich gehörig erquicken kann. Eine sonderbare Idee, den in den Nordmeeren Reisenden jeden geistigen Trunk zu versagen!

– Schön! erwiderte Garry, hast Du denn vergessen, Gripper, was Dir der Doctor gesagt hat? Man muß sich jedes aufregenden Getränkes enthalten, wenn man dem Scorbut widerstehen, sich gesund halten und weit fahren will.

– Aber ich begehre nicht weit zu fahren, Garry, und ich finde, daß es schon etwas Schönes ist, bis hierher gekommen zu sein, dann kann man sich weigern dahin vorzudringen, wohin der Teufel nicht leiden mag, daß man dringe.

– Ei nun, man wird es auch nicht thun, versetzte Pen. Wenn ich denke, daß ich schon vergessen habe, wie der Gin schmeckt!

– Aber, sagte Bolton, erinnere Dich doch, was der Doctor gesagt hat.

– O! entgegnete Pen mit seiner groben, brutalen Stimme, wer weiß, ob man nicht unter’m Vorwand der Gesundheit sich einfallen laßt, den Trank zu sparen?

– Dieser Teufel von Pen hat vielleicht Recht, erwiderte Gripper.

– Geht doch! versetzte Bolton, dafür ist seine Nase zu roth; und wenn Pen bei einer Fahrt unter solcher Zucht ein wenig von seiner Farbe verliert, so wird er es nicht zu beklagen haben.

– Was geht meine Nase Dich an? erwiderte barsch der Matrose, der sich an wunder Stelle getroffen fühlte. Meine Nase bedarf Deinen Rath nicht, begehrt ihn nicht; kümmere Dich doch um das, was Dich angeht!

– Nun! werde doch nicht böse, Pen, ich glaubte nicht, daß Du eine so empfindliche Nase hast. O! ich bin auch kein Verächter eines Gläschens Whisky, zumal bei solcher Kälte; aber, wenn es schließlich mehr schadet als nützt, so laß ich es auch gerne.

– Du magst es lassen, sagte der Heizer Waren, der sich in das Gespräch mischte; ei, das thut wohl nicht jeder Andere!

– Was meinst Du damit, Waren? versetzte Garry, und sah ihm fest in’s Gesicht.

– Ich meine damit, daß es aus diesem oder jenem Grunde Liqueur an Bord giebt, und denke mir, daß man dahinten ihn sich nicht ganz entzieht.

– Und was weißt Du davon?« fragte Garry.

Waren wußte nichts zu antworten.

»Du siehst wohl, Garry, fuhr Bolton fort, daß Waren nichts davon weiß.

– Nun, sagte Pen, wir wollen vom Commandant eine Ration Gin verlangen; wir haben es wohl verdient, und da werden wir sehen, was er antworten wird.

– Ich rathe Euch, so etwas nicht zu thun, erwiderte Garry.

– Und weshalb? schrieen Pen und Gripper.

– Weil der Commandant es Euch abschlagen wird. Ihr wußtet ja, als Ihr mit in See ginget, die Schiffsordnung; damals mußtet Ihr Euch darüber besinnen.

– Uebrigens, erwiderte Bolton, der sich gern auf Garry’s Seite stellte, dessen Charakter ihm gefiel, – Richard Shandon ist ja nicht Herr an Bord; er hat zu gehorchen, wie wir.

– Und wem denn? fragte Pen.

– Dem Kapitän.

– Ah! Immer der leidige Kapitän! schrie Pen. Und seht Ihr nicht, daß es ebensowenig einen Kapitän an Bord giebt, als ein Wirthshaus auf diesen Eisbänken? Auf diese Art will man uns nur höflich verweigern, was wir zu fordern berechtigt sind.

– Ja doch, es giebt einen Kapitän, versetzte Bolton; und ich wollte um zwei Monate Sold wetten, daß wir ihn bald zu sehen bekommen werden.

– Gut, sagte Pen; dem wollte ich schon ein paar Worte in’s Angesicht sagen!

– Wer redet vom Kapitän? fragte ein Anderer der Anwesenden, der Matrose, der etwas abergläubisch war.

– Weiß man etwas Neues über den Kapitän? fragte er.

– Nein, war die einstimmige Antwort.

– Nun, ich versehe mich, daß wir ihn eines schönen Morgens in seiner Cabine zu Hause finden, ohne daß Jemand wüßte, wie oder woher er angekommen sei.

– Geh doch! erwiderte Bolton; Du meinst, Clifton, der Schelm sei so ein Kobold, wie sie in Hochschottland umgehen!

– Lache, so viel Du willst, Bolton; das ändert meine Meinung nicht. Tagtäglich, wenn ich vor der Cabine vorüber gehe, schaue ich durch das Schlüsselloch, und eines schönen Morgens werd‘ ich Euch erzählen, wem dieser Kapitän gleicht, und wie er aussieht.

– Ei! Beim Teufel, sagte Pen, Dein Kapitän wird aussehen, wie alle andern Leute! Und wenn es ein Schelm ist, der uns anführen will, wohin wir nicht mögen, wird man ihm sagen, was sich gehört.

– Schön! sagte Bolton, der Pen will schon mit ihm zanken, und kennt ihn noch nicht!

– Wer kennt ihn nicht? entgegnete Clifton wie Einer, der davon zu erzählen weiß.

– Was Teufel meinst Du damit? fragte Gripper.

– Ich verstehe mich darauf.

– Aber wir verstehen Dich nicht!

– Ah! Hat nicht Pen schon Unannehmlichkeiten mit ihm gehabt?

– Mit dem Kapitän?

– Ja, dem Kapitän Hund, denn es ist ganz das nämliche.«

Die Matrosen sahen sich einander an, ohne daß sie zu antworten wagten.

»Mensch oder Hund, brummte Pen zwischen den Zähnen, ich versichere Euch, dem Thier wird einmal widerfahren, was ihm gebührt.

– Seht doch, Clifton, fragte Bolton ernstlich, meinst Du, wie Johnson scherzend gesagt hat, dieser Hund sei der wahre Kapitän?

– Gewiß, erwiderte Clifton mit Ueberzeugung; und verständet Ihr zu beobachten wie ich, so würdet Ihr schon das seltsame Benehmen des Thieres wahrgenommen haben.

– Welches? Laß hören, rede!

– Habt Ihr nicht gesehen, wie er auf dem Hinterverdeck einher spaziert mit einer Amtsmiene, und besieht das Segelwerk des Schiffes, als gehöre er zur Wache?

– Ja, so ist’s, sagte Gripper; und sogar habe ich ihn eines Abends überrascht, wie er die Pfoten am Steuerruder hatte.

– Nicht möglich! sagte Bolton.

– Und jetzt, fuhr Clifton fort, verläßt er sogar Nachts das Schiff, um auf den Eisfeldern zu wandeln, ohne sich weder um Bären noch um die Kälte zu kümmern.

– Ganz richtig, so ist’s, sagte Bolton.

– Seht Ihr, wie das Thier als ein braver Hund die Gesellschaft der Menschen sucht, um die Küche herumschleicht, und blickt mit zärtlichen Augen nach Meister Strong, wenn er dem Commandanten einen guten Bissen überbringt? Hört Ihr ihn nicht, wenn er Nachts zwei bis drei Meilen vom Schiff sich entfernt und heult, daß es Einem kalt über den Rücken läuft? Endlich, habt Ihr jemals gesehen, wie das Thier seine Nahrung zu sich nimmt? Er nimmt nichts persönlich; sein Fressen ist stets unberührt; und sofern nicht eine geheime Hand ihn nährt, darf ich sagen, das Thier lebe, ohne zu essen. Nun, wenn das nicht phantastisch ist, bin ich nur ein Stück Vieh.

– Meiner Treu, erwiderte der Zimmermann Bell, welcher zugehört hatte, das könnte wahrlich der Fall sein!

– Kurz, fragte Bolton, wohin fahren wir mit dem Forward?

– Ich weiß nicht, erwiderte Bell; zu einer bestimmten Zeit wird Richard Shandon die Ergänzung seiner Instructionen erhalten.

– Aber durch wen?

– Durch wen?

– Ja, wie? sagte Bolton dringend.

– Nun, Bell, eine Antwort! fielen die andern Matrosen ein.

– Durch wen? Wie? Ja das weiß ich nicht, entgegnete der Zimmermann.

– Ei! Durch den Kapitän Hund, rief Clifton. Er hat ja schon einmal durch diesen einen Brief geschickt, so kann er es auch wieder machen. Wüßte ich nur die Hälfte von dem, was dies Thier weiß, so würde ich zum Lord-Admiral taugen.

– Also, versetzte schließlich Bolton, Du hältst fest daran, daß dieser Hund der Kapitän ist?

– Ja, wie gesagt.

– Nun, sagte Pen halblaut, wenn das Thier nicht sein Hundsfell sprengen und Mensch werden will, werde ich ihm zu schaffen machen.

– Und weshalb? fragte Garry.

– Weil mir’s beliebt, erwiderte Pen brutal, ich habe keinem Menschen darüber Rechenschaft zu geben.

– Nun genug geplaudert, Kinder, rief Meister Johnson, und machte damit zu rechter Zeit einem Gespräch ein Ende, das eben eine üble Wendung nahm. An die Arbeit, und rasch die Sägen bereit gemacht, wir müssen durch die Eisdecke hindurch!

– Gut! erwiderte Clifton mit Achselzucken. Sie werden sehen, daß man so leicht nicht den Polarkreis überschreitet!«

Wie dem auch sein mag, die Anstrengungen der Mannschaft waren im Laufe dieses Tages, Freitags, ohne hinreichenden Erfolg. Obgleich der Forward mit voller Dampfkraft wider die Eisberge anfuhr, gelang es ihm nicht, sie zu trennen; man mußte während der Nacht sich festankern.

Am Samstag wurde in Folge eines Ostwindes die Temperatur noch niedriger; das Wetter hellte sich auf, und der Blick konnte weithin über die weißen Ebenen schweifen, welche durch den Reflex der Sonnenstrahlen blendend wurden. Um sieben Uhr Vormittags zeigte das Thermometer acht Grad unter Null (-21° hunderttheilig).

Der Doctor war versucht, ruhig in seiner Cabine zu bleiben und Reisebeschreibungen nach dem Polar-Meer zu lesen, aber er fragte sich, seiner Gewohnheit nach, was ihm in diesem Augenblick am unangenehmsten zu thun sein würde. Die Antwort war, bei diesem Kältegrad sich auf das Verdeck zu begeben, und der Mannschaft zu helfen, wäre nicht sehr erquicklich. Daher verließ er, treu an seiner Regel festhaltend, seine wohl geheizte Cabine, und half mit beim Fortbringen des Schiffes. Er sah hübsch aus mit seiner grünen Brille, vermittelst welcher er seine Augen gegen den Reflex der Sonnenstrahlen schützte; und bei seinen künftigen Untersuchungen war er stets sorgfältig mit Schneebrillen versehen, um Augenkrankheiten zu vermeiden, welche unter diesen hohen Breiten sehr häufig vorkommen.

Gegen Abend war der Forward einige Meilen nördlich vorwärts gekommen, Dank der Thätigkeit der Leute und der Geschicklichkeit Shandon’s, der gewandt alle günstigen Umstände zu benutzen wußte; um Mitternacht kam er über den sechsundsechzigsten Breitegrad, und da die Sonde dreiundzwanzig Ellen Tiefe ergab, erkannte Shandon, daß er sich über dem niedrigen Grunde befand, worauf die Victoria sitzen geblieben war. Dreißig Meilen östlich war man dem Lande nahe.

Nun aber spaltete sich die bisher unbewegliche Eismasse und setzte sich in Bewegung; die Eisberge schienen auf allen Seiten am Horizont aufzuwachsen; die Brigg befand sich also zwischen einer Reihe schwimmender Klippen, welche mit unwiderstehlicher Gewalt zertrümmern; die Lenkung ward sehr schwierig für Garry, den besten Steuerer, am Ruderstock; die Berge drohten sich hinter der Brigg wieder aneinander zu schließen. Durch diese Eisflotte mußte man nothwendig hindurch, und Klugheit, wie Pflicht befahl, vorwärts zu dringen. Die Schwierigkeiten wuchsen noch dadurch, daß es Shandon unmöglich ward, inmitten dieser wechselnden Punkte, welche die Stelle änderten und keine feste Perspective gewährten, die Richtung des Schiffes zu bestimmen.

Die Mannschaft war in zwei Reihen auf der rechten und linken Seite des Schiffes vertheilt; jeder derselben hatte eine lange Stange mit eiserner Spitze, um die allzu bedrohlichen Eisblöcke zurückzustoßen. Bald gerieth der Forward in eine so enge Gasse zwischen zwei hohen Blöcken, daß die Enden seiner Stengen an den Wänden rieben, die so hart wie Felsen waren; allmälig befand er sich mitten in einem gewundenen Thal voll wirbelndem Schneegestöber, während die schwimmenden Eisblöcke wider einander stießen und mit unheimlichem Krachen zerbröckelten.

Aber bald stellte sich’s heraus, daß diese Gasse ohne Ausgang war; ein enormer Block, der in diese Enge gerathen war, trieb rasch auf den Forward zu; ihm auszuweichen schien unmöglich, und ebenso unmöglich auf einem bereits versperrten Weg rückwärts zu fahren.

Shandon und Johnson erwogen, vorn auf der Brigg stehend, ihre Lage. Der Erstere gab mit der rechten Hand dem Steuerer die Richtung an, welche zu nehmen war, und mit der Linken ließ er dem neben dem Ingenieur stehenden James Wall seine Befehle für Leitung der Maschine zugehen.

»Wie wird das enden? fragte der Doctor Johnson.

– Wie es Gott fügt«, erwiderte der Rüstmeister.

Der hundert Fuß hohe Eisblock war nur noch eine Kabellänge vom Forward entfernt, und drohte ihn zu zerbröckeln.

»Donner und Teufel! fluchte Pen.

– Stille!« rief eine Stimme, die man im Sturm nicht zu erkennen vermochte.

Der Block schien auf die Brigg stürzen zu wollen, und es entstand einen Augenblick unbeschreibliche Angst; die Männer ließen ihre Stangen und flüchteten trotz den Befehlen Shandon’s auf’s Hintertheil.

Plötzlich vernahm man ein erschreckliches Getöse; eine wirkliche Trombe fiel auf das Verdeck des Schiffes, das von einer ungeheuern Woge emporgehoben wurde. Die Mannschaft stieß einen Schrei des Entsetzens aus, während Garry am Steuer den Forward trotz seinem erschrecklichen Gieren in guter Richtung hielt.

Und als nun die erschrockenen Blicke sich auf den Eisberg richteten, war dieser verschwunden; die Fahrt war frei, und es war der Brigg über einem langen, von schiefen Sonnenstrahlen erhellten Canal hinaus weiter zu fahren gestattet.

»Nun, Herr Clawbonny, sagte Johnson, können Sie diese Erscheinung erklären?

– Es ist eine sehr einfache Sache, Freund, erwiderte der Doctor, und die oft vorkommt. Wenn zur Zeit des Thauwetters diese schwimmenden Massen sich von einander lösen, treiben sie isolirt und in völligem Gleichgewicht; aber allmälig, wenn sie südlicher in ein verhältnißmäßig wärmeres Wasser kommen, fängt ihre durch das Anstoßen an andere Blöcke bereits erschütterte Basis an zu schmelzen, schwächer zu werden; es kommt daher ein Moment, wo der Schwerpunkt dieser Massen sich ändert, dann purzeln sie zusammen. Wenn nun dieser Eisberg zwei Minuten später gestürzt wäre, so wäre er über die Brigg gefallen, und hätte sie im Fallen zerschmettert.«