Fünfzehntes Capitel.


Fünfzehntes Capitel.

Die Börse von San-Francisco.

Die Börse von San-Francisco – gleichsam der condensirte und gewissermaßen algebraische Ausdruck einer ungeheuren Industrie- und Handelstätigkeit – ist eine der lebhaftesten und eigenartigsten der Welt. Als natürliche Folge der geographischen Lage der Hauptstadt Kaliforniens zeigt auch sie den kosmopolitischen Charakter, der jene so auffallend kennzeichnet. Unter ihren Säulengängen von herrlichem rothen Granit trifft der blondhaarige, hochgewachsene Angelsachse zusammen mit dem gebrannten, dunkellockigem, mit beweglicherem und feinerem Gliederbau ausgestatteten Kelten. Der Neger begegnet hier dem Finnländer und dem Hindu. Erstaunt sieht der Polynesier neben sich den Grönländer. Der Chinese mit schiefer Augenspalte und sorgfältig gepflegtem Zopfe sucht den Japanesen, seinen historischen Feind, zu übervortheilen. Alle Sprachen, alle Mundarten schwirren hier, wie in einem modernen Babel, durcheinander.

Die Eröffnung dieses in seiner Art einzig in der Welt dastehenden Mammonstempels erfolgte am 12. October ganz wie gewöhnlich. Schlag elf Uhr sah man die bedeutendsten Mäkler und Geschäftsagenten, lustig oder ernsthaft, je nach besonderem Temperamente, herankommen, Händedrücke wechseln und sich nach dem Restaurant begeben, um die Tages-Operationen durch ein Sühnopfer einzuleiten. Einer nach dem Anderen öffneten sie dann das kleine Kupferthürchen der numerirten Kästen im Vorraume, welche die Korrespondenzen der Abonnenten enthalten, zogen ganz gewaltige Briefpackete daraus hervor und durchflogen diese mit zerstreuten Blicken.

Bald entwickelten sich die ersten Tageskurse, während die geschäftige Menge nach und nach anwuchs. Aus den zahlreicher gewordenen Gruppen stieg ein leichtes Murmeln auf.

Von allen Gegenden der Erde regnete es bald telegraphische Depeschen. Es verging kaum eine Minute, ohne daß ein mit lauter, alles Geräusch übertönender Stimme vorgelesener blauer Papierstreifen die an der Nordwand des Saales angeheftete Sammlung von Telegrammen vermehrte.

Von Minute zu Minute wurde die Bewegung lebhafter. Eilig liefen die Handlungsagenten herzu oder wieder weg, stürzten nach dem Telegraphen-Bureau und brachten Antworten dorthin. Alle Taschenbücher waren geöffnet, mit Notizen und Durchstreichungen bedeckt oder theilweise gar zerrissen. Die ganze Menschenmenge schien eine ansteckende Tollheit ergriffen zu haben, als gegen ein Uhr irgend eine geheimnisvolle Neuigkeit alle Gruppen wie ein Schauder zu packen schien.

Eine erstaunliche, unerwartete, unglaubliche Nachricht war eben von einem der Miteigentümer der »Bank des fernen Westens« überbracht worden und verbreitete sich mit Blitzesschnelligkeit weiter.

Die Einen riefen:

»Welch‘ dummer Witz! … Das ist ein Börsenmanöver! Wer soll eine solche Flause glauben?

– O, o, bemerkten Andere, kein Rauch ohne Feuer!

– Geht man in einer Lage wie jene zu Grunde?

– Man kann aus jeder Lage versinken.

– Aber, Herr, die Immobilien allein und die Maschinen repräsentiren einen Werth von achtzig Millionen Dollars! versetzte der Erstere.

– Ohne die Gußstücke, den Rohstahl, die Vorräthe und fertigen Producte zu rechnen! vervollständigte der Zweite.

– Zum Kukuk, das sagte ich ja! Schultze ist gut für neunzig Millionen Dollars und ich verpflichte mich, seine Activa sofort dafür zu realisiren!

– Ja, wie erklären Sie sich dann diese Zahlungseinstellung?

– Ich erkläre sie mir gar nicht! … Ich glaube einfach nicht daran!

– Als ob solche Dinge nicht alle Tage und auch den ansehnlichsten Häusern passirten!

– Stahlstadt ist kein Haus, es ist eine ganze Stadt!

– Nun auf alle Fälle ist es damit nicht aus. Unzweifelhaft wird eine Gesellschaft zusammentreten zur Fortführung der Geschäfte.

– Warum, zum Teufel, hat aber Schultze eine solche nicht gebildet, bevor er seine Wechsel protestiren ließ.

– Richtig, mein Herr, das ist so sinnlos, daß es keine Prüfung aushält! Das Ganze ist nichts als eine falsche Nachricht, die wahrscheinlich von Nasch ausgeht, der für seine Stahlvorräthe dringend eine Hausse braucht!

– Nein, keine falsche Nachricht! Schultze ist nicht allein bankerott, er ist auch flüchtig.

– Was fällt Ihnen ein?

– Durchgegangen, sag‘ ich Ihnen. Das Telegramm mit dieser Mittheilung ist soeben angeheftet worden!«

Eine gewaltige Menschenwoge rollte nach der Depeschentafel. Der neueste blaue Streifen enthielt folgende Worte:

»New-York, 12h 10m. – Central-Bank. Werk Stahlstadt. Zahlungen eingestellt. Bekannte Passiva: 47 Millionen Dollars. Schultze verschwunden.«

Jetzt war kein weiterer Zweifel möglich, so überraschend die Neuigkeit auch klingen mochte, und Vermuthungen über Vermuthungen kamen bald in Gang.

Um zwei Uhr begannen die Listen der durch Schultze’s Fallissement mitgerissenen Häuser zweiter Ordnung den Platz zu überschwemmen. Die größten Verluste erlitt die Mining-Bank in New-York; die Firma Westerlay & Sohn in Chicago, welche mit 7,000.000 Dollars betheiligt war; das Haus Milwaukee in Buffalo 5,000.000; die Industrie-Bank in San-Francisco 1,500.000 Dollars; endlich ein kleiner Ausschuß von Firmen dritten Ranges.

Andererseits machten sich, ohne weitere Nachrichten abzuwarten, die natürlichen Gegenwirkungen des Ereignisses in stürmischer Weise geltend.

Der nach Aussage der Sachverständigen am Vormittag so schwerfällige Markt von San-Francisco gewann um zwei Uhr ein gänzlich verändertes Aussehen. Welche Sprünge, welche Kurssteigerungen und zügellose Entfesselung der Speculation traten da zu Tage!

Hausse in Stahlsorten, die von Minute zu Minute steigen. Hausse in Kohlen! Hausse in den Papieren aller Eisenhütten der amerikanischen Union! Hausse in den Erzeugnissen der Eisenindustrie jeder Art! Hausse auch in den Landpreisen von France-Ville. Fielen diese seit der Kriegserklärung auf Null und verschwanden sie fast von der Börse, so stand der Acre Land heute wieder auf 180 Dollars Geld!

Von dem Abend dieses Tages an wurden die Zeitungs-Expeditionen förmlich belagert. Wenn auch der »Herald« wie die »Tribune«, der »Alta« wie der »Guardian« die mageren Nachrichten, welche sie sich zu verschaffen gewußt hatten, in Placaten mit Riesenlettern bekannt gaben, so reducirten sich dieselben im Grunde doch eigentlich auf nichts.

Was man wußte, beschränkte sich darauf, daß eine von Jackson, Edler & Comp. gezogene, von Herrn Schultze acceptirte Tratte über 8,000.000 Dollars bei Schving, Strauß & Comp., den New-Yorker Banquiers des Stahlkönigs, präsentirt worden sei und daß die genannten Herren constatirt hätten, die Bilanz des Credits ihres Clienten reiche zur Deckung dieser enormen Zahlung nicht aus, während eine telegraphische Mittheilung an jenen bezüglich dieser Thatsache unbeantwortet geblieben sei; daß sie ferner bei Durchsicht ihrer Bücher mit Verwunderung gesehen hätten, wie ihnen von Stahlstadt seit dreizehn Tagen weder ein Brief noch irgend eine Deckung zugegangen; daß sich seit eben dieser Zeit die von Herrn Schultze auf ihre Casse gezogenen Tratten und Checks täglich mehr angehäuft hätten, um dem Schicksale aller übrigen zu verfallen, d.h. mit der Bezeichnung no effects (keine Deckung) nach ihrem Ursprungsorte zurückzuwandern.

Vier Tage lang stürmten einerseits auf Stahlstadt, andererseits auf obige Bankfirma Bitten um Aufklärung, unruhige Telegramme und wüthende Anfragen haufenweise ein.

Endlich war aus Stahlstadt eine Antwort eingetroffen.

»Herr Schultze, so lautete das betreffende Telegramm, seit 17. September verschwunden. Niemand vermag diese geheimnißvolle Thatsache aufzuhellen. Er hat keine Ordres hinterlassen und die Abtheilungscassen sind leer.«

Von jetzt ab konnte die Wahrheit nicht mehr verheimlicht werden. Die Hauptgläubiger hatten Angst bekommen und ihre Papiere bei den Handelsgerichten deponirt. Binnen wenig Stunden verbreitete sich der Zusammensturz mit Blitzeseile und riß sein Gefolge von secundären Bankerotten nach sich. Am Mittag des 13. October belief sich die Summe der angemeldeten Forderungen auf 47,000.000 Dollars. Allem Anscheine nach betrugen die gesammten Passiva unter Hinzurechnung der kleineren Schulden nahe 60,000.000 Dollars.

Das war Alles, was man wußte und was die Journale, vielleicht noch mit einigen Übertreibungen, berichteten. Selbstverständlich stellten alle ohne Ausnahme für den folgenden Tag die verläßlichsten, eingehendsten Nachrichten in Aussicht.

Und wirklich hatte sich jede Zeitung in erster Stunde beeilt, ihre Correspondenten nach Stahlstadt auszuschicken.

Vom Abend des 14. October ab sah sich Stahlstadt plötzlich von einer ganzen Armee Berichterstatter mit geöffnetem Notizbuche und gespitztem Bleistifte in der Hand belagert. Wie eine Woge am Felsenufer brach sich diese Armee aber an der äußeren Umwallung des Riesen-Etablissements. Die Wachen bezogen daselbst ihre Posten nach wie vor, und die Reporter konnten alle möglichen Verführungsmittel versuchen, es gelang doch Keinem, jene pflichtvergessen zu machen.

Immerhin gelangten sie zu der Ueberzeugung, daß die Arbeiter nichts wußten und daß in deren betreffenden Section eine Veränderung nicht eingetreten sei. Die Werkmeister hatten jedoch am letzten Abend auf höheren Befehl mitgetheilt, daß in den Abtheilungscassen kein Geld mehr vorhanden, aus dem Centralblock auch weitere Instruction nicht eingegangen sei, in Folge dessen, außer bei Widerruf dieser Ankündigung, die Arbeiten am nächsten Sonnabend eingestellt werden würden.

Alles das trug mehr dazu bei, die Situation zu compliciren, als sie zu klären. Nur darüber war Niemand länger im Zweifel, daß Herr Schultze seit fast einem Monate verschwunden sei. Dagegen kannte Keiner den Grund dieses Verschwindens oder vermochte die endlichen Folgen zu übersehen. Trotz aller Beunruhigung herrschte doch immer noch das unbestimmte Gefühl, daß die mysteriöse Persönlichkeit jede Minute wieder erscheinen könne.

Im Laufe der ersten Tage nahmen die Arbeiten in den Werkstätten ihren Fortgang im gewohnten Tempo. Jedermann beschäftigte sich innerhalb seines beschränkten Gesichtskreises nur mit der eigenen Aufgabe. Die Abtheilungscassen hatten jeden Sonnabend die fälligen Löhne ausbezahlt. Die Hauptcassa deckte bisher die localen Bedürfnisse. In Stahlstadt war die Centralisation aber so sehr auf die Spitze getrieben, und hatte sich der Besitzer eine so ausnahmslose Aufsicht über den ganzen Geschäftsgang ganz allein vorbehalten, daß seine Abwesenheit schon nach kurzer Frist den nothwendigen Stillstand des ganzen Getriebes herbeiführen mußte. So kam es, daß seit dem 17. September, dem Tage, an welchem der Stahlkönig seine letzten Anordnungen unterzeichnete, bis zum 13. October, wo die Hiobspost der Zahlungseinstellung wie ein Donnerschlag eintraf, Tausende von Briefen – darunter unzweifelhaft viele mit beträchtlichen Geldsendungen – mit der Stahlstadter Post anlangten, im Briefkasten des Centralblocks abgegeben und jedenfalls auch in Herrn Schultze’s Arbeitszimmer befördert wurden, nur hatte er sich allein das Recht vorbehalten, sie zu eröffnen, mit einem Rothstiftstrich als erledigt zu bezeichnen und ihren Inhalt dem Hauptcassier auszuantworten.

Selbst die höchsten Beamten des Werkes hätten sich niemals unterfangen, über den bestimmten Kreis ihrer Thätigkeit hinauszugehen. Besaßen sie ihren Untergebenen gegenüber eine fast unbeschränkte Machtvollkommenheit, so glichen sie doch Herrn Schultze – und sogar dessen Erinnerung – gegenüber nur leblosen Werkzeugen ohne Autorität und Initiative. Jeder verschanzte sich hinter der Verantwortlichkeit seiner Stellung, hatte gewartet, aufgeschoben und die Ereignisse »kommen sehen«.

Endlich waren sie wirklich gekommen. Die eigenthümliche Lage verschleppte sich bis zu dem Zeitpunkte, wo die hauptsächlich interessirten und plötzlich erschreckten Geschäftsfreunde telegraphirten, Antwort begehrten, reclamirten, protestirten und endlich gesetzliche Schritte thaten. Hierzu entschloß man sich nicht allzu schnell. Keinem wollte es einleuchten, daß ein so weltbekanntes Vermögen wirklich auf thönernen Füßen ruhe. Jetzt freilich lag die Thatsache offen vor Augen: Herr Schultze hatte sich seinen Gläubigern durch die Flucht entzogen.

Das war Alles, was die Berichterstatter erfahren konnten. Selbst der berühmte Meiklejohn, dadurch bekannt, daß es ihm gelang, dem General Grant, dem schweigsamsten Manne unseres Jahrhunderts, politische Geständnisse abzulocken, und der unermüdliche Blunderbuß, weit bekannter als der Erste, der, ein einfacher Correspondent des »World«, dem Czar die große Neuigkeit von dem Falle Plewnas überbrachte, selbst diese Haupthelden des Reporterthums waren diesmal nicht glücklicher gewesen als ihre Genossen. Sie mußten eingestehen, daß weder die »Tribune« noch der »World« schon das letzte Wort bezüglich des Fallissements Schultze’s sprechen könnten.

Was dieses industrielle Unglück aber zu einem Ereigniß ohne Gleichen stempelte, das war die sonderbare Lage Stahlstadts als einer unabhängigen, gänzlich isolirten Ansiedlung, welche jedes regelrechte gesetzliche Eingreifen unthunlich machte. Freilich war die Unterschrift des Herrn Schultze in New-York protestirt worden und die Gläubiger desselben durften wohl voraussetzen, daß die durch das Werk selbst repräsentirten Activa zur Befriedigung ihrer Forderung ziemlich hinreichen würden. An welchen Gerichtshof aber sollten sie sich wenden, um eine Beschlagnahme oder die Stellung unter Sequester durchzusetzen? Stahlstadt bildete bis heute noch ein für sich bestehendes, nicht in den Staatsverband aufgenommenes Territorium, wo Alles nur Herrn Schultze gehörte und von ihm abhing. Wenn er nur wenigstens einen Repräsentanten, einen Verwaltungsrath oder einen Stellvertreter zurückgelassen hätte! Hier war aber nur er allein der König, der Oberrichter, der commandirende General, der Notar, der Sachwalter und das Handelstribunal seiner Stadt. In seiner Person verkörperte sich das Ideal der Centralisation. Sobald er fehlte, standen die Anderen dem einfachen Nichts gegenüber, und das ganze kolossale Gebäude stürzte wie ein Kartenhaus zusammen.

Unter allen anderen Verhältnissen hätten die Gläubiger ein Syndicat bilden, an die Stelle des Herrn Schultze treten, die Hand nach seinem Vermögen ausstrecken und sich der Leitung des Geschäftes bemächtigen können. Allem Anscheine nach würden sie sich überzeugt haben, daß es dem ganzen Räderwerke zum Fortgange nur augenblicklich an ein wenig Geld und einer regulirenden Triebkraft mangle.

Das blieben aber Alles fromme Wünsche. Es fehlte an dem Gesetze, diese Substitution durchzuführen. Man stand hier vor einer moralischen Sperre, welche sich vielleicht noch unübersteiglicher erwies als die rings um Stahlstadt aufgeworfenen Wälle. Die bedauernswerthen Gläubiger sahen die Deckung für ihre Forderungen vor Augen, aber ebenso die Unmöglichkeit, sich dieselbe anzueignen.

Es blieb ihnen nur der Ausweg, sich zu einer allgemeinen Versammlung zu vereinigen, ihre Angelegenheiten zu berathen und eine Eingabe an den Congreß zu richten mit dem Ersuchen, sich ihrer Sache anzunehmen, das Interesse der Staatsbürger zu sichern, Stahlstadts Einverleibung in den amerikanischen Bundesstaat auszusprechen und auf diese Weise jene monströse Schöpfung dem gemeinen Rechte civilisirter Länder unterzuordnen. Mehrere Kongreßmitglieder waren persönlich bei der Angelegenheit interessirt; das Gesuch hatte, von mehr als einem Gesichtspunkte aus, etwas Verführerisches für den amerikanischen Volkscharakter, und man durfte sich wohl der Hoffnung auf durchschlagenden Erfolg hingeben. Leider hielt der Congreß jetzt keine Sitzungen ab und es stand ein langer Aufschub bevor, ehe ihm die Angelegenheit unterbreitet werden konnte.

In Erwartung dieses Zeitpunktes stockte nun in Stahlstadt jede Thätigkeit und die Oefen erloschen einer nach dem anderen.

Unter der Bevölkerung von 10.000 Familien, welche von dem Werke lebten, herrschte natürlich eine nicht geringe Bestürzung. Was sollten die Leute aber beginnen? Die Arbeit fortsetzen in der Hoffnung auf eine spätere Ablöhnung, die vielleicht in sechs Monaten, vielleicht auch niemals erfolgen sollte? Niemand wußte Rath. Welche Arbeiten sollten wohl ausgeführt werden? Die Quelle der gewohnten Anordnungen war mit den übrigen versiegt. Herrn Schultze’s sämmtliche Clienten erwarteten, um ihre Verbindungen wieder aufzunehmen, die gesetzliche Regulirung. Die aller Befehle entbehrenden Abtheilungsvorsteher, die Ingenieure und Werkmeister konnten nichts vornehmen.

Nun gab es Versammlungen, Meetings, Verhandlungen, Vorschläge, aber es kam kein eigentlicher Plan zu Stande, weil das eben unmöglich war. Das allgemeine Feiern zog bald sein Gefolge von Elend, Verzweiflung und Verbrechen nach sich. Je nachdem sich die Werkstatt leerte, füllte sich das Wirthshaus. Für jede Esse, welche nicht mehr rauchte, sah man in der Nachbarschaft eine Schänke entstehen.

Die klügsten und vorsichtigsten Arbeiter, die, welche sich in Voraussicht schlimmerer Tage eine kleine Baarschaft zurückgelegt hatten, beeilten sich mit Waffen und Gepäck – mit dem Werkzeuge und den der Logiswirthin so an’s Herz gewachsenen Betten – zu entfliehen; bausbäckige Kinder jubelten voll Entzücken über den neuen Anblick der Welt, den sie durch die Thürfenster des Waggons genossen. Diese Leute zerstreuten sich nach allen Himmelsgegenden und hatten bald, der im Osten, jener im Süden, ein Dritter im Norden eine neue Werkstatt, einen anderen Ambos, einen neuen Herd gefunden …

Wie viele blieben aber für Einen, für Zehn, welche sich in dieser Weise helfen konnten, zurück, die das Elend an die Scholle fesselte! Da standen sie mit hohlem Auge und blutendem Herzen der bittersten Noth gegenüber!

Sie blieben, verkauften ihre wenigen Habseligkeiten an eine Horde Raubvögel in Menschengestalt, die instinctmäßig überall zusammenflattern, wo sie ein geschehenes Unglück wittern, griffen binnen wenigen Tagen schon zu den letzten Hilfsmitteln, standen bald da ohne Credit wie ohne Lohn, ohne Hoffnung wie ohne Arbeit, und sahen vor sich, dunkel wie der Winter, der nun bald beginnen sollte, nichts als eine Zukunft von Sorge und Elend!

Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Zwei Franzosen gegen eine Stadt

Als sich die Nachricht von Schultze’s Verschwinden in France-Ville verbreitete, war Marcel’s erstes Wort gewesen:

»Und wenn das nur eine Kriegslist wäre?«

Bei näherer Ueberlegung sagte er sich zwar, daß die Folgen einer derartigen Kriegslist für Stahlstadt hätten so verderblich sein müssen, daß eine gesunde Logik sie von vornherein verwerfen mußte. Dagegen erinnerte er sich auch, daß dem Haß die Ueberlegung zu mangeln pflegt und daß der tödtliche Haß eines Mannes, wie des Herrn Schultze, ihn wohl fähig machen konnte, seiner Leidenschaft Alles zum Opfer zu bringen. Doch wie dem auch sein mochte, jedenfalls mußte er auf seiner Hut bleiben.

Auf seinen Antrag erließ der Vertheidigungsrath auch eine Proclamation, in welcher die Bewohner ermahnt wurden, sich durch die vom Feinde zum Zwecke ihrer Einschläferung verbreiteten falschen Nachrichten in ihrer steten Wachsamkeit nicht beirren zu lassen.

Die mit verdoppeltem Eifer betriebenen Arbeiten und Kriegsübungen zeigten, welche Antwort France-Ville auf das bereit habe, was mit aller Gewalt nur ein absichtsloses Manöver des Herrn Schultze sein sollte. Die wahren oder falschen Einzelheiten aber, welche die Journale von San-Francisco, Chicago und New-York mittheilten, die finanziellen und commerziellen Folgen der Stahlstadter Katastrophe, all‘ dieses Ensemble unbegreiflicher, einzeln so unwichtiger, in ihrer Anhäufung so erdrückender Beweise ließen doch keinen Zweifel aufkommen.

Eines schönen Morgens jedoch erwachte die Stadt des Doctors wirklich und endgiltig gerettet wie ein Schläfer, der eines bösen Traumes schon durch das einfache Erwachen ledig wird. Ja! Jetzt war France-Ville wirklich und ohne Schwertstreich gänzlich außer Gefahr und verdankte diese frohe Botschaft Marcel, der dieselbe nach gewonnener eigener Ueberzeugung schnellstens durch alle ihm zu Gebote stehenden publicistischen Mittel verbreitete.

Da herrschte bald ein allgemeines Gefühl der Erlösung und der Freude, eine festliche Stimmung, als Alle erleichtert aufathmeten. Man drückte einander unter Glückwünschen die Hände und lud sich gegenseitig zu Tische ein. Die Frauen glänzten wieder in frischen Toiletten, die Männer nahmen sich einstweilen Urlaub von den Exercitien, Manövern und Arbeiten. Alle Welt fühlte sich gesichert, befriedigt, geistig erregt. Man hätte eine Stadt voll Wiedergenesener vor sich zu haben geglaubt.

Der Glücklichste von Allen war ohne Zweifel aber Doctor Sarrasin selbst. Der wackere Mann fühlte sich verantwortlich für das Wohlergehen Aller, die sich im Vertrauen auf ihn innerhalb seines Gebietes niedergelassen und unter seinen Schutz gestellt hatten. Schon seit einem vollen Monat ließ ihn die Furcht, Diejenigen in’s Verderben gelockt zu haben, deren Glück er ja nur zu befördern suchte, keinen Augenblick Ruhe finden. Endlich schwand dieser ungeheure Alp von seiner Brust und er konnte wieder frei aufathmen.

Die allgemeine Gefahr hatte die Bürger der Stadt jedoch nur noch mehr einander genähert. Alle Gesellschaftsclassen traten damit in innigere Beziehung zu einander; Jeder erkannte in dem Anderen den Bruder, der von den nämlichen Gefühlen beseelt, von dem gleichen Interesse beeinflußt war. Im Herzen jedes Einzelnen erwachte damit eine ganz neue Empfindung. Von jetzt ab besaßen die Einwohner France-Villes wirklich ein gemeinsames »Vaterland«. Man hatte für dasselbe gefürchtet, gelitten und war sich damit erst bewußt geworden, wie sehr man es liebte.

Die Stadt erzielte von dieser plötzlichen Versetzung in Vertheidigungszustand sogar gewisse materielle Erfolge. Man hatte seine Kräfte kennen gelernt und brauchte sie bei später vorkommender Gelegenheit nicht erst zu improvisiren. Mit einem Wort, man war seiner selbst sicherer geworden und in Zukunft für jeden Fall bereit.

Noch niemals hatte Doctor Sarrasin’s Schöpfung Gelegenheit gehabt, eine so glänzende Probe ihrer Lebensfähigkeit abzulegen. Man erwies sich auch – immerhin eine seltene Erscheinung – nicht unerkenntlich gegen Marcel. Obwohl die Rettung Aller jetzt nicht eigentlich sein Werk zu nennen war, so belohnte man den jungen Ingenieur, der die Vertheidigung organisirt und dessen Opferwilligkeit die Stadt vor dem völligen Untergange bewahrt hätte, im Falle Herrn Schultze’s böse Absichten in Erfüllung gingen, doch wenigstens durch den Ausdruck des öffentlichen Dankes.

Marcel selbst hielt seine Rolle indeß damit noch nicht für beendigt. Das Geheimniß, welches Stahlstadt jetzt verhüllte, konnte jeden Augenblick, so meinte er, eine neue Gefahr gebären. Er mochte sich nicht eher für befriedigt erklären, als bis er in das Dunkel, das jetzt über des Stahlkönigs Etablissement lagerte, volles Licht verbreitet sähe.

Deshalb beschloß er auch, nach Stahlstadt zurückzukehren und vor nichts zurückzuschrecken, bis er den Schlüssel zu diesem Räthsel fände.

Wohl machte ihm Doctor Sarrasin ernstliche Vorstellungen wegen der Schwierigkeiten, vielleicht auch der Gefahren dieses Beginnens, indem er sagte, jener liefe damit in den offenen Höllenschlund und bei jedem Schritte könne er in’s Verderben stürzen … Seiner eigenen früheren Schilderung nach war Herr Schultze nicht der Mann dazu, so lautlos vom Schauplatze abzutreten und sich allein unter den Trümmern seiner Hoffnungen zu begraben … Man werde nicht fehl gehen, auch den letzten Gedanken einer solchen Persönlichkeit zn fürchten – wie etwa den Hai im schrecklichen Kampfe mit dem Tode! …

»Eben weil ich selbst der Meinung bin, lieber Doctor, daß Alles, was Sie denken, möglich ist, halte ich es, für meine Pflicht, nach Stahlstadt zu gehen. Mir scheint es, als läge eine Bombe vor mir, deren Zünder zu entfernen, meine Aufgabe ist, und ich möchte Sie sogar um die Erlaubniß bitten, Octave mitnehmen zu dürfen.

– Octave! rief der Doctor.

– Ja wohl! Er ist jetzt ein wackerer Mann geworden, auf den man zählen kann, und ich versichere Sie, daß ihm der Spaziergang nur heilsam sein wird.

– So nehme Gott Euch Beide in seinen Schutz!« erwiderte der Greis, ihn gerührt in die Arme schließend.

Am folgenden Morgen setzte ein Wagen Marcel und Octave, nachdem sie durch die verlassenen Dörfer der Umgebung gefahren, vor dem äußeren Thore von Stahlstadt ab. Beide waren mit Waffen und allem Notwendigen reichlich versehen und entschlossen, nicht eher zurückzukehren, als bis sie das merkwürdige Geheimniß enträthselt hätten.

Nebeneinander gingen sie auf der Gürtelstraße hin, welche die Befestigungen umschloß, und hier überzeugte sich nun Marcel, der es bis dahin nicht hatte glauben wollen, daß die Werkstätten alle still standen.

Auf dem Wege, den er jetzt in finsterer Nacht, ohne einen Stern am Himmel, mit Octave dahin wanderte, hätte er früher beim Glanze des Gaslichtes das Blitzen des Bajonetts eines Wachpostens und tausend andere Zeichen rührigen Lebens gesehen. Da wären die erleuchteten Fenster der Sectoren erschienen, wie ebensoviele glühende Augen. Jetzt lag Alles düster und stumm vor ihm. Der Tod allein schien über der Cyklopenstadt zu schweben, deren hohe Schornsteine skeletartig zum Himmel emporragten. Marcel’s und seines Begleiters Schritte verhallten in der entsetzlichen Leere. Die Oede und Trostlosigkeit übten einen so unabwehrbaren Einfluß auf ihn aus, daß Octave sich nicht enthalten konnte, zu bemerken:

»Es ist eigenthümlich, aber ich habe noch nie ein so schauerliches Schweigen vernommen wie hier; wirklich, die Ruhe des Kirchhofs!«

Gegen sieben Uhr gelangten Marcel und Octave an den Rand des Wallgrabens, gegenüber dem Haupteingange von Stahlstadt. Kein lebendes Wesen zeigte sich auf der Zinne der Mauer, und von den Wachposten, welche sonst gleich Statuen in abgemessener Entfernung von einander standen, war keine Spur zu sehen. Zwischen der Straße und der aufgezogenen Thorbrücke gähnte aber der offene Graben in einer Breite von fünf bis sechs Metern.

Ueber eine Stunde verging, bis es gelang, eine Tauschlinge über einen Pfahl auf der anderen Seite zu werfen. Endlich glückte es Marcel nach vieler Mühe; Octave ergriff darauf das Seil und kletterte daran bis zum Dache des Thores empor. Marcel beförderte nun auf demselben Wege die Waffen nebst Munition hinüber und folgte endlich selbst nach.

Nun beeilten sie sich, das Tau an der anderen Seite der Mauer zu befestigen, alles »Zubehör« herabzulassen und dann auch auf den Erdboden hinunterzugleiten.

Jetzt befanden sie sich auf demselben Rundwege, dem Marcel sich erinnerte, bei seiner Ankunft in Stahlstadt gefolgt zu sein. Ueberall dieselbe Leere, dasselbe Todesschweigen. Schwarz und stumm erhob sich die imposante Masse von Gebäuden mit ihren tausend Fenstern, als wollten sie zu den Eindringlingen sagen:

»Nur vorwärts! … Jetzt liegen unsere Geheimnisse für Jeden offen, der sie nur ergründen will!«

Marcel und Octave überlegten einen Augenblick.

»Wir werden am besten auf die mir bekannte Pforte O zugehen!« meinte Marcel.

Sie wandten sich nach Westen und standen bald vor dem monumentalen Eingang, in dessen Bogen der Buchstabe O stand. Die beiden massiv-eichenen, mit tüchtigen Stahlnägeln verstärkten Thorflügel waren geschlossen. Marcel schlug wiederholt mit einem von der Straße aufgenommenen Pflasterstein kräftig daran.

Nur das Echo gab ihm Antwort.

»Nun denn, an’s Werk!« drängte Octave.

Von Neuem begannen jetzt die mühsamen Versuche, das Seil über den Eingang hinwegzuschleudern, bis es zufällig an irgend etwas fest genug haftete. Wohl war das schwierig. Endlich gelang es Marcel und Octave aber doch, die Mauer zu übersteigen, womit sie sich nun in der Achse des Sectors O befanden.

»Das wäre Alles recht gut, rief Octave, doch was erreichen wir damit? Nach glücklicher Ueberwindung einer Mauer stehen wir nur vor einer anderen!

– Ruhe im Gliede! erwiderte Marcel. Hier ist mein altes Atelier. Ich sehe es nicht ungern einmal wieder, auch finden sich dort bestimmt manche Werkzeuge und einige Dynamitpatronen, die uns noch zu statten kommen könnten.«

Es war das der große Gießsaal, in dem der junge Elsäßer bei seiner Anstellung Platz fand. Wie traurig sah er jetzt aus mit seinen erloschenen Oefen, den verrosteten Schienen und den bestäubten Krahnen, welche, ebenso vielen Galgen ähnlich, ihre leeren Arme in die Luft ausstreckten! Der Anblick machte einen so frostigen Eindruck, daß Marcel das Bedürfniß einer Abwechslung empfand.

»Komm‘, hier ist ein Atelier, daß Dich mehr interessiren wird!« sagte er zu Octave, den Weg zum Speisehaus einschlagend.

Octave antwortete mit einem Kopfnicken, das seiner Zustimmung, bald aber sogar seiner Befriedigung Ausdruck gab, als er auf einem Holzgestelle ein ganzes Regiment rother, gelber und grüner Flaschen in Schlachtordnung aufgestellt fand. In verschiedenen Kästen mit Conserven sah man auch die bekannten Weißblechdosen mit vielversprechenden Aufschriften, Kurz, hier fand sich Alles beisammen zu einem Frühstück, nach dem man allmälig Verlangen spürte. Schnell wurde nun ein köstliches Essen bereitet, das die beiden jungen Leute zur Fortsetzung ihres Wagnisses stärkte.

Marcel überlegte dabei immer, was jetzt zu beginnen sei. An ein Ersteigen der Umfassungsmauer des Centralblocks war von vornherein nicht zu denken. Diese Mauer ragte viel zu hoch empor und stand zu isolirt von jedem anderen Gebäude, hatte auch nirgends einen Vorsprung zum Befestigen eines Seiles. Um zu deren Thore – jedenfalls dem einzig vorhandenen – zu gelangen, hätte man durch alle Sectoren vordringen müssen, und das wäre keine so leichte Arbeit gewesen. Nun blieb nur die immerhin etwas gewagte Anwendung von Dynamit übrig, denn es erschien fast undenkbar, daß Herr Schultze vor seinem Verschwinden nicht Gegenminen gegen diejenigen angebracht haben sollte, welche von denen, die Stahlstadt zu überwältigen suchen möchten, wahrscheinlich gelegt würden. Doch Alles das war nicht im Stande, Marcel auf sein Vorhaben verzichten zu lassen.

Als Octave sich gestärkt und genügend ausgeruht hatte, ging er mit ihm bis zum Ende der Achsenstraße des Sectors O und bis zum Fuße der gewaltigen Granitmauer.

»Was meinst Du zu einem Minengang hier d’runten? fragte er.

– Das wird ein hartes Stück Arbeit geben, doch wir sind ja keine Müßiggänger!« antwortete Octave, bereit zu jedem Versuche.

Die Arbeit begann. Erst mußte der Grund der Mauer bloßgelegt und ein eiserner Hebel in den Spalt zwischen zwei Bruchsteine eingetrieben werden, um einen derselben auszubrechen; nachher wurden mittelst eines Bohrers mehrere kleine, parallele Löcher hergestellt. Gegen zehn Uhr war die Arbeit vollbracht; die Dynamitpatronen lagen an ihrer Stelle und die Lunte ward entzündet.

Marcel kannte ihre Brenndauer von fünf Minuten, und da er wußte, daß sich unter dem Speisehause ein gewölbter Keller befand, flüchtete er mit Octave einstweilen in diesen Raum.

Plötzlich erzitterte das Gebäude sammt dem Keller wie von einem Erdbeben. Gleich darnach erschütterte die Luft ein entsetzliches Krachen, so als hätten drei bis vier ganze Batterien mit einem Male gefeuert. Nach weiteren zwei bis drei Secunden stürzte eine ganze Lawine nach allen Seiten verstreuter Sprengstücke zur Erde.

Eine Zeit lang hörte man nichts als das Dröhnen zusammenbrechender Dächer, krachenden Balkenwerks, einstürzender Mauern und dazwischen das Klirren zerspringender Fensterscheiben.

Endlich ward es wieder still. Octave und Marcel verließen ihren Schlupfwinkel.

Trotz seines Vertrautseins mit den Wirkungen explosiver Stoffe, erstaunte Marcel doch nicht wenig über die angerichtete Verheerung. Die Hälfte des Sectors war gesprengt und die abgerissenen Mauern aller in der Nähe des Centralblocks befindlichen Werkstätten glichen mehr einer bombardirten Stadt. Ueberall lagen die Trümmer umher, Glasscherben und Metallplatten bedeckten den Boden, während ganze Wolken von Staub, welche über der Stelle der Explosion langsam aus der Luft herniedersanken, sich schneeähnlich über die Ruine ablagerten.

Marcel und Octave eilten nach der inneren Mauer. Auch diese zeigte sich in einer Breite von fünfzehn bis zwanzig Meter zerstört, und auf der anderen Seite der Bresche sah der frühere Zeichner des Centralblocks nun den ihm wohlbekannten Hof, in dem er so viele eintönige Stunden verbracht hatte.

Da dieser Hof jetzt unbewacht war, konnte man das ihn umschließende Eisengitter ohne Schwierigkeit übersteigen, was denn auch bald geschah.

Ueberall dieselbe Grabesstille.

Marcel schritt durch die Säle, wo die Kameraden früher seine Entwürfe bewundert hatten. In einer Ecke fand er auch die halbvollendete Zeichnung zu einer Dampfmaschine wieder, an der er eben arbeitete, als Herr Schultze ihn damals in den Park abrufen ließ. Im Lesesaale lagen die Zeitungen neben den gewöhnlich benützten Büchern.

Alle Gegenstände hier verriethen eine plötzlich aufgehobene Bewegung, eine schroff unterbrochene Thätigkeit.

Die jungen Leute gelangten zur inneren Grenze des Centralblocks und befanden sich bald an der Mauer, welche sie, Marcel’s Meinung nach, von dem Parke noch trennte.

»Werden wir auch diese Bruchsteine noch springen lassen müssen? fragte ihn Octave.

– Vielleicht … Doch um hindurch zu gelangen, können wir zunächst die Thüre aufsuchen, welche schon eine einfache Rakete in die Luft jagt.«

Beide gingen nun längs der Mauer um den Park herum. Von Zeit zu Zeit waren sie zu Umwegen genöthigt durch eine spornartig hervortretende Gruppe von Gebäuden, oder mußten sie auch Gitterthore überklettern. Sie verloren jene dabei aber nie aus den Augen uud sahen ihre Anstrengungen denn auch bald belohnt. Eine kleine schiefe Thür kam in der Mauer zum Vorschein.

Binnen zwei Minuten hatte Octave mittelst eines Handbohrers ein kleines Loch durch die Eichenplanken gebohrt. Marcel sah, als er das Auge an die Oeffnung legte, daß sich auf der anderen Seite der prächtige tropische Park mit ewigem Grün und lauer Frühlingsluft ausbreitete.

»Noch eine Thür zu sprengen und wir sind zur Stelle, sagte er zu seinem Begleiter.

– Eine Rakete für ein Holzbrett, antwortete Octave, das wäre zu viel Ehre!«

Er begann die Pforte also mit kräftigen Axtschlägen zu bearbeiten.

Kaum hatte er daran geschlagen, als er im Innern das Schloß von einem Schlüssel klirren und zwei Riegel zurückschieben hörte.

Die inwendig durch eine starke Kette gehaltene Thür öffnete sich ein wenig.

»Wer da?« rief eine rauhe Stimme heraus.

Siebzehntes Capitel.


Siebzehntes Capitel.

Erklärungen mit Pulver und Blei

Die jungen Leute erwarteten gewiß nichts weniger als diese Frage. Sie verwunderten sich darüber fast mehr, als sie etwa ein Gewehrschuß erschreckt hätte.

Von allen Hypothesen, die Marcel bezüglich dieser in Todtenschlaf versenkten Stadt durch den Kopf gingen, hatte er die eine allerdings nicht aufgestellt, daß ihn Jemand ganz ruhig fragen würde, was er hier suche. Sein Unternehmen, das ganz erklärlich erschien, wenn man Stahlstadt als verlassen ansah, gewann ein ganz anderes Aussehen, wenn jenes noch Bewohner hatte. Was im ersten Falle für eine Art archäologischer Untersuchung gelten konnte, wurde im zweiten zum bewaffneten Ueberfalle gemeiner Einbrecher.

Diese Gedanken stürmten zuerst so sehr auf Marcel ein, daß er sprachlos stehen blieb.

»Wer da?« wiederholte die Stimme etwas ungeduldig.

Diese Ungeduld war gewiß ganz am Platze. Wer so vielerlei Hindernisse überwunden, um zu dieser Thüre zu gelangen, dabei Mauern erklettert und ganze Stadttheile in die Luft gesprengt hatte, ohne hier auf die einfache Frage nach dem Zwecke seines Erscheinens Antwort geben zu können, der mußte damit wohl einige Verwunderung erregen.

Eine halbe Minute reichte für Marcel hin, um sich über die Schiefheit seiner Lage klar zu werden, und er antwortete sofort:

»Freund oder Feind, wie Ihr wollt. Ich will Herrn Schultze sprechen.«

Kaum verhallten diese Worte, als er durch die halbgeöffnete Thür einen Aufschrei des Erstaunens hörte.

»Ah!« klang es durch dieselbe heraus.

Marcel konnte dabei durch den Thürspalt ein Stückchen rothen Backenbart, einen struppigen Schnurrbart und ein glotzendes Auge bemerken. An Allem erkannte er Sigimer, seinen früheren Wächter.

»Johann Schwartz, rief der Riese, halb entsetzt und halb erfreut. Johann Schwartz!«

Das unerwartete Wiedererscheinen seines Gefangenen schien ihn nicht weniger Wunder zu nehmen, als dessen geheimnißvolles Verschwinden.

»Kann ich Herrn Schultze sprechen?« wiederholte Marcel, da er keine andere Antwort erhielt als jenen Ansruf.

Sigimer schüttelte den Kopf.

»Keinen Befehl! sagte er. Ohne solchen hier nicht eintreten!

– Können Sie Herrn Schultze wenigstens wissen lassen, daß ich hier bin und ihn zu sprechen wünsche?

– Herr Schultze nicht hier. Herr Schultze abgereist! erwiderte der Riese mit einem Anflug von Bedauern.

– Doch wo ist er? Wann kehrt er zurück?

– Weiß nicht! Wache nicht abgelöst. Niemand eintreten ohne Befehl!«

Diese abgerissenen Sätze waren Alles, was Marcel aus Sigimer herauslocken konnte, der allen weiteren Fragen ein halsstarriges Schweigen entgegensetzte.

»Weshalb sollen wir hier länger um die Erlaubniß zum Eintreten bitten? sagte er. Wir nehmen sie uns ganz einfach!«

Er stemmte sich gegen die Thür, um sie mit Gewalt zu öffnen. Indeß, die Kette widerstand und ein dem seinigen überlegener Druck hatte bald den Flügel zugeschlagen, hinter dem man die beiden Riegel vorschieben hörte.

»Hinter dem Brette muß mehr als Einer stecken!« sagte Octave beschämt über diesen Ausgang.

Er legte das Auge an das Bohrloch und rief plötzlich erstaunt:

»Da ist noch ein zweiter Riese!

– Etwa Arminius?« antwortete Marcel. Nun blickte auch er durch die enge Oeffnung. »Richtig, das ist Arminius, Sigimer’s Kamerad!«

Plötzlich veranlaßte eine andere, scheinbar vom Himmel herabtönende Stimme Marcel, den Kopf zu heben.

»Wer da?« rief diese Stimme.

Diesmal war es die Arminius‘.

Der Kopf des Wächters erschien über der Mauer, die jener mit Hilfe einer Leiter erstiegen haben mochte. »Das wißt Ihr ja längst recht gut, Arminius! entgegnete Marcel, Nun vorwärts! Wollt Ihr öffnen oder nicht?«

Noch hatte er den Satz nicht vollendet, als eine Gewehrmündung über der Mauerzinne erschien. Sofort krachte ein Schuß und eine Kugel streifte die Hutkrämpe Octave’s.

»Warte, Dir will ich Antwort geben!« rief Marcel, der eine Dynamitpatrone unter die Thür steckte und sie in Stücken sprengte.

Nach geöffneter Bresche drangen Octave und Marcel, den Karabiner in der Faust und das Messer zwischen den Zähnen, in den Park ein.

An einem durch die Explosion zerrissenen Stück der Mauer, durch welche sie eben gelangten, lehnte noch eine Leiter, an deren Fuße sich Blutspuren zeigten. Aber weder Sigimer noch Arminius waren sichtbar, um den Eingang zu vertheidigen.

Vor den Blicken der beiden Angreifer lagen die Gärten in der ganzen Pracht ihrer Vegetation. Octave war entzückt.

»O wie herrlich! rief er. Doch Achtung! … Gehen wir als Tirailleure vor … Diese Sauerkrautfresser könnten hinter irgend einem Busche versteckt liegen!«

Octave und Marcel trennten sich und eilten Jeder nach einer Seite der vor ihnen liegenden Allee, wo sie nach den Grundprincipien der Strategie für den Einzelkampf vorsichtig von Baum zu Baum, von Deckung zu Deckung weiter vordrangen.

Bald erwies sich der Nutzen dieser Maßregel. Kaum hatten sie hundert Schritte zurückgelegt, als ein zweiter Schuß krachte. Eine Kugel sprengte die Rinde des von Marcel eben verlassenen Baumes ab.

»Keine Dummheiten! … Lang auf die Erde!« rief Octave halblaut.

Er folgte selbst sogleich seinem Befehle und kroch auf Knieen und Ellbogen bis zu einem Dornenbusch am Rande des Rundtheiles, in dessen Mitte der Stierthurm sich erhob. Marcel, der jener Mahnung nicht sofort gefolgt war, erhielt noch einen dritten Schuß und konnte sich nur hinter den Stamm einer Palme werfen, um einem vierten zu entgehen.

»Zum Glück schießen die Kerle wie Recruten! rief Octave seinem etwa dreißig Schritte entfernten Begleiter zu.

– Still! antwortete Marcel mit den Augen wie mit den Lippen. Siehst Du den Rauch dort aus dem Fenster des Erdgeschosses? … Dort haben sich die Banditen versteckt! … Nun werde ich ihnen aber nach meiner Art aufspielen!«

Im Augenblicke hatte Marcel auch einen ziemlich langen Pfahl hinter dem nächsten Busche herausgerissen; dann warf er seine Jacke ab, diese über das Holz, setzte seinen Hut darüber und stellte eine Vogelscheuche her. Darauf stellte er das Ganze so auf den von ihm eingenommenen Platz, daß Hut und Aermel sichtbar blieben, glitt zu Octave hinüber und raunte diesem in’s Ohr:

»Jetzt beschäftige die Beiden dadurch, daß Du einmal von hier und einmal von meinem Platze aus nach dem Fenster feuerst. Ich werde ihnen in den Rücken fallen!«

Marcel ließ nun Octave schießen und glitt selbst durch das dichte Gebüsch auf dem Rundbeete des Thurmes.

Eine Viertelstunde verging, während der wohl zwanzig Kugeln erfolglos gewechselt wurden.

Marcel’s Jacke und Hut waren buchstäblich wie ein Sieb durchlöchert, er selbst hatte natürlich keinen Schaden dabei gelitten. Die Jalousien des Erdgeschoßfensters hatte Octave seinerseits in Stücke geschossen.

Plötzlich schwieg das Feuer und Octave hörte eine halberstickte Stimme rufen:

»Zu Hilfe! … Ich hab‘ ihn fest! …«

Sein Versteck zu verlassen, ohne Deckung über das Rundbeet zu eilen und das Fenster zu erklettern, das war für Octave nur das Werk einer halben Minute. Gleich darauf sprang er in den Raum hinab.

Wie zwei Schlangen um einander gewunden, lagen Marcel und Sigimer in verzweifeltem Ringen am Boden. Ueberrascht von dem urplötzlichen Angriffe des Feindes, der eine Thür hinter ihm unversehens geöffnet hatte, konnte der Riese von den Waffen keinen Gebrauch machen. Seine herkulische Stärke machte ihn aber trotzdem zu einem furchtbaren Gegner, und obwohl zur Erde geworfen, hoffte er doch immer noch, die Oberhand zu gewinnen. Marcel seinerseits entwickelte ganz außerordentliche Kraft und Gewandtheit.

Der Kampf mußte nothwendiger Weise mit dem Tode des einen der beiden Ringenden enden, wenn Octave’s Dazwischentreten nicht einen minder tragischen Ausgang herbeigeführt hätte. Von zwei Paar Armen gepackt und entwaffnet, ward Sigimer gefesselt, daß er sich nicht rühren konnte.

»Und der Andere?« fragte Octave.

Marcel wies nach dem anderen Ende des Raumes, wo Arminius über und über blutig auf einem Sopha ausgestreckt lag.

»Hat er eine Kugel bekommen? fragte Marcel.

»Ja!« bestätigte Octave.

Marcel trat an Arminius heran.

»Er ist todt! sagte er.

– Meiner Treu‘, er hat’s verdient, bemerkte Octave.

– Nun sind wir Herren des Platzes, rief Marcel. Jetzt laß uns eine sorgfältige Untersuchung vornehmen. Zuerst Herrn Schultze’s Cabinet!«

Von dem Wartezimmer aus, wo sich der letzte ernsthafteste Act abspielte, folgten die beiden jungen Leute nun der Reihe von Zimmern, die zum Allerheiligsten des Stahlkönigs führte.

Octave staunte über alle die Wunder, welche ihm entgegentraten.

Marcel lächelte nur und öffnete nach und nach alle Thüren bis zu dem grün und goldenen Salon.

Er erwartete wohl, hier etwas Neues zu finden, doch nimmermehr ein so eigenthümliches Bild, wie es sich jetzt seinen Blicken bot. Man hätte meinen sollen, das Central-Postamt von New-York oder Paris wäre geplündert worden und man hätte Alles bunt durcheinander in diesen Salon geworfen. Allüberall lagen Briefe, versiegelte Packete auf dem Schreibtisch, auf allen Möbeln und dem Fußboden umher. Bis an’s Knie versank man in dieser Ueberschwemmung. Die ganze, alle Geld-Angelegenheiten, die Fabrik oder auch nur die eigene Person des Herrn Schultze betreffende Correspondenz, die sich tagtäglich in dem Briefkasten an der Parkmauer angesammelt hatte, war von Arminius und Sigimer getreulich hierher gebracht worden und füllte nun das Privatcabinet des Herrn.

Wie viele Anfragen, Schmerzen, ängstliche Erwartung, Elend und Thränen mochten diese stummen, kleinen Papiere mit der Adresse des Herrn Schultze wohl verbergen! Wie viele Millionen auch in Papiergeld, Wechseln, Anweisungen und Rechnungen aller Art! … Alles das schlief jetzt gleichsam bewegungslos wegen der Abwesenheit der einzigen Hand, welcher das Recht zustand, diese schwachen und doch unverletzlichen Hüllen zu lösen.

»Es handelt sich nun darum, sagte Marcel, die verborgene Thür zum Laboratorium aufzufinden!«

Er begann also die Bücher der reichhaltigen Bibliothek wegzuräumen. Vergebens. Es gelang ihm nicht, den geheimen Eingang, den er früher in Begleitung des Herrn Schultze passirt hatte, wieder aufzufinden. Fruchtlos rüttelte er an allen Gestellen und sprengte sie mit einer aus dem Kamine entnommenen Eisenstange los. Vergeblich klopfte er an die Mauer, um irgendwo einen hohlen Klang zu vernehmen. Offenbar hatte Schultze im Bewußtsein, nicht mehr der einzige Kenner jener Thür zu seinem Laboratorium zu sein, dieselbe überhaupt beseitigt,

Nothwendiger Weise mußte er dafür aber eine andere hergestellt haben.

»Aber wo? fragte sich Marcel. Es kann nur hier sein, da Arminius und Sigimer die Briefschaften in diesen Raum beförderten. In diesem Salon muß Herr Schultze sich auch nach meinem Weggange aufgehalten haben. Ich kenne seine Gewohnheiten gut genug, um zu wissen, daß er nach Vermauerung des alten Zuganges einen anderen in unmittelbarer Nahe und geschützt vor indiscreten Blicken haben mußte … Sollte sich unter dem Teppich eine Fallthüre befinden?«

Der Teppich erwies sich als unverletzt. Man hatte ihn auch nicht vom Boden abgelöst und aufgenommen. Das Tafel für Tafel untersuchte Parquet zeigte ebenfalls nichts Verdächtiges.

»Wer sagt Dir, daß sich die Oeffnung in diesem Raume befindet? fragte Octave.

– Ich bin davon überzeugt! erwiderte Marcel.

– Dann bleibt mir nichts übrig, als die Decke zu untersuchen!« antwortete Octave auf einen Stuhl steigend.

Er beabsichtigte, den Kronleuchter zu erklettern und die Rosette um denselben mit Kolbenstößen zu untersuchen. Kaum hing indeß Octave an dem vergoldeten Leuchter, als er denselben zu seinem höchsten Erstaunen herabsinken sah. Ein Stück der Decke folgte nach und ließ eine gähnende Oeffnung zurück, aus welcher eine leichte stählerne Leiter bis zum Parquet herabglitt.

Das Ganze sah aus wie eine Einladung zum Hinaufsteigen.

»Aha, da haben wir’s ja!« sagte Marcel gelassen, und schwang sich, sein Genosse dicht hinter ihm, auf die Leiter.

Achtzehntes Capitel.


Achtzehntes Capitel.

Des Räthsels Lösung.

Die oberste Stufe der schwachen Leiter reichte bis zum Fußboden eines geräumigen, kreisrunden, nach allen Seiten abgeschlossenen Saales, der ohne einen blendend weißen, durch ein Rundfenster im Fußboden heraufströmenden Lichtglanz vollkommen finster gewesen wäre. Jene Glasscheibe glich etwa dem Monde, wenn er, in Opposition zur Sonne stehend, in vollster Klarheit leuchtet.

Das tiefste Schweigen herrschte zwischen den dunklen starken Mauern. Die beiden jungen Männer glaubten im Vorraume einer Todtengruft zu wandeln.

Marcel zauderte unwillkürlich einen Augenblick, bevor er sich über die glänzende Scheibe beugte. Er nahte sich endlich seinem Ziele. Hier mußte sich, das sagte ihm eine untrügliche Ahnung, das Geheimniß, welches unheimlich über Stahlstadt lagerte, endlich vor seinen Augen offenbaren!

Bald hatte er jedoch dieses erklärliche Zögern überwunden. Octave und er knieten neben dem Glase nieder und neigten den Kopf darüber, so daß sie den unter ihnen befindlichen Raum nach allen Seiten übersehen konnten.

Da bot sich ihren Blicken ein ebenso entsetzliches als unerwartetes Bild.

Die auf beiden Seiten schwach convexe, also einer Linse ähnliche Scheibe vergrößerte alle durch dieselbe gesehenen Gegenstände ganz gewaltig.

Hier lag nun Herrn Schultze’s geheimes Laboratorium offen vor ihnen. Das intensive Licht, welches wie aus der Laterne eines Leuchtthurmes durch die Glaslinse strahlte, rührte von einer doppelten elektrischen Lampe her, die in ihrer luftleeren Glocke noch immer fortbrannte, da sie ein mächtiger galvanischer Strom ununterbrochen ernährte. Mitten in dem Zimmer und in blendendem Glanze saß, durch die Strahlenbrechung der Linse enorm vergrößert – ähnlich einer Sphinx aus der lybischen Wüste – eine regungslose menschliche Gestalt.

Ringsumher bedeckten Sprengstücke eines Geschosses den Boden.

Hier war kein Zweifel möglich! … Da saß Herr Schultze, noch immer erkennbar an dem schrecklichen Hohnlachen um den Mund, wie an den weißen Zähnen, aber Schultze in Riesengestalt, den die Explosion einer seiner furchtbaren Mordwaffen gleichzeitig erstickt und durch eine entsetzliche Kälte versteinert hatte.

Der Stahlkönig beugte sich ein wenig über seinen Tisch, mit einer Riesenfeder, welche mehr einer Lanze gleichkam, in der Hand, und schien noch zu schreiben. Ohne den stieren Blick seiner erweiterten Pupillen und die Unbeweglichkeit seines Mundes hätte man ihn wohl für lebend halten können. Wie die Mammuths, welche man zuweilen im Eise der Polarländer findet, ruhte diese Leiche hier, seit einem Monat jedem menschlichen Auge entrückt. Neben derselben befand sich noch Alles in gefrornem Zustande, die Reagentien in den Probirgläsern, das Wasser in den Recipienten, das Quecksilber in den Thermometerkugeln.

Trotz seines Entsetzens über diesen Anblick fühlte Marcel doch eine gewisse Befriedigung, daß es ihm vergönnt gewesen war, das Innere dieses Laboratoriums schon von außen haben übersehen zu können, denn im anderen Falle würden Octave und er gewiß ebenfalls von einem plötzlichen Tode überrascht worden sein.

Wie konnte sich aber dieser fürchterliche Zufall überhaupt ereignen? Marcel errieth das sehr bald, als er erkannte, daß die auf dem Fußboden verstreuten Sprengstücke des Geschosses aus kleinen Glasscherben bestanden. Die innere Umhüllung, welche die flüssige Kohlensäure in den erstickenden Geschossen des Herrn Schultze enthielt, bestand mit Rücksicht auf den furchtbaren Druck, die sie auszuhalten hatte, aus sogenanntem gehärteten Glase, ein Product, das die Widerstandsfähigkeit des gewöhnlichen Glases wohl um das Zehn- und Zwölffache übertraf. Jenes nur erst kurze Zeit bekannte Erzeugniß leidet aber an einem bisher noch nicht völlig erklärten Fehler, dem nämlich, daß es, wahrscheinlich in Folge irgend einer Molekularveränderung seiner Substanz, manchmal ohne jeden nachweisbaren Grund scheinbar von selbst explodirt. Vielleicht mochte auch der ungeheure innere Druck dazu beigetragen haben, das in des Stahlkönigs Laboratorium gebrachte Geschoß zu zersprengen. Die plötzlich befreite Kohlensäure erzeugte dann, streng nach physikalischen Gesetzen, indem sie wieder in Gasform überging, eine unerträgliche Erniedrigung der umgebenden Temperatur.

Auf jeden Fall mußte die Wirkung dieses Unfalles eine wahrhaft blitzartige sein. Herrn Schultze überraschte der Tod in derselben Stellung, die er im Momente der Explosion inne hatte, indem er durch eine Kälte von über hundert Grad unter Null sofort mumificirt wurde.

Marcel’s Aufmerksamkeit erregte jetzt aber besonders die Wahrnehmung, daß der König von Stahlstadt mitten im Schreiben den Tod gefunden hatte.

Was mochte er wohl dem Papier mit jener Feder, die er noch immer in der Hand hielt, anvertraut haben? Es hätte gewiß die Neugier eines Jeden gereizt, den letzten Gedanken, die letzten Worte eines so eigenartigen Mannes zu erfahren.

Wie konnte man aber zu jenem Papiere gelangen? Zunächst war überhaupt nicht daran zu denken, durch Zerdrücken der Glaslinse sich Eingang in das Laboratorium selbst zu verschaffen. Die darin unter gewaltigem Drucke eingeschlossene Kohlensäure wäre unzweifelhaft nach außen entwichen und hätte jedes lebende Wesen umhüllt und rasch erstickt. Auf diese Weise wäre man also nur einem gewissen Tode entgegen gegangen und offenbar stand die Gefahr in keinem Verhältnis zu den Vortheilen, welche der Besitz jenes Papieres versprach.

Erschien es nun so gut wie unmöglich, Herrn Schultze’s Leichnam die letzten von seiner Hand geschriebenen Zeilen zu entreißen, so konnte man dieselben vielleicht von außen entziffern, da sie durch die Strahlenbrechung der Linse vergrößert erschienen und von dem mächtigen Scheine der zwei elektrischen Lampen tageshell erleuchtet waren.

Marcel kannte ja Herrn Schultze’s Handschrift und nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm wirklich, die folgenden Zeilen zu enträthseln.

So wie Alles, was Herr Schultze aufzeichnete, enthielten auch diese mehr einen Befehl als etwa eine Instruction.

»Ordre an B. K. R. Z., binnen vierzehn Tagen mit der gegen France-Ville ausgerüsteten Expedition aufzubrechen. – Gleich nach Empfang dieser Ordre die von mir vorbereiteten Maßregeln zur Ausführung zu bringen. – Das diesmalige Experiment muß vernichtend und vollständig wirken. – Aendern Sie kein Jota an meinen Anordnungen. – Ich will, daß France-Ville nach vierzehn Tagen eine todte Stadt und kein Bewohner derselben am Leben sei. – Ich brauche ein modernes Pompeji und will damit Schrecken und Bestürzung über die ganze Welt verbreiten. – Wenn mein Befehl richtig ausgeführt wird, so wird dieser Erfolg unzweifelhaft erreicht.

– Die Leichen des Doctor Sarrasin und Marcel Bruckmann werden Sie hierher senden. – Ich will Sie sehen und besitzen.

– Schultz …«

Die Unterschrift war unvollendet; das »e.« am Ende und der gewöhnliche Zug unter dem Namen fehlten noch.

Stumm und regungslos standen Marcel und Octave eine Zeit lang diesem fremdartigen Anblick gegenüber, die entsetzten Zeugen der Berufung eines bösen Geistes vor das ewige Gericht, eines Geistes, dessen Bestrebungen sich in unerhört phantastischen Regionen verloren.

Endlich mußten sie sich doch dieser traurigen Scene entreißen. Tief im Innern erregt, verließen die beiden Freunde den Saal über dem unheimlichen Laboratorium.

In diesem Grabe, in dem vollkommene Dunkelheit herrschen mußte, wenn die Lampen nach dem Aufhören des elektrischen Stromes verlöschten, sollte also der Leichnam des Stahlkönigs allein ruhen, erstarrt und vertrocknet wie eine Mumie aus der Pharaonenzeit, welche auch zwanzig Jahrhunderte noch nicht zu Staub zu verwandeln vermochten …

Eine Stunde später, und nachdem sie auch Sigimer, der sich über die wiedergeschenkte Freiheit herzlich befriedigt zeigte, wieder losgebunden, eilten Octave und Marcel aus Stahlstadt hinweg und schlugen den Weg nach France-Ville ein, wo sie am Abend glücklich anlangten.

Doctor Sarrasin arbeitete eben in seinem Cabinet, als man ihm die Rückkehr der beiden jungen Leute meldete.

»Laßt sie herein, rief er, schnell herein!«

Sein erstes Wort, als er der Beiden ansichtig wurde, war:

»Nun?

– Die Nachrichten, welche wir von Stahlstadt bringen, Herr Doctor, begann Marcel, sind derart, daß sie uns für lange Zeit Ruhe sichern. Herr Schultze ist nicht mehr! Herr Schultze ist todt!

– Todt!« rief Doctor Sarrasin.

Nachdenklich und ohne ein Wort zu sprechen, stand der gute Doctor eine Weile vor Marcel.

»Mein Kind, sagte er darauf mit weicher Stimme, begreifst Du, daß diese Neuigkeit, welche mich erfreuen sollte, da sie uns von dem befreit, was ich am meisten verabscheue, von dem Kriege und noch dazu von dem ungerechtesten, grundlosesten Kriege, begreifst Du, daß sie mir im Gegentheil recht nahe geht? Warum mußte dieser Mann mit so hervorragenden Geistesgaben unser Feind sein? Warum widmete er seine so seltenen Eigenschaften nicht dem Wohle seiner Mitmenschen? Wie viel Kraft wurde hier verschwendet, welche so nutzbringend hätte verwendet werden können, wenn sie sich mit der unsrigen zum Heile der Allgemeinheit verband! Sieh, das kam mir zuerst in den Sinn, als Du sagtest: »Herr Schultze ist todt!« Doch, nun erzähle, mein Freund, was Du von dessen unerwartetem Ende weißt.

– Herr Schultze fand seinen Tod, berichtete Marcel, in dem geheimnißvollen Laboratorium, das er mit diabolischer Schlauheit so eingerichtet hatte, daß während seines Lebens kein Anderer dahin zu dringen vermochte. Kein Mensch kannte dessen Vorhandensein, und folglich war es auch unmöglich, daß ihm Jemand hätte zu Hilfe eilen können. Er fiel als das Opfer der unerhörten Concentration aller Kräfte in seiner Hand, auf die er so großen Werth legte, um allein der Schlüssel seiner ganzen Schöpfung zu sein, dieser Concentration, welche sich zu der von Gott bestimmten Stunde gegen ihn und sein Werk selbst kehrte!

– Das konnte nicht anders kommen, antwortete Doctor Sarrasin. Herr Schultze ging von völlig falschen Voraussetzungen aus. Die beste Regierung ist doch offenbar nur diejenige, deren Leiter nach seinem Tode leicht durch einen anderen ersetzt werden kann, und welche ungestört fortarbeitet, weil es in deren Räderwerk kein Geheimniß giebt.

– Sie werden sehen, Herr Doctor, bemerkte Marcel, daß das, was in Stahlstadt geschehen ist, den schlagendsten Beweis für diese ihre Worte bilden wird. Ich sah Herrn Schultze oft genug vor seinem Schreibtische, dem Centralpunkt, von dem alle Befehle ausgingen, denen Stahlstadt gehorchte, ohne daß dabei je ein anderer Mensch zu Rathe gezogen worden wäre. Auch der Tod überraschte ihn in seiner gewohnten Beschäftigung, so daß er noch alle Kennzeichen des Lebens hatte und ich jeden Augenblick erwartete, das Gespenst mich anreden zu hören! … Der Erfinder ist aber als Märtyrer seiner Erfindung gefallen! Vernichtet durch eines jener Geschosse, mit dem er unsere Stadt verderben wollte. Die Waffe zerbrach in seiner Hand, als er beim letzten Worte des Befehls zum Angriffe war. Hören Sie!«

Marcel las mit lauter Stimme die von Herrn Schultze’s Hand geschriebenen Zeilen vor, von welchen er eine Copie entnommen hatte.

Dann setzte er hinzu:

»Außerdem überzeugte mich von dem Ableben des Herrn Schultze aber auch noch die Beobachtung, daß alles Leben rings um ihn erstorben war. In Stahlstadt athmete keine Seele mehr! Wie in dem Zauberschloß Dornröschen’s hatte der Schlaf Alles überfallen, alle Bewegung gehemmt. Die Lähmung des Herrn lähmte gleichzeitig die Diener und erstreckte sich sogar bis auf die todten Maschinen.

– Ja wahrhaftig, rief da Doctor Sarrasin, es giebt eine göttliche Gerechtigkeit! Gerade als er einen unerhörten Angriff gegen uns plante, als er die Federn zu sehr anspannte, da mußte Herr Schultze unterliegen!

– Gewiß, erwiderte Marcel; doch nun, Herr Doctor, denken wir nicht an die Vergangenheit, sondern an die Gegenwart. Schultze’s Tod bedeutet für uns den Frieden. Er bedeutet auch den Untergang des von ihm geschaffenen, übrigens wunderbaren Werkes, aller Voraussicht nach das Ende desselben. Unklugheiten so kolossaler Art, wie Alles, was der Stahlkönig erdachte, haben es untergraben. Einerseits verblendet durch den Erfolg und andererseits durch seinen Haß gegen Frankreich und gegen Sie, hat er Allen, von denen er eine feindliche Gesinnung gegen uns annehmen konnte, ohne hinreichende Sicherstellung ungeheure Waffenvorräthe geliefert. Trotzdem aber, und obgleich die Berichtigung dieser Außenstände sehr lange auf sich warten lassen dürfte, glaube ich, daß eine feste Hand im Stande sein müßte, Stahlstadt wieder aufzurichten und alle jene Kräfte, welche jetzt nur der Zerstörung dienten, für bessere Zwecke nutzbar zu machen. Herr Schultze hat nur einen in Betracht kommenden Erben, Doctor, und dieser Erbe sind Sie. Sein Werk darf nicht untergehen. Man glaubt in der Welt nur allzu gern, daß blos der Untergang einer rivalisirenden Macht von Vortheil sein könne. Das ist doch nicht der Fall, und Sie werden, hoffe ich, mit mir übereinstimmen, daß es Pflicht ist, aus diesem ungeheuren Schiffbruch zu retten, was für das Wohlergehen der Menschheit zu retten ist. Dieser Aufgabe mich zu widmen, bin ich von ganzem Herzen bereit.

– Marcel hat Recht, fiel hier Octave ein, indem er die Hand des Freundes drückte, und ich verpflichte mich gern, unter seiner Leitung zu arbeiten, wenn mein Vater dem zustimmt.

– Es sei Euch gewährt, meine Kinder, sagte Doctor Sarrasin, ja, Marcel, an Capital wird es uns nicht fehlen und mit Deiner Hilfe werden wir in dem wiedererstandenen Stahlstadt ein Arsenal von Hilfsmitteln besitzen, das uns für alle Zukunft vor jedem Angriff sicher stellt. Und so wie wir erstreben, die stärksten unter Allen zu sein, so wollen wir auch trachten, stets Gerechtigkeit zu üben und die Wohlthaten des Friedens und der Gerechtigkeit Allen schätzen lehren, die mit uns in Berührung kommen. O, Marcel, welch‘ schöne Träume! Und wenn ich mir sage, daß ich einen Theil derselben mit Dir und durch Dich zu erfüllen im Stande bin, frage ich mich oft … ja, ich frage mich, warum ich nicht zwei Söhne habe! … Warum Du nicht Octave’s Bruder bist! … Uns Dreien würde nichts mehr unmöglich sein!« …

Vierzehntes Capitel.


Vierzehntes Capitel.

Fertig zum Kampfe!

Wenn die Gefahr auch nicht unmittelbar drohte, so war sie doch nicht minder ernst. Marcel unterrichtete Doctor Sarrasin und dessen Freunde von Allem, was er über die Vorbereitungen des Herrn Schultze und dessen Zerstörungswerkzeuge wußte. Schon am nächsten Tage trat ein Vertheidigungsrath, dem er zugesellt wurde, zusammen, verhandelte über den Plan zum Widerstande und traf darnach die entsprechenden Maßregeln.

Nach allen Seiten fand Marcel bei Octave, der sich jetzt moralisch sehr zum eigenen Vortheile verändert zeigte, thatkräftige Unterstützung.

Was hatte man aber im Rathe beschlossen? Im Einzelnen wußte das kein Mensch. Nur die leitenden Grundsätze wurden durch die Presse zweckentsprechend unter der Menge veröffentlicht. In Allem erkannte man unschwer Marcel’s praktische Hand.

»Bei jeder Vertheidigung – so ging die Rede in der Stadt – handelt es sich vorzüglich darum, die Kräfte des Feindes zu kennen und das Vertheidigungs-System denselben anzupassen. Ohne Zweifel sind Herrn Schultze’s Kanonen von furchtbarer Wirkung. Immer ist es aber besser, diese Kanonen, deren Anzahl, Kaliber, Tragweite und Zerstörungsvermögen man kennt, vor sich zu haben, als gegen halb unbekannte Höllenmaschinen zu kämpfen.«

Zuvörderst kam es darauf an, die Stadt vor einer Einschließung zu Wasser und zu Lande sicher zu stellen. Auf diese Frage verwendete der Vertheidigungsrath allen Eifer, und als eines Tages Maueranschläge verkündeten, daß dieselbe gelöst sei, fiel es Niemand ein, daran zu zweifeln. Die Bewohner der Stadt eilten in Menge herbei, sich zur Ausführung der nöthigen Arbeiten zu erbieten. Keine Verwendung ward zu gering geschätzt, wenn dadurch nur die Widerstandsfähigkeit France-Villes erhöht wurde. Leute jeden Alters und Berufes betheiligten sich unter den gegebenen Umständen als einfache Arbeiter. Rasch und freudig ward das Werk gefördert. In der Stadt sammelte man einen für zwei Jahre hinreichenden Vorrath an Lebensmitteln an. Kohle und Eisen häuften sich zu beträchtlichen Mengen; Eisen als das wichtigste Material zur Bewaffnung und Ausrüstung, Kohle als Reservoir der Wärme und Bewegung, das ja niemals zu entbehren ist.

Während aber Kohle und Eisen auf den freien Plätzen zusammenströmten, wuchsen auch riesige Pfeiler von Mehlsäcken und Kisten mit geräuchertem Fleische empor, erhoben sich ganze Meiler von Käse, Berge von Conserven jeder Art und füllten getrocknete Gemüse die zu Magazinen verwandelten Hallen und Hörsäle. In den Gärten tummelten sich zahlreiche Heerden und machten aus France-Ville eine einzige große Weide.

Als endlich der Erlaß zur Einberufung aller waffenfähigen Mannschaften erschien, da legte die Begeisterung, mit der man ihn aufnahm, noch einmal Zeugniß ab von dem vorzüglichen Geiste dieser Bürgersoldaten. Bekleidet mit einfachen wollenen Blousen, Leinwandbeinkleidern und Halbstiefeln, bedeckt mit einem Hute aus gummirtem Leder und bewaffnet mit den von Werder (in Nürnberg) erfundenen Gewehren, übten sie in den Alleestraßen fleißig das Waffenhandwerk.

Schwärme von Kulis durchwühlten die Umgebung, hoben Gräben aus und warfen an geeigneten Stellen Feldschanzen und wirkliche Wälle auf. Auch das Gießen von Geschützen wurde nun emsig betrieben, eine Arbeit, welche die große Zahl der, leicht in Gießöfen umzuwandelnden Rauchverbrennungs-Oefen wesentlich begünstigte.

Mitten in diesem regen Treiben zeigte sich Marcel unermüdlich. Er war überall und stets seiner Aufgabe gewachsen. Wo sich eine theoretische oder praktische Schwierigkeit herausstellte, er wußte sie sofort zu lösen. Im Nothfalle streifte er selbst die Aermel auf und zeigte ein vortheilhaftes Verfahren oder einen zweckmäßigen Handgriff. Seine Autorität wurde auch ohne Widerspruch anerkannt, seine Anordnungen gewissenhaft ausgeführt.

Neben ihm that Octave ebenfalls sein Bestes. Beabsichtigte er anfangs auch seine Beinkleider mit goldenen Galons zu verzieren, so sah er doch bald davon ab, da er einsah, daß er zunächst nur als einfacher Soldat nützlich wirken könne.

Er trat in das ihm angewiesene Bataillon ein und wußte sich als Mustersoldat zu führen. Denen, die ihn anfänglich darum bedauerten, erwiderte er:

»Jeder nach Verdienst! Zu commandiren verstände ich jetzt wahrscheinlich nicht … so will ich wenigstens gehorchen lernen!«

Plötzlich verlieh eine – freilich unbegründete – Nachricht den Vertheidigungsarbeiten einen noch erhöhten Nachdruck. Herr Schultze, sagte man, sollte mit Schifffahrts-Gesellschaften wegen des Transportes seiner Kanonen verhandeln. Von dieser Stunde ab jagte eine »Ente« die andere. Bald steuerte die Schultze’sche Flotte schon auf France-Ville zu, bald wieder war die Eisenbahn in Sacramento von offenbar aus dem Himmel gefallenen »Uhlanen« besetzt worden.

Alle diese schnell darauf widerrufenen Gerüchte waren nur von verzweifelten Journalisten zum Vergnügen ihrer nach Neuigkeiten lechzenden Leser erfunden. In Wahrheit gab Stahlstadt keinerlei Lebenszeichen von sich.

Ließ dieses absolute Stillschweigen Marcel auch die nöthige Zeit zur Vollendung der Vertheidigungsarbeiten, so beunruhigte es ihn doch in seinen seltenen Minuten der Muße desto mehr.

»Sollte der Räuber seine Batterien wieder verändert haben und mit einem neuen Stierthurme seiner Erfindung in’s Feld treten?« fragte er sich wiederholt.

Seine Pläne, sowohl feindliche Schiffe abzuhalten, als auch einer Einschließung von der Landseite zu begegnen, versprachen jedoch, sich auf jeden Fall zu bewähren, und solche Momente der Besorgniß verdoppelten dann nur seine Thatkraft.

Das einzige Vergnügen und die einzige Erholung nach mühevollem Tagewerke bot ihm die flüchtige Stunde, die er jeden Abend im Salon der Frau Sarrasin zubrachte.

Der Doctor hatte von Anfang an verlangt, daß er, wenn ihn nicht eine andere unaufschiebliche Abhaltung hinderte, alle Tage bei ihm speisen sollte; wunderbarer Weise war er noch niemals so dringend in Anspruch genommen gewesen, um auf dieses Privilegium verzichten zu müssen. Die ewige Schachpartie zwischen dem Doctor und Oberst Hendon konnte für ihn kaum ein hinreichendes Interesse zur Erklärung jenes Umstandes darbieten. Es drängte sich deshalb die Annahme auf, daß auf Marcel eine ganz andere Anziehungskraft einwirkte, deren Natur der Beobachter vielleicht errathen konnte, obwohl jener selbst sich darüber jedenfalls nicht im Mindesten Rechenschaft gab, wenn er das Interesse sah, welche die Abendplaudereien mit Frau Sarrasin und Fräulein Jeanne dem jungen Elsäßer einflößten, sobald alle Drei an dem großen Tische Platz genommen hatten, an dem die beiden beherzten Frauen schon jetzt Alles vorbereiteten, was für den späteren Dienst der Ambulancen nothwendig werden konnte.

»Werden diese neuen Stahlbolzen besser sein als die, von denen Sie uns kürzlich die Zeichnung vorlegten? fragte Jeanne, die sich für alle Vertheidigungsarbeiten lebhaft interessirte.

– Ohne allen Zweifel, antwortete Marcel.

– O, das freut mich so sehr! Wie viel Mühe und Arbeit verursacht doch oft das Kleinste! … Sie sagten mir, daß das Ingenieurcorps gestern fünfhundert laufende Meter neue Gräben gezogen habe; das ist viel, nicht wahr?

– O nein, das ist noch nicht genug. Auf diese Weise würden wir die Umwallung vor Ende des Monats nicht fertig haben.

– Ich möchte sie gerne ausgeführt und die abscheulichen Leute Schultze’s im Anzuge sehen! Ach, die Männer sind so glücklich, jetzt handeln und sich nützlich machen zu können. Das Warten ist für sie gewiß ebenso ermüdend wie für uns, die wir zu nichts taugen.

– Zu nichts taugen! rief Marcel, der sonst weit ruhiger sprach, Sie und zu nichts taugen! Für wen mühen sich denn, Ihrer Ansicht nach, jene braven Leute ab, die Alles verlassen haben, um jetzt Soldaten zu werden, wenn sie dadurch nicht die Ruhe und das Glück ihrer Mütter, ihrer Frauen und Verlobten behüten wollen? Wer verleiht ihnen den Feuereifer, wenn nicht Sie, wem wollen Sie diese Opferfreudigkeit zuschreiben, wenn nicht …«

Etwas verwirrt hielt Marcel bei diesem Worte ein, Jeanne erwiderte nichts auf seine Rede und die gute Frau Sarrasin sah sich genöthigt, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, indem sie dem jungen Manne gegenüber behauptete, daß bei den Meisten wohl das einfache Pflichtgefühl für ihren Eifer eine hinreichende Erklärung gäbe.

Wenn Marcel dann der unerbittliche Zwang der Verhältnisse aus dem trauten kleinen Kreise abrief, so entzog er sich zwar nur ungern der wohlthuenden Plauderei, aber er nahm den unerschütterlichen Entschluß mit sich fort, France-Ville zu retten bis zum Geringsten seiner Bewohner.

Er dachte kaum daran, wie sich die Ereignisse gestalten könnten, offenbar die natürliche Folge des jetzigen Zustandes der Dinge, wo Alles, entsprechend dem Grundgesetze von Stahlstadt, auch hier in der Hand eines Einzigen lag.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

In dem Mr. Sharp sich bei dem Leser einführt.

»Diese englischen Zeitungen leisten doch wirklich alles Mögliche!« sprach der wackere Doctor so für sich hin, während er sich’s in dem großen, lederüberzogenen Lehnstuhle bequem machte.

Doctor Sarrasin liebte den Monolog von jeher als eine Art Zerstreuung.

Er war ein Mann von fünfzig Jahren, mit feinen Zügen, lebhaften, durch die Stahlbrille hervorblitzenden Augen und ernster, doch liebenswürdiger Physiognomie, kurz, er gehörte zu den Leuten, bei deren erstem Anblick man sich sagt: Das ist ein braver Mann. Auch in heutiger früher Morgenstunde zeigte sich der Doctor, ohne daß seine Erscheinung etwas Gesuchtes verrieth, schon frisch rasirt und mit blendend weißer Cravatte.

In seinem Hotelzimmer zu Brighton lagen da und dort die »Times«, der »Daily Telegraph« und die »Daily News« ausgebreitet. Es schlug eben zehn Uhr, doch hatte der Doctor schon Zeit gefunden, einen Weg in die Stadt zu machen, ein Krankenhaus zu besuchen und, nach seinem Hotel zurückgekehrt, in den wichtigsten Tagesblättern Londons den ausführlichen Bericht über eine Denkschrift zu lesen, die er erst vorgestern dem großen internationalen hygienischen Congresse vorgelegt hatte und welche einen von ihm erfundenen »Blutkügelchen-Zähler« betraf.

Auf einem mit sauberer Serviette überdeckten Theebrette standen vor ihm ein schwach gebratenes Cotelette, eine Tasse dampfenden Thees und mehrere delicate Röstschnittchen, welche die englischen Köchinnen so vorzüglich zubereiten, weil ihnen die Bäcker dazu eine besondere Sorte kleiner Brode liefern.

»Ja, ja, wiederholte er, die Zeitungen des Vereinigten Königreichs leisten wirklich alles Mögliche, das ist nicht zu leugnen! … Der Speech des Vicepräsidenten, die Antwort des Doctor Cigogna aus Neapel, die Darlegung aus meiner Denkschrift – Alles ist im Fluge, auf frischer That erfaßt, photographirt möcht‘ ich’s nennen.

– Doctor Sarrasin aus Douai hat das Wort. Das ehrenwerthe Mitglied des Congresses spricht französisch. »Die verehrten Zuhörer werden entschuldigen, beginnt er, daß ich mir diese Freiheit nehme; Sie verstehen aber jedenfalls Alle meine Muttersprache besser, als ich mich in der ihrigen auszudrücken vermöchte …«

– Fünf Spalten kleiner Schrift! … Ich weiß nicht, ob der Bericht der »Times« den Vorzug verdient, oder der im »Telegraph« . … zuverlässiger und eingehender kann man eben nicht referiren! …«

Hier stand Doctor Sarrasin eben in seinem Gedankengange, als der Ceremonienmeister in höchsteigener Person – einen geringeren Titel würde man der untadelhaft schwarzgekleideten Persönlichkeit kaum beizulegen wagen – an die Thür klopfte und anfragte, ob »Monsiou« zu sprechen sei…

»Monsiou« ist eine beliebte Allgemeinbezeichnung bei den Engländern, welche sie instinctiv allen Franzosen gegenüber gebrauchen, so wie sie gegen alle Regeln des Anstandes zu verstoßen fürchten würden, wenn sie einen Italiener nicht mit »Signor« und einen Deutschen nicht mit »Herr« anredeten. Gewiß hat diese durchgängig eingebürgerte Gewohnheit mindestens den Vortheil, die Nationalität der Leute gleich von vornherein kenntlich zu machen.

Doctor Sarrasin hatte die ihm überreichte Karte in der Hand. Erstaunte er überhaupt schon darüber, in einem Lande, wo er keinen Menschen kannte, Besuch zu erhalten, so war das noch mehr der Fall, als er auf dem kleinen, länglichviereckigen Kärtchen las:

»Mr. Sharp, Sollicitor,
                                    93 Southampton row,
                                    London,«

Er wußte, daß ein »Sollicitor« der einheimische englische Anwalt war, oder vielmehr ein Bastard-Rechtsbeflissener, ein Zwischending zwischen Kanzleianwalt und Advocat, etwa der frühere Procurator.

»Was zum Teufel kann ich mit diesem Mr. Sharp zu schaffen haben? fragte er sich selbst. Sollte ich mich unbewußter Weise vergangen haben? … Sind Sie sicher, daß diese Karte mir gilt?

– O, yes, Monsiou.

– Gut, lassen Sie den Herrn eintreten.«

Der Ceremonienmeister öffnete die Thüre einem noch jungen Manne, den der Doctor auf den ersten Blick als Angehörigen der großen Familie der »Todtenköpfe« erkannte. Seine dünnen, oder vielmehr vertrockneten Lippen, die langen weißen Zähne, die unter der pergamentartig durchschimmernden Haut fast offen liegenden Schläfengruben, der mumienhafte Teint und die kleinen Augen mit ihrem wahrhaft stechenden Blicke versetzten ihn unzweifelhaft in die Classe jener, uns immer etwas abstoßenden Erscheinungen. Sein Skelet verbarg sich von den Fersen bis zum Hinterhaupte unter einem großcarrirten Ueberrock und in der Hand trug er eine Reisetasche von lackirtem Leder.

Diese Person trat in’s Zimmer, grüßte flüchtig, legte Reisetasche und Hut ab, setzte sich, ohne eine Aufforderung dazu abzuwarten, und sagte:

»William Henry Sharp junior, Associé des Hauses Billows, Green, Sharp & Comp… Ich habe doch die Ehre, Herrn Doctor Sarrasin…

– Gewiß, mein Herr.

– François Sarrasin?

– Das ist mein Name.

– Aus Douai?

– Mein gewöhnlicher Aufenthaltsort.

– Ihr Vater hieß Isidore Sarrasin?

– Ganz richtig.

– Wir gehen also davon aus, daß er Isidore Sarrasin hieß.«

Mr. Sharp zog ein Notizbuch aus der Tasche und fuhr fort:

»Isidore Sarrasin, gestorben zu Paris im Jahre 1857, 6. Arrondissement, Rue Taranne Nr. 54, Hotel des Ecoles, jetzt abgebrochen,

– Alles in Ordnung, bestätigte der Doctor mit wachsendem Erstaunen. Würden Sie mir nun erklären…

– Seine Mutter hieß Julie Langevol, fuhr Mr. Sharp unbeirrt fort. Sie stammte aus Bar-le-Duc, war eine Tochter von Benedict Langevol, wohnhaft in der Sackgasse Loriol, gestorben 1812, wie aus den amtlichen Registern genannter Stadt hervorgeht – diese Register sind eine höchst schätzbare Einrichtung, mein Herr, eine ungemein unschätzbare – Hm!… Hm!… und Schwester von Jean Jacques Langevol, Tambourmajor des 36. leichten…

– Ich gestehe Ihnen, fiel hier der über diese umfassende Kenntniß seiner Genealogie verwunderte Doctor ein, daß Sie über verschiedene Punkte besser unterrichtet scheinen, als ich es selbst bin. Wirklich lautete meiner Großmutter Familienname Langevol, das ist aber auch Alles, was ich von ihr weiß.

– Sie verließ Bar-le-Duc im Jahre 1807 mit Ihrem Großvater Jean Sarrasin, den sie schon 1799 geheiratet hatte. Beide wandten sich zur Etablirung eines Klempnergeschäftes nach Melun und verblieben dort bis 1811, in welchem Jahre Julie Langevol, verehelichte Sarrasin, mit Tod abging. Ihrer Ehe entstammte nur ein einziges Kind, Isidore Sarrasin, Ihr Vater, mein Herr. Von hier ab weiß man nun nichts Weiteres, bis auf den Todestag des Letzteren, der in Paris wieder auftauchte…

– Den verlorenen Faden bin ich aber im Stande, wieder anzuknüpfen, sagte der Doctor, den diese wirklich mathematische Genauigkeit wider Willen mehr und mehr fesselte. Mein Großvater etablirte sich später in Paris, um sich die Erziehung seines Sohnes, der medicinischen Studien oblag, zu erleichtern. Er starb im Jahre 1832 in Palaiseau bei Versailles, woselbst mein Vater prakticirte und ich selbst 1822 geboren wurde.

– Sie sind mein Mann, erklärte Mr. Sharp. Keine Brüder oder Schwestern?…

– Nein. Ich war und blieb der einzige Sohn und meine Mutter starb schon, als ich erst zwei Jahre zählte. Doch werden Sie mir endlich mittheilen, mein Herr, wozu das…«

Mr. Sharp erhob sich.

»Sir Bryah Jowahir Mothooranath, sagte er, diese Worte mit all‘ dem Respect aussprechend, den jeder Engländer gegenüber vornehmen Titeln beobachtet, ich schätze mich glücklich, Sie gefunden zu haben und als der Erste Ihnen meine Huldigung darzubringen.

– Der Mann ist von Sinnen, dachte der Doctor, kommt ja bei »Todtenköpfen« häufiger vor.«

Der Sollicitor errieth seinen Gedanken.

»Halten Sie mich um Alles in der Welt nicht etwa für geisteskrank, sagte er sehr ruhig. Zur Stunde sind Sie der einzige bekannte Erbe des Baronet-Titels, welcher auf Vorschlag des Generals-Gouverneurs einst Jean Jacques Langevol verliehen wurde, der 1819 in den englischen Unterthanenverband eintrat und später Witwer und Nutznießer der Besitzungen der Begum (Ehrentitel der indischen Fürstinnen) Gokool war, welche 1841 starb und nur einen Sohn hinterließ, der als Idiot ohne Nachkommen und ohne Testament im Jahre 1869 verschied. Die Nachlassenschaft betrug vor dreißig Jahren schon gegen fünf Millionen Pfund Sterling. Sie ward unter vormundschaftliches Sequester gestellt und während der Lebenszeit des schwachsinnigen Sohnes Jean Jacques Langevol’s fast durch die vollen Zinsenerträgnisse vermehrt. Im Jahre 1870 berechnete sich jene Verlassenschaft auf rund einundzwanzig Millionen Pfund Sterling oder fünfhundertfünfundzwanzig Millionen Francs. In Ausführung einer Entscheidung des Gerichtes in Agra, welche die höhere Instanz in Delhi und zuletzt auch der Geheime Rath des Reiches bestätigte, wurden die beweglichen und unbeweglichen Güter des Erblassers veräußert, der Ertrag des Verkaufes eingezogen und das Ganze bei der Bank von England deponirt. Jetzt liegen daselbst fünfhundertsiebenundzwanzig Millionen Francs, die Sie durch eine einfache Anweisung erheben können, sobald Sie dem Kanzleramte die Beweise Ihrer Abstammung beigebracht haben und auf welche Summe ich mich schon hiermit erbiete, Ihnen bei der Bankfirma Trollop, Smith und Compagnie einen Vorschuß in jeder beliebigen Höhe…«

Doctor Sarrasin war versteinert. Eine kurze Zeit lang vermochte er keine Worte zu finden. Dann erwachte aber doch der Geist des Zweifels wieder in seinem Innern, und da er diese Verwirklichung eines Traumbildes aus »Tausend und eine Nacht«, nicht so ohne Weiteres anerkennen wollte, sagte er:

»Ja, mein Herr, welche Beweise können Sie mir beibringen für die Wahrheit dieser ganzen Geschichte, und wie sind Sie auf meine Spur gekommen?

– Die Beweisstücke befinden sich hier, erwiderte Mr. Sharp, auf die Glanzledertasche klopfend. Daß ich Sie jetzt auffand, ging sehr einfach zu. Eigentlich suche ich Sie schon seit fünf Jahren. Die Auskundschaftung der Berechtigten, der »next of kin«, wie das englische Recht sich ausdrückt, für die vielen unbeanspruchten Nachlassenschaften, welche die Gerichte in den britischen Besitzungen in Verwaltung nehmen, ist eine Specialität unseres Hauses. Gerade die Erbschaft der Begum Gokool hält uns nun schon seit einem ganzem Lustrum in Athem. Wir streckten unsere Fühlhörner nach allen Seiten hin aus und stellten Nachforschungen über mehr als hundert Familien Sarrasin an, ohne darunter eine zu finden, welche von jenem Isidore herstammte. Ich beruhigte mich schon mit der Ueberzeugung, daß es einen Sarrasin in Frankreich nicht mehr gäbe, als ich gestern Morgens bei der Durchlesung der »Daily News« den Bericht von dem hiesigen hygienischen Congresse und darin den Namen eines Arztes fand, den ich noch nicht kannte. Sofort nahm ich meine eigenen Notizen vor, verglich sie mit den Tausenden von Schriftstücken, die wir bezüglich dieser Angelegenheit aufgesammelt haben, und erkannte daraus zur größten Verwunderung, daß die Stadt Douai unserer Aufmerksamkeit entgangen war. In dem beinahe sicheren Bewußtsein, hiermit die richtige Spur entdeckt zu haben, benützte ich den ersten Zug nach Brighton, sah Sie selbst beim Verlassen des Kongresses und – meine Ahnung war erfüllt. Sie sind das lebendige Ebenbild Ihres Großvaters Langevol, wie ihn eine in unserem Besitz befindliche, nach einem Oelbilde des indischen Malers Saranoni angefertigte Photographie darstellt.«

Mr. Sharp nahm eine Photographie aus seinem Notizbuche und übergab sie Doctor Sarrasin. Das Bild zeigte einen hochgewachsenen Mann mit prächtigem Barte, einen Turban mit flimmernder Aigrette und einem grün verbrämten Brokatrocke in der beliebten Haltung der historischen Porträts eines commandirenden Generals, der den Befehl zu einem Angriffe ausfertigt, während sein Auge auf das des Beschauers gerichtet ist. Den Hintergrund bildete die Andeutung des Gewühls einer Schlacht und einer Reiter-Attake.

»Diese Schriftstücke werden Ihnen mehr sagen als ich, nahm Mr. Sharp wieder das Wort, Ich lasse dieselben jetzt in Ihren Händen und komme mit Ihrer Erlaubniß nach zwei Stunden wieder, Ihre Aufträge entgegenzunehmen.«

Mit diesen Worten entnahm Mr. Sharp seiner Reisetasche sechs bis sieben theils gedruckte, theils geschriebene Actenpackete, legte dieselben auf den Tisch nieder und näherte sich rückwärts schreitend, langsam der Thüre.

»Sir Bryah Iowahir Mothooranath, ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«

Halb vertrauend und halb zweifelnd ergriff der Doctor die Actenhefte und begann, sie zu durchblättern.

Schon eine flüchtige Prüfung genügte, ihn zu überzeugen, daß die Sache in Ordnung und jeder Zweifel unbegründet sei, gegenüber so vollwichtigen Documenten wie dem folgenden:

»Bericht an die hochehrwürdigen Lords des Geheimen Rathes der Königin, deponirt am 5. Januar 1870, betreffend die unbeanspruchte Nachlassenschaft der Begum Gokool von Ragginahra, Provinz Bengalen.

»Thatbestand, – Es handelt sich um das Eigenthumsrecht mehrerer Mehals und 43.000 Bengales Ackerlandes, verschiedener Gebäude, Paläste, Wirthschaftshöfe, Mobilien, Kapitalien, Waffen u. s. w. u. s. w., welche aus der Nachlassenschaft der Begum Gokool von Nagginahra herrühren. Aus mehrfachen, dem Civilgericht in Agra und dem Appellations-Gericht in Delhi unterbreiteten Darlegungen geht hervor, daß die Begum Gokool, Witwe des Rajah Luckmissur und Erbin höchst umfangreicher Besitzungen, im Jahre 1819 einen Ausländer, einen Franzosen von Geburt, Namens Jean Jacques Langevol ehelichte. Dieser Ausländer diente mit dem Grade eines Unterofficiers (Tambour-Majors) bis 1815 im 36. Infanterie-Regiment der französischen Armee und schiffte sich, als die sogenannte Loire-Armee damals aufgelöst wurde, in Nantes als Factor eines Kauffahrers ein. Er langte in Calcutta an, begab sich in das Innere des Landes und erhielt bald die Stelle eines Instructions-Hauptmanns der kleinen Armee von Eingebornen, welche der Rajah Luckmissur zu halten berechtigt war. In kurzer Zeit avancirte er zum Oberbefehlshaber derselben und erhielt, bald nach dem Tode des Rajah, auch die Hand von dessen Witwe. Aus Rücksichten der Kolonialpolitik und in Anbetracht der wichtigen Dienste, welche Jean Jacques Langevol den Europäern in Agra unter mißlichen Verhältnissen erwiesen, sah sich der Generalgouverneur der Präsidentschaft Bengalen veranlaßt, für den Gemal der Begum den Baronetstitel zu erbitten, der ihm auch zugestanden wurde. Das Gebiet von Bryah Jowahir Mothooranath wurde in Folge dessen zum Lehn erhoben. Die Begum verstarb im Jahre 1839 und hinterließ die Nutznießung aller ihrer Besitzungen an Langevol, der ihr zwei Jahre später in’s Grab nachfolgte. Ihrer Ehe entsproß nur ein einziger, von Kindheit auf schwachsinniger Sohn, der sofort unter obrigkeitliche Vormundschaft gestellt werden mußte. Bis zu seinem im Jahre 1869 erfolgten Tode wurden dessen Güter u.s.w. getreulich administrirt. Jetzt existiren für die ungeheure Nachlassenschaft keine bekannten Erben. Da das Gericht von Agra und der Appellationshof in Delhi auf Ansuchen der Localbehörden im Namen des Staates die Licitation dieses Nachlasses verfügt haben, geben wir uns die Ehre, die Lords des Geheimen Rathes um ihre Bestätigung der beabsichtigten Maßnahmen zn ersuchen u.s.w u.s.w«

Folgen die Unterschriften.

Die beglaubigten Copien der Gerichtsbescheide aus Agra und Delhi, die Verkaufsacten, Duplicate der Depositenscheine der Bank von England, ein Bericht über die in Frankreich gethanen Schritte zur Auffindung der Erben Langevol’s, nebst einer großen Menge auf dieselbe Sache bezüglicher Documente verscheuchten auch Doctor Sarrasin’s letzte Zweifel. Er war nach Gesetz und Recht der »next of kin« und Erbe der Begum. Zwischen ihm und den in den Kellern der Bank von England deponirten 527 Millionen lag nur noch die Erfüllung gewisser Formalitäten, die einfache Herbeischaffung der beglaubigten Geburts- und Todtenscheine.

Ein so unerhörter Glücksfall bringt ja wohl auch das ruhigste Gemüth etwas in Aufregung und auch der gute Doctor konnte sich derselben, gegenüber dieser unerwarteten Gewißheit, nicht völlig erwehren. Jedenfalls hielt seine Erregung jedoch nicht lange an und machte sich nur in einer kurzen Promenade durch das Zimmer Luft. Dann gewann er wieder die vollkommene Herrschaft über sich, tadelte jenes vorübergehende Fieber als eine seiner unwürdige Schwäche, warf sich in einen Lehnstuhl und versank eine Zeit lang in tiefes Nachsinnen.

Hierauf schritt er nochmals im Zimmer auf und ab. Jetzt leuchteten seine Augen, aber in reinerem Feuer, man sah, daß sich aus seinem Innern ein großer edelmüthiger Gedanke emporrang. Er erkannte ihn, überlegte, pflegte ihn mit Liebe und adoptirte ihn zuletzt.

Eben klopfte es an der Thür, Mr. Sharp kehrte zurück.

»Ich bitte Sie um Verzeihung wegen meines Zweifels, redete ihn der Doctor vertraulich an. Jetzt bin ich überzeugt und danke Ihnen vorläufig tausendmal für Ihre gehabte Mühe.

– Bitte, bitte … ein einfaches Geschäft … mein Metier … antwortete Mr. Sharp. Darf ich hoffen, daß mir Sir Bryah sein werthes Vertrauen zuwenden wird?

– Das versteht sich von selbst. Ich lege die ganze Sache in Ihre Hände … nur darum bitte ich: Verschonen Sie mich mit jenem lächerlichen Titel …«

Lächerlich! Ein Titel im Werthe von einundzwanzig Millionen Pfund Sterling! sagten etwa die Gesichtszüge des Mr. Sharp, der aber viel zu sehr Hofmann war, um nicht sofort nachzugeben.

»Wie es Ihnen beliebt, Sie haben zu befehlen, antwortete er mit einer Verbeugung, Ich werde also wieder nach London zurückfahren und erwarte Ihre weitere Entschließung.

– Darf ich diese Actenstücke behalten? fragte der Doctor.

– Gewiß, wir besitzen davon Duplicate.«

Als Doctor Sarrasin allein war, begab er sich nach dem Schreibtische, nahm ein Stück Briefpapier und schrieb wie folgt:

»Brighton, am 28. October 1871.

Mein lieber Sohn! Es ist uns plötzlich ein enormes, ungeheures, übergroßes Vermögen zugefallen! Halte mich nicht etwa für geistig gestört, sondern lies zunächst die gedruckten Actenstücke, welche ich diesem Briefe beilege. Du wirst daraus ersehen, daß ich Erbe des Titels eines englischen oder vielmehr indischen Baronets und eines, jetzt bei der Bank von England deponirten Capitals von mehr als einer halben Milliarde Francs bin. Ich weiß schon im Voraus, mein lieber Octave, mit welchen Empfindungen Du diese unerwartete Nachricht aufnimmst. Du wirst, gleich mir, einsehen, daß solche Schätze uns ganz andere Pflichten auferlegen, und die Gefahren begreifen, die sie uns wegen ihrer Verwendung bereiten können. Kaum eine Stunde mit dem Sachverhalt bekannt, erstickt mir doch die Sorge um eine derartige Verantwortlichkeit schon halb die Freude, welche mir derselbe zuerst um Deinetwillen bereitet hatte. Vielleicht wirkt dieser Glückswechsel gar ungünstig auf unser späteres Schicksal ein?… Als bescheidene Pionniere der Wissenschaft fühlten wir uns in der Verborgenheit glücklich. Wird das so bleiben? Nein, vielleicht; doch ich will jetzt einen in mir aufgestiegenen Gedanken noch unterdrücken – wenn jenes uns zugefallene Vermögen zu einem neuen mächtigen, wissenschaftlichen Hilfsmittel, zu einem fruchtbringenden Werkzeug der Civilisation würde… Doch davon sprechen wir später. Schreib‘ mir und sag‘ mir schnell, welchen Eindruck diese hochwichtige Neuigkeit auf Dich gemacht und sorge, daß auch Deine Mutter davon erfährt. Ich hoffe, daß sie als verständige Frau diese Nachricht mit Ruhe und Gelassenheit aufnimmt. Deine Schwester ist noch zu jung, als daß ihr irgend etwas Derartiges das Köpfchen verwirren könnte. Freilich ist sie schon recht verständig; doch auch wenn sie sich alle möglichen Folgen der Dir übermittelten Nachricht zu vergegenwärtigen vermöchte, bin ich doch der Ueberzeugung, daß sie durch diesen plötzlichen Wechsel unserer Verhältnisse am wenigsten berührt würde. Einen Händedruck unserem lieben Marcel. Er ist bei keinem meiner Zukunftspläne vergessen.

Dein wohlgewogener Vater
Dr. Fr. Sarrasin.«    

Nachdem er diesen Brief mit den wichtigsten Documenten in ein Couvert gesteckt und dieses mit der Aufschrift »Herrn Octave Sarrasin, Studirender an der Centralschule für Künste und Gewerke, 32, Rue du Roi-de-Sicile, Paris« versehen, nahm der Doctor seinen Hut, legte den Ueberrock an und begab sich zum Congreß. Eine Viertelstunde später dachte der brave Mann nicht im Geringsten mehr an seine Millionen.

Zehntes Capitel.


Zehntes Capitel.

Ein Artikel aus »Unser Jahrhundert«, deutsche Revue.

Einen Monat vor der Zeit, da sich die oben erzählten Ereignisse zutrugen, stand in einer deutschen Revue mit dem Titel »Unser Jahrhundert« ein Aufsatz bezüglich France-Villes, der im deutschen Kaiserreiche gerechtes Aufsehen machte, wahrscheinlich weil er die Verhältnisse dieser Stadt nur von ausschließlich materiellem Standpunkte aus beleuchtete.

»Wir haben unsere Leser schon von der merkwürdigen Erscheinung an der fernen Westküste der Vereinigten Staaten unterrichtet. Die große amerikanische Republik hat – in Folge der vielseitigen eingewanderten Elemente, welche ihre Bevölkerung umfaßt – uns schon seit langer Zeit an immer neue Ueberraschungen gewöhnt. Die letzte derselben ist gleichzeitig eine der merkwürdigsten, nämlich die Gründung der Stadt France-Ville, an die vor fünf Jahren noch kein Mensch dachte und welche sich schon heute eines unerwartet blühenden Wohlstandes erfreut.

Diese wunderbare Stadt ist wie durch Zauberkünste an der Küste des Pacifischen Oceans emporgewachsen. Wir wollen hier nicht prüfen, ob der Plan und die erste Idee zu derselben, wie man allgemein behauptet, von einem Franzosen, einem Doctor Sarrasin, ausgegangen ist oder nicht. Die Sache ist nicht unmöglich, da sich der genannte Arzt einer entfernten Verwandtschaft mit unserem berühmten Stahlkönig rühmen kann. Man setzt auch, beiläufig bemerkt, hinzu, daß die Aneignung einer beträchtlichen Erbschaft, welche rechtlicher Weise Herrn Schultze zukam, mit der Gründung von France-Ville in Verbindung steht. Ueberall, wo in der Welt etwas Gutes geschieht, darf man gewiß sein, darin wenigstens ein germanisches Samenkorn zu finden, eine Wahrheit, welche wir mit Genugthuung auch bei dieser Gelegenheit bestätigt sehen.

Doch wie dem auch sei, wir fühlen uns verpflichtet, unseren Lesern eingehende und verläßliche Einzelheiten über diese Musterstadt mitzutheilen.

Man erspare sich die Mühe, den Namen derselben auf der Landkarte zu suchen. Selbst der große Atlas in 378 Foliobänden, herausgegeben von unserem berühmten Tüchtigmann, wo alle Gebüsche und Baumgruppen der Alten und Neuen Welt mit größter Genauigkeit verzeichnet stehen, selbst dieses großartige Denkmal geographischer Wissenschaft enthält noch keine Spur von France-Ville. Noch vor fünf Jahren breitete sich an der Stelle, welche die neue Stadt jetzt einnimmt, eine öde Wüstenei aus. Der betreffende Punkt liegt unter 43° 11′ 3″ nördlicher Breite und 124° 41′ 17″ westlicher Länge von Greenwich. Er findet sich, wie man hieraus ersieht, nahe der Küste des Stillen Oceans, am Fuße der secundären Kette der Felsengebirge, der den Namen Cascaden-Berge erhalten hat, zwanzig Meilen nördlich vom Cap Blanc, Staat Oregon, Nordamerika.

Mit peinlichster Sorgfalt wurde diese geeignetste Stelle unter vielen anderen ziemlich günstigen Oertlichkeiten ausgewählt. Ausschlaggebend für die endliche Entscheidung war ihre Lage in der gemäßigten Zone der nördlichen Halbkugel, welche bezüglich der Civilisation unserer Erde stets den Reigen anführt, wie in der Mitte einer Föderativ-Republik und gleichzeitig eines noch neuen Staates, der ihr vorläufig eine gewisse Unabhängigkeit gewährleistete und der Stadt mit ihrem Gebiete ähnliche Rechte einräumte, wie sie etwa das Fürstenthum Monaco in Europa genießt – unter der Bedingung, nach einer gewissen Reihe von Jahren in den Staatenbund der Union einzutreten; – die Nähe des Oceans, der doch mehr und mehr zur Landstraße der Welt wird; – die bergige fruchtbare und ungemein gesunde Natur des Erdbodens; – die Nachbarschaft einer Bergkette, welche vor den Nord-, Süd- und Ostwinden gleichmäßig schützte und es der vom Meere hereinwehenden Brise überließ, die Atmosphäre der Stadt zu erneuern; – das Vorhandensein eines kleinen Flusses, dessen frisches, süßes, weiches, durch wiederholte Fälle sowohl wie durch rasche Strömung reichlich oxygenirtes Wasser sich noch vollkommen klar in’s Meer ergießt; – endlich ein natürlicher Hafen, der durch Dammschüttungen leicht vergrößert werden könnte und den ein bogenförmig verlaufendes Vorgebirge bildete.

Hier sei auch noch einiger minder bedeutender Vorzüge erwähnt, wie der Nähe ergiebiger Marmor- und Steinbrüche, eines Lagers von Kaolin und endlich sogar des Vorkommens goldhaltiger Geschiebe. Gerade um dieses letzteren Umstandes willen hätte man sich beinahe von hier weggewendet; die Begründer der Stadt glaubten, der Eintritt des Goldfiebers könnte ihre besten Pläne durchkreuzen. Zum Glück fanden sich aber nur sehr wenige und ganz kleine Goldkörner vor.

Wenn die Wahl des Terrains auch nur auf Grund der ernstesten und eingehendsten Erwägungen erfolgte, so hatte sie doch nur zwei Tage in Anspruch genommen und auch nicht erst eine besondere Expedition nöthig gemacht. Die Kenntniß unserer Erdkugel ist jetzt so weit vorgeschritten, daß man sich über die entlegensten Punkte derselben, auch ohne sein Zimmer zu verlassen, Auskunft verschaffen kann.

Nach Entscheidung dieses Punktes schifften sich zwei Abgesandte des Gründungs-Comités auf dem nächsten Liverpooler Dampfer ein, gelangten in elf Tagen nach New-York, sieben Tage später nach San-Francisco und mietheten hier ein Dampfboot, das sie nach zehn Stunden an der erwählten Stelle an’s Land setzte.

Die unumgänglichen Verhandlungen mit der Legislatur von Oregon wegen Gewinnung der Concession zum Landerwerb längs der Meeresküste am Fuße der Cascaden-Berge und in einer Breite von vier englischen Meilen, sowie die mit einigen tausend Dollars erreichte Abfindung von ein halb Dutzend Pflanzern, welche auf das betreffende Land begründete oder vorgebliche Ansprüche erhoben – Alles das bedurfte kaum der Zeit eines Monats.

Im Januar 1872 war das Gebiet schon besichtigt, vermessen, abgesteckt und näher untersucht, während eine Armee von 20.000 chinesischen Kulis unter Anleitung von 500 europäischen Werkführern und Ingenieuren rüstig an die Arbeit ging, Maueranschläge in ganz Kalifornien, eine permanente Waggon-Annonce im Schnellzuge, der jeden Morgen von San-Francisco abgeht und den ganzen amerikanischen Continent durchfliegt, endlich eine tägliche Reclame in den dreiundzwanzig Journalen der genannten Stadt hatten hingereicht, die notwendigen Arbeitskräfte herbeizuziehen.

Man hatte sogar Abstand nehmen können von der zur Zeit so beliebten »Bekanntmachung im großen Styl«, nämlich durch Ausmeißelung riesiger Buchstaben in den der Bahnstrecke benachbarten Felsengebirgen, obgleich eine Gesellschaft sich unter Ermäßigung der gewöhnlichen Preise dazu erbot. Hierbei ist freilich nicht zu vergessen, daß die massenhafte Zuströmung chinesischer Kulis nach Nordamerika gerade damals eine merkbare Störung auf dem Arbeitsmarkte hervorgerufen hatte. Mehrere Staaten sahen sich genöthigt, jene armen Teufel in Massen auszutreiben, um die Existenz ihrer eigenen Einwohner zu sichern und blutigen Zusammenstößen vorzubeugen. Die Gründung von France-Ville rettete da Viele vor dem Untergange. Der Taglohn wurde für Alle gleichmäßig auf einen Dollar festgesetzt, der jedoch erst nach Vollendung der Arbeit ausgezahlt werden sollte, während die nöthigen Lebensbedürfnisse bis dahin von den Verwaltungsorganen geliefert wurden. Auf diese Weise verhütete man jede Unordnung und jede schamlose Speculation, welche so häufig bei der Versetzung größerer Volksmengen vorzukommen pflegen. Der gesammte Arbeitslohn ward allwöchentlich unter Zuziehung von Deputirten der Arbeiter nach der Bank von San-Francisco abgeführt, während jeder Kuli, der den seinigen in Anspruch nahm, sich verpflichten mußte, seine Stellung zu verlassen und überhaupt nicht hierher zurückzukehren. Es war das eine von der Nothwendigkeit, sich der gelben Bevölkerung wieder entledigen zu können, unbedingt gebotene Maßregel, denn jene wäre auf den Typus und den Geist der neuen Stadt gewiß nicht ohne nachteiligen Einfluß geblieben. Da die Gründer sich überdies das Recht vorbehalten hatten, Jedermann den Aufenthalt hier zu genehmigen oder zu versagen, so ließ sich jene Bestimmung von Anfang an leicht durchführen.

Das erste größere Unternehmen bestand in der Herstellung einer Geleisverbindung mit der Pacific-Railroad, welche zunächst nach Sacramento führte. Man suchte dabei alle größeren Dammschüttungen oder tieferen Einschnitte, die einen üblen Einfluß auf die Gesundheit der Nachbarschaft hätten ausüben können, möglichst zu vermeiden. Diese Arbeit und gleichzeitig die Fertigstellung des Hafens wurde mit außergewöhnlichem Eifer betrieben. Mit dem Monat April trafen auf dem Bahnhofe von France-Ville die bisher noch in Europa zurückgebliebenen Comité-Mitglieder mit dem ersten directen Zuge von New-York ein.

Inzwischen waren der allgemeine Plan der Stadt entworfen und die leitenden Grundsätze für Errichtung der Privatwohnungen und öffentlichen Gebäude festgestellt worden.

An nothwendigem Materiale mangelte es keineswegs; auf die ersten Nachrichten über dieses Project hin beeilte sich die amerikanische Industrie, die Quais von France-Ville mit allen nur denkbaren Baumaterialien zu überschwemmen. Die Gründer geriethen vielmehr wegen der großen Auswahl in Verlegenheit. Sie beschlossen zunächst, daß Quadersteine nur zu öffentlichen Gebäuden und sonst nur zur Ausschmückung benützt, das Mauerwerk für Wohnhäuser aber aus gebrannten Ziegeln errichtet werden solle. Wohlverstanden aber nicht aus jenen unförmigen, groben, mit mehr oder weniger Erde vermischten, oft nur halbgebrannten Ziegeln, sondern aus leichten, nach Form, Gewicht und Dichtigkeit gleichen und ihrer Länge nach von parallelen cylindrischen Luftzügen durchborten Backsteinen. Diese immer aneinander gefügten Oeffnungen sollten dann in der ganzen Mauer verlaufende und an den Enden freimündende Kanäle bilden, um der Luft auf diese Weise vollkommen unbehinderte Circulation sowohl in den Umfassungsmauern der Gebäude als auch in deren Innenwänden zu gewähren2. Eine solche Anordnung hatte daneben noch den Vortheil, den Schall bedeutend abzuschwächen und jeden Raum gewissermaßen unabhängig von den nebenliegenden zu machen.

Das Comité sah davon ab, den Bauenden einen gewissen Typus der Häuser vorzuschreiben; es bekannte sich vielmehr als Gegner einer ermüdenden, geschmacklosen Gleichförmigkeit und begnügte sich, nur folgende Grundregeln aufzustellen, nach welchen die Architekten sich zu richten hätten:

1. Jedes Haus soll für sich isolirt mitten auf einem mit Bäumen, Rasenplätzen und Blumen ausgestatteten Platze stehen und für je eine einzige Familie eingerichtet werden.

2. Kein Haus darf mehr als zwei Stockwerke enthalten; Licht und Luft sollen von Niemand zum Nachtheile eines Anderen abgesperrt werden.

3. Die Front jedes Gebäudes soll zehn Meter von der Straße zurückstehen und von letzterer durch ein Gitter in Armhöhe geschieden sein. Der Raum zwischen Gitter und Façade ist als Blumengarten herzurichten.

4. Die Mauern sind aus patentirten, probemäßigen Tubular-Backsteinen zu errichten. Bezüglich der Ausschmückung gilt keinerlei Vorschrift.

5. Die Dächer sind flach, mit leichter Neigung nach allen vier Seiten des Hauses anzulegen, mit Asphalt abzudecken und mit einem gegen Unfall sichernden Schutzgitter zu versehen; auch ist für geeignete Vorrichtung zum schnellen Abfluß der atmosphärischen Niederschläge zu sorgen.

6. Alle Häuser sollen auf Kellerwölbungen ruhen, welche nach allen Seiten offen sind. Wasserleitungen und Abfallrohre verlaufen an dem mittelsten Hauptpfeiler, um ihren Zustand bequem im Auge behalten zu können und im Falle einer Feuersbrunst den nöthigen Wasservorrath bei der Hand zu haben. Der Boden jener, das Straßenniveau mindestens einen halben Meter überragenden Gewölbehalle ist sorgfältig zu besanden. Von letzterer führt eine besondere Treppe nach den Küchen und sonstigen Wirthschaftsräumen, so daß alle darauf bezüglichen Verrichtungen ausgeführt werden können, ohne den Gesichts- oder Geruchssinn zu beleidigen.

7. Küchen, Wirthschaftsräume u. s. w. werden, abweichend von dem gewöhnlichen Gebrauch, in das oberste Stockwerk verlegt und stehen daselbst in bequemer Verbindung mit dem platten Dache, das zu ihnen gewissermaßen einen geräumigen Anhang in freier Luft darstellt. Ein Aufzug, bewegt durch mechanische Kräfte, die den Einwohnern ebenso wie das künstliche Licht und das Wasser zu ganz mäßigen Preisen geliefert werden, besorgt die Beförderung aller Lasten nach jenem Stockwerke.

8. Die Anordnung der Zimmereinrichtung bleibt dem Gutdünken jedes Einzelnen überlassen. Streng verpönt sind nur zwei gefährliche Krankheits-Erzeuger, zwei wirkliche Miasmen-Brutstätten und Gift-Laboratorien: Teppiche und Tapeten! Die von geschickten Ebenisten aus kostbaren Holzarten künstlich zusammengefügten Parquettfußböden könnten nur verlieren, wenn sie unter Wollengeweben von stets zweifelhafter Sauberkeit verborgen würden. Die mit geglätteten und gefirnißten Backsteinen bekleideten Mauern prunken in dem Glanze und der Abwechslung der Gemächer aus der besten Zeit Pompejis und zeigen dabei eine Fülle und Dauerhaftigkeit der Farben, welche die Tapeten mit ihren feinvertheilten Giftsubstanzen nimmermehr erreichen. Man wäscht sie einfach ab wie Spiegel- oder Fensterscheiben, oder wie man Fußböden und Deckenflächen abreibt. Dabei kann sich keine Spur eines Krankheitskeimes in irgend einem Hinterhalte verstecken.

9. Schlaf- und Ankleidezimmer müssen getrennt sein. Es kann nicht warm genug empfohlen werden, das erstere, in dem man ja den dritten Theil des Lebens zubringt, so groß, so luftig und zugleich so einfach als möglich herzustellen. Es hat dasselbe eben nur zum Schlafen zu dienen; vier Stühle, ein eisernes Bett mit Roßhaar-Stahlfedermatratze und eine fleißig ausgeklopfte wollene Decke genügen zu seiner Ausstattung. Daunenbetten, gesteppte und andere Fußdecken sind als die mächtigen Verbündeten epidemischer Krankheiten natürlich ausgeschlossen. Feine, leichte und warmhaltende Wollendecken, welche leicht zu reinigen sind, ersetzen jene vollständig. Ohne über Vorhänge und andere Draperien etwas Besonderes zu bestimmen, folge man doch dem Rathe, dieselben nur aus leicht waschbaren Stoffen zu wählen.

10. Jedes Zimmer erhalte seinen eigenen Kamin, der nach Belieben mit Holz oder Kohle geheizt werden mag, für jede Feuerstelle soll aber auch eine nach außen mündende Oeffnung zum Aufsaugen frischer Luft vorhanden sein. Was den Rauch betrifft, so soll derselbe nicht unmittelbar durch die Dächer entweichen, sondern durch unterirdische Kanäle nach speciellen, auf städtische Kosten zu unterhaltende Oefen geleitet werden, deren jeder den Rauchabgang von je 200 Häusern aufnimmt, von den schwebenden Kohlentheilchen befreit und in einer Höhe von 35 Meter in farblosem Zustande in die Luft entläßt.

Hiermit schließen die für Errichtung der Einzelwohnungen aufgestellten Regeln.

Auch die für das Allgemeine maßgebenden Grundsätze sind nur nach sorgfältigster Erwägung aufgestellt.

Der Plan der ganzen Stadt zeichnet sich zunächst durch seine Einfachheit und Regelmäßigkeit aus, welche eine unbegrenzte Weiterentwickelung gestatten. Die sich rechtwinkelig kreuzenden Straßen folgen einander in gleichen Abständen und sind alle gleich breit, mit Bäumen bepflanzt und durch Nummern bezeichnet.

Von ein halb zu einem halben Kilometer unterbricht diese Ordnung eine breitere, alleeartige Straße mit einer nicht bepflanzten Strecke an jeder Seite, welche für die städtischen Pferde- und Dampfeisenbahnen bestimmt ist. Jede Kreuzung einer solchen Allee bildet einen öffentlichen, vorläufig mit schönen Copien der Meisterwerke der Sculptur geschmückten Garten, bis einst die Künstler von France-Ville selbst würdige Originale an Stelle jener Copien geschaffen haben.

Alle Beschäftigungsarten und jede Handelsthätigkeit sind frei.

Zur Erlangung des Aufenthaltsrechtes in France-Ville genügt es, aber ist es auch unbedingt nöthig, gute Empfehlungen beizubringen, sowie den Nachweis der Befähigung zu nützlicher Thätigkeit in einem Gewerbe, einer Wissenschaft oder einer Kunst, und sich endlich zur Einhaltung der städtischen Gesetze zu verpflichten. Eigentliche Müßiggänger bleiben von dem Gemeinwesen ausgeschlossen.

Oeffentliche Gebäude wuchsen schon in großer Zahl empor. Die hervorragendsten derselben sind die Hauptkirche, eine Anzahl Kapellen, die Museen, Bibliotheken und die Volks- und Gelehrtenschulen, welche man so luxuriös und mit Rücksicht auf alle hygienischen Anforderungen hergestellt hat, daß sie jeder Großstadt zur Ehre gereichen würden.

Selbstverständlich unterliegen die Kinder einem weisen Schulzwange, der sie nöthigt, an allen geistigen und körperlichen Uebungen theilzunehmen, welche die gleichmäßige Gehirn- und Muskelausbildung derselben verbürgt. Man gewöhnt sie dabei an eine so strenge Reinlichkeit, daß sie vor einem Flecken auf ihren einfachen Kleidern bald einen wirklichen Abscheu empfinden.

Die Beobachtung der peinlichsten Reinlichkeit seitens des Einzelnen wie der Gesammtheit lag den Gründern von France-Ville übrigens vom Anfang an vorwiegend am Herzen. Zu säubern und immer wieder zu säubern, alle Miasmen, welche jede Anhäufung von Menschen nothwendiger Weise mit sich bringt, schon im Keime zu ersticken und unschädlich zu machen, das betrachtete die städtische Verwaltung überhaupt als ihre wichtigste Aufgabe. Zu dem Zwecke wurde der Abfluß der Kloaken vor der Stadt gesammelt und einem geeigneten Verfahren unterworfen, wodurch er verdichtet und zur bequemen Ueberführung nach den Feldern geeignet gemacht wurde.

Wasser fließt überall in reichlicher Menge. Die mit getheertem Holz gepflasterten Straßen, wie die mit Steinplatten belegten Fußwege erinnern an die Sauberkeit eines holländischen Hauses. Nahrungsmittel werden unablässig besichtigt und untersucht, und drohen solchen Händlern, welche es versuchen sollten, sich auf Kosten der öffentlichen Gesundheit zu bereichern, sehr empfindliche Strafen. Ein Geschäftsinhaber, der ein schlechtes Ei, verdorbenes Fleisch oder einen Liter Milch von zweifelhafter Güte verkauft, wird als Vergifter – und ein solcher ist er ja in der That – behandelt und verurtheilt. Die Handhabung der so notwendigen und doch so schwierigen Gesundheitspolizei ist erfahrenen Männern, wirklichen Specialisten in diesem Fache anvertraut, welche in den Normalschulen hierzu eigens herangebildet werden.

Ihre Befugniß, rechtskräftig einzuschreiten, erstreckt sich sogar bis auf die in großem Style eingerichteten Waschanstalten, welche mit Dampf arbeiten und neben geräumigen Trockensälen vorzüglich auch Desinfections- Zimmer besitzen. Niemand erhält seine Leibwäsche zurück, ohne daß dieselbe gründlich gebleicht worden wäre, und dabei achtet man auch sorgfältig darauf, die Sendungen zweier Familien niemals zu vermengen. Diese einfache Vorsichtsmaßregel ist von ganz unberechenbarem Erfolge.

Krankenhäuser giebt es nur wenige; man bevorzugt allgemein die häusliche Verpflegung und jene dienen nur für wohnungslose Fremde oder ganz außergewöhnliche Fälle. Es ist wohl kaum nöthig, hervorzuheben, daß in den Köpfen der Begründer dieser Musterstadt der Gedanke nicht platzgreifen konnte, ein Krankenhaus in weit größerem Umfange als gewöhnliche Gebäude herzustellen und sieben- bis achthundert Kranke auf einem einzigen Infectionsherde zusammenzupferchen. Im Gegentheil, statt der wissenschaftlich gar nicht zu begründenden Methode, mehrere Kranke an einer Stelle zu vereinigen, strebte man vielmehr darnach, solche möglichst zu isoliren, eine Maßregel, welche deren eigenes, wie das öffentliche Interesse gebieterisch erheischt. Selbst in jedem Privathause sorgt man dafür, einen Kranken in einem abgesperrten Zimmer zu pflegen. So dienen die kleinen Krankenhäuser eigentlich mehr nur als zeitweilige Stationen für dringende Fälle. Zwanzig, höchstens dreißig Kranke finden, jeder in einem Raume für sich, Unterkunft in den leichten, aus Weidenholz errichteten Baracken, die man jedes Jahr einfach abbrennt, um sie neu zu errichten. Diese nach feststehendem Modell errichteten luftigen Bauten gewähren auch noch den Vortheil einer leichten Ueberführung nach dem oder jenem Theile der Stadt und einer dem jeweiligen Bedarf entsprechenden Vermehrung oder Verminderung.

Als nennenswerthe Neuerung ist die Ausbildung eines ganzen Corps geprüfter Krankenpflegerinnen zu betrachten, welche die Verwaltung zur Verfügung der Bewohner bereit hält. Diese sorgfältig ausgewählten Frauen leisten den Aerzten eine gar nicht zu unterschätzende Hilfe. Sie treten in den Schooß der betroffenen Familien, ausgerüstet mit den so nothwendigen und gerade im Momente der Gefahr oft schmerzlich vermißten praktischen Kenntnissen, und erfüllen neben der Aufgabe, den Kranken zu pflegen, auch die andere, der Verbreitung der Krankheit selbst entgegen zu wirken.

Es würde viel zu weit führen, wollte man hier alle hygienischen Verbesserungen aufzählen, welche die Gründer der neuen Stadt daselbst eingeführt haben. Jeder Bewohner erhält bei seiner Ankunft ein kleines Büchlein eingehändigt, das ihm die wichtigsten Grundregeln einer wissenschaftlich geordneten Lebensweise in einfacher leichtverständlicher Sprache erläutert.

Er ersieht daraus, daß das möglichst vollkommene Gleichgewicht aller Functionen eine Grundbedingung der Gesundheit bildet; daß den Organen des Körpers Arbeit und Ruhe gleich nothwendig sind; daß das Gehirn der Ermüdung ebenso bedarf, wie die Muskeln; daß neun Zehntel aller Krankheiten von einer durch die Luft oder durch Nahrungsmittel verbreiteten Ansteckung herrühren. Er wird um seine Wohnung und seine Person also so viel als möglich »Quarantäne-Anstalten« errichten. Die Enthaltung von aufregenden Giften (Spirituosen u. dgl.), tägliche Körperübungen, gewissenhafte Durchführung auch geistiger Arbeit, der Genuß reinen Wassers, gesunden Fleisches und leichter, einfach zubereiteter Gemüse, eine regelmäßige Nachtruhe von sieben bis acht Stunden, das ist so etwa das ABC der Gesundheit.

Während wir von den durch die Begründer aufgestellten Grundzügen ausgingen, haben wir von dieser eigenartigen Stadt unwillkürlich wie von einem in sich vollendeten Gemeinwesen gesprochen. Und in der That erhoben sich, nachdem nur die ersten Gebäude errichtet waren, die weiteren wie durch Zauberschlag aus der Erde. Man muß den »Far-West« (fernen Westen) selbst besucht haben, um dieses wunderbare Emporblühen der Städte zu verstehen. Im Januar 1872 noch eine Einöde, zählte die erwählte Ansiedelungsstelle 1873 schon 6000 Gebäude; im Jahre 1874 standen 9000 vollendet.

An diesem unerhörten Erfolge hat freilich auch die Speculation ihren Antheil. Auf dem ausgedehnten und anfangs ziemlich werthlosen Terrain wurden die Häuser gleich in Massen erbaut und dann zu sehr mäßigen Preisen und unter annehmbaren Bedingungen vermiethet. Die vollständige Zollfreiheit, die politische Unabhängigkeit des kleinen, isolirten Gebietes, der Reiz der Neuheit und die Milde des Klimas lenkten die Auswanderung hierher. Zur Zeit zählt France-Ville schon 100.000 Einwohner.

Von größerem Werthe und für uns von alleinigem Interesse erscheint die Thatsache, daß dieses hygienische Experiment als vollkommen geglückt zu betrachten ist. Während die jährliche Sterblichkeit in den meistbegünstigten Städten Europas und der Neuen Welt nie merkbar unter drei Procent herabgegangen ist, erreicht der fünfjährige Durchschnitt für France-Ville nur anderthalb Procent. Auf die Höhe dieser Ziffer wirkte auch noch eine kleine Sumpffieber-Epidemie, welche ganz im Anfange ausbrach. Die Sterblichkeit des letzten Jahres z. B. erreicht nur ein und ein Viertel Procent. Eine andere gewichtige Erscheinung ist die, daß mit sehr wenigen Ausnahmen alle registrirten Todesfälle von specifischen, meist angeerbten Erkrankungen herrühren. Zufällige Erkrankungen waren dagegen ungemein selten, beschränkter und minder gefährlicher Natur, als an irgend einem anderen Orte. Eigentliche Epidemien kamen gar nicht zur Beobachtung.

Wir werden die weitere Entwickelung dieses Versuches im Großen stets mit Interesse verfolgen. Es wäre vorzüglich werthvoll, festzustellen, ob der Einfluß einer wissenschaftlich geordneten Lebensweise auf eine ganze Generation, oder lieber auf mehrere einander folgende Generationen wohl im Stande wäre, auch angeerbte krankhafte Anlagen aufzuheben.

»Eine solche Hoffnung erscheint gar nicht zu kühn, schreibt einer der Begründer dieser wunderbaren Colonie, und wie weittragend müßten in diesem Falle die Folgen davon sein! Die Menschen würden bis zum neunzigsten oder hundertsten Jahre leben und, wie die meisten Thiere, wie die pflanzlichen Organismen, nur in Folge von Altersschwäche eingehen!«

Ein solcher Traum hat wirklich viel Verführerisches.

Sollen wir indeß unsere innerste Ueberzeugung aussprechen, so glauben wir vorläufig noch nicht sehr fest an den endlichen Erfolg des ganzen Experimentes.

Einen Grund- und Hauptfehler finden wir darin, daß die Leitung in Händen von lateinischer Abstammung ruht und das germanische Element davon principiell ausgeschlossen wurde. Das ist ein übles Vorzeichen. Seit die Welt besteht, ist nichts Beständiges geschaffen worden, außer durch Deutschland, und so wird es auch in Zukunft sein. Die Gründer von France-Ville vermochten wohl den Weg zu bahnen, über einige dunkle Punkte Licht zu verbreiten; aber nicht an diesem Punkte Amerikas, in Syrien ist es, wo wir einst die wahre Musterstadt werden emporwachsen sehen.«

  1. Diese Vorschriften wie überhaupt die ganze Idee zu dem hier entwickelten Plane sind einem Entwurfe des Dr. Benjamin Ward Richardson, Mitglied der Königl. Ges. d. Wissensch. in London, entlehnt.

Elftes Capitel.


Elftes Capitel.

Ein Abendessen bei Dr. Sarrasin.

Am 13. September – nur wenige Stunden vor dem von Herrn Schultze für die Zerstörung France-Villes festgesetzten Zeitpunkte – hatten weder der Gouverneur noch die Einwohner der Stadt eine Ahnung von der ihnen drohenden entsetzlichen Gefahr.

Es war um sieben Uhr Abends.

Lauschig verdeckt von dichten Oleandern und Tamarinden, dehnte sich die freundliche Stadt längs des Abhanges der Cascadenberge aus, während die kurzen Wellen des Stillen Oceans sich an ihren Marmor-Quais geräuschlos brachen. Die sorgsam gesprengten, von der frischen Meeresbrise durchwehten Straßen boten ein ebenso lachendes wie belebtes Bild. Die Bäume, welche sie beschatteten, murmelten in leisem Rauschen. Die Rasenplätze prangten im herrlichsten Grün. Auf schmucken Beeten öffneten die Blumen ihre Kelche und strömten liebliche Wohlgerüche aus. Selbst die Häuser schienen selbstgefällig zu lächeln in ihrem sauberen weißen Gewande. Die Luft war ruhig, der Himmel blau wie das endlose Meer, das am Ende der langen Alleestraßen glänzte.

Ein Reisender, der zufällig die Stadt betreten hätte, würde erstaunt gewesen sein über das gesunde Aussehen der Bewohner und über das rege Treiben, das in den Straßen herrschte. Man schloß soeben die in einem Quartiere vereinigten Akademien für Malerei, Bildhauerkunst und Musik nebst der öffentlichen Bibliothek, in welch‘ genannten Anstalten ausgezeichnete Lehrcurse mit stets nur wenigen Schülern abgehalten wurden, wobei jeder Einzelne dafür desto größeren Nutzen daraus zu ziehen vermochte. Die Menschenmenge, welche jenen Instituten entströmte, veranlaßte zeitweilig sogar wirkliche Verkehrshindernisse; trotzdem ließ sich kein ungeduldiger Ausruf, kein wüstes Geschrei vernehmen. Alles trug das Gepräge der Ruhe und Befriedigung.

Nicht im Herzen der Stadt, sondern nahe der Küste des Oceans hatte die Familie Sarrasin sich ihr trauliches Heim errichtet. Hier ließ sich gleich zu Anfang – denn sein Haus gehörte zu den zuerst vollendeten Bauten – Doctor Sarrasin mit Gattin und seiner Tochter Jeanne nieder.

Octave, der improvisirte Millionär, zog es vor, in Paris zu bleiben; jetzt fehlte ihm aber Marcel, der treue Mentor, sehr fühlbar.

Seit jener Zeit, wo sie in der Rue du Roi-de-Sicile bei einander wohnten, hatten sich die beiden Freunde fast aus dem Gesichte verloren. Als der Doctor mit Frau und Tochter nach der Küste von Oregon auswanderte, blieb Octave also als sein eigener Herr zurück. Bald wendete er sich von der Schule, wo er nach seines Vaters Wunsche die Studien fortsetzen sollte, mehr und mehr ab und fiel beim letzten Examen, das Marcel mit der ersten Censur bestand, elend durch.

Bis dahin war Marcel der Compaß des armen Octave gewesen, der nun einmal seinen Weg nicht allein zu finden wußte. Nach der Abreise des jungen Elsäßers begann er in Paris bald das Leben eines großen Herrn zu führen. Den größten Theil seiner Zeit verbrachte er auf dem Bocke eines prächtigen Viergespanns, das fortwährend zwischen der Avenue Marigny, wo er jetzt wohnte, und den verschiedenen Rennbahnen innerhalb der Bannmeile umherjagte. Octave Sarrasin, der noch vor drei Monaten sich kaum im Sattel der Reitbahnpferde halten konnte, die er damals stundenweise miethete, war plötzlich zu einem der in die Geheimnisse der Hippologie am besten eingeweihten Männer Frankreichs geworden. Diese »Erziehung« verdankte er einem von ihm gemietheten englischen Groom, der ihn durch den Reichthum seiner Fachkenntnisse vollkommen zu beherrschen verstand.

Schneider, Sattler, Schuhmacher beanspruchten seine Morgenstunden. Die Abende gehörten den kleinen Theatern und den funkelnagelneuen, an der Ecke der Rue Trouchet eröffneten Gesellschaftssälen, welche Octave deshalb bevorzugte, weil er hier Leute fand, die wenigstens seinem Gelde die Ehren erwiesen, die seine Verdienste ihm doch niemals errungen hätten. Die Welt hier erschien ihm als das Ideal der Vornehmheit. Auffallender Weise zeigte die im Vorzimmer angebrachte, kostbar eingerahmte Liste der Besucher nur ausländische Namen. Vielsagende Titel wucherten hier wie Unkraut, so daß man beim Durchlesen derselben eher geglaubt hätte, im Vorzimmer eines heraldischen Hörsaales zu verweilen. Beim weiteren Eindringen mußte man sich dagegen unwillkürlich in eine lebende ethnologische Ausstellung versetzt glauben. Alle großen Nasen und gelben Teints der Alten und der Neuen Welt schienen sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben. Diese kosmopolitischen Gestalten erschienen zwar alle in höchst sorgfältiger Garderobe, doch verrieth dabei die sichtbare Bevorzugung hellfarbiger Stoffe das ewige Bestreben der schwarzen und gelben Racen, sich äußerlich den »Bleichgesichtern« möglichst ähnlich zu machen.

Octave Sarrasin erschien inmitten dieser Zweihänder wie ein kleiner Gott. Man citirte seine Worte, copirte seine Cravaten und erkannte seine Urtheile als Glaubens-Artikel an. Betäubt von solchem Weihrauchdufte, bemerkte er selbst dann gar nicht, daß er bei jeder Gelegenheit stets sein Geld verlor. Einige Mitglieder des Clubs, geborne Orientalen, schienen für sich einen gewissen Anspruch auf die Nachlassenschaft der Begum zu erheben. Jedenfalls wußten sie nicht zu wenig davon auf langsamem aber sicherem Wege in ihre Taschen überzuleiten.

Unter diesen neuen Verhältnissen hatten sich die alten Bande zwischen Octave und Marcel bald gelockert. Kaum wechselten die beiden Freunde in langen Zwischenräumen einmal einen Brief miteinander. Welche Gemeinsamkeit bestand noch zwischen dem emsigen Arbeiter, der nur nach dem einen Ziele strebte, seine geistige Entwickelung nach allen Seiten zu vervollkommnen, und dem auf seinem Reichthum stolzen, hübschen jungen Mann, dessen Kopf einzig mit Clubgeschichten und Stallmemoiren erfüllt war?

Wir wissen, daß Marcel die Hauptstadt Frankreichs verließ, zuerst, um die Maßnahmen des Herrn Schultze zu beobachten, der eben Stahlstadt, eine Rivalin von France-Ville, auf dem nämlichen unabhängigen Gebiete der Vereinigten Staaten gegründet hatte, und später, um in den Dienst des Stahlkönigs einzutreten.

Octave führt sein unnützes Leben voller Zerstreuungen zwei Jahre hindurch. Endlich begab er sich, aller jener hohlen Dinge herzlich müde, nach Vergeudung einiger Millionen wieder zu seinem Vater, ein Schritt, der ihn noch in der zwölften Stunde vor dem Untergange – dem physischen weniger als dem moralischen – rettete. Jetzt wohnte er also in France-Ville, in dem Hause des Doctors.

Seine Schwester Jeanne hatte sich, ihrem Aeußeren nach zu urtheilen, zur herrlichen Jungfrau ausgebildet. Jetzt neunzehn Jahre alt, zeigte sie nach vierjährigem Aufenthalte in dem neuen Vaterlande alle hervorragenden Eigenschaften der Amerikanerin in Verbindung mit der Grazie der Französin. Ihre Mutter äußerte manchmal, daß sie erst seit dem stündlichen Zusammenleben mit der Tochter den Reiz eines innig vertrauten Umgangs kennen gelernt habe.

Frau Sarrasin selbst war seit der Heimkehr ihres verlornen Sohnes, ihres Kronprinzen, des Kindes ihrer Hoffnung, so vollkommen glücklich, als man es hiernieden überhaupt sein kann, denn sie fühlte sich als Theilnehmerin aller der Wohlthaten, die ihr Mann, Dank seinem unermeßlichen Reichthume, austheilen konnte und auch wirklich austheilte.

Am heutigen Abend hatte Dr. Sarrasin zwei seiner besten Freunde bei Tische, den Colonel Hendon, ein altes Ueberbleibsel vom Secessionskriege her, der damals einen Arm bei Pittsburg und ein Ohr bei Seven-Oaks zurückließ, seine Partie Schach aber noch ebensogut wie jeder Andere spielte, und dazu Herrn Lentz, den Oberleiter des Unterrichtswesens in der neuen Stadt.

Die Unterhaltung bewegte sich um einige städtische Verwaltungs-Angelegenheiten, wie um die in den öffentlichen Anstalten jeder Art, in den Schulen, Hospitälern, gegenseitigen Hilfscassen u.s.w. bisher erzielten Erfolge.

Nach dem Programme des Doctors, das auch der Unterweisung in der Religion eine Stelle anwies, hatte Herr Lentz mehrere Volksschulen in’s Leben gerufen, in denen es als Hauptaufgabe der Lehrer betrachtet wurde, den Geist der Kinder zu entwickeln, indem derselbe gewissermaßen einer intellektuellen Gymnastik unterworfen wurde, welche sich der natürlichen Entfaltung seiner Fähigkeiten möglichst anpaßte. Man lehrte den Kindern einen Zweig des Wissens eher lieben, bevor man sie damit vollpfropfte, und vermied damit jene seichten Kenntnisse, welche nach Montaigne »nur auf der Oberfläche des Gehirns schwimmen«, nicht in das Verständniß übergehen und weder weiser noch besser machen. Später, nach verständig geleiteter Vorbereitung, würde sich der dann einzuhaltende, fruchtversprechende Weg der Weiterbildung von selbst offenbaren.

In jener Zeit stand France-Ville übrigens in schönster Blüthe, in materieller wie in intellectueller Hinsicht. Hier fanden sich die hervorragendsten Gelehrten beider Halbkugeln zusammen. Künstler wie Maler, Bildhauer und Musiker, welche das Ansehen der Stadt herbeilockte, gab es in Menge. Unter solchen Meistern bildete sich die aufwachsende Jugend und versprach diesen Winkel Amerikas einst mit noch größerem Glanze zu umgeben. Man durfte mit Recht voraussetzen, daß dieses neue Athen französischen Ursprungs noch allen anderen Städten den Rang ablaufen werde.

Gleichzeitig ward in den höheren Schulen auch der militärischen Erziehung ihr Theil. Beim Abgange von denselben kannten die jungen Leute neben der Handhabung der Waffen auch die Grundsätze der Taktik und der Strategie.

Colonel Hendon sprach sich, als man dieses Thema berührte, auch mit größter Befriedigung über die jungen Recruten aus.

»Sie sind, sagte er, schon an die Gewaltmärsche, an Strapazen und alle körperlichen Uebungen gewöhnt. Unser Heer besteht aus allen wehrfähigen Männern der Stadt, und wenn der Tag einmal kommen sollte, würden sich gewiß Alle als geschulte, disciplinirte Soldaten erweisen.«

Wohl stand France-Ville mit allen Nachbarstaaten, die es sich bei jeder Gelegenheit zu Danke verpflichtet hatte, im besten Einvernehmen; kommt aber das eigene Interesse in Frage, so hat der Undank meist die lauteste Stimme; deshalb hielten Doctor Sarrasin und seine Freunde sich auch immer zu dem Grundsatze: Hilf Dir selbst, so wird Gott Dir helfen! – und waren also gewöhnt, sich nur auf sich allein zu verlassen.

Das Abendessen näherte sich dem Ende, der Nachtisch wurde eben aufgehoben und die Damen verließen, nach der hier zur Geltung gelangten angelsächsischen Sitte, den Tisch und das Gemach.

Doctor Sarrasin, Octave, Colonel Hendon und Herr Lentz setzten die begonnene Unterhaltung fort und besprachen die wichtigsten Fragen der politischen Oekonomie, als ein Diener eintrat und dem Doctor seine Zeitung überreichte.

Es war der »New-York Herald«. Dieses hochangesehene Blatt hatte von vornherein der Gründung und später der Entwickelung France-Villes mit wohlwollender Theilnahme gedacht und die ersten Persönlichkeiten der Stadt pflegten aus dessen Spalten sich über das Urtheil der Allgemeinheit bezüglich ihres Unternehmens zu unterrichten. Diese Vereinigung glücklicher, freier und in ihrem beschränkten Gebiete gänzlich unabhängiger Männer entbehrte natürlich auch nicht der Neider, und wenn die Bewohner France-Villes in Amerika auf der einen Seite Freunde besaßen, die sich ihrer annahmen, so gab es doch auch genug feindlich Gesinnte, die sie angriffen. Jedenfalls stand der »New-York Herald« auf ihrer Seite und versäumte nicht, ihnen öffentlich seine Achtung und Bewunderung zu zollen.

Plaudernd hatte Doctor Sarrasin das Kreuzband zerrissen und ließ ganz mechanisch seinen Blick über den ersten Artikel des Blattes gleiten.

Wie erstaunte er aber schon bei den ersten Zeilen, die er erst für sich und dann zur größten Verwunderung und tiefsten Entrüstung seiner Freunde mit lauter Stimme las:

»New-York, den 8. September. – Die nächsten Tage drohen mit der Erscheinung der gröblichsten Verletzung anerkannten Völkerrechtes. Wir vernehmen aus bester Quelle, daß in Stahlstadt die umfangreichsten Vorbereitungen im Werke sind, um France-Ville, die Stadt französischen Ursprungs, anzugreifen und zu vernichten. Wir wissen nicht, ob die Vereinigten Staaten im Stande oder gar verpflichtet sind, intervenirend in diesen Kampf einzutreten, der die lateinische und sächsische Race gegen einander aufhetzen könnte; wir unterlassen aber nicht, alle Männer von Ehrgefühl über diesen schnöden Mißbrauch der Gewalt zu benachrichtigen. Möge France-Ville keine Stunde verlieren, sich in Vertheidigungszustand zu setzen …« u.s.w.

Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Der Kriegsrath

Des Stahlkönigs Haß gegen Doctor Sarrasin und dessen Bestrebungen war Niemandem ein Geheimniß. Man wußte, daß er absichtlich seine Stadt gegenüber der anderen gegründet hatte. Immerhin lag doch ein weiter Zwischenraum zwischen diesem Schritte und der Absicht, die letztere durch einen Gewaltstreich ohne Gleichen zu zerstören. Der »New-York Herald« meldete das Unerhörte aber schwarz auf weiß. Die Correspondenten des mächtigen Journals hatten Herrn Schultze’s Geheimnisse erspäht und – sie sagten es ja – jetzt war keine Stunde zu verlieren!

Der würdige Doctor saß anfangs ganz betäubt da. So wie jeder brave Mann sträubte er sich lange, das Entsetzliche zu glauben. Es schien ihm unmöglich, daß Jemand sich so weit verirren könne, eine Stadt, welche gewissermaßen das allgemeine Eigenthum der Menschheit bildete, ohne Ursache, aus reiner Prahlerei, vernichten zu wollen.

»Bedenken Sie doch, rief er in aller Unschuld aus, daß unsere Sterblichkeit dieses Jahr nur ein und ein Viertel Procent betragen würde; daß wir keinen Knaben von zehn Jahren haben, der nicht lesen könne, daß seit der Gründung France-Villes keine Mordthat, kein Diebstahl vorgekommen ist! Und nun sollten Barbaren kommen, einen so glückverheißenden Versuch in seinem Anfange zu nichte zu machen? Nein, ich kann es nicht glauben, daß ein Chemiker, ein Gelehrter, und wäre es hundertmal ein Deutscher, solcher Verruchtheit fähig wäre!«

Nichtsdestoweniger durfte man die Warnung einer dem Werke des Doctors befreundeten Zeitung nicht unbeachtet lassen. Nach Ueberwindung der ersten Bestürzung wandte sich der Doctor, der seiner wieder Herr geworden, an seine Freunde.

»Meine Herren, begann er, Sie sind Mitglieder des Stadtrates, es liegt ihnen nicht weniger ob als mir, alle zur Rettung der Stadt nöthigen Maßregeln zu ergreifen. Was haben wir zunächst zu thun?

– Giebt es keine Möglichkeit eines gütlichen Ausgleichs? fragte Herr Lentz. Ist der Kampf ehrenvoller Weise zu vermeiden?

– Gewiß nicht, fiel Octave ein, Herr Schultze sucht ihn offenbar um jeden Preis. Sein Haß wird jede Verständigung vereiteln!

– So sei es, rief der Doctor, vielleicht sind wir doch im Stande, ihm gebührend zu antworten. Meinen Sie, Colonel, daß wir im Stande sind, den Kanonen von Stahlstadt Widerstand zu leisten?

– Jede menschliche Kraft kann offenbar durch eine andere menschliche Kraft überwunden werden, erwiderte Colonel Hendon, doch dürfen wir gar nicht daran denken, uns durch dieselben Mittel und Waffen, mit denen Herr Schultze jedenfalls angreifen wird, vertheidigen zu wollen. Die Herstellung von Kriegsmaschinen, die gegen die seinigen zu kämpfen vermöchten, erfordern eine viel zu lange Zeit, und ich bezweifle überhaupt, daß wir damit zu Stande kämen, da uns die dazu nöthigen Werkstätten gänzlich fehlen. Für unsere Rettung giebt es nur den einen Weg, den Feind uns fern zu halten und jede Belagerung unmöglich zu machen.

– Ich werde sofort die Rathsversammlung berufen!« sagte Doctor Sarrasin.

Mit diesen Worten schritt er schon seinen Gästen nach dem Arbeitszimmer voran.

Letzteres bildete ein einfach ausgestatteter, auf drei Seiten mit Büchergestellen erfüllter Raum, dessen vierte Seite unter einigen Gemälden und Kunstwerken eine Reihe numerirter, etwa einer Hörrohrmündung ähnlicher Apparate einnahm.

»Dank dem Telephon, sagte er, können wir in France-Ville eine Verhandlung abhalten, während jeder Theilnehmer zu Hause bleibt.«

Der Doctor berührte den Drücker eines Anrufglocken-Systems, das gleichzeitig in den Behausungen sämmtlicher Rathsmitglieder ertönte. In weniger als drei Minuten verkündete die durch jeden Leitungsdraht zugeführte Antwort: »Gegenwärtig!« daß der Rath versammelt war.

Der Doctor setzte sich nun vor seinem Sprechapparat, klingelte und sagte:

»Die Sitzung ist eröffnet. Mein ehrenwerther Freund, Colonel Hendon, hat das Wort, um dem Stadtrathe eine höchst wichtige Mittheilung zu machen.«

Darauf nahm der Colonel den Platz vor dem Telephon ein, verlas zuerst den Artikel aus dem »New-York Herald« und beantragte, daß sofort die nöthigen Maßregeln beschlossen würden.

Kaum hatte er geendet, als Nr. 6 die Frage stellte:

»Hält der Colonel eine Verteidigung auch dann noch für möglich, wenn sich die von ihm vorgeschlagenen Mittel zur Fernhaltung des Feindes als unzureichend erweisen sollten?«

Colonel Hendon antwortete bejahend. Frage und Antwort waren inzwischen augenblicklich auch den anderen nicht sichtbaren Theilnehmern der Sitzung ebenso zu Ohren gekommen, wie die vorher gegangenen Erklärungen.

Nr. 7 fragte an, wie viel Zeit ihnen zur Vorbereitung des Kampfes bleiben würde.

Der Colonel vermochte das nicht zu bestimmen, meinte aber, man solle an’s Werk gehen, als stehe der Angriff schon in vierzehn Tagen bevor.

Nr. 2: »Sollen wir den Angriff abwarten oder halten Sie es für rathsamer, demselben zuvorzukommen?

– Unsere Lage verlangt das letztere, antwortete der Colonel, und wenn uns z. B. eine Landung von der Seeseite her droht, werden wir Herrn Schultze’s Schiffe durch Torpedos zu sprengen suchen!«

Auf diese Aeußerung hin erbot sich Doctor Sarrasin, ein Comité der hervorragendsten Chemiker und der erfahrensten Artillerie-Officiere zu berufen, um diesem die Prüfung der von Colonel Hendon zu machenden Vorschläge zu überweisen.

Frage des Telephons Nr. 1:

»Welcher Geldsumme bedarf es zur schleunigsten Fertigstellung der Vertheidigungsmittel?

– Wir brauchen etwa fünfzehn bis zwanzig Millionen Dollars.«

Nr. 4: »Ich beantrage, sofort eine allgemeine Bürgerversammlung einzuberufen.«

Präsident Sarrasin: »Ich bringe diesen Antrag zur Abstimmung!«

Zwei aus jedem Telephon ertönende Glockenschläge meldeten dessen einstimmige Annahme.

Es war jetzt achtundeinhalb Uhr. Die Sitzung hatte kaum achtzehn Minuten gedauert und Niemand aus seiner Ruhe gestört.

Die Volksversammlung wurde hierauf durch ein ebenso einfaches als schnell wirksames Mittel einberufen. Kaum hatte Doctor Sarrasin, immer mittelst Telephon, den Beschluß des Rathsgremiums nach dem Stadthause gemeldet, als schon auf allen bei den 280 Straßenkreuzungen der Stadt angebrachten Säulen eine elektrische Glocke ertönte. Diese Säulen überragte ein beleuchtetes Zifferblatt, dessen durch Elektricität bewegte Zeiger sofort auf acht und ein halb Uhr – die Stunde der Einberufung – eingestellt wurden.

Alle Bewohner, denen durch jene eine Viertelstunde über andauernden Glockenzeichen eine gleichzeitige Meldung zuging, eilten aus den Häusern, richteten die Blicke nach dem ihnen nächsten Zifferblatte und verloren, überzeugt, daß eine nationale Pflicht sie nach dem Stadthause riefe, keinen Augenblick, sich dahin zu begeben.

In kürzester Zeit war die Versammlung vollzählig. Doctor Sarrasin befand sich schon auf seinem Ehrenplatze, umgeben von den Mitgliedern des Rathes. Colonel Hendon wartete am Fuße der Tribüne nur, daß ihm das Wort ertheilt würde.

Die meisten Anwesenden kannten schon die Hiobspost, welche Veranlassung zu diesem Meeting gab. Die von dem Telephon des Stadthauses automatisch niedergeschriebene Verhandlung des Rathes war sofort an die Journale versendet worden, welche sie als Extrablatt durch öffentlichen Anschlag bekannt gaben.

Der Stadthaussaal bildete einen großartigen, glasüberdachten Raum mit vorzüglicher Ventilation, über den lange, an den eisernen Gewölbträgern angebrachte Gasflammenreihen ihr gleichmäßiges, überreiches Licht ergossen.

Ringsumher stand die ruhige, erwartungsvolle Menge. Jedes Antlitz glänzte heiter. Das Vollgefühl von Gesundheit, die Gewohnheit eines regelmäßig geordneten Lebens und das Bewußtsein der eigenen Kraft ließen bei Niemandem eine besondere Erregung oder gar eine zornige Hitze aufkommen.

Kaum ertönte das Glockenzeichen des Vorsitzenden, als auch schon die vollkommenste Ruhe herrschte.

Der Colonel betrat die Tribüne.

Mit tiefer starker Stimme, ohne unnützen Redeschmuck und nichtssagende Floskeln – in der Sprache der Leute, welche wissen, was sie sagen und sich über ihren Gegenstand mit Klarheit verbreiten, weil sie denselben beherrschen – schilderte Colonel Hendon Herrn Schultze’s tiefwurzelnden Haß gegen Frankreich, gegen Sarrasin und sein Werk, und nach dem »New-York Herald«, die furchtbaren Vorbereitungen zur Vernichtung France-Villes und seiner Bewohner.

»An diese selbst tritt nun die Forderung heran, den besten Ausweg zu suchen, fuhr er dann fort. Leute ohne Muth und Vaterlandsliebe würden vielleicht vorziehen, zurückzuweichen und den Angreifern die neue Heimat zu überlassen. Ich bin jedoch im Voraus überzeugt, daß solche kleinmüthige Vorschläge in den Herzen meiner Mitbürger kein Echo finden werden. Die Männer, welche die Tragweite der von den Gründern France-Villes erstrebten Ziele begriffen und sich den Gesetzen der Musterstadt unterwerfen konnten, diese Männer sind nothwendig auch Leute, die Kopf und Herz auf dem rechten Flecke haben. Als aufrichtige und streitbare Vertreter des Fortschrittes werden sie gern Alles thun, dieses Gemeinwesen ohne Gleichen, dieses preiswerthe Denkmal, das der Kunst, das Menschenloos zu verbessern, errichtet wurde, zu retten! Ja, es ist ihre Pflicht, auch das Leben in die Schanze zu schlagen für die Sache, die sie vertreten!«

Ein ungeheurer Beifallssturm folgte diesen mannhaften Worten.

Verschiedene Redner schlossen sich den Aeußerungen Colonel Hendon’s vollinhaltlich an.

Doctor Sarrasin betonte die Nothwendigkeit der sofortigen Constituirung eines Vertheidigungsrathes, der unter unentbehrlicher Geheimhaltung seiner Operationspläne die dringendsten Maßnahmen aus eigener Machtvollkommenheit zu treffen habe. (Ohne Discussion angenommen.)

Während der Sitzung brachte ein Rathsmitglied noch in Anregung, daß es sich empfehlen möchte, für die ersten Arbeiten einen vorläufigen Credit von fünf Millionen Dollars auszuwerfen. Alle Hände erhoben sich zustimmend.

Um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten schloß die Versammlung und schon wollten sich die Bewohner France-Villes nach der Erledigung der Anführer-Wahl zurückziehen, als sich ein unerwarteter Zwischenfall ereignete.

Die eben leerstehende Tribüne erklomm ein Unbekannter von sehr fremdartiger Erscheinung.

Der Mann schien wie durch Zauberei emporgeschnellt. Sein energisches Gesicht verrieth die gewaltigste Aufregung, während sein Auftreten die ruhigste Entschlossenheit zeigte. Die halbzerfetzte Kleidung voller Schmutz und Schlamm und die noch blutige Stirne ließen erkennen, daß er manche Fährlichkeit überwunden haben möge.

Bei seinem Anblick blieben Alle stehen. Durch nicht mißzudeutende Handbewegungen gebot der Unbekannte der Versammlung Ruhe.

Wer war er? Woher kam er? Niemand, selbst Doctor Sarrasin nicht, dachte daran, ihn darum zu fragen.

Neber seine Persönlichkeit erhielt man doch bald einigen Aufschluß.

»Ich bin aus Stahlstadt entflohen, sagte er, Herr Schultze hatte mich zum Tode verurtheilt, Gottes Gnade verdanke ich es, bis zu Euch gelangt zu sein, um in Zeiten eine Rettung zu versuchen. Mein verehrter, väterlicher Freund, Doctor Sarrasin, wird gewiß bestätigen, daß man, wenn mein jetziges Aussehen mich auch ihm selbst unkenntlich macht, zu Marcel Bruckmann einiges Vertrauen haben kann!

– Marcel!« riefen der Doctor und Octave wie aus einem Munde.

Beide eilten auf ihn zu …

Eine erneute Handbewegung hielt sie zurück.

In der That, das war der wunderbar errettete Marcel. Nachdem er, eben als er besinnungslos zusammenbrach, das Gitter des Kanals gesprengt, riß die Strömung seinen fast leblosen Körper mit sich fort. Zum Glück schloß jenes Gitter auch die Umwallung von Stahlstadt ab, und zwei Minuten später wurde Marcel draußen auf den Bachesrand geworfen – jetzt ein freier Mann, wenn er noch einmal auflebte.

Lange Stunden hindurch lag der muthige Jüngling ohne Bewegung, in finsterer Nacht und einsamer Gegend ohne alle Hilfe.

Als er wieder zu sich kam, war es schon hell geworden. Allmälig kehrte ihm auch die Besinnung wieder. Gott sei Dank, endlich war er dem vermaledeiten Stahlstadt entronnen und kein Gefangener mehr! Alle seine Gedanken strebten zu Doctor Sarrasin, seinen Freunden, seinen Landsleuten.

»Zu ihnen! Zu ihnen!« rief er laut.

Mit äußerster Anstrengung gelang es Marcel, sich aufzurichten.

Zehn Meilen trennten ihn von France-Ville, zehn Meilen, die er ohne Eisenbahn, Pferd oder Wagen durch das rings um Stahlstadt verlassene Land zurücklegen mußte. Ohne sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen, überwand er diese Strecke und langte um zehn ein Viertel Uhr bei den ersten Häusern der Stadt des Doctor Sarrasin an.

Hier klärten ihn schon die Maueranschläge über die Lage auf. Er erfuhr, daß die Bewohner von der ihnen drohenden Gefahr Kenntniß hatten; er fügte sich aber auch, daß diese weder wissen konnten, wie nahe sie über ihnen schwebte, noch viel weniger, von welcher Art dieselbe sei.

Die von Herrn Schultze beabsichtigte Katastrophe sollte noch heute Abend um elf Uhr fünfundvierzig Minuten hereinbrechen … jetzt war es fünfzehn Minuten nach zehn!

Eine letzte Anstrengung stand ihm noch bevor. Marcel stürmte durch die Stadt, was er nur laufen konnte, und um zehn Uhr fünfundzwanzig Minuten, eben als die Versammlung auseinander gehen wollte, stand er, ohne zu fragen, auf der Tribüne.

»Nicht nach einem Monate, meine Freunde, rief er, selbst nicht erst nach einer Woche droht Euch das Unheil zu erreichen. Vor Ablauf einer Stunde soll eine Katastrophe ohne Gleichen, ein Regen von Eisen und Feuer über Eure Stadt hereinbrechen. Eine wahre Höllenmaschine, welche zehn Meilen weit trägt, wird jetzt, da ich hier spreche, schon gegen sie gerichtet. Ich habe jene mit eigenen Augen gesehen! Mögen Frauen und Kinder Schutz suchen in den festesten Kellern oder bringt sie vorläufig aus der Stadt hinaus auf die Berge. Alle kräftigen Männer müssen sich zum Feuerlöschen bereit halten. Für jetzt ist das Feuer Euer einziger Feind! Weder Armeen noch Soldaten marschiren gegen Euch. Der Gegner, der Euch bedroht, verschmäht solch‘ alltägliche Angriffsmittel. Wenn sich die Pläne, die Rechnungen eines Mannes, dessen Herrschaft über das Böse anerkannt ist, verwirklichen, wenn Herr Schultze sich nicht zum ersten Male geirrt hat, so wird in France-Ville auf einmal an hundert Stellen Feuer ausbrechen! An hundert Orten werden wir gleichzeitig dem verheerenden Elemente entgegentreten müssen. Was aber auch kommen möge, zuerst gilt es, die Bevölkerung zu retten, denn sollten auch Eure Häuser, Denkmäler, ja schlimmstenfalls selbst die ganze Stadt zu Grunde gehen – diesen Verlust vermögen Zeit und Geld ja zu ersetzen!«

In Europa würde man Marcel für einen Narren gehalten haben. In Amerika pflegt man jedoch kein Wunder der Wissenschaft, und wäre es noch so unerwarteter Natur, von vornherein zu leugnen. Man hörte den jungen Ingenieur ruhig an und schenkte ihm, auf Doctor Sarrasin’s Versicherung hin vollen Glauben.

Mehr noch durch den Nachdruck des Redners als durch seine Worte bezwungen, gehorchte ihm die Menge, ohne neue Verhandlungen zu beginnen. Doctor Sarrasin bürgte für Marcel Bruckmann. Das genügte.

Sofort wurden die nöthigen Verordnungen erlassen, zu deren Verbreitung sich zahlreiche Boten nach allen Seiten zerstreuten.

Von den Bewohnern der Stadt selbst kehrten die Einen nach ihren Behausungen zurück und flüchteten in die Keller, bereit, die Schrecken eines Bombardements über sich ergehen zu lassen; die Anderen eilten zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen hinaus in’s Feld und sammelten sich auf den ersten Abhängen der Cascadenberge. Währenddessen vertheilten sich die kräftigen Männer nach den von dem Doctor Sarrasin bezeichneten Stellen und schafften Alles herzu, was zur Dämpfung einer Feuersbrunst dienen konnte, nämlich Wasser, Sand und Erde.

Im Sitzungssaale spannen sich die Verhandlungen noch in der Form von Zwiegesprächen fort.

Da schien es aber, als sei Marcel plötzlich von einem Gedanken erfaßt, der nicht aus seinem Gehirn weichen wollte. Er sprach nicht mehr, sondern seine Lippen murmelten nur noch die einzigen Worte:

»Um drei Viertel zwölf Uhr! Wäre es möglich, daß dieser verfluchte Schultze uns durch seine teuflische Erfindung vernichten sollte? …«

Plötzlich zog Marcel ein Notizbuch aus der Tasche. Er deutete ringsum an, daß er völlige Ruhe wünsche, und warf mit fieberhaft zitternder Hand einige Ziffern auf das Papier. Dann ward seine Stirne allmälig heiterer und sein Antlitz leuchtete wieder auf.

»O, meine Freunde, rief er laut, entweder sind diese Zahlen hier Lügner, oder Alles, was wir befürchten, löst sich in Nichts auf wie ein Alpdrücken vor dem Ergebniß eines ballistischen Problems, dem ich lange vergeblich auf den Grund zu kommen suchte. Herr Schultze hat sich geirrt. Die uns drohende Gefahr ist nur ein Traum. Diesmal ist seine Weisheit eitel Dunst. Es wird, es kann nichts von dem eintreffen, was er beabsichtigte! Sein entsetzliches Geschoß wird über France-Ville hinwegfliegen, ohne ihm zu nahe zu kommen, und wenn irgend etwas zu fürchten ist, so ruht das noch im Schooße der Zukunft!«

Was wollte Marcel hiermit sagen? Niemand verstand ihn.

Da setzte der junge Elsäßer das Resultat seiner eben durchgeführten Rechnung den erstaunten Zuhörern auseinander. Mit klarer, noch schwach zitternder Stimme führte er seine Beweise so schlagend, daß sie auch jeden Uneingeweihten überzeugen mußten. Da ward es Licht nach der Finsterniß und friedliche Ruhe nach der Todesangst. Das Geschoß konnte nämlich nicht allein die Stadt des Doctors nicht, sondern es konnte »überhaupt nichts« treffen. Es mußte sich im Weltraume verlieren! …

Doctor Sarrasin prüfte und bestätigte die Aussagen Marcel’s und wies dann mit dem Finger nach dem Zifferblatte der Uhr im Saale.

»Binnen drei Minuten, sagte er, werden wir wissen, ob Schultze oder Marcel Bruckmann Recht hat! Doch, wie dem auch sei, liebe Freunde, bedauern wir nicht die getroffenen Vorsichtsmaßregeln und vernachlässigen wir nichts, was die Henkerpläne unseres Feindes zu kreuzen vermag! Sein Schuß wird das Ziel verfehlen, wie Marcel uns eben versichert, aber es dürfte nicht der letzte sein. Schultze’s Haß wird sich nicht für geschlagen ansehen und ihn dem einmaligen Mißerfolge gegenüber zum Verzicht auf weitere Versuche bringen.

– Kommt, kommt!« rief Marcel.

Alle eilten mit ihm hinaus nach dem großen Platze.

Die drei Minuten verflossen. Jetzt schlugen die Thurmuhren drei Viertel elf Uhr! …

Vier Secunden später rauschte eine dunkle Masse hoch in der Luft über die Köpfe der erwartungsvollen Menge hinweg und verlor sich, schnell wie ein Gedanke, mit unheimlichem Sausen in der Ferne.

»Glückliche Reise! rief Marcel hell auflachend. Bei solcher Anfangs-Geschwindigkeit kann das Geschoß des Herrn Schultze, das jetzt schon die Grenzen der Atmosphäre verlassen hat, nicht mehr auf den Erdboden zurückfallen!«

Zwei Minuten später ließ sich eine Detonation vernehmen, so als wenn ein dumpfes Grollen aus den Eingeweiden der Erde heraustönte.

Das war der Donner der Kanone vom Stierthurme, der erst 113 Secunden nach dem Vorüberfliegen des Geschosses hörbar ward, da letzteres mit weit größerer, wahrhaft fabelhafter Schnelligkeit dahinraste.

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Marcel Bruckmann an Prof. Schultze, Stahlstadt

France-Ville, am 14. September.

»Ich halte mich für verpflichtet, den Herrn Stahlkönig zu benachrichtigen, daß ich die Grenze seines Gebietes vorgestern Abend glücklich überschritten habe, da ich erklärlicher Weise lieber mich selbst als das Schultze’sche Kanonenmodell in Sicherheit zu bringen suchte.

»Indem ich Ihnen hiermit Lebewohl sage, würde ich mich für pflichtvergessen betrachten, wenn ich Ihnen jetzt nicht auch meine Geheimnisse mittheilte; doch seien Sie deshalb ruhig, Sie werden die Mitwissenschaft nicht mit dem Leben zu bezahlen haben.

»Ich heiße weder Schwartz, noch bin ich ein Schweizer. Ich bin geborener Elsäßer. Mein Name ist Marcel Bruckmann. Ich bin, wenn ich Ihren Worten Glauben schenken darf, ein leidlicher Ingenieur, vor Allem aber Franzose. Sie sind der unversöhnliche Feind meines Vaterlandes, meiner Freunde, meiner Familie. Sie nähren abscheuliche Pläne gegen Alles, was ich liebe. Ich habe gewagt, was ich wagen konnte, dieselben zu durchschauen und werde Alles aufbieten, sie zu vereiteln.

»Ich beeile mich, Ihnen wissen zu lassen, daß Ihr erster Schuß mißlungen ist und, Gott sei Dank, sein Ziel nicht getroffen hat, ja überhaupt nicht treffen konnte. Ihre Kanone bleibt nichtsdestoweniger ein Hauptwunderwerk, die Projectile aber, welche sie unter ihrer ungeheuren Pulverladung schleudert, werden niemals Jemand ein Leid anthun. Diese können nirgends niederfallen! Ich ahnte das vorher; heute ist es, zu Ihrem größeren Ruhme, eine erwiesene Thatsache, daß Herr Schultze eine zwar entsetzliche – aber ganz unschuldige Kanone erfunden hat.

»Sie werden ohne Zweifel mit Vergnügen hören, daß wir gestern Abend, vier Secunden nach drei Viertel elf Uhr, Ihr allzu vervollkommnetes Langgeschoß über unsere Stadt wegfliegen sahen. Es hielt eine westliche Richtung ein, sauste fort durch den leeren Raum und wird so bis an’s Ende der Jahrhunderte weiter gravitiren. Ein Projectil mit einer, der gewöhnlichen um das Zwanzigfache überlegenen Anfangs-Geschwindigkeit kann eben nicht mehr »fallen!« Seine Fortbewegungskraft macht es im Vereine mit der Anziehungskraft der Erde zu einem Körper, der bestimmt ist, um unsere Erdkugel zu circuliren.

»Das hätten Sie übrigens wissen sollen!

»Endlich hoffe ich, daß die Riesenkanone des Stierthurmes durch diesen ersten Probeschuß gänzlich zerstört ist; das Vergnügen, die Planetenwelt mit einem neuen Gestirne, die Erde mit einem zweiten Satelliten beschenkt zu haben, bezahlt man immerhin mit 200.000 Dollars nicht zu theuer.

Marcel Bruckmann.«

Ein Expreßbote brachte dieses Schreiben sofort von France-Ville nach Stahlstadt. Marcel war es wohl nachzusehen, daß er sich die höhnische Genugthuung nicht versagen konnte, Herrn Schultze seinen Brief so bald als möglich zuzustellen.

Der junge Mann hatte in der That ganz Recht, wenn er behauptete, daß jenes berüchtigte, mit einer Anfangs-Geschwindigkeit ohnegleichen fortgeschleuderte und jenseits der Erdatmosphäre kreisende Geschoß nicht mehr auf unseren Planeten zurückfallen könne; ebenso wenn er voraussetzte, daß die Kanone des Stierthurmes durch die Explosion ihrer enormen Pyroxil-Ladung unbrauchbar gemacht geworden sei.

Herr Schultze empfand obige Mittheilung als ein herbes Mißgeschick, als den schwersten Schlag für seine zügellose Selbstliebe.

Er erblaßte bei Durchlesung desselben, und nachher sank ihm das Haupt auf die Brust herab, als wäre er von einem Keulenschlage getroffen. Aus diesem Zustande einer dumpfen Betäubung erwachte er erst nach einer Viertelstunde – aber schäumend vor Zorn! Arminius und Sigimer allein waren Zeugen des furchtbaren Ausbruches.

Herr Schultze aber war nicht der Mann dazu, sich sofort für überwunden zu erklären. Jetzt erst sollte der Kampf auf Leben und Tod zwischen ihm und Marcel beginnen. Verblieben ihm denn nicht seine mit flüssiger Kohlensäure geladenen Geschosse, welche durch minder mächtige, aber zweckmäßigere Geschütze auf kürzere Entfernungen geschleudert werden konnten?

Mit Anstrengung beruhigt, betrat der König von Stahlstadt wieder sein Cabinet und ging wie gewöhnlich an die Arbeit.

Das jetzt mehr als je bedrohte France-Ville durfte nichts vernachlässigen, sich in Vertheidigungszustand zu setzen.