Zwölftes Capitel.


Zwölftes Capitel.

Feuer ringsum.

Indien theilt mit gewissen Gegenden von Brasilien – unter Anderen der von Rio de Janeiro – das Privileg, von allen Ländern der Erde am häufigsten von Gewittern heimgesucht zu werden. Wenn im mittleren Europa, wie in Deutschland, Frankreich, England, etwa an zwanzig Tagen des Jahres die Stimme des Donners zu hören ist, so ist das auf der indischen Halbinsel mindestens fünfzigmal im Jahre der Fall.

Wie die Umstände heute lagen, hatten wir allen Anzeichen nach ein Gewitter von besonderer Heftigkeit zu erwarten.

Nach unserer Rückkehr in das Steam-House, beobachtete ich das Barometer. Die Quecksilbersäule war in kürzester Zeit um zwei Zoll, von 29 auf 27 (etwa 730 Mm.) gefallen.

Ich theilte das dem Oberst mit.

»Mich beunruhigt die Abwesenheit des Kapitän Hod und seiner Begleiter, erwiderte er. Das Unwetter muß gleich zum Ausbruch kommen, die Nacht rückt heran und die Dunkelheit nimmt schneller zu. Jäger entfernen sich stets weiter, als sie versprechen und selbst, als sie gewollt haben. Wie werden Jene in der tiefen Finsterniß den Rückweg finden?

– Die Tollköpfe! fiel Banks ein. Sie wollten auch keine Vernunft annehmen. Besser, sie wären ganz hiergeblieben.

– Gewiß, Banks, doch sie sind einmal weg, entgegnete Oberst Munro, und an uns ist es, Alles zu thun, um ihnen die Rückkehr zu erleichtern.

– Giebt es kein Mittel, ihnen die Stelle, wo wir liegen, zu bezeichnen? wandte ich mich an den Ingenieur.

– O doch, antwortete Banks, wenn wir unser elektrisches Licht anzünden, das sehr mächtig und weithin zu sehen ist. Ich werde den Strom schließen.

– Eine herrliche Idee, Banks!

– Soll ich mich zur Aufsuchung des Kapitän Hod aufmachen? fragte der Sergeant.

– Nein, mein alter Neil, erklärte Oberst Munro, Du würdest ihn nicht finden und Dich nur noch selbst verirren.«

Banks brachte die Elemente der Säule in Stand, schloß den Strom und bald warfen die beiden Augen des Stahlriesen, gleich zwei elektrischen Leuchttürmen, ihre Strahlenbündel durch die Finsterniß unter den Banianen. Bei der besonders dunklen Nacht mußte die Tragweite des Lichtes gewiß eine weite sein und konnte unseren Jägern als Leitstern dienen.

Da erhob sich plötzlich ein Orkan mit entsetzlicher Gewalt. Er zerriß die Gipfel der Bäume, bog die jungen Banianenstämme zu Boden und pfiff durch dieselben wie durch die Pfeifen einer Orgel.

Alles war das Werk eines Augenblickes.

Ein Hagel von vertrockneten Zweigen und ein Regen von abgerissenen Blättern bedeckte die Straße. Die Bedachung des Steam-Houses hallte wider von fortwährendem Rauschen des Stromes, der sich darüber hinwegwälzte.

Wir mußten uns in den Salon flüchten und alle Fenster dicht verschließen.

»Das ist eine Art Tofan,« sagte Banks.

So bezeichnen die Indier die heftigen und urplötzlichen Stürme, welche vorzüglich die Berggegenden verwüsten und im ganzen Lande gefürchtet sind.

»Storr, rief Banks dem Mechaniker zu, hast Du die Fensteröffnung des Thurmes gut verschlossen?

– Gewiß, Herr Banks, erklärte der Mechaniker, von dieser Seite ist nichts zu fürchten.

– Wo ist Kâlouth?

– Er schichtet eben das letzte Brennmaterial in dem Tender auf.

– Morgen werden wir das Holz nur aufzulesen brauchen, meinte der Ingenieur. Der Wind fällt es selbst und erspart uns die Mühe. Pass‘ auf, daß wir Druck behalten, Storr, und suche unter Dach und Fach zu bleiben.

– Soll geschehen.

– Sind die Bunker voll, Kâlouth? fragte Banks.

– Ja, Herr Banks, antwortete der Heizer. Auch der Wasservorrath ist ergänzt.

– Gut, so komm herein!«

Maschinist und Heizer hatten bald im zweiten Wagen Platz genommen.

Jetzt leuchteten die Blitze häufiger auf und aus den Wolken hörte man ununterbrochen das dumpfe Rollen. Der Tofan hatte die Luft nicht abgekühlt. Es war ein trockener Wind mit heißem Athem, so als käme er selbst aus der Mündung eines Hochofens her.

Sir Edward Munro, Banks, Mac Neil und ich verließen den Salon, um nach der Veranda zu gehen. Das hohe Geäst der Banianen zeichnete sich gleich einer feinen, schwarzen Spitze auf dem feurigen Hintergrunde des Himmels ab. Auf jeden Blitz folgte schon nach wenigen Secunden ein heftiger Donner. Das Echo davon konnte gar nicht verstummen, weil sich stets schon ein neuer Donnerschlag hineinmischte. So rollte unausgesetzt ein tiefer Baß daher und unter diesen mischten sich noch jene trockenen Detonationen, welche Lucretius so passend mit dem scharfen Schrei zerreißenden Papieres verglichen hat.

»Warum sie nur auch wegen des Unwetters nicht zurückkehren? begann Oberst Munro.

– Vielleicht, meinte der Sergeant, hat Kapitän Hod mit seinen Begleitern ein Obdach im Walde, in der Höhlung eines Baumes oder unter einem Stein gefunden, und sie kommen erst morgen zurück. Wir sind ja dann noch immer zur Stelle!«

Banks schüttelte den Kopf. Er schien Mac Neil’s Ansicht nicht zu theilen.

Jetzt – es mochte gegen neun Uhr sein – begann der Regen in furchtbaren Strömen herabzustürzen. Er war mit großen Hagelkörnern vermischt, welche uns steinigten und auf das klingende Dach des Steam-Houses niederprasselten. Es klang wie ein furchtbarer Trommelwirbel. Einander zu hören, war vollständig unmöglich, auch wenn es nicht unaufhörlich gedonnert hatte. Die von den Schloßen abgeschlagenen Banianenblätter flogen auf allen Seiten umher.

Banks, der sich inmitten dieses betäubenden Lärmens nicht verständlich machen konnte, erhob den Arm und wies uns auf die Schloßen hin, welche die Seiten des Stahlriesen trafen.

Unglaublich! Alles funkelte bei der Berührung mit den harten Eisstücken. Man hätte meinen sollen, daß aus den Wolken wirklich Tropfen geschmolzenen Metalles kämen, die bei Berührung mit dem Stahlpanzer Lichtfunken auswarfen. Diese Erscheinung bewies, wie stark die Atmosphäre mit Elektricität geladen war. Unausgesetzt durchströmte sie die leuchtende Materie, so daß der ganze Himmelsraum ein Feuer zu sein schien.

Banks winkte uns wieder nach dem Salon zurück und schloß die nach der Veranda führende Thür. Gewiß konnte man sich in freier Luft diesen elektrischen Entladungen nicht ungestraft aussetzen.

Im Innern des Hauses standen wir fast im Finstern, wodurch die Beleuchtung der Außenwelt nur um so sichtbarer wurde. Wie erstaunten wir aber, sogar den eigenen Speichel leuchten zu sehen! Auch wir mußten von dem umgebenden Fluidum im höchsten Grade imprägnirt sein.

»Wir spieen Feuer,« um den Ausdruck, zu gebrauchen, mit dem man diese selten beobachtete und immer erschreckende Erscheinung charakterisirt hat. In der That mußte unter diesem fortwährenden Aufleuchten, dem Feuer draußen, unter dem Krachen des Donners bei den gewaltigen Blitzen auch das furchtloseste Herz doch etwas schneller schlagen.

»Und sie! sagte bedauernd Oberst Munro.

– Ja, wo mögen sie sein!« antwortete Banks.

Unsere Lage war entsetzlich. Nicht das Geringste konnten wir thun, um den so sehr bedrohten Kapitän Hod und seinen Begleitern zu Hilfe zu kommen.

Wenn sie Schutz gefunden hatten, so konnte das nur unter den Bäumen selbst sein, und man weiß, mit welchen Gefahren das unter schweren Gewittern verbunden ist. Wie hätten sie sich in dem dichten Walde fünf bis sechs Meter von der die äußersten Zweige eines Baumes schneidenden senkrechten Linie aufhalten können – wie man es Denen empfiehlt, die in der Nähe von Bäumen von einem Gewitter überrascht werden?

Alles das ging mir durch den Kopf, als ein furchtbarer Donnerschlag, noch trockener als die anderen, mein Ohr traf, der mit dem Blitze fast zusammenzufallen schien.

Gleichzeitig machte sich ein scharfer Geruch bemerkbar – der durchdringende Geruch von salpetrigen Dämpfen – und gewiß hätte Regenwasser, das während dieses Wetters aufgefangen wurde, große Mengen derselben Säure erkennen lassen.

«Der Blitz hat eingeschlagen … meinte Mac Neil. – Storr, Kâlouth, Parazard!« rief Banks.

Alle Drei erschienen im Salon. Zum Glück war Keiner von ihnen getroffen.

Der Ingenieur stieß die Thür zur Veranda auf und begab sich nach dem Balkon.

»Dort … seht dort! …« sagte er.

Zehn Schritte von uns an der linken Seite der Straße, war eine große Baniane getroffen worden. Bei dem unausgesetzten elektrischen Scheine sahen wir sie wie am hellen Tage. Der ungeheuere Stamm, den seine Ausläufer nicht mehr zu halten vermochten, lag quer zwischen den anderen Bäumen. In seiner ganzen Länge war die Rinde abgesprengt und frei in der Luft hing ein langer Fetzen derselben, der umhergeworfen wurde wie eine Schlange, die sich von Baumästen herabschlängelt. Die Abschälung mußte von unten nach aufwärts stattgefunden haben, also von einem aufsteigenden Blitz von ungeheuerer Gewalt herrühren.

»Da fehlte nicht viel, daß unser Steam-House getroffen worden wäre! sagte der Ingenieur. Doch bleiben wir hier, es ist immer ein besserer Schutz, als der unter Bäumen!«

Da hörten wir einen lauten Aufschrei. Rührte er vielleicht von unseren heimkehrenden Genossen her?

»Das war Parazard’s Stimme,« sagte Storr.

Wirklich rief uns der Koch, der sich unter der letzten Veranda befand, zu sich hin.

Wir folgten eifrigst seinem Rufe.

Kaum hundert Meter von unserer Haltestelle und rechts von derselben war der Banianenwald entzündet. Schon verschwanden die höchsten Gipfel der Bäume unter den lodernden Flammen. Das Feuer entwickelte sich unglaublich heftig und schritt schneller, als man hätte glauben sollen, auf das Steam-House zu.

Da entstand eine ernste Gefahr. Die lange Dürre und die hohe Temperatur der drei Monate heißer Jahreszeit hatten Bäume, Gebüsche und Gräser ausgetrocknet. An dem leicht entzündbaren Material fand das Feuer vollauf Nahrung. Wie das in Indien wiederholt vorkommt, war der ganze Wald bedroht, von den Flammen verzehrt zu werden.

Unzweifelhaft sah man, wie das Feuer an Umfang gewann und sich nach allen Seiten verbreitete. Erreichte es unsere Haltestelle, so wurden die beiden Wagen sicher binnen wenig Minuten zerstört, denn ihre dünnen Wände konnten nicht den gleichen Widerstand leisten, wie die Stahlblechumhüllung eines feuerfesten Geldschrankes.

Schweigend standen wir der Gefahr gegenüber. Oberst Munro kreuzte die Arme.

»Banks, begann er sehr ruhig, es ist Deine Sache, uns aus dieser Lage zu helfen.

– Ja wohl, Munro, antwortete der Ingenieur, und da wir kein Mittel haben, die Feuersbrunst zu löschen, so werden wir ihr entfliehen müssen.

– Zu Fuße? rief ich erschrocken.

– O nein, mit dem ganzen Zuge.

– Und was wird aus Kapitän Hod und seinen Begleitern? warf Mac Neil ein.

– Wir können nichts für sie thun. Sind sie nicht zurück, bevor wir aufbrechen, so kann ich mir nicht helfen.

– Wir dürfen sie aber nicht im Stiche lassen! erklärte der Oberst.

– Wenn der Train in Sicherheit ist, Munro, erwiderte ihm Banks, wenn ihn die Flammen nicht mehr erreichen können, so kehren wir zurück und durchsuchen den ganzen Wald, bis wir Jene entdeckt haben.

– Thu‘ was Du willst, Banks, sagte Oberst Munro, der sich dem Rathe des Ingenieurs, gewiß dem einzigen, der hier am Platze war, fügen mußte.

– Storr, rief Banks, an Deine Maschine, und Du, Kâlouth, an den Kessel und schüre das Feuer! – Welchen Druck zeigt das Manometer?

– Zwei Atmosphären, meldete der Mechaniker.

– Binnen zehn Minuten müssen wir vier haben. Nun vorwärts, Ihr Leute, an’s Werk!«

Der Mechaniker und der Heizer ließen sich nicht antreiben. Bald wirbelten schwarze Rauchwolken aus dem Rüssel des Elephanten und mischten sich mit den Regenströmen, um die sich der Riese gar nicht zu kümmern schien. Auf die Blitze, welche den Himmel in Feuer hüllten, antwortete er mit einem Sprühregen von Funken. Ein Dampfstrahl pfiff durch den Rauchfang und der künstlich vermehrte Zug beschleunigte die Verbrennung des Holzes, das Kâlouth auf dem Roste aufhäufte.

Sir Edward Munro, Banks und ich waren auf der hinteren Veranda zurückgeblieben und beobachteten die Fortschritte der Feuersbrunst im Walde; die großen Bäume sanken in der gewaltigen Lohe zusammen, die Zweige krachten wie Revolverschüsse, die Lianen schwankten von einem Stamme zum anderen und das Feuer pflanzte sich auf neue und immer neue Herde fort. In fünf Minuten war der Brand auf fünfzig Meter vorgeschritten und die vom Sturmwind zerzausten Flammen züngelten zu einer solchen Höhe auf, daß die Blitze sie in allen Richtungen kreuzten.

»Binnen fünf Minuten müssen wir den Platz verlassen haben, erklärte Banks, oder es fängt Alles Feuer!

– Diese Feuersbrunst greift schnell um sich! bemerkte ich.

– Wir werden noch schneller vorwärts kommen!

– Wenn nur Hod und seine Begleiter da wären! klagte Sir Edward Munro.

– Wir wollen pfeifen, ja, ja, pfeifen, rief Banks, vielleicht hören sie das!«

Er eilte nach dem Thürmchen und bald ertönte die Luft von schrillen Pfiffen, die sich von dem rollenden Donner so auffällig unterschieden, daß sie gewiß weithin vernehmbar sein mußten.

Unsere Lage wird sich Jedermann eher denken können, als man sie schildern kann.

Auf einer Seite die Nothwendigkeit, so schnell als möglich zu entfliehen, auf der anderen die Verpflichtung, die noch nicht Zurückgekehrten zu erwarten.

Banks war nach der hinteren Veranda zurückgekommen. Der Rand des Feuers lag jetzt kaum noch fünfzig Fuß vom Steam-House entfernt. Ringsum verbreitete sich eine unerträgliche Hitze und die glühende Luft wurde nahezu unathembar. Schon fielen eine Menge glühender Holzstücke auf unseren Train nieder. Zum Glück schützte ihn der noch fortdauernde Platzregen, der ihn jedoch gegen das eigentliche Feuer selbst gewiß nicht sichern konnte.

Noch immer dauerte das scharfe Pfeifen der Maschine fort, doch weder Hod, noch Fox oder Goûmi ließen sich sehen.

Da trat der Mechaniker zu Banks heran.

»Wir haben den verlangten Druck, sagte er.

– Nun dann, vorwärts, Storr, erwiderte dieser, doch nicht zu schnell! … Es gilt nur außer dem Bereiche des Waldbrandes zu bleiben.

– Warte noch, Banks, warte noch, bat Oberst Munro, der sich nicht entschließen konnte, den Halteplatz zu verlassen.

– Noch drei Minuten, Munro, antwortete Banks sehr kühl, doch auf keinen Fall länger. In drei Minuten schon kann der Hintertheil des Zuges Feuer fangen!«

Zwei Minuten verstrichen. Das Verweilen auf der Veranda wurde jetzt zur Unmöglichkeit. Man konnte die Hand schon nicht mehr auf das erhitzte Blech legen, welches sich zu krümmen begann. Jetzt noch länger zu warten, wäre die schwerste Thorheit gewesen.

»Vorwärts, Storr! befahl Banks.

– Ach, da! … rief der Sergeant.

– Sie sind es!«

Kapitän Hod und Fox erschienen an der rechten Seite der Straße. In ihren Armen trugen sie Goûmi’s scheinbar leblosen Körper, und gelangten eben an den Auftritt zum zweiten Wagen.

»Todt? fragte Banks.

– Nein, aber vom Blitz getroffen, der ihm das Gewehr in der Hand zertrümmerte, erklärte Kapitän Hod, und auf dem linken Beine gelähmt.

– Gott sei gelobt! brach Oberst Munro aus.

– Meinen Dank auch, Banks, setzte der Kapitän hinzu. Ohne Ihr Pfeifensignal hätten wir die Haltestelle schwerlich wiedergefunden!

– Nun schnell hier weg, drängte Banks, nun vorwärts!«

Hod und Fox waren in den Wagen gesprungen, und Goûmi, der den Gebrauch der Sinne nicht ganz verloren hatte, wurde in seiner Cabine niedergelegt.

»Wie viel Druck haben wir? fragte dieser den Mechaniker.

– Ziemlich fünf Atmosphären, lautete Storr’s Antwort.

– Nun dann fort!« wiederholte Banks.

Es war jetzt halb elf Uhr. Banks und Storr nahmen in dem Thürmchen Platz. Der Regulator ward geöffnet, der Dampf strömte in die Cylinder, das erste Schnaufen ließ sich vernehmen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, inmitten der dreifachen Beleuchtung, durch den Brand der Banianen, durch die elektrischen Lampen des Elephanten und die flammenden Blitze des Himmels.

Kapitän Hod erzählte uns mit kurzen Worten die Vorgänge während seines Ausfluges, bei dem die Jäger keine Spur eines Thieres angetroffen hatten. Mit dem Aufsteigen des Gewitters kam die Dunkelheit schneller und tiefer, als sie gedacht hatten. Sie wurden von dem ersten Donnerschlage überrascht, als sie etwa drei Meilen weit entfernt waren. Natürlich wollten sie nun sofort umkehren, doch trotz aller Mühe, sich zurecht zu finden, verirrten sie sich unter den großen Banianengruppen, die einander gar zu sehr ähnelten, da ihnen kein Steg die Richtung angab.

Inzwischen brach das Unwetter mit aller Wuth los. Das elektrische Licht konnte bis zu der Stelle, wo sie sich befanden, nicht dringen, so daß sie gewiß nicht in gerader Linie auf das Steam-House zuschritten. Hagel und Regen fiel in Strömen. Ein Obdach gab es nicht, außer dem unzulänglichen des Blätterdaches, das bald genug durchlöchert wurde.

Plötzlich krachte ein furchtbarer Donnerschlag zugleich mit einem blendenden Blitze. Neben dem Kapitän sank Goûmi vor Fox‘ Füßen zur Erde. Von dem Gewehre in seiner Hand hielt er nur noch den Schaft. Lauf, Schloß, Drückerbügel, kurz Alles, was von Metall daran war, hatte die elektrische Entladung zerstreut.

Seine Genossen hielten ihn für todt, was sich glücklicherweise nicht bestätigte; obwohl er aber von dem Fluidum nicht selbst getroffen schien, war doch sein linkes Bein gelähmt, so daß der arme Goûmi keinen Schritt gehen konnte. Er mußte also getragen werden. Vergeblich bat er, ihn vorläufig zurückzulassen und erst später abzuholen. Seine Begleiter gaben nicht nach; der Eine erfaßte ihn an den Schultern, der Andere an den Beinen, und so zogen sie auf gut Glück durch das Dunkel des Waldes weiter.

Zwei volle Stunden lang irrten Hod und Fox auf diese Weise umher, zögerten, hielten einmal an und setzten dann den Weg weiter fort, ohne irgend einen Anhalt, der ihnen die Lage des Halteplatzes hätte andeuten können.

Endlich hörten sie mitten unter dem Wüthen der Elemente und dem Sausen des Sturmes den scharfen Ton der Dampfpfeife, der vernehmlicher war, als es sogar Flintenschüsse gewesen wären. Sie erkannten die Stimme des Stahlriesen.

Eine Viertelstunde später gelangten alle Drei nach der Stelle, die eben verlassen werden sollte. Es war die höchste Zeit!

Während der Zug nun auf der breiten und ebenen Straße im Walde dahinrollte, machte der Brand doch noch schnellere Fortschritte. Daneben wuchs die Gefahr noch mehr, als der Wind umsprang, wie es bei solchen Gewitterstürmen häufig vorkommt. Statt von der Seite zu wehen, blies er jetzt von rückwärts und belebte durch seine Heftigkeit das Feuer wie ein Ventilator, der einem Herde Sauerstoff zuführt. Der Waldbrand nahm rasch weiter zu. Brennende Zweige und glimmende Holzstücke wirbelten in einer Wolke von glühender Asche umher, die sich von der Erde erhob, als ob ein Krater seine vulkanischen Massen gen Himmel schleuderte. Wirklich ließ sich die Feuersbrunst mit nichts besser vergleichen, als mit einem Lavastrome, der sich über das Land wälzt und Alles auf seinem Wege vernichtet.

Banks bemerkte das wohl. Hätte er’s auch nicht gesehen, so mußte es ihm der glühend heiße Luftstrom sagen, der über uns dahinstrich.

Die Fahrt wurde also beschleunigt, obgleich das auf dem unbekannten Wege nicht ohne Gefahr war. Die von Regen überfluthete Straße hatte aber so tiefe Furchen, daß die Maschine nicht so viel leistete, als der Ingenieur gern wollte.

Gegen halb zwölf Uhr erfolgte ein neuer Donnerschlag mit einem furchtbaren Blitze. Unwillkürlich entrang sich unser ein lauter Schrei. Wir glaubten nicht anders, als daß Banks und Storr im Thürmchen, von wo aus sie die Fahrt leiteten, erschlagen worden wären.

Dieses Unglück sollte uns jedoch erspart bleiben. Nur unser Elephant war an der Spitze eines seiner langen, hängenden Ohren von der elektrischen Entladung getroffen worden. Die Maschine hatte dabei zum Glück keinen Schaden erlitten, und der Stahlriese schien dem Wüthen des Unwetters nur durch vermehrtes Brausen und Sausen antworten zu wollen.

»Hurrah! rief Kapitän Hod, Hurrah! Ein Elephant aus Fleisch und Bein wäre auf der Stelle zusammengesunken. Du, Du trotzest dem Blitze, Dich vermag nichts aufzuhalten. Hurrah, Stahlriese! Hurrah!«

Während einer halben Stunde hielt sich unser Zug immer in geeigneter Entfernung. Da er fürchten mußte, zu heftig gegen irgend ein Hinderniß zu stoßen, wollte Banks die Geschwindigkeit nicht weiter steigern, als nothwendig war, um vor dem Feuer geschützt zu bleiben.

Von der Veranda aus, wo Oberst Munro, Hod und ich Platz genommen hatten, sahen wir gewaltige Schatten vor uns her eilen, welche im Lichte des Brandes und der Blitze dahinflogen. Das waren endlich Raubthiere!

Aus Vorsicht ergriff Hod seine Büchse, denn es war ja möglich, daß die entsetzten Bestien sich auf den Train stürzen konnten, um dort Schutz oder ein Obdach zu suchen.

Ein ungeheuerer Tiger machte wirklich diesen Versuch; als er sich aber mit gewaltigem Sprunge erhob, fingen ihn die Ausläufer einer Baniane am Halse. Der Hauptstamm, der sich unter der Wucht des Sturmes bog, zog dieselben an wie zwei lange Stricke, welche das Thier erwürgten.

»Armer Kerl! sagte Fox bedauernd.

– Diese Thiere, fuhr Kapitän Hod entrüstet fort, sind dazu geschaffen, von einer ehrlichen Büchsenkugel erlegt zu werden. Ja, Du armer Teufel!«

Wahrlich, Kapitän Hod hatte Pech! Als er Tiger suchte, fand er keinen, und als er sie sah, stürmten sie im Fluge vorbei, ohne daß er auf sie schießen konnte, oder erwürgten sich wie eine Maus im Drahte der Falle!

Um ein Uhr Morgens verdoppelte sich die Gefahr noch, so groß sie auch schon gewesen war.

Unter dem unbeständigen Winde, der von allen Richtungen her wehte, hatte sich der Waldbrand sogar schon vor uns ausgebreitet, und wir waren jetzt vollständig eingeschlossen.

Das Gewitter hatte indessen an Heftigkeit abgenommen, wie das stets geschieht, wenn solche Wetter über einen großen Wald ziehen, wo die Bäume die Elektricität anziehen und nach und nach erschöpfen. Doch, wenn auch die Blitze seltener wurden und der Donner nur in Zwischenräumen ertönte, auch der Regen schwächer fiel, so sauste doch der Sturm noch mit gleicher Gewalt über die Erde hin.

Jetzt mußte die Fahrt unseres Zuges unbedingt, selbst auf die Gefahr, gegen ein Hinderniß anzustoßen oder in einen Abgrund zu stürzen, so viel als möglich beschleunigt werden.

Banks that das auch, und zwar mit erstaunlich kaltem Blute, die Augen an den Linsen des Thürmchens und die Hand am Regulator, den er nie losließ.

Zwischen zwei Feuerspalieren lag unsere Straße offen. Es gab keine Wahl, wir mußten dazwischen hindurch.

Banks drang mit einer Geschwindigkeit von sechs bis sieben Meilen in der Stunde hinein.

Ich glaubte schon unser Ende nahe, als wir auf die Strecke von fünfzig Metern eine sehr enge Stelle zwischen den Flammen passiren mußten. Die Räder des Zuges knirschten auf glühenden Kohlen, welche die Straße bedeckten, und eine glühende Atmosphäre umhüllte uns ganz und gar! …

Wir kamen glücklich hindurch!

Endlich, um zwei Uhr Morgens, erschien der entgegengesetzte Waldessaum unter dem Scheine der schon sehr seltenen Blitze. Hinter uns breitete sich ein grenzenloses Flammenmeer aus. Das Feuer erlosch gewiß nicht eher, als es den ausgedehnten Wald bis zur letzten Baniane verzehrt hatte.

Mit Tagesanbruch machte unser Zug Halt; das Gewitter hatte sich vollständig verzogen und wir richteten uns zu einer vorläufigen Rast ein. Unser Elephant, der nun sorgfältig untersucht wurde, zeigte an der Spitze des rechten Ohres einige Löcher, deren Ränder nach innen umgebogen waren.

Gewiß wäre einem solchen Blitzschlage jedes andere Thier als ein Elephant aus Stahl unterlegen, um sich nicht wieder zu erheben, und der Waldbrand würde den ganzen Zug in kurzer Zeit vernichtet haben!

Um sechs Uhr Morgens ging die Fahrt nach kurzer Rast weiter und gegen Mittag langten wir in der Nachbarschaft von Rewah an.

Dreizehntes Capitel.


Dreizehntes Capitel.

Kapitän Hod’s Heldenthaten.

Die Hälfte des 5. Juni und die darauf folgende Nacht brachten wir ruhig lagernd zu. Nach so viel Strapazen und ausgestandenen Gefahren that uns diese Erholung sehr noth.

Jetzt war es nicht mehr das Königreich Audh, das seine reichen Ebenen vor uns entfaltete. Das Steam-House dampfte nun durch das zwar noch fruchtbare, aber von sogenannten »Nullas« oder tiefen Hohlwegen durchschnittene Gebiet von Rohilkande. Bareille ist die Hauptstadt dieses gewaltigen Vierecks von hundertfünfundfünfzig Meilen Seite, das zahlreiche Neben- und Zuflüsse der Cogra bewässern und in dem sich da und dort Gruppen prächtiger Mangobäume neben einzelnen dichten Dschungeln erheben, welche vor der fortschreitenden Cultur zu verschwinden scheinen.

Hier lag nach der Einnahme von Delhi der Mittelpunkt der Empörung, gegen welche der eine Feldzug Sir John Campbell’s gerichtet war; hier erzielte die Colonne des Brigadiers Walpole anfänglich keine glücklichen Erfolge; endlich kam hier ein Freund Sir Edward Munro’s, der Oberst des 93 Regimentes der Schottländer um, der sich am 14. April bei dem Sturme auf Laknau besonders ausgezeichnet hatte.

Abgesehen von dem ganzen Charakter der Landschaft, konnte kein anderes Gebiet der Fahrt unseres Zuges günstiger sein. Schöne, gut geebnete Straßen, leicht zu überschreitende Wasseradern zwischen den beiden von Norden herabfließenden Hauptarterien, Alles wirkte zur Erleichterung unserer Reise günstig zusammen. Jetzt hatten wir nur noch wenige hundert Kilometer zurückzulegen, dann mußten sich schon die ersten Bodenwellen bemerkbar machen, welche die Ebene mit den Bergen von Nepal verknüpfen.

Freilich durfte die nun eingetretene Regenzeit nicht außer Rechnung gelassen werden.

Der in den ersten Monaten des Jahres herrschende Nordost-Mousson hatte jetzt gewechselt. Die Regenzeit ist an der Küste schlimmer als im Innern der Halbinsel und tritt hier auch etwas verzögert auf, weil die Wolken sich schon zum Theile erschöpfen, bevor sie die mittleren Theile Indiens erreichen. Außerdem wird ihre Richtung durch hohe Bergwände verändert, welche eine Art atmosphärischen Wirbels erzeugen. So tritt der Mousson-Wechsel an der Malabar-Küste schon Anfang Mai ein, in der Mitte der Central- und der Nordprovinzen macht er sich erst einige Wochen später, also im Juni, bemerkbar.

Wir waren jetzt im Juni, und unsere weitere Reise sollte nun unter jenen veränderten, aber wohl vorhergesehenen Verhältnissen vor sich gehen.

Unserem wackeren Goûmi, den der Blitz so jämmerlich entwaffnet hatte, ging es vom folgenden Tage ab besser. Die linksseitige Lähmung des Beines erwies sich nur als vorübergehend. Er behielt davon nichts zurück als – einen Groll gegen das Feuer des Himmels.

Im Laufe des 6. und 7. Juni hatte Hod mit Hilfe Phanns und Blacks mehr Jagdglück. Er erlegte ein Paar jener Antilopen, die man hierzulande »Nilgaus« nennt. Es sind das die blauen Ochsen der Hindus, die man richtiger als Hirsche bezeichnen sollte, denn den letzteren gleichen sie weit mehr als den Verwandten des Gottes Apis. Auch sollte man sie eigentlich perlgraue Hirsche nennen, denn ihre Farbe erinnert mehr an die des wolkenbedeckten, als an die des azurnen Himmels. Man behauptet jedoch, daß einzelne Exemplare dieser prächtigen Thiere mit spitzen, geraden Hörnern und langem, wenig gebogenem Kopfe wirklich ein blaues Fell hätten – eine Farbe, welche die Natur den Vierfüßlern völlig verweigert zu haben scheint, selbst dem blauen Fuchse, dessen Fell vielmehr schwarz ist.

Wilde Thiere, von denen Kapitän Hod immer schwärmte, waren das freilich noch nicht. Immerhin ist der Nilgau ziemlich gefährlich, wenn er sich, leicht verwundet, auf den Jäger stürzt. Eine erste Kugel vom Kapitän und eine zweite von Fox unterbrachen sofort den Lauf der beiden schönen Thiere. Sie wurden gleichsam im Fluge erlegt. Fox schätzte sie indeß nicht höher als Federwild!

Monsieur Parazard vertrat dagegen eine andere Ansicht, und die auf der Stelle gebratenen Keulen, welche er uns am nämlichen Tage auftischte, brachten auch uns auf seine Seite.

Mit Tagesanbruch, am 8. Juni, verließen wir unseren Halteplatz, der unweit eines kleinen Dorfes von Rohilkande lag und den wir am vergangenen Abend nach einer Fahrt von vierzig Kilometern von Rewah aus erreichten. Unser Zug hatte sich also auf den vom Regen mehr und mehr durchweichten Straßen nur mit sehr mäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Dazu begannen die Bäche anzuschwellen, und manchmal hielt uns eine überschwemmte Strecke mehrere Stunden lang auf. Trotzdem blieben wir hinter unserem Programme kaum einen bis zwei Tage zurück. Jedenfalls mußte die Berggegend, in der das Steam-House während einiger Sommermonate wie in einem Sanatorium verbleiben sollte, gegen Ende des Juni erreicht werden. Hier lag also kein Grund zur Beunruhigung vor.

An jenem 8. Juni entging dem Kapitän Hod ein recht interessanter Büchsenschuß.

Neben unserem Wege verliefen dichte Bambus-Dschungeln, wie das in der Nähe von Dörfern, welche wie in einem Blumenkorb gebaut scheinen, öfter vorkommt. Es waren das noch nicht die eigentlichen Dschungeln im Sinne der Hindus, welche die nackte unfruchtbare Ebene begrenzen, über die das aschgraue Buschwerk emporragte. Noch befanden wir uns in angebautem Lande und fruchtbarem Gebiete, das meist von sumpfigen Reisplantagen eingenommen wurde.

Von Storr’s Hand geleitet, trabte der Stahlriese ruhig dahin und stieß seine sauberen Dampfwölkchen aus, die er unter die Bambus der Straße verstreute.

Plötzlich sprang ein Thier mit überraschender Gewandheit auf und stürzte sich unserem Elephanten an den Hals.

»Ein Tchita! Ein Tchita!« rief der Mechaniker.

Sofort eilte Kapitän Hod nach dem vorderen Balkon und ergriff die Büchse, die er immer gleich bei der Hand hatte.

»Ein Tchita! rief er nun auch selbst.

– So schießen Sie ihn doch! drängte ich.

– Ich habe ja noch Zeit!« antwortete Kapitän Hod, der sich begnügte, auf das Thier im Anschlag zu liegen.

Der Tchita bildet eine in Indien eigenthümliche Art von Leoparden, die nicht ganz so groß wie der Tiger, doch der Gewandtheit und der Kräfte ihrer Glieder wegen nicht minder furchtbar sind.

Oberst Munro, Banks und ich standen auf der Veranda und warteten auf den Schuß des Kapitäns.

Offenbar hatte sich der Leopard beim Anblick unseres Elephanten getäuscht; da, wo er lebendes Fleisch zu finden hoffte, in das er seine Zähne und Krallen einschlagen konnte, fand er eine Haut von Stahl, die seinen Angriffen trotzte. Wüthend über die Enttäuschung, klammerte er sich an die Ohren des falschen Thieres und wollte sich von demselben offenbar schon wegwenden, als er unserer ansichtig wurde.

Kapitän Hod hielt noch immer den Gewehrlauf auf jenen gerichtet, wie ein seines Schusses sicherer Jäger, der seine Beute im richtigen Augenblick und an der rechten Stelle treffen will.

Knurrend richtete der Tchita sich auf. Jedenfalls fühlte er die Gefahr, wollte aber nicht entfliehen. Vielleicht erwartete er nur den richtigen Augenblick, um auf die Veranda zu stürzen.

Er kletterte wirklich auf den Kopf des Elephanten, dessen als Rauchfang dienenden Rüssel er mit den Pranken umschlang, und stieg dann bis zum Ende desselben hinauf, aus dem der Dampf hervordrang.

»So schießen Sie doch, Hod! mahnte ich noch einmal.

– Dazu hab‘ ich ja noch Zeit!« antwortete der Kapitän.

Dann wandte er sich, ohne den Leoparden, der uns anglotzte, aus den Augen zu lassen, an mich.

»Sie haben wohl noch niemals einen Tchita geschossen, Maucler? fragte er.

– Niemals.

– Wollen Sie einen erlegen?

– Kapitän, gab ich zur Antwort, ich will Ihnen nicht diesen herrlichen Schuß rauben …

– Pah! stieß Hod hervor, das ist kein Schuß für einen Jäger! Nehmen Sie eine Büchse. Zielen Sie der Bestie nach der Schulter. Wenn Sie fehlen, schieße ich sie im Fluge!

– Meinetwegen!«

Fox, der inzwischen herbeigekommen war, reichte mir eine Doppelflinte, die er in der Hand hielt. Ich ergriff dieselbe, spannte den Hahn, zielte nach der Schulter des Leoparden und gab Feuer.

Getroffen, aber offenbar nur leicht verwundet, machte das Thier einen gewaltigen Sprung über das Thürmchen des Mechanikers hinweg und fiel auf dem ersten Dache des Steam-Houses nieder.

Ein so guter Schütze Kapitän Hod auch war, so hätte er jetzt doch nicht auf das Thier schießen können.

»Hierher, Fox! Mitkommen!« rief er.

Beide verließen die Veranda und nahmen in dem Thürmchen Platz.

Der Leopard begab sich nach dem Dache des zweiten Hauses, wobei er die Verbindungsbrücke leicht übersprang.

Eben als der Kapitän feuern wollte, sprang das Thier zur Erde hinab, erhob sich stolz und verschwand in der Dschungel.

»Stopp! Stopp!« rief Banks laut dem Mechaniker zu, der den Dampf absperrte und die Räder durch die Luftbremse sofort zum Stillstande brachte.

Der Kapitän und Fox sprangen auf die Straße hinab und eilten in das Dickicht, um den Tchita womöglich einzuholen.

Einige Minuten verstrichen. Wir lauschten nicht ohne einige Ungeduld. Vergebens. Kein Schuß krachte. Die beiden Jäger kamen mit leeren Händen zurück.

»Verschwunden! Entwischt! meldete Kapitän Hod. Und nicht einmal eine Blutspur im Grase.

– Das ist mein Fehler! sagte ich zum Kapitän. Sie hätten den Tchita an meiner Statt schießen sollen, Sie würden ihn nicht gefehlt haben!

– Mag sein, doch Sie haben auch getroffen, meinte Hod, das weiß ich, vielleicht nur nicht an der richtigen Stelle!

– Das war also weder mein achtunddreißigster, noch Ihr vierzigster, Herr Kapitän! sagte Fox sehr kleinlaut.

– Ei was, entgegnete Hod mit etwas erheuchelter Gleichgiltigkeit, ein Tchita ist kein Tiger! Sonst, Herr Maucler, hätte ich es nicht über mich gebracht, Ihnen den Schuß abzutreten.

– Zu Tisch, meine Herren, fiel da Oberst Munro ein. Das Frühstück erwartet uns und wird Sie trösten …

– Um so eher, setzte Mac Neil hinzu. Da nur Fox an allem Unglück schuld ist!

– Ich? erwiderte der Diener, dem diese Anschuldigung sehr unerwartet erschien.

– Gewiß, Fox, fuhr der Sergeant fort, das Gewehr, das Du Herrn Maucler gegeben hast, war ja nur mit Hühnerschrot geladen!«

Mac Neil zeigte dabei die andere Patrone vor, die er aus der Waffe, die ich benutzt, herausgenommen hatte. Sie enthielt wirklich nur kleinkörniges Schrot.

»Fox! begann der Kapitän.

– Herr Kapitän!

– Zwei Tage Stubenarrest!

– Zu Befehl, Herr Kapitän!«

Fox begab sich nach seiner Cabine, mit dem Vorsatze, sich achtundvierzig Stunden über nicht wieder blicken zu lassen. Er schämte sich seines Fehlers und wollte seine Schande verbergen.

Am nächsten Tage, am 9. Juni, durchstreiften wir, Hod, Goûmi und ich, die Ebene längs der Straße während der halbtägigen Rast, welche Banks zugestanden hatte. Der ganze Morgen war regnerisch gewesen, gegen Mittag heiterte sich der Himmel indeß ein wenig auf und ließ auf einige Stunden bessere Witterung hoffen. Hod zog diesmal übrigens nicht als Raubthierjäger, sondern als Jäger auf eßbares Wild hinaus. Im Interesse der Küche sollten wir in Gesellschaft Blacks und Phanns ruhig am Rande der Reisfelder hinwandern. Monsieur Parazard hatte dem Kapitän gemeldet, daß die Speisekammer leer sei, und daß er von seiner Ehrwürden erwarte, Se. Ehrwürden werde »die geeigneten Maßregeln ergreifen«, dieselbe wieder zu füllen.

Kapitän Hod gab nach, und wir brachen, mit einfachen Jagdflinten ausgerüstet, auf. Zwei Stunden lang erzielten wir keinen anderen Erfolg, als daß wir einige Rebhühner und Hasen aufjagten, immer aber in solcher Entfernung, daß gar nicht daran zu denken war, sie zu erlangen.

Kapitän Hod verlor bald alle gute Laune. Inmitten dieser ausgedehnten Ebene ohne Dschungeln und Gebüsch, dagegen mit vielen Dörfern und Farmen, konnte er ja kaum erwarten, ein Raubthier zu treffen, das ihn für den gestern entwischten Leoparden entschädigt hätte. Er spielte ja nur die Rolle eines Lieferanten und dachte über den bevorstehenden Empfang seitens Monsieur Parazard’s nach, wenn er mit leerer Jagdtasche heimkehrte.

An uns lag die Schuld übrigens nicht. Um vier Uhr hatten wir noch niemals Gelegenheit gefunden, ein Gewehr abzufeuern. Es wehte ein trockener Wind und alles Wild erhob sich, wie gesagt, außer Schußweite.

»Lieber Freund, redete Kapitän Hod mich da an, so kann’s entschieden nicht weiter gehen! Als wir Calcutta verließen, habe ich Ihnen die schönsten Jagdzüge versprochen, und nun hindert mich ein Unglück ohne Gleichen, ein ewiges Pech, das ich nicht begreife, mein Versprechen zu erfüllen.

– Ach, bester Kapitän, antwortete ich, nur nicht vorzeitig verzweifeln. Wenn ich dieses Malheur bedauere, so geschieht das weniger um meinet- als um Ihretwillen! …

Wir werden das Versäumte in den Bergen von Nepal wieder einholen!

– Ja dort, bestätigte Kapitän Hod, auf den ersten Abhängen des Himalaya liegen die Verhältnisse günstiger. Sehen Sie, Maucler, ich möchte darauf wetten, daß unser Zug mit Allem, was dazu gehört, das Zischen des Dampfes und vorzüglich der riesenhafte Elephant selbst, die Raubthiere erschreckt, vielleicht noch mehr als eine Eisenbahn, und das wird immer der Fall sein, so lange er in Bewegung bleibt. Liegen wir erst ruhig, so dürfen wir hoffen, glücklicher zu sein. Wahrhaftig, jener Leopard war ein Narr! Er mußte wohl dem Hungertode nahe sein, daß er sich auf unseren Stahlriesen stürzte, und verdiente wahrlich mit einer hübschen Kugel begrüßt zu werden. Der verteufelte Fox! Ich werde ihm nie vergessen, was er da angerichtet hat! – Um wie viel Uhr ist es jetzt?

– Bald um fünf Uhr.

– Schon um Fünf und wir haben noch keine Patrone verplatzt?

– Vor sieben Uhr erwartet man uns nicht zurück. Vielleicht glückt es noch bis dahin …

– Nein, das Glück ist einmal gegen uns, versetzte Kapitän Hod, und glauben Sie, das Glück ist der halbe Erfolg.

– Die Ausdauer aber nicht minder, antwortete ich. Nehmen wir uns vor, nicht mit leeren Händen heimzukehren. Ist’s Ihnen recht, Kapitän?

– Ob mir das recht ist! entgegnete Hod. Tod Allem, was sich blicken läßt!

– Einverstanden!

– Maucler, ich bringe lieber einen Maulesel oder ein Eichhörnchen mit, als daß ich als Schneider nach Hause gehe!«

Kapitän Hod, Goûmi und ich, wir befanden uns in der Gemüthsstimmung, wo uns Alles gute Beute schien. Die Jagd wurde also mit einem, einer besseren Sache würdigen Eifer fortgesetzt; doch auch die unschuldigsten Vögel mußten unsere Absicht errathen haben, denn es ließ sich keine Feder sehen.

So durchstreiften wir die Reisfelder, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite der Straße, und kehrten wieder zurück, um uns nicht zu weit vom Halteplatz zu entfernen. Verlorene Mühe! Noch um ein halb sieben Uhr waren unsere Patronen intact. Wenn wir mit einem Spazierstocke in der Hand ausgegangen wären, hätten wir genau dasselbe erzielt.

Ich sah den Kapitän an. Er ging mit aufeinander gebissenen Zähnen dahin. Eine zwischen den Augenbrauen verlaufende lange und tiefe Furche der Stirn verrieth seinen stummen Groll. Er murmelte etwas zwischen den gepreßten Lippen und bedrohte alles Feder- und Pelzvieh, von dem sich noch kein einziges Exemplar zeigte, mit dem Tode. Allem Anschein nach hätte er seine Flinte auf jeden beliebigen Gegenstand, auf einen Felsen oder einen Baum, abgefeuert – eine bekannte Jägermanier, um dem Zorne Luft zu machen. Das Gewehr brannte ihm in den Händen, das sah man deutlich. Er warf es einmal in den Arm, trug es dann am Riemen oder schulterte damit, scheinbar ganz wider Willen.

Goûmi betrachtete ihn verwundert.

»Der Kapitän wird noch ganz rasend, wenn das so fortgeht, sagte er kopfschüttelnd.

– Gewiß, ich gäbe gern dreißig Schillinge für die simpelste Haustaube, die eine barmherzige Hand ihm in den Weg triebe. Das würde ihn beruhigen!«

Doch nicht für dreißig Schillinge, nicht für den doppelten oder dreifachen Preis hätte man sich hier das billigste und gewöhnlichste Stück Jagdwild verschaffen können. Das Feld ringsum war menschenleer und wir erblickten weder eine Farm noch ein Dorf.

Wahrlich, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich Goûmi weggeschickt, um jeden Preis ein Stück Geflügel zu kaufen, und wenn es ein gerupftes Huhn war, um es als Sühnopfer unserem unwilligen Kapitän darbieten zu lassen.

Jetzt kam die Nacht allmälich heran. Nach einer Stunde war es nicht mehr hell genug, unsere nutzlose Expedition noch länger fortzusetzen. Obwohl wir übereingekommen waren, nicht mit leerer Jagdtasche nach dem Halteplatz zurückzukehren, so schien uns doch nichts Anderes übrig zu bleiben, wenn wir nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen wollten. Doch ohne Rücksicht darauf, daß für die Nacht Regen drohte, so wären Oberst Munro und Banks über unser Ausbleiben gewiß unruhig geworden, was ihnen doch erspart bleiben mußte.

Mit weit aufgerissenen Augen warf Kapitän Hod den Blick von der Rechten zur Linken und von der Linken zur Rechten mit der Schnelligkeit eines Vogels, und ging immer zehn Schritte voraus, doch in einer Richtung, die uns dem Steam-House nicht gerade näher brachte.

Ich beeilte meine Schritte, um ihn einzuholen, und ihn endlich zum Aufgeben dieser vergeblichen Versuche zu veranlassen, als ich zu meiner Rechten ein starkes Rauschen von Flügeln hörte. Ich blickte auf.

Eine schillernde Masse erhob sich langsam in einem Dickicht.

Ohne Kapitän Hod Zeit zu lassen, sich umzukehren, schlug ich an, und die beiden Schüsse der Flinte krachten.

Langsam fiel ein mir unbekannter Vogel am Rande des Reisfeldes nieder.

Phann sprang darauf zu und brachte dem Kapitän die Beute.

»Endlich, rief Hod, wenn Monsieur Parazard nun nicht zufrieden gestellt ist, mag er selbst, mit dem Kopfe voraus in seinen Kochtopf springen.

– Sind das aber auch eßbare Vögel, auf die ich geschossen habe?

– Natürlich …, wenigstens wenn man keine anderen hat! meinte der Kapitän.

– Zum Glück hat Sie Niemand gesehen, Herr Maucler! bemerkte da Goûmi.

– Zum Glück? … Was hab‘ ich denn verbrochen?

– Ei, Sie haben einen Pfau getödtet, das ist verboten, da der Pfau ein in ganz Indien geheiligter Vogel ist.

– Der Kuckuck hole alle heiligen Vögel und die, welche sie heilig sprechen, rief Kapitän Hod. Der hier ist nun einmal geschossen und wird verspeist werden, meinetwegen mit aller Ehrfurcht, aber gegessen wird er doch!«

In der That, ist der Pfau schon seit dem Zuge Alexander’s, zu welcher Zeit er sich in Indien verbreitete, überall im Lande der Brahmanen geheiligt. Die Hindus betrachten ihn als Symbol der Göttin Saravasti, der Beschützerin der Geburt und Ehe. Auf die Tödtung dieses Vogels sind schwere, auch vom englischen Gesetz anerkannte Strafen festgestellt.

Das Exemplar aus der Hühnerfamilie, das Kapitän Hod so sehr erfreute, war mit seinen grünen, metallisch glänzenden Flügeln, welche ein Goldrand umgab, wirklich prächtig anzusehen. Der wohlausgebildete Schweif erschien wie ein Fächer aus feinstem Seidenhaar.

»Nun vorwärts, drängte der Kapitän. Morgen wird Monsieur Parazard uns Pfauenbraten vorsetzen, was auch alle Brahmanen Indiens dazu sagen mögen. Wenn der Pfau an und für sich nichts Anderes als ein anspruchsvolles Huhn ist, so werden doch die künstlerisch angeordneten Federn von diesem hier uns einen hübschen Tafelschmuck liefern.

– Sind Sie nun zufrieden, Herr Kapitän?

– Mit Ihnen, lieber Freund, gewiß; mit mir leider nicht. Mein Pech ist noch nicht vorüber, ich werde das also noch abwarten müssen. Nun vorwärts!«

Wir schlugen die Richtung nach dem Lagerplatz ein, von dem wir gegen drei Meilen entfernt sein mochten. Auf dem Wege, der sich durch die vielen Krümmungen der dichten Bambus-Dschungeln wand, gingen wir, Kapitän Hod und ich, nebeneinander, Goûmi, der die Jagdbeute trug, kam wenige Schritte hinter uns. Noch war die Sonne nicht verschwunden, aber durch große Wolken verschleiert, so daß man den Weg im Halbdunkel nur mühsam erkannte.

Plötzlich ertönte aus dem Dickicht neben uns ein gewaltiges Brüllen. Mir erschien es so entsetzlich, daß ich wider Willen auf der Stelle stehen blieb.

Kapitän Hod ergriff meine Hand.

»Ein Tiger!« sagte er.

Dann kam ein Fluch über seine Lippen.

»Alle Donnerwetter Indiens! rief er, nun haben wir blos Hühnerschrot in den Flinten!«

Das war leider nur zu richtig, denn wir Alle besaßen keine einzige Kugelpatrone.

Uebrigens würden wir kaum Zeit gehabt haben, die Gewehre damit zu laden. Schon zehn Secunden nach dem Gebrüll erschien das Thier vor dem Dickicht und stand mit einem einzigen Sprung zwanzig Schritte vor uns auf der Straße.

Es war ein prächtiger Tiger von der Art, welchen die Hindus »Eater men« (Menschenfresser) nennen, und deren Wuth jährlich noch Hunderte zum Opfer fallen.

Unsere Lage war schrecklich.

Ich sah den Tiger an, ich verschlang ihn mit den Augen, und ich gestehe, daß mir die Flinte in den Händen zitterte. Jener maß etwa zehn Fuß in der Länge und hatte ein orangefarbenes Fell mit abwechselnd weißen und schwarzen Streifen.

Er beobachtete uns ebenfalls. Sein Katzenauge leuchtete durch das Halbdunkel und mit dem Schweife peitschte er den Boden. Er duckte und erhob sich wieder wie zum Sprunge.

Hod bewahrte seine gewöhnliche Kaltblütigkeit. Er hielt das Gewehr auf das Thier angelegt und murmelte nur mit einem gar nicht wieder zu gebenden Ausdruck:

»Schrot Numero sechs! Einen Tiger mit Hühnerschrot zu schießen! Wenn ich ihn nicht in beide Augen treffe, sind wir …«

Er kam nicht dazu den Satz zu vollenden. Der Tiger näherte sich, nicht in Sprüngen, sondern schleichenden Schrittes.

Goûmi, der hinter uns kauerte, zielte ebenfalls auf denselben, seine Flinte enthielt aber nur Vogeldunst. Die meinige war gar nicht geladen.

Ich wollte eine Patrone aus der Tasche holen.

»Nicht rühren!« flüsterte mir der Kapitän zu; der Tiger würde springen, und dazu darf es nicht kommen!«

Wir verhielten uns also alle Drei stumm und still.

Langsam kam der Tiger heran. Den Kopf, den er früher bewegte, hielt er jetzt völlig still. Seine Augen starrten voraus, doch scheinbar mehr nach unten. Mit dem weit offenen Rachen, den er nahe der Erde hielt, schien er deren Ausdünstung aufzusaugen.

Bald stand das furchtbare Thier kaum noch zehn Schritte vom Kapitän entfernt.

Fest auf den Füßen und unbeweglich wie eine Statue, concentrirte Hod seine ganze Lebenskraft in den Augen. Der bevorstehende grauenhafte Kampf, dessen Ausgang Niemand vorhersagen konnte, machte ihm sicher kaum das Herz schneller schlagen.

In diesem Augenblick glaubte ich, der Tiger werde auf uns zuspringen.

Er machte noch fünf Schritte. Ich mußte mich stark bezwingen, um nicht dem Kapitän zuzurufen:

»So schießen Sie doch! Schießen Sie!«

Doch nein, der Kapitän hatte es gesagt – und das war wohl auch unser einziges Rettungsmittel – er wollte dem Thier die Augen verbrennen; dazu mußte er es jedoch sehr nahe haben.

Der Tiger machte noch drei Schritte und erhob sich zum Sprunge …

Da ertönte ein gewaltiger Krach, dem fast augenblicklich ein zweiter Knall folgte.

Die zweite Detonation kam aus dem Leibe des Thieres selbst her, das nach einigem Zucken und Schmerzgebrüll todt niedersank.

»Wunder über Wunder! rief Kapitän Hod. Mein Gewehr ist also mit einer Kugel, und noch dazu mit einer explodirenden, geladen! O, dieses Mal danke ich Dir, Fox!

– Ist es möglich?

– Da, sehen Sie selbst!«

Kapitän Hob schlug die Flintenläufe zurück und holte aus dem linken die Patrone heraus.

Das war eine Kugelpatrone.

Jetzt erklärte sich Alles.

Kapitän Hod besaß eine Doppelbüchse und eine Doppelflinte, beide von demselben Kaliber. Aus Irrthum hatte Fox gleichzeitig die Büchse mit Jagdpatronen und die Flinte mit Explosionskugel-Patronen geladen. Wenn dieser Mißgriff gestern Abend dem Leoparden das Leben gerettet hatte, so rettete er heute das unsere.

»Ja wohl, sagte der Kapitän Hod, als ich das aussprach, und so nahe dem Tode bin ich fast noch nie gewesen!«

Eine halbe Stunde später waren wir am Halteplatz zurück. Hod ließ Fox rufen und berichtete das erlebte Abenteuer.

»Herr Kapitän, erwiderte der Diener, daraus geht hervor, daß ich vier Tage Arrest verdiene, da ich mich zweimal geirrt habe!

– Das mein‘ ich auch, antwortete Hod, doch da mir Dein Irrthum den einundvierzigsten eingebracht hat, so ist es meine Absicht, Dir diese Guinee dafür anzubieten …

– Und die meinige, dieselbe anzunehmen!« fiel Fox ein, der das Goldstück in der Tasche verschwinden ließ.

So verlief also das erste Zusammentreffen des Kapitän Hod mit seinem einundvierzigsten Tiger.

Am Abend des 12. Juni hielten wir nahe einem unbedeutenden Flecken und fuhren am nächsten Morgen wieder weiter, um die hundertfünfzig Kilometer zurückzulegen, die uns noch von den Bergen Nepals trennten.

Vierzehntes Capitel.


Vierzehntes Capitel.

Einer gegen Drei.

Noch wenige Tage, und wir gelangten zu den ersten Abhängen jener nördlichen Gebiete Indiens, die sich von Stufe zu Stufe, Hügel auf Hügel, Berg auf Berg bis zu den höchsten Spitzen der Erdkugel aufthürmen. Bisher zeigte der Boden eine leichte Unebenheit und eine so allmäliche Steigung, daß unser Stahlriese diese gar nicht zu bemerken schien.

Das Wetter blieb stürmisch, vorzüglich regnerisch, die Temperatur aber hielt sich in erträglichen Grenzen. Die Wege waren noch nicht schlecht, und die breiten Radkränze der Räder unseres Zuges rollten trotz dessen hohen Gewichtes bequem darüber hin. Zeigte sich irgendwo eine gar zu tiefe Spur, so genügte ein leichter Druck von Bank’s Hand auf den Regulator, durch den er etwas mehr von dem gehorsamen Fluidum zuströmen ließ, zur Bewältigung des Hindernisses. An Kraft fehlte es unserer Maschine ja bekanntlich nicht, und eine Vierteldrehung des Einlaßventils vermehrte ihre Stärke sofort um mehrere Dutzend Pferdekräfte.

Bis jetzt hatten wir in der That, sowohl die Art der Fortbewegung als auch den von Banks gewählten Motor nur zu loben, ebenso wie den Comfort unserer rollenden Häuser, vor denen immer ein neuer Horizont aufstieg, der sich vor unseren Augen veränderte.

Allmälich verschwand die grenzenlose Ebene, die sich vom Gangesthale aus bis nach den Gebieten von Audh und Rohilkande hin erstreckt. Im Norden bildeten die Riesengipfel des Himalaya einen Rahmen, gegen den die vom Südwestwind getriebenen Wolken anzukämpfen schienen. Noch vermochten wir zwar das pittoreske Profil jener Bergkette, die sich bis zur mittleren Höhe von achttausend Metern über das Meer erhebt, nicht zu erkennen; mit der Annäherung an die tibetanische Grenze wurde das Land aber nach und nach wilder und an Stelle der cultivirten Felder bedeckten nun dichte Dschungeln die Erde.

Auch die Flora dieses Theiles des Hindugebietes gewann einen anderen Charakter. Schon waren die Palmen verschwunden, um prächtigen Banianen und dichtbelaubten Mangobäumen, welche die schönste Frucht in ganz Indien liefern, Platz zu machen, und vor Allem den Bambusgruppen, deren Stengel sich garbenartig verbreitet bis hundert Fuß über den Erdboden erheben. Hier traten auch Magnolien auf, die mit ihren großen Blumen die Luft mit erquickendem Wohlgeruche erfüllten, herrliche Ahornbäume, verschiedene Arten von Eichen, Maronenbäume mit ihren gleich den Seeigeln spitzenbesäeten Früchten, Gummibäume, deren Milchsaft aus den geöffneten Gefäßen strömte, großblättrige Pinien aus der Gattung der Pandaneen und daneben, zwar bescheidener an Wuchs, aber leuchtender an Farbe, Geraniums, Rhododendrons und Lorbeerbäume, welche gleich einem Gartenbeete die Straße einfaßten.

Noch zeigten sich da und dort ein Dorf mit Stroh- oder Bambushütten, zwei bis drei inmitten größerer Bäume versteckte Farmen, aber schon durch meilenweite Zwischenräume von einander getrennt. Auch die Bevölkerung nahm mit der Annäherung an das Hochland merkbar ab.

Ein grauer, dunstiger Himmel bildete den Hintergrund des ausgedehnten Landschaftsbildes, und fast unausgesetzt strömte ein heftiger Regen herab. Während der vier Tage vom 13. bis 17. Juni verschonte er uns kaum einen halben Tag. Wir mußten uns also im Salon des Steamhauses aufhalten und die langen Stunden hinwegzutäuschen suchen, wie man das rauchend, plaudernd und Whist spielend in jeder festen Wohnung zu thun pflegt.

Während dieser Zeit hatten auch die Gewehre, zum Aerger des Kapitän Hod, vollkommen Ruhe; zwei »Schlems« aber, die er an einem Abend machte, gaben ihm den verlorenen Humor wieder.

»Man kann wohl jeden Tag einen Tiger erlegen, sagte er, aber nicht jeden Tag einen »Schlem machen!«

Gegen diese so richtige und klar formulirte Behauptung ließ sich füglich nichts einwenden.

Am 17. Juni errichteten wir unser Lager nahe einem Seraï, wie man die speciell für die Reisenden bestimmten Bungalows bezeichnet. Das Wetter hatte sich ein wenig gebessert, und der Stahlriese, der im Laufe der vier letzten Tage hart gearbeitet hatte, bedurfte, wenn auch nicht der Ruhe, doch einiger Pflege. Wir kamen also überein, einen halben Tag und die folgende Nacht an dieser Stelle zu verbringen.

Der Seraï ist die Karawanserei, das öffentliche Gasthaus an den Straßen Indiens, ein Viereck niedriger Gebäude, welche einen Hof umschließen und deren Ecken meist vier Thürmchen überragen, was dem Ganzen einen völlig orientalischen Charakter verleiht. In diesen Seraïs fungirt ein ausschließlich für den Dienst in denselben bestimmtes Personal, der »Bhisti« oder Wasserträger, der Koch, die Vorsehung der anspruchslosen Reisenden, welche sich mit Eiern und jungen Hühnchen zu begnügen wissen, und der »Khansama«, d. h. der Lebensmittel-Lieferant, mit dem man unmittelbar und meist zu sehr niedrigen Preisen ein Abkommen trifft.

Der Wächter des Seraï, der »Peon«, ist ein einfacher Agent der ehrenwerthen Compagnie, welcher fast alle diese Etablissements gehören und die sie durch den Chef-Ingenieur des Bezirks beaufsichtigen läßt.

Eine merkwürdige, aber in aller Strenge erhaltene Vorschrift in diesen Herbergen lautet dahin, daß jeder Reisende den Seraï vierundzwanzig Stunden lang benutzen darf; für einen längeren Aufenthalt daselbst braucht er die Erlaubniß des Inspectors. In Ermanglung einer solchen kann der erste Beste, Engländer oder Hindu, verlangen, daß er ihm seinen Platz räume.

Selbstverständlich brachte unser Stahlriese, sobald wir Halt gemacht hatten, seine gewöhnliche Wirkung hervor, d. h. er wurde angestaunt, vielleicht mit neidischen Augen betrachtet. Ich muß indeß erwähnen, daß die dermaligen Bewohner des Seraï denselben mit einer Art Verachtung betrachteten – eine Verachtung jedoch, die viel zu gemacht erschien, um wahr sein zu können.

Freilich hatten wir es nicht mit gewöhnlichen Sterblichen zu thun, die in Geschäften oder zum Vergnügen reisten; auch nicht mit einem englischen Officier, der sich nach dem Cantonnements an der Grenze von Nepal begab, noch mit einem Hindu-Kaufmann, der seine Karawane nach den Steppen von Afghanistan, jenseits Cahore und Peschawar, führte.

Es rastete hier nämlich kein Geringerer als der Prinz Gourou Singh in höchst eigener Person, der Sohn eines unabhängigen Rajah, der mit großem Pomp durch das nördliche Indien reiste.

Dieser Fürst nahm allein die drei oder vier Säle des Seraï ein, sogar alle Zugänge und Nebenräumlichkeiten, welche für die Leute seines Gefolges eingerichtet worden waren.

Ich hatte noch keinen Rajah auf Reisen gesehen. Gleich nachdem wir uns, eine Viertelmeile von dem Seraï, an einer reizenden Stelle neben einem kleinen Wasserlaufe unter dem Schutze prächtiger Pandanen eingerichtet hatten, ging ich also, in Begleitung Banks‘ und des Capitän Hod aus, um das Lager des Prinzen Gourou Singh in Augenschein zu nehmen.

Der Sohn des Rajah, der eine Ortsveränderung vornimmt, thut das natürlich nicht allein. Wenn ich irgend Jemand nicht beneide, so sind es Diejenigen, welche keinen Fuß bewegen können, ohne gleichzeitig mehrere hundert Menschen in Bewegung zu bringen! Wahrlich, es ist doch besser, ein einfacher Fußgänger zu sein mit dem Quersack auf dem Rücken, den Stock in der Hand und die Flinte im Arme, als ein in Indien reisender Prinz mit all‘ dem Ceremoniell, das sein Rang ihm auferlegt.

»Da reist nicht ein einzelner Mann von einer Stadt zur anderen, meinte Banks, sondern es wechselt ein ganzer Flecken seine geographischen Coordinaten!

– Ich lobe mir das Steam-House, erwiderte ich, und möchte nicht mit jenem Rajahsohne tauschen!

– Wer weiß, bemerkte Kapitän Hod, ob dieser Fürst nicht selbst unser rollendes Haus seinem schwerfälligen Reise-Apparat vorzöge?

– Er braucht nur ein Wort zu sagen, rief Banks, und ich baue ihm einen vollständigen Dampfpalast, wenn er die Kosten tragen will. Doch in Erwartung seines Auftrages wollen wir uns einstweilen, wenn sich’s der Mühe lohnt, das Lager ein wenig ansehen!«

Das Gefolge des Prinzen bestand aus nicht weniger als fünfhundert Personen. Unter großen Bäumen der Umgebung des Seraï waren gegen zweihundert Wagen, symmetrisch wie die Zelte eines Feldlagers, aufgestellt, für welche theils Zebus, theils Büffel als Zugthiere dienten, während drei große Elephanten reichgeschmückte Palankins auf dem Rücken trugen; daneben fanden sich auch noch gegen zwanzig, aus den Ländern westlich des Indus herstammende Kameele. Der Karawane fehlte wirklich nichts, weder Musiker, welche die Ohren Seiner Hoheit ergötzten, und Bajaderen, die seine Angen entzückten, noch Künstler, um die Stunden der Muße zu verkürzen. Dreihundert Träger und zweihundert Hellebardiere vervollständigten dieses große Personal, dessen Sold jede andere Börse als die eines unabhängigen indischen Rajah erschöpft hätte.

Die Musiker, Tamburin-, Cymbal- und Tamtamspieler gehörten theils der Sippe an, welche den Lärmen an Stelle der Töne setzt, theils kratzten sie auf Guitarren und viersaitigen Geigen, welche offenbar kaum jemals richtig gestimmt gewesen waren.

Unter den Künstlern befanden sich einige »Sapwallahs« oder Schlangenbändiger, welche die Reptilien durch ihre Beschwörungen anlocken oder vertreiben; ferner »Slutuis«, sehr geschickt in Uebungen mit dem Säbel; Akrobaten, die mit einer Pyramide von irdenen Gefäßen auf dem Kopfe und Büffelhörnern an den Füßen auf schlaffem Seile tanzen, und endlich Taschenspieler, welche nach Belieben des Zuschauers alte Schlangenhäute in giftige »Cobras« oder umgekehrt verwandeln.

Die Bajaderen gehörten zu der Classe jener hübschen »Boundelis«, die für »Nautchs« oder Abendgesellschaften so gesucht sind, wo sie die doppelte Rolle der Sängerinnen und Tänzerinnen vertreten. Diese Ballerinen gingen sehr prächtig gekleidet, die Einen in goldgesticktem Mousselin, die Anderen in faltigen Röcken mit Schärpen, die sie bei ihren graziösen Bewegungen ausspannten, und Alle waren geschmückt mit reichen Kostbarkeiten, prächtigen Spangen an den Armen, mit goldenen Ringen an den Fingern und Zehen und silbernen Schellen an den Knöcheln. So aufgeputzt, führten sie den berühmten Eiertanz mit außerordentlicher Grazie und Gewandtheit aus, und ich hoffte stark, Gelegenheit zu erhalten, Jene auf besondere Einladung des Rajah einmal bewundern zu können.

Außerdem figurirten, ich weiß nicht unter welchem Titel, noch eine Anzahl Männer, Frauen und Kinder unter dem Personal der Karawane. Die Männer gingen in lange Streifen Stoff gehüllt, den man »Dhoti« nannte, oder waren mit einer Art Hemd, der »Angarkah«, und langem, weißem Rocke, der »Jamah«, bekleidet, was ihnen ein sehr bizarres Aussehen verlieh.

Die Frauen trugen den »Choli«, etwa eine Jacke mit kurzen Aermeln, und den »Sari«, entsprechend dem Dhoti der Männer, den sie um die Hüften schlangen und dessen Ende sie kokett rückwärts über den Kopf warfen.

Träge unter den Bäumen ausgestreckt liegend, erwarteten diese Hindus die Stunde der Mahlzeiten und rauchten inzwischen in ein grünes Blatt gewickelte Cigarretten oder den »Gargouli«, in dem der »Gurago«, eine schwärzliche Mischung aus Tabak, Melasse und Opium, eingeäschert wird. Andere kauten das bekannte Gemisch aus Betelblättern, Arecanuß und gelöschtem Kalk, das der Verdauung förderlich sein soll, eine Eigenschaft von großem Werthe in dem brennenden Klima Indiens.

Gewöhnt an den Aufenthalt in Karawanen, lebten Alle im besten Einvernehmen und legten nur zur Zeit eines Festes die gewohnte Ruhe ab. Man hätte sie für Mitglieder einer reisenden Schauspielergesellschaft halten können, welche auch in vollständige Apathie zu versinken pflegen, wenn sie nicht auf der Bühne beschäftigt sind.

Als wir jedoch an der Lagerstelle ankamen, beeilten sich die Hindus, uns mit einigen »Salams« und tiefen Verbeugungen zu begrüßen. Die Meisten riefen »Sahib! Sahib!« was »Herr! O Herr!« bedeutet, und wir antworteten ihnen durch freundschaftliche Zeichen.

Ich erwähnte, daß mir der Gedanke kam, Gourou Singh werde uns zu Ehren ein Fest geben, womit die Rajahs sonst nicht zu geizen pflegen. Der für eine derartige Ceremonie hinreichende Hof des Bungalow schien mir wie geschaffen für die Tänze der Bajaderen, die Beschwörungen der Zauberer und für die Kunststücke der Akrobaten. Ich gestehe gern, daß es mich entzückt hätte, einem solchen Schauspiele in einem Seraï, unter prächtigen Bäumen und mit der natürlichen, vom Personal der Karawane gebildeten Scenerie beizuwohnen. Wie weit mußte eine solche jede Bühne eines beschränkten Theaters mit seinen Mauern aus gemalter Leinwand, dem unechten Laubwerk und der geringen Zahl Mitwirkender übertreffen!

Ich theilte diesen Gedanken meinen Gefährten mit, welche ihn zwar theilten, aber an die Erfüllung dieses Wunsches nicht glaubten.

»Der Rajah von Guzarate, belehrte mich Banks, ist ein Unabhängiger, der sich kaum nach dem Aufstand der Sipahis unterworfen hat, während dessen sein Verhalten mindestens ein sehr zweideutiges war. Er liebt die Engländer nicht, und sein Sohn wird nichts thun, sich ihnen zuvorkommend zu erweisen.

– Nun gut, was kümmern uns auch seine Nautchs!« erwiderte Kapitän Hod mit verächtlichem Achselzucken.

Es kam, wie wir dachten, ja, es wurde uns nicht einmal gestattet, das Innere des Seraï zu besichtigen. Vielleicht erwartete Prinz Gourou Singh einen officiellen Besuch von Oberst Munro. Dieser hatte mit jener Persönlichkeit ja nichts zu schaffen und ließ sich also nicht im mindesten stören.

Nach unserem Halteplatz zurückgekehrt, erwiesen wir dem von Monsieur Parazard bereiteten Diner alle Ehre. Der Speisezettel bestand in der Hauptsache freilich nur aus Conserven. Seit mehreren Tagen hatte uns das schlechte Wetter am Jagen verhindert; unser Koch war aber ein solcher Meister seines Faches, daß conservirtes Fleisch und Gemüse unter seinen kundigen Händen ihre Frische und natürlichen Geschmack wieder annahmen.

Trotz Banks‘ Erklärung erhielt ein Gefühl von Neugierde in mir während des ganzen Abends noch immer einige Hoffnung, die erwünschte Einladung eintreffen zu sehen. Kapitän Hod spottete über meine Vorliebe für das Ballet unter freiem Himmel und behauptete, daß sich das im Opernhause doch weit schöner ausnähme. Ich glaubte zwar nicht daran, konnte jedoch, angesichts der Unliebenswürdigkeit des Prinzen, keinen Beweis dafür beibringen.

Am folgenden Tage, am 18. Juni, wurde Alles zurecht gemacht, um mit Anbruch des nächsten Tages aufzubrechen.

Um fünf Uhr begann Kâlouth zu heizen. Unser, jetzt übrigens abgespannter Elephant, stand gegen fünfzig Fuß von den Häusern entfernt, wo der Maschinist noch mit der Zuführung des nöthigen Wasservorraths beschäftigt war.

Wir gingen inzwischen am Ufer des kleinen Flusses spazieren.

Vierzig Minuten später hatte der Kessel genügenden Druck und Storr wollte eben rückwärts fahren, als sich eine Truppe Hindus näherte.

Es waren fünf bis sechs Männer in weißen Röcken und seidenen Ueberwürfen, die Turbans mit Goldstickereien verziert. Ein Dutzend, mit Flinten und Säbeln bewaffnete Soldaten begleiteten dieselben. Einer dieser Soldaten trug eine grüne Laubkrone – ein Zeichen, daß irgend welche hohe Person mit im Zuge sei.

Diese hohe Person war der Prinz Gourou Singh selbst, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, von ziemlich stolzer Erscheinung – der Typus aller Nachkommen jener sagenhaften Rajahs, in dem sich der Maharatten-Charakter noch immer wiederspiegelt.

Der Prinz schien unsere Anwesenheit nicht zu bemerken. Er trat einige Schritte vor und näherte sich dem riesigen Elephanten, den Storr’s Hand eben in Bewegung setzen wollte. Als er jenen mit einiger, nur schlecht verhehlten Bewunderung betrachtet hatte, fragte er Storr:

»Wer hat diese Maschine gebaut?«

Der Mechaniker zeigte auf den Ingenieur, der jetzt herankam und in kurzer Entfernung stehen blieb.

Prinz Gourou Singh sprach ziemlich geläufig englisch und wendete sich nun an Banks:

»Sie haben das …? sagte er kaum die Lippen bewegend.

– Ja, das ist mein Werk! antwortete Banks.

– Hat man mir nicht gesagt, es sei das eine Phantasie des verstorbenen Rajah von Bouthan gewesen?«

Banks nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Wozu dient es, fuhr Seine Hoheit, nachlässig mit den Achseln zuckend fort, wozu dient es, sich von einem mechanischen Elephanten ziehen zu lassen, wenn man deren von Fleisch und Bein zur Verfügung hat?

– Nun, antwortete Banks, dieser Elephant ist weit stärker als alle, welche der verstorbene Rajah je besaß.

– O, versetzte Gourou Singh, der verächtlich den Mund spitzte, o … stärker! …

– Gewiß und ganz bedeutend! behauptete Banks.

– Keiner der Ihrigen, fiel der Kapitän Hod ein, den dies prahlerische Auftreten verletzte, keiner der Ihrigen wäre im Stande, jenem einen Fuß zu biegen, wenn er es nicht selbst will.

– Sie sagten? … schnarrte der Prinz.

– Mein Freund behauptet, erwiderte der Ingenieur, und ich bestätige es, daß dieses künstliche Thier dem Zuge von zehn Paar Pferden Widerstand leisten könne, und daß Ihre drei zusammengespannten Elephanten es nicht um einen Fuß breit fortbewegen würden.

– Das glaube ich unbedingt nicht, antwortete der Prinz.

– Sie thun sehr unrecht, das unbedingt nicht zu glauben, gab ihm Kapitän Hod zurück.

– Und wenn Eure Hoheit den Preis dafür zahlen wollen, fuhr Banks fort, so verpflichte ich mich gern einen zu liefern, der die Kraft von zwanzig, unter den besten Exemplaren Ihrer Ställe ausgewählten Elephanten besitzt.

– Das ließe sich hören, erwiderte sehr trocken Gourou Singh.

– Und läßt sich auch ausführen!« versicherte Banks.

Der Prinz wurde allmälich lebhafter. Man sah, daß er Widerspruch nicht gern ertrug.

»Man könnte ja hier auf der Stelle eine Probe anstellen, sagte er nach kurzem Besinnen.

– Das kann man, antwortete der Ingenieur.

– Und sogar diese Probe, fuhr Gourou Singh fort, zum Gegenstand einer ansehnlichen Wette machen – im Falle Sie nicht die Furcht von dem Verluste schreckt, so wie Ihr Elephant erschrecken würde, könnte er sehen, daß er sich mit meinen Elephanten messen soll!

– Der Stahlriese, erschrecken, zurückweichen? rief Kapitän Hod. Wer wagt zu behaupten, daß der Stahlriese zurückweichen würde?

– Ich, erwiderte Gourou Singh.

– Und was würden Eure Hoheit einsetzen? fragte der Ingenieur die Arme kreuzend.

– Viertausend Rupien, erklärte der Prinz, wenn Sie viertausend Rupien zu verlieren haben!«

Diese Summe entsprach etwa zehntausend Francs. Der Einsatz war ziemlich hoch, und ich sah, wie Banks, so zuversichtlich er auch war, doch eine so große Summe nicht auf’s Spiel setzen wollte.

Kapitän Hod hätte sofort das Doppelte gehalten, wenn sein bescheidener Sold ihm das erlaubte.

»Sie schlagen nicht ein? sagte da Seine Hoheit, für den viertausend Rupien nur eine verschwindende Kleinigkeit waren. Sie fürchten, viertausend Rupien daran zu wagen?

– Ich halte sie, fiel jetzt Oberst Munro ein, der herangekommen war und sich mit den wenigen, aber wichtigen Worten einmischte.

– Oberst Munro hält gegen mich viertausend Rupien? fragte Prinz Gourou Singh.

– Auch zehntausend, erwiderte Sir Edward Munro, wenn es Eurer Hoheit beliebt!

– Wie Sie wünschen!« antwortete Gourou Singh.

Die Sache wurde interessant. Der Ingenieur hatte des Obersten Hand gedrückt, wie um zu danken, daß er ihn gegenüber diesem prahlerischen Rajah nicht im Stiche gelassen habe, doch zog eine Wolke über seine Stirn, die mir die Frage nahe legte, ob er der mechanischen Kraft seines Elephanten nicht etwas zuviel zugemuthet habe.

Kapitän Hod strahlte vor Vergnügen, rieb sich die Hände und schritt auf den Elephanten zu.

»Nun Achtung, Stahlriese, rief er, es gilt für die Ehre Altenglands einzutreten!«

Alle unsere Leute standen auf der einen Seite der Straße. Auch von dem Seraï her war eine Anzahl Hindus herzugelaufen, dem bevorstehenden Wettkampf beizuwohnen.

Banks hatte sich nach dem Thürmchen zu Storr begeben, der durch künstlich vermehrten Zug das Feuer noch mehr schürte, indem er durch den Rüssel des Stahlriesen einen Dampfstrom abblasen ließ.

Inzwischen waren einige von Gourou Singh’s Dienern nach dem Seraï zurückgekehrt und holten von dort drei Elephanten, die man von Allem, was sie sonst trugen, befreit hatte. Die drei prächtigen, aus Bengalen stammenden Thiere übertrafen an Größe weit die, welche im südlichen Indien vorkommen. Als diese Riesen im kräftigsten Alter herankamen, bemächtigte sich meiner doch eine gewisse Unruhe.

Auf deren gewaltigen Rücken sitzende »Mahouts« leiteten sie mit den Händen und reizten sie durch Zurufe.

Als die Elephanten vor Seiner Hoheit vorüberschritten, blieb der größte derselben – ein wahrer Riese seines Geschlechtes – stehen, beugte beide Kniee, warf den Rüssel in die Höhe und begrüßte so den Prinzen als wohlerzogener Höfling. Dann führte man ihn und die beiden anderen näher an den Stahlriesen heran, den sie verwundert, und offenbar etwas erschreckt, zu betrachten schienen.

An dem Querriegel des Tendergestelles, das der hintere Theil unseres Elephanten verbarg, wurden nun starke Ketten befestigt.

Ich gestehe, daß mir das Herz da lauter pochte. Kapitän Hod kaute an seinem Schnurrbarte und konnte kaum am Platze aushalten.

Oberst Munro erschien ruhig, ich möchte sagen, noch ruhiger als Prinz Gourou Singh.

»Wir sind fertig, meldete der Ingenieur. Wenn es Eurer Hoheit gefällig ist …

– Mir ist’s recht!« antwortete der Prinz.

Gourou Singh gab ein Zeichen; die Mahouts ließen einen eigenthümlichen Pfiff ertönen und die drei Elephanten zogen, die mächtigen Beine gegen den Boden stemmend, gleichzeitig an. Die Maschine rollte einige Schritte rückwärts.

Mir entfuhr ein Schrei. Hod stampfte mit den Füßen.

»Bremse die Räder!« befahl einfach der Ingenieur, indem er sich nach dem Maschinisten zurückwandte.

Ein schneller Handgriff, ein Brausen und Zischen ausströmenden Dampfes, und die atmosphärische Bremse that ihre Schuldigkeit.

Der Stahlriese stand und rührte sich nicht vom Flecke.

Die Mahouts trieben ihre drei Elephanten hitziger an und diese versuchten eine neue Anstrengung.

Vergeblich! Unser Elephant schien im Boden festgewurzelt zu sein.

Prinz Gourou Singh biß sich in die Lippen.

»Vorwärts!« commandirte Banks.

Der Regulator wurde voll geöffnet; dichte Dampfwolken wirbelten stoßweise aus dem Rüssel empor; die freigelassenen Räder drehten sich langsam, in den Macadam eingreifend, und trotz ihres verzweifelten Widerstandes wurden die drei Elephanten rückwärts geschleppt, wobei sie tiefe Furchen in den Boden rissen.

» Go a head! Go a head!« rief der Kapitän.

Der Stahlriese marschirte unaufgehalten vorwärts, die drei gewaltigen Thiere fielen dabei auf die Seite und wurden zwanzig Fuß weit fortgeschleppt, ohne daß unser Elephant etwas davon zu bemerken schien.

»Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, der sich nicht mehr bemeistern konnte. Man könnte noch das ganze Seraï Seiner Hoheit hinter seine Elephanten anhängen; für unseren Stahlriesen wöge es doch nicht mehr als eine Heidelbeere!«

Oberst Munro gab mit der Hand ein Zeichen. Banks schloß das Einlaßventil und die Maschine stand.

Die drei Elephanten Seiner Hoheit, die mit den in der Luft schwankenden Rüsseln und den zappelnden Beinen fast riesigen, auf den Rücken liegenden Scarabäen (Rüsselkäfern) glichen, boten wirklich einen jämmerlichen Anblick.

Der Prinz hatte aus Aerger und Scham schon den Platz geräumt, ohne das Ende der Probe abzuwarten.

Die drei Elephanten wurden abgespannt. Sie erhoben sich, offenbar sehr gedemüthigt durch ihre Niederlage. Als sie an dem Stahlriesen vorüber kamen, konnte der größte derselben, obwohl ihn kein Cornac leitete, nicht umhin, vor diesem das Knie zu beugen und mit dem Rüssel zu salutiren, wie er das vor Prinz Gourou Singh zu thun gewohnt war.

Eine Viertelstunde später traf ein Hindu, der »Kâmdar« oder Secretär Seiner Hoheit bei uns ein und übergab dem Oberst einen Sack mit zehntausend Rupien, den Betrag der Wette.

Oberst Munro ergriff den Sack und warf ihn verächtlich von sich.

»Für die Leute Seiner Hoheit!« sagte er.

Darauf begab er sich ruhig nach dem Steam-House.

Gewiß konnte man an dem arroganten Prinzen, der uns so wegwerfend herausgefordert hatte, kaum eine bessere Vergeltung üben.

Banks gab inzwischen, da der Stahlriese wieder vorgespannt worden war, das Zeichen zur Abfahrt, und unser Zug entfernte sich, inmitten einer großen Menge höchst erstaunter Hindus, mit großer Geschwindigkeit.

Wo er vorüber kam, ertönten laute Ausrufe, und bald hatten wir, hinter einer Biegung der Straße, den Seraï des Prinzen Gourou Singh aus dem Gesichte verloren.

Am nächsten Tag erstieg das Steam-House die ersten mäßigen Erhebungen, welche das ebene Land mit dem Fuße der Himalayagrenze verknüpfen. Für unseren Stahlriesen war das nur ein Spiel: die vierundzwanzig in seine Weichen eingeschlossenen Pferde hatten ja hingereicht, mit den drei Elephanten des Prinzen Gourou Singh siegreich zu wetteifern. Er trabte also mit Leichtigkeit über die allmälich ansteigende Straße dieser Gegend hin, ohne das es nöthig geworden wäre, die normale Dampfspannung zu überschreiten.

Es bot wirklich einen merkwürdigen Anblick, den funkenspeienden Koloß unter nicht etwa schnellerem, aber tieferem Schnaufen die beiden Wagen längs der Straße dahinschleppen zu sehen. Die gerieften Radkränze drückten Streifen in den Boden, dessen Macadam zerbröckelnd knirschte. Unser gar zu schweres Zugthier ließ nämlich tiefe Furchen hinter sich und beschädigte die schon von dem unaufhörlichen Regen erweichte Straße nicht wenig.

Jedenfalls gelangte das Steam-House dabei aber höher hinauf, das Panorama erweiterte sich, die Ebene hinter uns sank langsam tiefer und nach Süden zog sich der mehr und mehr umfassende Horizont schon bis über Sehweite zurück.

Diese Erscheinung wurde noch merkbarer, als wir einige Stunden lang unter den Bäumen eines dichten Waldes dahingezogen waren. Oeffnete sich dann eine weitere Lichtung, gleich einem ungeheuren Fenster, in der Richtung nach dem Gebirge, so hielt der Zug an – einen Augenblick nur, wenn gerade ein feuchter Nebel das Landschaftsbild verschleierte – einen halben Tag, wenn das großartige Panorama klar vor unseren Augen lag.

Dieses Emporklimmen dauerte, in Anbetracht der je nach Umständen längeren oder kürzeren Pausen und der Unterbrechungen durch das Halten während der Nacht, nicht weniger als sieben Tage, von 19. bis 25. Juni.

»Bei einiger Geduld, ließ sich Kapitän Hod vernehmen, gelangten wir mit unserem Zug bis nach den höchsten Spitzen des Himalaya!

– Trauen Sie ihm nicht zuviel zu, lieber Kapitän, entgegnete der Ingenieur.

– Er vollbrächte es doch, Banks!

– Ja, Hod, aber nur unter der Bedingung, daß ihm nicht eine fahrbare Straße mangelte, daß er genügend Feuerungsmaterial, welches in den Höhen nicht mehr zu finden ist, und athembare Luft mit sich führen könnte, die in der Höhe von zweitausend Toisen allmälich ausgeht. Wir wollen ja aber auch nur die bewohnbare Zone des Himalaya passiren. Hat der Stahlriese die mittlere Höhe der Sanatorien erklommen, so macht er an einem reizenden Plätzchen, am Rande eines Gebirgswaldes Halt, wo wir die frischere Luft der höheren Regionen genießen. Dann hat Oberst Munro seinen Bungalow aus Calcutta nach den Bergen von Nepal verlegt – das ist der ganze Zweck – und wir verweilen daselbst, so lange es ihm beliebt!«

Die Stelle, an der wir endlich für mehrere Monate rasten sollten, wurde im Laufe des 25. glücklich gefunden. Schon während der letzten vierundzwanzig Stunden bot die Straße mehr und mehr Schwierigkeiten, indem sie entweder nicht mehr so gut angelegt, oder durch die Regenzeit ausgewaschen und holprig geworden war. Der Stahlriese hätte hier wohl ein Schleppseil gebrauchen können, doch entging er dem durch einen etwas erhöhten Verbrauch an Brennmaterial. Kâlouth warf nur einige Scheit Holz mehr unter den Kessel, das genügte, die Spannung der Dämpfe zu steigern. Dennoch ward es nicht nöthig, die Sicherheitsventile zu belasten, welche erst bei einem Drucke von sieben Atmosphären abbliesen, und diese Spannung wurde niemals überschritten.

Seit achtundvierzig Stunden schon bewegte sich unser Zug durch nahezu verlassene Gebiete. Flecken und Dörfer gab es hier nicht mehr, höchstens einzelne Ansiedlungen und dann und wann eine in den ausgedehnten Fichtenwäldern des mittleren Gebirgskammes verlorene Farm. Drei- bis viermal begrüßten uns wenige Bergbewohner durch ihre verwunderten Zurufe. Wenn sie diesen eigentümlichen Zug sich bergauf bewegen sahen, mußten sie nicht auf den Gedanken kommen, Brahma selbst mache sich das Vergnügen, eine große Pagode nach den unnahbaren Höhen der Grenze von Nepal zu versetzen?

Am 25. Juni endlich rief Banks zum letzten Male Halt! – am Schlusse des ersten Theiles unserer Reise durch das nördliche Indien! Der Zug stand inmitten einer ausgedehnten Waldblöße, nahe einem Gebirgsbache, dessen klares Wasser allen Bedarf während eines Aufenthaltes von mehreren Monaten decken mußte. Von hier aus erblickten wir die Ebene hinter uns auf eine Strecke von fünfzig bis sechzig Meilen.

Das Steam-House befand sich jetzt dreihundertfünfundzwanzig Meilen von seinem Abfahrtspunkte entfernt, und etwa zweitausend Meter über dem Meere und am Fuße des Dhawalagiri, dessen Gipfel sich in der Höhe von 25.000 Fuß in der Luft verlor.

Fünfzehntes Capitel.


Fünfzehntes Capitel.

Der Pal von Tandit.

Wir verlassen nun einstweilen den Oberst Munro und seine Gefährten, den Ingenieur Banks, Kapitän Hod und den Franzosen Maucler, und unterbrechen für einige Seiten den Bericht über die Reise, deren ersten Theil, der Zug von Calcutta bis zur indochinesischen Grenze, am Fuße der Bergkette von Thibet schließt.

Der Leser erinnert sich des Zwischenfalles, der sich damals zutrug, als das Steam-House bei Allahabad lag. Das Journal dieser Stadt meldete dem Oberst Munro, in der Nummer vom 25. Mai, den Tod Nana Sahib’s. Sollte sich diese so oft verbreitete und eben so oft widerrufene Nachricht diesmal bestätigen? Konnte Sir Edward Munro nach den eingehenden Details derselben noch immer zweifeln, oder mußte er nicht vielmehr darauf verzichten, an den Empörer von 1857 Gerechtigkeit zu üben?

Das Weitere wird über diese Fragen Aufklärung geben.

Wir erzählen hier, was sich seit jener Nacht vom 7. zum 8. März ereignete, als Nana Sahib in Begleitung seines Bruders Balao Rao und seiner getreuesten Waffengefährten, nebst dem Hindu Kâlagani die Höhlenstadt von Adjuntah verließ.

Sechzig Stunden später erreichte der Nabab die Schluchten der Sautpourraberge, nachdem er die Tapi überschritten, die an der Westküste der Halbinsel, nahe bei Surate mündet. Er befand sich jetzt hundert Meilen von Adjuntah, in einem nur dünn bevölkerten Theile der Provinz, was ihm für den Augenblick wenigstens einige Sicherheit gewährleistete.

Der Ort war in der That gut gewählt.

Die nur mittelhohen Sautpourraberge beherrschen das Thal der Nerbudda, dessen Nordgrenze von den Vindhyabergen gekrönt wird. Diese beiden fast parallel verlaufenden Gebirgsketten verzweigen sich vielfach und bilden in dem unebenen Lande schwer zugängliche Schlupfwinkel. Wenn die Vindhyas aber, etwa unter dem 23. Breitengrade, fast ganz Indien von Westen nach Osten durchschneiden und dadurch eine der großen Seiten des Dreiecks von Central-Indien bilden, so erstrecken sich die Soutpourraberge dagegen nicht über den 75. Längengrad hinaus und schließen sich da an den Berg Kaligong an.

Hier verweilte Nana Sahib nun in dem Lande der Gounds, jener gefürchteten Stämme alt angesessener, kaum unterjochter Völkerschaften, die er zum Aufstande verleiten wollte.

Das Gebiet von Goudwana umfaßt ein Viereck von zweihundert Meilen Seite, mit über drei Millionen Einwohnern, welche Rousselet als Landeingeborne betrachtet und unter denen die Keime der Empörung niemals absterben.

Es bildet jenes Gebiet einen beträchtlichen Theil von Hindostan und steht in der That nur dem Namen nach unter Englands Herrschaft. Die Eisenbahn von Bombay nach Allahabad durchschneidet zwar diese Gegend von Südwesten nach Nordosten und entsendet auch einen Zweig nach Nagpore, dem Mittelpunkt der Provinz, das eigentliche Volk beharrt aber in seinem halbwilden Zustand, verschließt sich jeder Civilisation, trägt das Joch der Europäer nur mit Groll, und dazu ist ihm in seinen Bergen nur schwer beizukommen, was Nana Sahib recht wohl wußte.

Hier wollte er zunächst Zuflucht suchen, um den Nachforschungen der englischen Polizei zu entgehen, bis die Stunde schlagen würde, wo er wieder die Fackel der Empörung schwingen konnte.

Gelang dem Nabab dieses sein Vorhaben, gehorchten die Gounds seinem Rufe und marschirten sie an seiner Seite, so konnte der Aufstand schnell einen bedeutenden Umfang gewinnen.

Im Norden von Goudwana nämlich liegt Bundelkund, welches das ganze Berggebiet zwischen dem oberen Plateau der Vindhyas und dem mächtigen Wasserlaufe der Jumna einschließt. In diesem, mit den schönsten Urwäldern Hindostans bedeckten Lande leben die Boundelas, ein hinterlistiges, grausames Volk, bei dem alle Verbrecher, politische und andere, mit Vorliebe Zuflucht suchen und finden; hier drängt sich eine Bevölkerung von zweiundeinhalb Millionen auf einer Fläche von achtundzwanzigtausend Quadratkilometern zusammen, unter der noch völlige Wildheit herrscht; hier leben noch alte Parteigänger, welche unter Tippo Sahib gegen die Eindringlinge kämpften; von hier stammen die berühmten Würger, die Thugs, lange Zeit der Schrecken Indiens und fanatische Mörder, welche ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, doch unzählige Opfer hinschlachteten; ebenso wie die Banden der Pinderris fast ungestraft die scheußlichsten Mordthaten begingen; hier schweifen noch die entsetzlichen Dacoits umher, eine Gesellschaft von Giftmischern, welche gern den Fußspuren der Thugs nachzogen; hierher endlich hatte auch Nana Sahib schon früher sich geflüchtet, als er den königlichen Truppen nach der Einnahme von Jansie entwischte; hier vereitelte er damals alle Nachforschungen, bis er ein noch sichereres Asyl in den unzugänglichen Schluchten der indo-chinesischen Grenze aufsuchte.

Im Osten von Goudwana liegt Khondistan, oder das Land der Khounds. So nennen sich die wilden Anhänger Tado Pennoe’s, des Gottes der Erde, und Mannek Soro’s, des rothen Gottes der Kämpfe, jene blutigen Adepten der »Meriahs« oder Menschenopfer, welche die Engländer nur mit größter Anstrengung auszurotten vermögen, jene Wilden, welche mit den barbarischesten Bewohnern der polynesischen Inseln auf ganz gleicher Stufe stehen, und gegen die der Ober-General John Campbell und die Kapitäne Macpherson, Marviccar und Feye von 1840 bis 1854 beschwerliche und langwierige Feldzüge führten, – Fanatiker, welche bereit sind, Alles zu wagen, wenn sie nur eine mächtige Hand unter einem religiösen Vorwand antreibt. Westlich von Goudwana befindet sich ein Land mit einundeinhalb bis zwei Millionen Seelen, das die Bhîles bewohnen, ehemals die Herren von Malwa und Rajpoutana; jetzt sind dieselben in einzelne Clans zerfallen, über das ganze Gebiet der Vindhyas zerstreut, und fast stets berauscht von dem Branntwein, den ihnen der »Mhowah-Baum« liefert, aber von kühnem entschlossenen Charakter, gewandt, und immer des »Kisri«, d. i. des Rufes zum Kampf und zur Plünderung gewärtig.

Man sieht, daß Nana Sahib eine gute Wahl getroffen hatte. In diesen Centralgebieten der Halbinsel hoffte er jetzt, anstatt eines gewöhnlichen Militäraufstandes, eine nationale Erhebung zu erregen, an der sich die Hindus jeder Kaste betheiligen sollten.

Bevor er jedoch etwas unternehmen konnte, mußte er in dem Lande selbst Aufenthalt nehmen, um auf die Bevölkerung je nach Lage der Umstände erfolgreich wirken zu können. Er brauchte einen sicheren Schlupfwinkel, wenigstens für die erste Zeit, den er aufgeben konnte, wenn sich ein Verdacht erhob.

Das war also Nana Sahib’s erste Sorge. Die Hindus, welche ihm von Adjuntah aus gefolgt waren, konnten in der ganzen Präsidentschaft frei umhergehen. Auch Balao Rao, auf den die Bekanntmachung des Gouverneurs nicht zu beziehen war, hätte der vollständigen Freiheit genießen können, wäre nur nicht die Aehnlichkeit mit seinem Bruder gewesen. Seit seiner Flucht von Nepal hatte sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht mit seiner Person beschäftigt, vielmehr hatte man alle Ursache, ihn für todt zu halten. Er wäre aber doch verhaftet worden, da man ihn zu leicht für Nana Sahib selbst ansehen konnte; das mußte um jeden Preis vermieden werden.

Die beiden, in einem Gedanken vereinigten und auf ein und dasselbe Ziel lossteuernden Brüder brauchten demnach auch ein gemeinsames Asyl. Es konnte nicht schwer fallen und nicht lange dauern, ein solches in den Enggässen der Sautpourraberge aufzufinden.

Gleich anfangs wies einer der Hindus der Truppe, ein Gound, der das Thal in allen Winkeln kannte, auf eine geeignete Stelle hin.

Am rechten Ufer eines kleinen Nebenflusses der Nerbudda befand sich ein verlassener Pal, der Pal von Tandit.

Ein Pal ist weniger als ein Dorf, kaum ein Weiler, eine Vereinigung von Hütten, oft eine isolirte Wohnung. Jede Nomadenfamilie, die einen solchen bewohnt, verweilt hier nur eine Zeit lang. Nach dem Abbrennen einiger Bäume, deren Asche für kurze Zeit den Boden düngt, erbaut der Gound für sich und die Seinigen die Wohnung. Da das Land aber nichts weniger als sicher ist, so nimmt das Haus das Ansehen einer kleinen Befestigung an. Ein Ring von Palissaden umschließt dasselbe und sichert es gegen einen Ueberfall. Uebrigens ist es an und für sich schwierig, dasselbe, wie es meist im Dickicht versteckt, unter üppigen Cactus und Buschwerk vergraben liegt, aufzufinden. Gewöhnlich nimmt der Pal den Gipfel eines kleinen Hügels ein, der im Grunde eines engen Thales inmitten undurchdringlichen Gebüsches zwischen zwei Bergwänden gelegen ist. Nichts verräth, daß Menschen hier je ein Unterkommen gesucht hätten. Dahinführende Straßen giebt es nicht, selbst von Fußwegen entdeckt man keine Spur. Um den Platz zu erreichen, muß man gewöhnlich dem tiefen Bett eines Bergstromes folgen, dessen Wasser jede Fußspur verwischt. Wer diesen Weg benutzte, hinterläßt kein Zeichen davon. Während der heißen Jahreszeit geht man bis an die Knöchel, während der kalten bis zum Knie im Wasser, und nichts deutet daraus hin, daß hier ein lebendes Wesen vorübergekommen sei. Dazu würde eine Lawine von Felsstücken, zu deren Ablösung schon die Hand eines Kindes hinreichte, Jeden zermalmen, der gegen den Willen der Bewohner des Pals hinaufzudringen versuchte.

So isolirt die Gounds auch in ihren Bergnestern sitzen, so können sie einander doch leicht genug von Pal zu Pal mittheilen. Von den Höhen der ungleichen Kämme der Sautpourraberge ließen sich die gewohnten Signale binnen wenigen Minuten über eine Strecke von zwanzig Meilen durch das Land verbreiten. Man pflegt dann auf den Gipfel eines spitzen Felsens Feuer anzuzünden, gebraucht wohl gleich einen Baum als Riesenfackel oder läßt von einem Berge nur eine Rauchsäule aufsteigen. Die Bedeutung dieser Zeichen kennt Jedermann. Der Feind, d. h. eine Abtheilung königlicher Soldaten, ein Schwarm Agenten der englischen Polizei ist in das Thal eingedrungen, folgt dem Laufe der Nerbudda, durchsucht die Schluchten der Bergketten, vielleicht auf der Fährte eines Uebelthäters, dem das Land gern Schutz bietet. Der dem Ohre der Bergbewohner so gewohnte Kriegsruf verwandelt sich in ein Alarmzeichen. Ein Fremder würde ihn mit dem Heulen der Nachtvögel oder dem Pfeifen von Reptilien verwechseln. Der Gound kann sich dabei nicht täuschen; er ist auf der Hut, wenn das genügt, er flieht, wenn er fliehen muß. Die verdächtigen Pals stehen verlassen, oder werden selbst abgebrannt. Die Nomaden verkriechen sich in andere Verstecke, wenn man ihnen zu nahe auf den Fersen ist, und an den mit Asche bedeckten Wohnplätzen finden die Agenten der Behörden nichts als Ruinen.

In einem dieser Pals – dem Pal von Tandit – hatten Nana Sahib und die Seinigen ihr Unterkommen gewählt. Der, der Person des Nabab mit Leib und Seele ergebene Gound hatte sie hierher geführt, wo sie sich am 12. März dann häuslich einrichteten.

Sobald die beiden Brüder von dem Pal von Tandit Besitz genommen, war es ihre erste Sorge, die Umgebungen in Augenschein zu nehmen. Sie überzeugten sich, nach welcher Richtung und wie weit ihnen die Aussicht offen stand; erkundigten sich nach den nächstgelegenen Wohnungen und nach den Leuten, welche jene inne hatten. Sie durchforschten sorgfältig die Lage des isolirten Hügels, den der Pal von Tandit krönte, streiften durch das dichte Gebüsch ringsum und überzeugten sich schließlich, daß Niemand dahin gelangen könne, außer indem er dem Bette eines Sturzbaches, des Wazzur, nachging, in dem sie selbst heraufgekommen waren.

Der Pal von Tandit bot also nach allen Seiten die gewünschte Sicherheit, vorzüglich weil er auf einem Untergrund stand, dessen geheime Ausgänge sich an der Seite eines Nebenberges öffneten und im schlimmsten Falle noch ein Entfliehen ermöglichten.

Nana Sahib und sein Bruder hätten ein besseres Versteck nicht finden können.

Balao Rao genügte es aber nicht, zu wissen, daß das der Pal von Tandit sei, er wollte auch von seiner Vergangenheit etwas hören, und fragte deshalb, während der Nabab das Innere der kleinen Festung besichtigte, den Gound weiter aus.

»Noch einige Fragen, begann er zu diesem. Seit wann steht der Pal verlassen?

– Seit einem Jahre, antwortete der Gound.

– Wer bewohnte ihn früher?

– Eine Nomadenfamilie, welche sich nur wenige Monate hier aufhielt.

– Warum haben die Leute ihn verlassen?

– Weil der Boden, der sie ernähren sollte, ihren Bedarf nicht lieferte.

– Und seit ihrem Abzug hat Deines Wissens Niemand hier Zuflucht gesucht?

– Niemand.

– In den Bereich des Pals hat noch kein Soldat der königlichen Armee, kein Polizeispion den Fuß gesetzt?

– Niemals.

– Kein Fremder hat ihn besucht?

– Keiner … erwiderte der Gound, höchstens eine Frau.

– Eine Frau? wiederholte lebhaft Balao Rao.

– Ja, eine Frau, die seit drei Jahren schon im Nerbuddathale umherirrt.

– Wer ist diese Frau?

– Wer sie ist, weiß ich nicht, erklärte der Gound, kann auch nicht sagen, woher sie kommt, und kein Mensch im Thale weiß überhaupt Näheres von ihr. Man hat nie erfahren können, ob sie eine Fremde, oder ein Hinduweib ist!«

Balao Rao sann einen Augenblick nach; dann fuhr er fort:

»Was beginnt das Weib?

– Sie kommt und geht, erwiderte der Gound; sie lebt nur allein von Almosen. Man bringt ihr im ganzen Thale eine Art abergläubischer Verehrung entgegen. In meinem eigenen Pal habe ich sie wiederholt aufgenommen. Sie spricht niemals. Man könnte sie für stumm halten, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie das wirklich wäre. Während der Nacht sieht man sie mit einem brennenden harzigen Zweige umherirren. Deshalb nennt man sie allgemein nur »die wandelnde Flamme!«

– Doch, wenn diese Frau den Pal von Tandit kennt, sagte Balao Rao, sollte sie nicht vielleicht während unserer Anwesenheit zurückkehren und haben wir nichts von ihr zu fürchten?

– Ganz und gar nichts, versicherte der Gound, die Person hat den Verstand verloren. Ihr Kopf gehört ihr nicht mehr, die Augen verstehen nicht, was sie sehen, die Ohren nicht, was sie hören! Sie ist für alle Dinge der Außenwelt so gut wie blind, taub und stumm. Sie ist eine Närrin, und eine Geisteskranke ist eine Todte, die nur noch fortathmet!«

In der gewöhnlichen Sprache der Hindus der Gebirge hatte der Gound das Bild der eigenthümlichen Persönlichkeit entworfen, die im ganzen Thale bekannt war, das der »wandelnden Flamme« der Nerbudda.

Es war eine Frau, deren blasses, noch schönes Gesicht alt und wiederum nicht alt aussah, das aber jedes Ausdrucks entbehrte und weder Abstammung noch Alter erkennen ließ. Man hätte sagen können, ihre unsteten Augen hätten sich vor dem Anblick einer Schreckensscene, die ihr noch immer vorschwebte, für das Leben des Geistes verschlossen.

Dieser harmlosen und des Verstandes beraubten Creatur kamen die Bergbewohner stets freundlich entgegen. Geisteskranke gelten bei den Gounds, sowie überhaupt bei wilden Völkern, als geweihte Wesen, denen man mit abergläubischer Ehrfurcht begegnet. Ueberall, wo sie sich zeigte, nahm man die wandelnde Flamme gastfreundlich auf. Kein Pal schloß vor ihr seine Pforte. Man speiste sie, wenn sie hungerte, bot ihr ein Lager, wenn sie müde war, ohne von ihr einen Dank zu erwarten, den ihr Mund ja nicht auszusprechen vermochte.

Wie lange führte sie schon dieses Leben? Woher kam das Weib? Wann erschien sie zuerst in Goudwana? Solche Fragen wären schwer zu beantworten gewesen. Warum durchirrte sie die Nächte mit einer Fackel in der Hand? Wollte sie sich dadurch nur leuchten? Dachte sie die Raubthiere damit abzuwehren? Niemand hätte das sagen können. Manchmal blieb sie ganze Monate lang aus. Was wurde dann aus ihr? Vertauschte sie die Engpässe der Sautpourraberge mit den Schluchten der Vindhyas? Streifte sie jenseits der Nerbudda, in Malwa oder Bundelkund umher? Keiner wußte es. Oefter, wenn ihre Abwesenheit länger dauerte, hätte man glauben können, dieses traurige Leben habe ein Ende gefunden. Doch nein! Sie kam immer wieder, wie früher, ohne daß Anstrengung, Krankheit oder Entbehrungen ihren scheinbar so gebrechlichen Körper zerstören zu können schienen.

Balao Rao hatte dem Hindu mit größter Aufmerksamkeit zugehört. Er legte sich die Frage vor, ob in dem Umstand, daß die wandelnde Flamme den Pal von Tandit kannte, daß sie daselbst schon Zuflucht gesucht und vielleicht auch wiederkehren könnte, eine Gefahr zu erblicken sei.

Er fragte also Gound, ob er oder die Seinigen wüßten, wo sich die Wahnsinnige jetzt aufhielt.

»Ich weiß es nicht, erwiderte der Gound. Sechs Monate lang hat sie Niemand im Thale gesehen. Vielleicht ist sie nun doch todt. Doch wenn sie wirklich zu dem Pal von Tandit zurückkehrte, wäre von ihrer Anwesenheit nicht das Mindeste zu fürchten. Sie ist nur eine lebende Statue. Sie würde Euch nicht sehen, nicht hören, nicht wissen, wer Ihr seid. Sie träte eben ein, setzte sich an Euren Herd, ruhte einen oder zwei Tage, dann würde sie einfach ihre Fackel wieder entzünden, den Pal verlassen und auf’s Neue von Haus zu Haus umherschweifen. So vergeht ihr ganzes Leben. Uebrigens bleibt sie diesesmal so lange aus, daß sie wahrscheinlich niemals wieder kommt. Sie, die schon geistig todt war, wird es nun auch leiblich sein!«

Balao Rao hielt es hiernach nicht für nothwendig, mit Nana Sahib über die Sache zu sprechen, und schenkte ihr auch selbst bald keine besondere Aufmerksamkeit mehr.

Einen Monat nach ihrem Einzug in den Pal von Tandit hatte man von der Rückkehr der wandelnden Flamme im Nerbuddathale noch nicht das Geringste wieder vernommen.

Sechzehntes Capitel.


Sechzehntes Capitel.

Die wandelnde Flamme.

Einen Monat lang, vom 12. März bis 12. April, hielt Nana Sahib sich in dem Pal verborgen. Er wollte den englischen Behörden Zeit lassen, bis sie entweder jede weitere Nachforschung aufgegeben, oder sich auf falsche Fährten verirrt hätten.

Wenn die beiden Brüder am Tage niemals ausgingen, so durchstreiften dafür ihre Getreuen das Thal, besuchten die Dörfer und Weiler desselben, verkündigten durch verhüllte Anspielungen die bevorstehende Erscheinung eines »gewaltigen Moulti«, eines halben Gottes und halben Menschen, und suchten auf diese Weise die Geister zu einer nationalen Erhebung vorzubereiten.

Mit Anbruch der Nacht wagten sich auch Nana Sahib und Balao Rao aus ihrem Versteck hervor. Sie schweiften dann bis zu den Ufern der Nerbudda hinaus, gingen von Dorf zu Dorf, von Pal zu Pal, in Erwartung der Stunde, wo sie auch im Gebiete der den Engländern lehnspflichtigen Rajahs mit einiger Sicherheit auftreten könnten. Nana Sahib wußte übrigens, daß einige halbunabhängige und des fremden Joches müde Fürsten seinem Rufe auf der Stelle folgen würden. Für jetzt galt seine Thätigkeit jedoch nur den wilden Volksstämmen von Goudwana.

Die barbarischen Bhîls, die nomadisirenden Kounds und die Gounds – ein ebenso wenig wie die eingebornen Inselbewohner im großen Ocean civilisirter Stamm – fand Nana bereit, sich zu erheben, erbötig, ihm zu folgen. Gab er sich aus Klugheit auch nur zwei oder drei mächtigen Stammeshäuptlingen zu erkennen, so genügte ihm das doch, sich zu überzeugen, daß sein Name allein mehrere Millionen der auf den inneren Hochebenen Hindostans zerstreut lebenden Hindus heranziehen werde.

Nach der Rückkunft in den Pal von Tandit berichteten die beiden Brüder dann einander, was sie gehört, gesehen und ausgerichtet hatten. Auch ihre Leute sammelten sich um sie und brachten von überall her die Kunde, daß der Geist der Empörung schon wie ein Sturmwind durch das Nerbuddathal wehe. Die Gounds warteten nur darauf, den »Kisri«, den Kriegsruf der Bergbewohner, erschallen zu lassen und sich auf die Militär-Niederlassungen der Präsidentschaft zu stürzen.

Noch war der rechte Zeitpunkt nicht gekommen.

Offenbar genügte es noch nicht, das Gebiet zwischen der Sautpourrabergen und den Vindhyas in Flammen zu setzen. Die Fackel des Aufstandes mußte sich vielmehr von Ort zu Ort weiter verbreiten. Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, auch in den, der Botmäßigkeit der Engländer mehr untergebenen Nachbarprovinzen der Nerbudda Brennmaterial aufzuhäufen. Alle jene Städte und Flecken von Rhopal, Malwa und Bundelkund, sowie das ganze Königreich Scindia sollten einen einzigen, entzündungsfertigen Herd bilden. Mit gutem Grunde ließ es Nana Sahib aber seine eigene Sorge sein, die alten Parteigänger aus der Erhebung von 1857 aufzusuchen, die Eingebornen, welche, treu seiner Sache und niemals an seinen Tod glaubend, von Tag zu Tag darauf harrten, ihn wieder auftreten zu sehen.

Einen Monat nach seiner Ankunft im Pal von Tandit glaubte Nana Sahib mit voller Sicherheit vorgehen zu können. Er meinte, die Kunde von seinem Wiedererscheinen in der Provinz werde nun für falsch gehalten werden. Vertraute Spießgesellen unterrichteten ihn von allen Maßregeln, die der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay zu seiner Gefangennehmung getroffen hatte. Er wußte recht gut, daß die Behörden während der ersten Tage, freilich vergebens, eifrig thätig gewesen waren. Jener Fischer von Aurungabad, der frühere Gefangene Nana’s, war unter seinem Dolche gefallen, und Niemand hatte Verdacht geschöpft, daß der fliehende Fakir mit dem Nabab Dandou Pant, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt war, identisch sei. Eine Woche später legte sich die anfängliche Aufregung, die Bewerber um den Preis von 2000 Pfund gaben alle Hoffnung auf, und Nana Sahib’s Name versank wieder in Vergessenheit.

Der Nabab konnte also wieder persönlich thätig sein und ohne Furcht, erkannt zu werden, seine Aufwiegeleien fortsetzen. Bald in der Kleidung eines Parsi, bald in der eines schlichten Raïot (Bauern), heute allein, morgen in Begleitung seines Bruders, zog er nun von dem Pal von Tandit aus, wandte sich nach Norden, nach der anderen Seite der Nerbudda, und selbst bis über den Westabhang der Vindhyas hinab.

Ein Spion, der ihm auf allen Schlichen und Wegen gefolgt wäre, hätte jenen am 12. April in Indore getroffen.

Von dieser Hauptstadt des Königreiches Holcar aus setzte sich Nana Sahib, unter Einhaltung des strengsten Incognitos, mit der zahlreichen, meist der Cultur von Mohnfeldern obliegenden Landbevölkerung in Verbindung. Diese bestand aus thatenlustigen und fanatischen Rihillas, Mekranis und Valayalis, meist fahnenflüchtige Sipahis aus den Natifs-Regimentern, die sich unter der Verkleidung als Hindubauern verbargen.

Dann ging Nana Sahib über die Betwa, einen Nebenfluß der Jumna, die an der Westgrenze Bundelkunds nach Norden zu verläuft, und kam am 19. April, durch ein herrliches Thal mit zahllosen Dattel- und Mangobäumen, in Souari an.

Hier befinden sich merkwürdige Baudenkmäler von sehr hohem Alter, nämlich die sogenannten »Tôpes«, eine Art Grabmäler mit halbkugeligem Kuppeldache, welche im Norden des Thales die Hauptgruppe von Saldhara bilden. Aus den Grabstätten, diesen Wohnungen der Todten, deren, dem buddhistischen Ritus geweihte Altäre unter steinernen Schirmen geschützt stehen, quollen, auf Nana Sahib’s Ruf, Hunderte von Flüchtlingen hervor. Vergraben unter diesen Ruinen, um den schrecklichen Repressalien der Engländer zu entgehen, genügte ein Wort, ihnen klar zu machen, was der Nabab von ihnen verlangte, eine Andeutung zur rechten Zeit mußte hinreichen, sie in Menge auf die Eroberer zu hetzen. Am 24. April weilte Nana in Bhîlsa, der Hauptstadt eines mächtigen Bezirks von Malwa, und versammelte in den Ruinen der alten Stadt die Elemente zur Empörung, welche ihm die neue nicht geliefert hätte.

Am 27. April erreichte der Nabab Rayguoh, nahe der Grenze des Königreichs Pannah, und am 30. die Reste der alten Stadt Sangoe, nicht weit von der Stelle, wo General Sir Hugh Rose den Aufständischen eine sehr blutige Schlacht lieferte, die ihm mit dem Engpaß von Maudampore den Schlüssel zu den Schluchten der Vindhyas in die Hände lieferte.

Hier schloß sich dem Nabab sein Bruder wieder an, der in Begleitung Kâlagani’s nachgekommen war, und Beide gaben sich den Häuptlingen der hervorragendsten Stämme zu erkennen. In den mit diesen eröffneten Verhandlungen wurden die Grundzüge einer allgemeinen Erhebung besprochen und festgestellt. Während Nana Sahib und Balao Rao im Süden operirten, sollten ihre Bundesgenossen auf dem nördlichen Abhang der Vindhyas das Commando führen.

Bevor sie nach dem Nerbuddathale zurückkehrten, wollten die beiden Brüder noch das Königreich Pannah besuchen. Sie begaben sich dahin längs der Keyne, unter dem Dache riesiger Teks, gewaltiger Bambus und unter dem Schutze unzähliger Schlingpflanzen, welche bestimmt scheinen, ganz Indien zu überwuchern. Hier gewannen sie zahlreiche, wilde Anhänger unter dem armseligen Personal, das für den dortigen Rajah die Diamantengruben der Umgegend ausbeutet. »Dieser Rajah, sagt Rousselet, zog, da er einsah, zu welcher Rolle die Herrschaft der Engländer ihn verurtheilte, die eines reichen Grundbesitzers der Rolle eines Schattenfürsten vor. Ein reicher Grundbesitzer war er in der That! Die ihm gehörende Diamantenregion erstreckte sich im Norden von Pannah in einer Länge von dreißig Kilometern hin, und die Bearbeitung seiner Gruben, deren Edelsteine in Benares und Allahabad zu den gesuchtesten zählen, beschäftigte eine große Menge Hindus. Unter diesen Unglücklichen, welche die härtesten Arbeiten auszuführen hatten und die der Rajah einfach köpfen ließ, wenn sich die Ausbeute an Diamanten verminderte, mußte Nana Sahib Tausende von Parteigängern finden, welche entschlossen waren, für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu kämpfen und zu sterben – und er fand sie.

Von hier aus begaben sich die zwei Brüder endlich nach der Nerbudda hinab, um sich vorläufig wieder im Pal von Tandit zu verbergen. Bevor der Aufstand nämlich im Süden, gleichzeitig mit dem im Norden losbrechen sollte, gedachten sie erst noch Bhopal aufzuwiegeln. Das ist eine große muselmanische Stadt, die stets der Hauptsitz des Islam in Indien geblieben ist, und deren Begum sich den Engländern während des ganzen großen Aufstandes treu ergeben erwiesen hatte.

In Begleitung von etwa zwölf Gounds kamen Nana Sahib und Balao Rao am 24. Mai in Bhopal, am letzten Tage der Moharum-Feste an, mit denen die Muselmanen Neujahr feiern. Beide trugen die Costüme der »Joguis«, einer unheimlichen Bettlersecte, welche lange Dolche mit abgerundeten Klingen bei sich führen, mit denen sie sich in Verzückung schlagen, ohne sich dabei besonders zu verletzen.

Unkenntlich in dieser Kleidung, folgten die beiden Brüder einer Procession durch die Straßen der Stadt, inmitten zahlreicher Elephanten, die auf dem Rücken sogenannte »Tadzias«, das heißt kleine Tempel von zwanzig Fuß Höhe, trugen; sie mischten sich dabei unter die Muselmanen mit reichen goldgestickten Ueberröcken und hohen Musselin-Mützen, und befanden sich dann wieder unter den Musikern des Zuges oder unter Soldaten, Bajaderen, jungen Leuten in weiblicher Tracht – eine bunte Menge, welche der ganzen Ceremonie einen mehr carnevalistischen Anstrich verlieh. Mit den Hindus aller Classen, unter denen sie viel Getreue zählten, hatten sie dabei unmerkbare, aber den Aufständischen vom Jahre 1857 verständliche Zeichen tauschen können.

Später Abends begab sich die ganze Volksmasse nach dem See, der dicht vor der östlichen Vorstadt liegt.

Unter betäubendem Geschrei, dem Knattern von Feuerwaffen und dem Krachen von Petarden, so wie beim Schein Tausender von Fackeln stürzten die Gläubigen die Tadzias in die Fluthen des Sees. Die Moharum-Feste fanden damit ihren Abschluß.

Da fühlte Nana Sahib, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Ein Bengali stand neben ihm.

Nana Sahib erkannte in dem Hindu einen seiner alten Waffengefährten von Laknau. Er blickte den Mann fragend an.

Der Bengali theilte ihm flüsternd das Folgende mit, was Nana Sahib anhörte, ohne seine Erregung auch nur durch eine Miene zu verrathen.

»Der Oberst Munro hat Calcutta verlassen.

– Und wo ist er?

– Er war gestern in Benares.

– Wohin geht er?

– Nach der Grenze von Nepal.

– In welcher Absicht?

– Einige Monate daselbst zu verweilen.

– Und nachher…?

– Nach Bombay zurückzukehren.«

Jetzt erschallte ein leiser Pfiff. Ein Hindu glitt durch die Menge und näherte sich Nana Sahib.

Das war Kâlagani.

»Mach‘ Dich sofort auf den Weg, befahl diesem der Nabab. Suche Munro auf, der jetzt nach Norden zu unterwegs ist. Schließ‘ Dich ihm an. Erweise ihm irgend welche Dienste und setze schlimmsten Falles das Leben auf’s Spiel, aber weiche nicht von seiner Seite, bevor er jenseits der Vindhyas nach dem Nerbuddathale hinabgezogen ist. Dann, aber erst dann, gieb mir von seinem Aufenthalte Nachricht!«

Kâlagani antwortete nur durch ein bestätigendes Zeichen und verschwand wieder unter der Menge. Ein Wink des Nabab galt ihm als Befehl. Zehn Minuten später hatte er Bhopal schon im Rücken.

Jetzt trat Balao Rao an seinen Bruder heran.

»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen.

– Ja wohl, erwiderte Nana Sahib, wir müssen vor Tagesanbruch wieder im Pal von Tandit sein.

– Auf den Weg also!«

Beide folgten nun in Begleitung ihrer Gounds dem nördlichen Ufer des Sees bis zu einer verlassenen Farm. Hier erwarteten sie und ihre Escorte die nöthigen Pferde. Diese gehörten zu der flüchtigen Race, denen man ein sehr gewürzreiches Futter verabreicht und welche fünfzig Meilen in einer Nacht zurücklegen können. Um acht Uhr galoppirten sie auf der Straße von Bhopal nach den Vindhyas hin.

Nur aus Vorsicht wollte der Nabab vor Tage im Pal von Tandit eintreffen, da es jedenfalls gerathener erschien, unbemerkt in das Thal zurückzukehren.

Die kleine Truppe flog also dahin, was die Pferde laufen konnten.

Nana Sahib und Balao Rao sprachen zwar, während sie so nebeneinander ritten, kein Wort, doch erfüllte sie ein und derselbe Gedanke. Von diesem Ausfluge über die Vindhyas brachten sie nicht nur die Hoffnung, nein, die Gewißheit mit heim, daß sich unzählige Anhänger ihrer Sache anschließen würden. Das Hochland von Central-Indien war vollständig in ihrer Hand. Die auf den weiten Gebieten zerstreuten schwachen Militär-Cantonnements konnten unmöglich dem ersten Anprall der Empörer Widerstand leisten. Mit ihrer Vernichtung gewann der Aufstand freien Raum, und bald mußte sich dann von einer Küste zur anderen eine Mauer fanatischer Hindus erheben, an der die königliche Armee voraussichtlich zerschellte.

Gleichzeitig dachte Nana Sahib aber auch an den glücklichen Zufall, der ihm Munro in den Weg führte. Endlich hatte der Oberst Calcutta, wo ihm nur schwer beizukommen war, einmal verlassen. In der nächsten Zeit konnte ihm keine seiner Bewegungen entgehen. Ohne daß er sich dessen versah, würde ihn Kâlagani’s Hand ja nach den wildesten Berggegenden der Vindhyas leiten, und dort konnte ihn nichts mehr vor der Rache retten, die Nana Sahib noch immer gegen ihn hegte.

Balao Rao wußte von der Unterredung seines Bruders mit jenem Bengali kein Wort. Erst nahe dem Aufgang zu dem Pal von Tandit, als man die Pferde kurze Zeit verschnaufen ließ, machte ihm Nana Sahib eine kurze Mittheilung darüber.

»Munro hat Calcutta verlassen und begiebt sich nach Bombay.

– Die Straße nach Bombay führt bis zum Strande des indischen Oceans!

– Die Straße nach Bombay, entgegnete Nana Sahib mit eigenthümlichem Tone, reicht diesesmal nur bis zu den Vindhyas!«

Diese Antwort sagte Alles.

Die Gesellschaft stieg wieder zu Pferde und verschwand in dem Baumdickicht vor dem Ufer der Nerbudda.

Es war jetzt fünf Uhr Morgens. Schon graute der Tag. Nana Sahib, Balao Rao und ihre Genossen kamen eben an dem Wildbett der Nazzur an, das den Weg nach dem Pal hinauf bildet.

An diesem Punkte ließ man die Pferde unter der Aufsicht zweier Gounds zurück, die sie nach dem nächsten Dorfe führen sollten.

Die Uebrigen folgten den beiden Brüdern und Alle kletterten die unter dem Wasser des Bergbaches erzitternden Stufen hinan.

Ringsum war es still. Noch unterbrach das Geräusch des Tages nicht die Stille der Nacht.

Plötzlich donnerte ein Schuß durch die Luft, dem mehrere andere nachfolgten. Gleichzeitig hörte man von oben ein dreifaches Hurrah!

Ein Officier, der einen Trupp von fünfzig Soldaten führte, erschien neben dem Pal.

»Feuer! Daß Keiner entkomme!« rief er noch einmal.

Sofort erfolgte eine neue Salve, welche aus nächster Nähe auf die Nana Sahib und seinen Bruder umgebenden Gounds abgegeben wurde.

Fünf ober sechs Hindus fielen; die Uebrigen sprangen in das Bett des Nazzur zurück und verschwanden im Walde.

»Nana Sahib! Nana Sahib!« riefen die Engländer, während sie in die enge Schlucht hinabdrangen.

Da erhob ein zu Tode Getroffener noch einmal die Hand gegen sie.

»Tod und Verderben den Eroberern!« preßte er mit schrecklicher Stimme noch hervor und fiel bewegungslos zurück.

Der Officier trat an den Leichnam heran.

»Ist das etwa Nana Sahib? fragte er.

– Ja, er ist es, antworteten zwei Soldaten des Detachements, die den Nabab von ihrem Aufenthalte in Khanpur her genau kannten.

– Nun, dann auf die Anderen!« commandirte der Officier. Die ganze Abtheilung eilte in den Wald zur Verfolgung der Gounds.

Kaum waren Alle verschwunden, als ein Schatten geräuschlos den Abhang vom Pal herunterglitt.

Es war die wandelnde Flamme, eingehüllt in ein langes Stück braunen Stoffes, den ein Strick um die Hüften zusammenhielt.

Am Vorabend hatte die Wahnsinnige unbewußt den Officier und seine Leute hierher geführt. Kaum in das Thal zurückgekehrt, suchte sie ganz willenlos den Pal von Tandit auf, nach dem eine Art Instinct sie hinzog. Diesmal aber ließ das sonderbare Wesen, das man sonst für stumm hielt, einen Namen über die Lippen gleiten, nur den einen des Massenmörders von Khanpur!

»Nana Sahib! Nana Sahib!« wiederholte sie immer, als ob das Bild des Nabab durch eine unerklärliche Ahnung wieder vor ihre Seele getreten wäre.

Dieser Name erregte die Aufmerksamkeit des Officiers im höchsten Grade. Er folgte der Wahnsinnigen auf dem Fuße. Sollte hier der Nabab sich versteckt halten, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war?

Der Officier traf die geeigneten Maßregeln und ließ das Bett des Nazzur bis zum Anbruch des Tages bewachen. Als Nana Sahib und die Gounds dasselbe betreten hatten, empfing er sie mit einer Salve, welche mehrere zu Boden streckte und unter diesen den Anführer des Aufstandes der Sipahis.

Der Art war das Zusammentreffen, welches der Telegraph noch am nämlichen Tage dem Gouverneur der Präsidentschaft Bombay meldete. Die Nachricht verbreitete sich blitzschnell über die ganze Halbinsel, und so konnte sie Oberst Munro am 26. Mai aus der Zeitung von Allahabad erfahren.

Diesesmal war an dem Tode Nana Sahib’s nicht zu zweifeln. Seine Identität wurde ja festgestellt und das Journal brachte die Worte:

»Das indische Reich hat für die Zukunft nichts mehr zu fürchten von dem unmenschlichen Rajah, der ihm so viel Blut gekostet hat!«

Nachdem die Wahnsinnige den Pal verlassen, stieg auch sie in dem Bette des Nazzur herab. Aus ihren unsteten Augen leuchtete es wie ein inneres Feuer, das plötzlich aufgeflammt schien, und ihre Lippen murmelten den Namen des Nabab.

So kam sie nach der Stelle, wo die Leichen lagen, und stand vor der still, welche die Soldaten von Khanpur erkannt hatten. Das Gesicht des Todten hatte noch einen drohenden Ausdruck.

Die Wahnsinnige kniete nieder und legte ihre Hand auf den von Kugeln durchbohrten Körper, dessen Blut die Falten ihrer Hülle befleckte. Sie sah ihn lange stier an, erhob sich, mit dem Kopfe schüttelnd, und stieg langsam das Bett des Nazzur hinab.

Dann versank die wandelnde Flamme wieder in ihre gewohnte Theilnahmlosigkeit, und der Name des von Allen verwünschten Nana Sahib kam nicht mehr über ihre Lippen.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Ein Preis auf einen Kopf.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder lebendig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsidentschaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Tandu Pant, bekannter unter dem Namen …«

So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffentlichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heimlich bewunderten, fehlte an dem Placate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bungalow am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von Indien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein? Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durch die Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichen Verfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung entgehen könne? Durfte er glauben, daß eine so berüchtigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenes Papierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.

An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Placate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicher Ausrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekanntmachung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. Die Bewohner der geringsten Flecken der Provinz wußten es schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlieferung Dandu Pant’s versprochen war. Vor Ablauf von zwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Name durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein. Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nabab wirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht, so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgend welchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Ergreifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als er das eine Exemplar der schon tausendfach verbreiteten Bekanntmachung zerriß?

Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch dem einer inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mit den Achseln und begab sich nacher sorglos in das volkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostindischen Halbinsel zwischen den westlichen und östlichen Ghats. Gewöhnlich bezeichnet man damit auch die ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dekkan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, umfaßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madras und Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Provinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als die von ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mongolenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jener Stadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindostans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte damals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzigtausend heutzutage unter der Herrschaft der Engländer, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabad verwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städte der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asiatischen Cholera, wie von den in Indien so verheerend auftretenden Fiebern verschont geblieben.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines früheren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma errichtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Favoritsultanin Schah Jahan’s, des Vaters Aureng-Zeb’s, die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra erbaute Moschee, welche ihre vier Minarets um eine schlanke Kuppel erheben, und noch andere, architektonisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeugen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Eroberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er noch Kabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichlichen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminderung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter dessen bunt gemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochte es nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter jener an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. Seine Genossen überschwemmen ja ganz Indien. Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen religiösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße, um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen, wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohl auch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen ein hohes Ansehen bei den niederen Classen der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mann von hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neun Zoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein bis zwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinnerte, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer aufmerksamen Augen, an den schönen Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so feinen Züge seiner Race in Folge der tausend Pockengruben auf seinen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Der noch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehr gewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzeichen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupthaar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, ohne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlechten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusammengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Embleme des erhaltenden und des zerstörenden Princips der Hindu-Götterlehre, das Löwenhaupt der vierten Fleischwerdung Wischnu’s, und die drei Augen nebst dem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leicht erklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vorzüglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerung der ärmeren Stadtheile zusammendrängte. Hier wimmelte es von Menschen vor den baufälligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Männer, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne, Soldaten der königlichen und der einheimischen Regimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umgegend – Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durcheinander, erläuterte die Bekanntmachung und erwog die Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, von der Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinn von zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregung der Gemüther nicht größer sein können. In diesem Falle kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegeben war, ein glückliches Loos zu ziehen – dieses Loos war der Kopf Dandu Pant’s. Freilich gehörte etwas Glück dazu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth, sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, den die Gewinnung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schien – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wobei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, stehen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zu nutze machen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhaltung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so feierten seine Augen und Ohren doch keineswegs.

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab! rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmel emporstreckend.

– Nicht für die Auffindung, erwiderte ein Anderer, sondern für dessen Festnahme, und das ist doch ein ganz ander‘ Ding!

– Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohne hartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

– Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in den Dschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?

– Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue Dandu Pant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto ungestörter leben zu können.

– Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seines Lagers an der Grenze beerdigt worden,

– Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zu führen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er das letzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte. Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, als er einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppe in seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte, die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest, begann der Hindu, daß sich der Nabab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao und dem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einem Lager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte. Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe an der Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, ließen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das entstandene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eigene Beerdigung in’s Werk setzen; begraben wurde von ihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand, den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.

– Doch woher wißt Ihr das? fragte einer der Zuhörer den mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

– Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwesend, erwiderte derselbe. Dandu Pant’s Soldaten hatten mich gefangen, und erst sechs Monate später gelang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weise sprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelte Hand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollengewebe, das seine Brüste verhüllte. Er horchte, ohne eine Wort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigten dabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person? fragte man den ehemaligen Gefangenen Dandu Pant’s.

– Gewiß, versicherte der Hindu.

– Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er Euch zufällig vor die Augen käme?

– So gut wie mich selbst.

– Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung von zweitausend Pfund zu erlangen! rief einer der Umstehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

– Vielleicht … meinte der Hindu, wenn es sich bestätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte, sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wagen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.

– Was sollte er hier auch vorhaben?

– Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzetteln, erklärte Einer aus der Gruppe, wenn nicht unter den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung des Inneren.

– Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwesenheit in der Provinz gemeldet worden sei, meinte ein Anderer aus der Kategorie jener Leute, welche überzeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschen könne, so wird die Regierung auch verläßliche Nachrichten darüber besitzen.

– Mag sein! warf der Hindu ein. Brahma gebe, daß Dandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück ist gemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber des Nabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmälich dunkel, doch das Leben und Treiben auf den Straßen von Aurungabad verminderte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nabab wurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in der Stadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wieder weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus dem Norden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter die Anzeige von der Verhaftung Nandu Pant’s überbracht. Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten, er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt, in Gesellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißig Jahren schmachteten, und werde am nächsten Morgen mit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitere Umstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi, sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichten umher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefangene sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Derer auf’s Neue belebte, welche der Preis von zweitausend Pfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nachrichten falsch. Die am besten Unterrichteten wußten nicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlecht berichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt denselben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hatte jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preis zu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bombay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt haben, mit dem gefürchteten Anführer in der großen Empörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden und tiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelkhund, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi, Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz der unter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hätten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn an die englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gatten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweinten noch Die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachten lassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reichten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Rache und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dandu Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er sich in jene Gegenden gewagt hatte, wo Alle seinem Namen fluchten. Hatte er also, wie man sagte, die indochinesische Grenze wieder überschritten und trieb ihn irgend ein dunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Aufruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupfwinkel zu verlassen, der für die englischindische Polizei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nur die Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und eine gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Erscheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen und sofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daß die höheren Gesellschaftsklassen von Aurungabad, die Magistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in die dem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leise Zweifel setzen. Das Gerücht, der unergreifbare Dandu Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, war schon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so viele falsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legende von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheit verbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizei zu überlisten; die große Menge dagegen glaubte die Worte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte natürlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beutegier und gereizt von dem Drange nach personlicher Rache, nur daran, in’s Feld zu rücken, und sah seinen Erfolg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehr einfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthalter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann genau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pant wußte, d. h. worauf sich die in der Bekanntmachung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachte er, nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Meldung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem er so vielerlei Aussagen gehört, die im Kopfe durcheinander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorhaben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Wohnung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegte Barke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen, wandte er die Schritte dahin.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihn nicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurungabad waren die Straßen um jene Stunde weniger belebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem verödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer der Doudhma bildete. Es war eine Art Wüste dicht an der Stadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemächlich durch dieselbe den belebterer Straßen zu. Bald erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu achtete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer des Stromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dunkelsten Stellen des Weges auf, entweder unter dem Schütze der Baume, oder indem er an den düsteren Mauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häusern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging der Mond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer. Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihm nachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schritte konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt ja mit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daß er ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwesenheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte – sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, in der er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Erklärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtung nicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabendlich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz eingenommen von dem Gedanken an den Schritt, den er am nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. Die Hoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, der mit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflich umging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zu gewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, die ihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehr näherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, ein Mann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es war ein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischen Dolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfällig zur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte, war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Mit einem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worte aus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer, hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volle Mondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?

– Er ist’s!« murmelte der Hindu.

Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes Wort, als er an rascher Erstickung verendete.

Einen Augenblick darnach verschwand der Körper des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nicht wieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sich legte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlassene Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allgemach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes nach einem der Thore der Stadt.

Eben dort angelangt, schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der königlichen Armee standen an demselben Wache. Der Fakir konnte, entgegen seiner Absicht, Aurungabad nicht verlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht … oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs des Glacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, die Böschung, um nach dem oberen Theile des Festungswalles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß über die Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Seine Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne jeden Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Es erschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwa hinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hinabsteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengürtel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, damit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mit den Augen rings umher und überlegte, was er nun beginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da und dort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großer Bäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsame und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benutzen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mit großer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nicht länger. Er verschwand unter einem solchen Blätterdache und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, am unteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sich unter seiner Last allmälich senkte. Als derselbe sich soweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mauer zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, so als ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfte der Eskarpe konnte er auf diese Weise wohl gelangen, noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vom Erdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zu können.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel und Erde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt in der Mauer, um sich dagegen zu stemmen.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dunkel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war von den Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer, doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zoll über seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, der ihn hielt.

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fakir fiel in den Wallgraben … Ein Anderer hätte dabei den Tod gefunden, er blieb heil und gesund.

Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschung unter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten, zu erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu verschwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerkt zu werden, am Cantonnement der englischen Truppen vorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sich um und erhob die verstümmelte Hand drohend gegen die Stadt mit den Worten:

»Weh‘ Denen, die noch in Nandu Pant’s Hände fallen! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zu Ende!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtetsten von allen, blutigen Andenkens aus dem großen Aufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wie eine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.