Amerika Kapitel 9

Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf, und ein eiskaltes marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sich vorsichtig hinunter. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war – im Schimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke –, warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große, tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie einer Kirche. Karl bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Haus bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen.

Das Geländer war übrigens nicht lang, und bald wurde Karl wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nur die ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl schon, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde, und hoffte schon, die offene Tür seines Zimmers vielleicht wiederzufinden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, daß es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war, und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes »Hallo!« zu schreien, als er in der Richtung, aus der er gekommen war, ein kleines, sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen; das Haus war eine Festung, keine Villa. Karls Freude über dieses rettende Licht war so groß, daß er alle Vorsicht vergaß und darauf zulief; schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.

»Wer sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausging. ›Es muß ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes erlaubt‹, dachte Karl und sah diesen Bart unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, daß er selbst beobachtet wurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne.

»Ach so«, sagte der Diener, »wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt.«

»Ich weiß«, sagte Karl.

»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der Diener.

»Bitte«, sagte Karl und tat es.

»Es zieht hier so auf den Gängen,« sagte der Diener, »die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne.«

»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.

»Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft«, sagte der Diener und leuchte mit der Kerze Karls Anzug ab.

»Das habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, und es tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder drehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Fleck, den der Diener folgsam entfernte.

»Warum zieht es denn hier eigentlich so?« fragte Karl, als sie schon weitergingen.

»Es ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte der Diener, »man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert, und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehen.«

»Da muß ich wohl lauter reden?« fragte Karl.

»Nein, Sie haben eine klare Stimme«, sagte der Diener. »Aber um auf diesen Bau zurückzukommen; besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.«

»Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt, geht also in eine Kapelle hinaus?«

»Ja.«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Karl.

»Sie ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft.«

»Herr Mack?« fragte Karl, »ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder?«

»Allerdings«, sagte der Diener, »aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?«

»O ja«, sagte Karl. »Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?«

»Er ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte der Diener.

»Das wußte ich freilich nicht«, sagte Karl und blieb stehen.

»Setzt Sie das in solches Erstaunen?« fragte der Diener.

»Ich will es mir nur zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler machen«, antwortete Karl.

»Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat«, sagte der Diener.

»Ja, wirklich«, sagte Karl beschämt.

»Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es«, sagte der Diener, »es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens«, und öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte.

Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier auszukennen.«

»Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkehren,« sagte Karl und wußte nicht, warum er bei dieser Auskunft traurig wurde.

»Es wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, ein wenig überlegen lächelnd, und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt, daß Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die anderen hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen, und sagte deshalb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von Ihnen, und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird.« »Gut«, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhing. »Ich werde also hier warten. Die Kerze können Sie auch bei mir lassen«, sagte der Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte.

»Ich bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte die Kerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen Bart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehen, merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Tür schloß.

»Verzeihen Sie, daß ich störe«, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu sehen, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmerweise irgendwie in die Küche fortgetragen worden.

»Wo haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.

»Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehen dürfen«, sagte Karl, ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. »Was soll denn das für eine Bitte sein?« fragte Herr Pollunder und sah Karl mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. »Sie ist natürlich schon erfüllt.« Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, obwohl er sich im allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger.

»Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?« fragte Herr Pollunder. »Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herauskommt? Im allgemeinen« – und ein nicht mißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green –, »im allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.«

›Er spricht‹, dachte Karl, ›als wüßte er nichts von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.‹

»Nun«, sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und schüttelte Karl freundschaftlich, der stumm dastand.

»Ich bitte«, sagte Karl, und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gern verschwiegen hätte – »ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause.«

Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere um so schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin auch ich gerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichts in diesem Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig – und vor allem anderen soll mich Gott bewahren – verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus, und man hat zum Schluß eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerikaner noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, welches Unglück über mich kommen wird und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für das Gymnasium viel lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit hatte. – Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muß ich, um den Fehler, den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wiedergutzumachen, sofort nach Hause gehen.«

Amerika Kapitel 4

Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurücktretenden Vergangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchenschrank, auf dessen Platte sie ihren Ellbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küche kam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinen Vater zu holen oder einen Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der vertrackten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und holte sich die Eingebungen von Karls Gesicht. Manchmal hielt sie die Augen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu einem hölzernen Kreuz; Karl beobachtete sie dann nur mit Scheu im Vorübergehen durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür. Manchmal jagte sie in der Küche herum und fuhr, wie eine Hexe lachend, zurück, wenn Karl ihr in den Weg kam. Manchmal schloß sie die Küchentüre, wenn Karl eingetreten war, und behielt die Klinke so lange in der Hand, bis er wegzugehen verlangte. Manchmal holte sie Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drückte sie ihm schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie »Karl« und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals, und während sie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. »Karl, o du mein Karl!« rief sie, als sähe sie ihn und bestätigte sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen, und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn – ihm war, als sei sie ein Teil seiner Selbst, und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett. Das war alles gewesen, und doch verstand es der Onkel, daraus eine große Geschichte zu machen. Und die Köchin hatte also auch an ihn gedacht und den Onkel von seiner Ankunft verständigt. Das war schön von ihr gehandelt, und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.

»Und jetzt«, rief der Senator, »will ich von dir offen hören, ob ich dein Onkel bin oder nicht.«

»Du bist mein Onkel«, sagte Karl und küßte ihm die Hand und wurde dafür auf die Stirne geküßt. »Ich bin sehr froh, daß ich dich getroffen habe, aber du irrst, wenn du glaubst, daß meine Eltern nur Schlechtes von dir reden. Aber auch abgesehen davon sind in deiner Rede einige Fehler enthalten gewesen, das heißt, ich meine, es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen, und ich glaube außerdem, daß es keinen besonderen Schaden bringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert worden sind.«

»Wohl gesprochen«, sagte der Senator, führte Karl vor den sichtlich teilnehmenden Kapitän und fragte: »Habe ich nicht einen prächtigen Neffen?«

»Ich bin glücklich«, sagte der Kapitän mit einer Verbeugung, wie sie nur militärisch geschulte Leute zustandebringen, »Ihren Neffen, Herr Senator, kennengelernt zu haben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, daß es den Ort eines solchen Zusammentreffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im Zwischendeck war wohl sehr arg, ja, wer kann denn wissen, wer da mitgeführt wird. Nun, wir tun alles mögliche, den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern, viel mehr zum Beispiel als die amerikanischen Linien, aber eine solche Fahrt zu einem Vergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer nicht gelungen.«

»Es hat mir nicht geschadet«, sagte Karl.

»Es hat ihm nicht geschadet!« wiederholte laut lachend der Senator.

»Nur meinen Koffer fürchte ich verloren zu –« und damit erinnerte er sich an alles, was geschehen und was noch zu tun übrigblieb, sah sich um und erblickte alle Anwesenden stumm vor Achtung und Staunen auf ihren früheren Plätzen, die Augen auf ihn gerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, soweit ihre strengen, selbstzufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das Bedauern an, zu so ungelegener Zeit gekommen zu sein, und die Taschenuhr, die sie jetzt vor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger als alles, was im Zimmer vorging und vielleicht noch geschehen konnte.

Der erste, welcher nach dem Kapitän seine Anteilnahme ausdrückte, war merkwürdigerweise der Heizer. »Ich gratuliere Ihnen herzlich«, sagte er und schüttelte Karl die Hand, womit er auch etwas wie Anerkennung ausdrücken wollte. Als er sich dann mit der gleichen Ansprache auch an den Senator wenden wollte, trat dieser zurück, als überschreite der Heizer damit seine Rechte; der Heizer ließ auch sofort ab.

Die übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war, und bildeten gleich um Karl und den Senator einen Wirrwarr. So geschah es, daß Karl sogar eine Gratulation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte. Als letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zwei englische Worte, was einen lächerlichen Eindruck machte.

Der Senator war ganz in der Laune, um das Vergnügen vollständig auszukosten, nebensächlichere Momente sich und den anderen in Erinnerung zu bringen, was natürlich von allen nicht nur geduldet, sondern mit Interesse hingenommen wurde. So machte er darauf aufmerksam, daß er sich die in dem Brief der Köchin erwähnten hervorstechendsten Erkennungszeichen Karls in sein Notizbuch zu möglicherweise notwendigem augenblicklichem Gebrauch eingetragen hatte. Nun hatte er während des unerträglichen Geschwätzes des Heizers zu keinem anderen Zweck, als um sich abzulenken, das Notizbuch herausgezogen und die natürlich nicht gerade detektivisch richtigen Beobachtungen der Köchin mit Karls Aussehen zum Spiel in Verbindung zu bringen gesucht. »Und so findet man seinen Neffen!« schloß er in einem Ton, als wolle er noch einmal Gratulation bekommen.

»Was wird jetzt mit dem Heizer geschehen?« fragte Karl vorbei an der letzten Erzählung des Onkels. Er glaubte in seiner neuen Stellung alles, was er dachte, auch aussprechen zu können.

»Dem Heizer wird geschehen, was er verdient«, sagte der Senator, »und was der Herr Kapitän für gut erachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer genug und übergenug, wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher zustimmen wird.«

»Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit«, sagte Karl. Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte, vielleicht durch diese Stellung beeinflußt, die Entscheidung in der Hand zu haben.

Und trotzdem schien der Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände hielt er halb in dem Hosengürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mit dem Streifen eines gemusterten Hemdes zum Vorschein gekommen war. Das kümmerte ihn nicht im geringsten; er hatte sein ganzes Leid geklagt, nun sollte man auch noch die paar Fetzen sehen, die er am Leibe hatte, und dann sollte man ihn forttragen. Er dachte sich aus, der Diener und Schubal, als die zwei hier im Range Tiefsten, sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde dann Ruhe haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der Oberkassier ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen anstellen können, es würde überall Rumänisch gesprochen werden, und vielleicht würde dann wirklich alles besser gehen. Kein Heizer würde mehr in der Hauptkassa schwätzen, nur sein letztes Geschwätz würde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, das, wie der Senator ausdrücklich erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Neffen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigens vorher öfters zu nützen gesucht und daher für seinen Dienst bei der Wiedererkennung längst vorher einen mehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlangen. Im übrigen, mochte er auch der Neffe des Senators sein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aber aus dem Munde des Kapitäns würde schließlich das böse Wort fallen. – So wie es seiner Meinung entsprach, versuchte auch der Heizer, nicht zu Karl hinzusehen, aber leider blieb in diesem Zimmer der Feinde kein anderer Ruheort für seine Augen.

»Mißverstehe die Sachlage nicht«, sagte der Senator zu Karl, »es handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache der Disziplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns.«

»So ist es«, murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand, lächelte befremdet.

»Wir aber haben überdies den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften, die sich sicher gerade bei der Ankunft in New York unglaublich häufen, so sehr schon behindert, daß es höchste Zeit für uns ist, das Schiff zu verlassen, um nicht zum Überfluß auch noch durch irgendwelche höchst unnötige Einmischung diese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ich begreife deine Handlungsweise, lieber Neffe, übrigens vollkommen, aber gerade das gibt mir das Recht, dich eilends von hier fortzuführen.«

»Ich werde sofort ein Boot für Sie flottmachen lassen«, sagte der Kapitän, ohne zum Erstaunen Karls auch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte des Onkels vorzubringen, die doch zweifellos als eine Selbstdemütigung des Onkels angesehen werden konnten. Der Oberkassier eilte überstürzt zum Schreibtisch und telephonierte den Befehl des Kapitäns an den Bootsmeister.

›Die Zeit drängt schon‹, sagte sich Karl, ›aber ohne alle zu beleidigen, kann ich nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem er mich kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höflich, aber das ist auch alles. Bei der Disziplin hört seine Höflichkeit auf, und der Onkel hat ihm sicher aus der Seele gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es tut mir sogar leid, daß ich ihm die Hand gereicht habe. Und alle anderen Leute hier sind Spreu.‹

Und er ging langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte er. »Warum läßt du dir alles gefallen?«

Der Heizer legte nur die Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck für das, was er zu sagen habe. Im übrigen sah er auf Karls und seine Hand hinab.

»Dir ist ja unrecht geschehen wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich genau.« Und Karl zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne, die ihm aber niemand verübeln möge.

»Du mußt dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde dir gar nicht mehr helfen können.« Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte, und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muß. – Da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort.

»Der Heizer scheint dich bezaubert zu haben,« sagte er und sah verständnisinnig über Karls Kopf zum Kapitän hin.

»Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit und lerne deine Stellung begreifen.«

Vor der Tür entstand ein Lärmen, man hörte Rufe, und es war sogar, als werde jemand brutal gegen die Türe gestoßen. Ein Matrose trat ein, etwas verwildert, und hatte eine Mädchenschürze umgebunden. »Es sind Leute draußen«, rief er und stieß einmal mit dem Ellbogen herum, als sei er noch im Gedränge. Endlich fand er seine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da bemerkte er die Mädchenschürze, riß sie herunter, warf sie zu Boden und rief: »Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine Mädchenschürze umgebunden.« Dann aber klappte er die Hacken zusammen und salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitän sagte streng: »Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?«

»Es sind meine Zeugen«, sagte Schubal vortretend, »ich bitte ergebenst um Entschuldigung für ihr unpassendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrt hinter sich haben, sind sie manchmal wie toll.«

»Rufen Sie sie sofort herein!« befahl der Kapitän, und gleich sich zum Senator umwendend, sagte er verbindlich, aber rasch: »Haben Sie jetzt die Güte, verehrter Herr Senator, mit Ihrem Herrn Neffen diesem Matrosen zu folgen, der Sie ins Boot bringen wird. Ich muß wohl nicht erst sagen, welches Vergnügen und welche Ehre mir das persönliche Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wünsche mir nur, bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator, unser unterbrochenes Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse wieder einmal aufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf so angenehme Weise, wie heute, unterbrochen zu werden.«

»Vorläufig genügt mir dieser eine Neffe«, sagte der Onkel lachend. »Und nun nehmen Sie meinen besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl. Es wäre übrigens gar nicht so unmöglich, daß wir« – er drückte Karl herzlich an sich – »bei unserer nächsten Europareise vielleicht für längere Zeit mit Ihnen zusammenkommen könnten.«

»Es würde mich herzlich freuen«, sagte der Kapitän. Die beiden Herren schüttelten einander die Hände, Karl konnte nur noch stumm und flüchtig seine Hand dem Kapitän reichen, denn dieser war bereits von den vielleicht fünfzehn Leuten in Anspruch genommen, welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen, aber doch sehr laut einzogen. Der Matrose bat den Senator, vorausgehen zu dürfen, und teilte dann die Menge für ihn und Karl, die leicht zwischen den sich verbeugenden Leuten durchkamen. Es schien, daß diese im übrigen gutmütigen Leute den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffaßten, dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän aufhöre. Karl bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line, welche, ihm lustig zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband, denn es war die ihre.

Weiter dem Matrosen folgend, verließen sie das Büro und bogen in einen kleinen Gang ein, der sie nach ein paar Schritten zu einem Türchen brachte, von dem aus eine kurze Treppe in das Boot hinabführte, welches für sie vorbereitet war. Die Matrosen im Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigen Satz hinuntersprang, erhoben sich und salutierten. Der Senator gab Karl gerade eine Ermahnung zu vorsichtigem Hinuntersteigen, als Karl noch auf der obersten Stufe in heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte Hand unter Karls Kinn, hielt ihn fest an sich gepreßt und streichelte ihn mit der linken Hand. So gingen sie langsam Stufe für Stufe hinab und traten engverbunden ins Boot, wo der Senator für Karl gerade sich gegenüber einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen des Senators stießen die Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Arbeit. Kaum waren sie ein paar Meter vom Schiffe entfernt, machte Karl die unerwartete Entdeckung, daß sie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden, wohin die Fenster der Hauptkassa gingen. Alle drei Fenster waren mit Zeugen Schubals besetzt, welche freundschaftlich grüßten und winkten, sogar der Onkel dankte, und ein Matrose machte das Kunststück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zu unterbrechen, eine Kußhand hinaufzuschicken. Es war wirklich, als gäbe es keinen Heizer mehr. Karl faßte den Onkel, mit dessen Knien sich die seinen fast berührten, genauer ins Auge, und es kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können. Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sah auf die Wellen hin, von denen ihr Boot umschwankt wurde.

Amerika Kapitel 5


Der Onkel

Im Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald an die neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen, und niemals mußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.

Karls Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karl immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.

Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl, sich vorläufig ernsthaft nicht auf das geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangennehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar, und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne, als wenn man vom jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die zum Beispiel, statt nach diesen Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße hinuntergesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New Yorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für einen, der hierbleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig das Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel ärgerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal täglich, und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten, erfolgten, Karl auf dem Balkon antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach Möglichkeit.

Es war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Versteigerungen um einen ihm erreichbaren billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne daß es ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er hatte zum Beispiel in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe, und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durch Drehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen, und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Karl sehr lebhaft an die Krippenspiele, die zu Hause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden, und auch Karl war oft, in seine Winterkleider eingepackt, davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der Heiligen Drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter, die hinter ihm stand, nicht genau genug alle Ereignisse verfolge; er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte, und hatte ihr so lange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, nur an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Karls Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Karl mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen, und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, daß solche Bemerkungen nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen mußte, daß der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.

In den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Karl und dem Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Karl auch erzählt, daß er zu Hause zwar wenig, aber gern Klavier gespielt habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Karl war sich dessen wohl bewußt, daß eine solche Erzählung gleichzeitig die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehen, um zu wissen, daß der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und Karl könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbelwagen Platz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Karls Zimmer hinauf. Karl selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein Personenaufzug zur Benützung freistand, fuhr er in diesem, hielt sich mittels eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem anderen Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, daß er, statt weiterzuspielen, aufsprang und aus einiger Entfernung, die Hände in den Hüften, das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei, ein anfängliches kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von eisernen Baubestandteilen nicht das geringste, und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können, welche die vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte. Karl erhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Er klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die lärmerfüllte Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte, das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und auf den finsteren Platz hinausschauen, von Fenster zu Fenster einander zusingen – aber sah er dann auf die Straße, so war sie unverändert und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes, das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagte auch nichts dagegen, zumal sich Karl, auch nach seiner Mahnung, nur selten das Vergnügen des Spiels gönnte; ja, er brachte Karl sogar Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl nicht zu erklären, als er eines Tages ohne allen Scherz Karl fragte, ob er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen wolle.

Natürlich war das Lernen des Englischen Karls erste und wichtigste Aufgabe. Ein junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um sieben Uhr in Karls Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch und bei den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehen. Karl sah wohl ein, daß zur Aneignung des Englischen keine Eile groß genug sei und daß er hier außerdem die beste Gelegenheit habe, seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst das Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche ins Englische hinüberzuspielen, wodurch gleichzeitig vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Karl seinem Onkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tiefernst vor Zufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in Karls Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Karl aufrecht neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.

Je besser Karls Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel, ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen, und ordnete nur für jeden Fall an, daß bei solchen Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich immer in Karls Nähe zu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Karl eines Vormittags vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mensch, den der Onkel mit besonderen Komplimenten in Karls Zimmer führte. Er war offenbar einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen, mißratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, daß ein gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er dies und als begegne er dem, soweit es in seiner Macht stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.

Mit diesem jungen Manne, einem Herrn Mack, wurde, unter unbedingter Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es in der Reitschule, sei es ins Freie, zu reiten. Karl zögerte zuerst, seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst darstellten, sagte er schließlich zu. Nun mußte er allerdings schon um halb fünf Uhr aus dem Bett, und das tat ihm oft sehr leid, denn er litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während des Tages aufwenden mußte, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne der Länge und Breite nach spannte sich das Sieb der Dusche – welcher Mitschüler zu Hause, und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges und gar noch allein für sich –, und da lag nun Karl ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten, und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisigen Wassers nach Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er da und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und über das Gesicht hinflossen.

In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler oder was sie sonst sein mochten? Karl aber nützte die Zeit vor der Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die primitivsten Vorübungen des Reitens zu betreiben. Es war ein langer Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm hinaufreichte und der Karl diesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Karl hierbei hatte, waren nicht übergroß, und er konnte sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die er während dieses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am Türpfosten, meist schlafbedürftig, lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde weggeschickt, und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal nichts anderes als die Hufe der galoppierenden Pferde und man sah kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Karl ein Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden Vergnügens wurde haltgemacht. Mack war in großer Eile, verabschiedete sich von Karl, klopfte ihm manchmal auf die Wange, wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war, und verschwand, ohne vor großer Eile mit Karl auch nur gemeinsam durch die Tür hinauszugehen. Karl nahm dann den Professor mit ins Automobil, und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre zuviel Zeit verlorengegangen. Im übrigen hörte wenigstens diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Karl, der sich Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine sehr einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch nach.

Amerika Kapitel 6

Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloß, Karl auch nur einen kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, obwohl Karl öfters darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfaßte und ganz genaue, unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte. Der Saal der Telegraphen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegraphenamt der Vaterstadt, durch das Karl einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telephone gingen, wohin man schaute, die Türen der Telephonzellen auf und zu, und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen, und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten, gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam, und oft sah man sogar, daß er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte, zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er mußte auch nicht reden, wie der Onkel Karl leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitig aufgenommen und dann verglichen, so daß Irrtümer möglichst ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und Karl aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kann mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm Vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärtskommen wollte, oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.

»Du hast es wirklich weit gebracht«, sagte Karl einmal auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden mußte, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte. »Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, mußt du wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und wenn dort im Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel und ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen, und jener Laden ist das Eßzimmer und die Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.«

»Das grenzt ja ans Wunderbare«, sagte Karl.

»Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich«, sagte der Onkel, das Gespräch abbrechend.

Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wie gewöhnlich allein einzunehmen gedachte, und forderte ihn auf, sich gleichfalls schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklich ausgezeichnet!«

Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karl dieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.

Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der zweite, wie sich während des Tischgesprächs herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Karl, durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Karl eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Karl still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich sattessen müsse, beugte sich Herr Green zu Karl hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im allgemeinen nach Karls ersten amerikanischen Eindrücken. Karl antwortete unter einer Sterbensstille ringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas New Yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander, und Karl fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht zu haben; jedoch nein, er hatte, wie Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen zu finden, und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinen Sessel nahe zu sich hinschieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Karl wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier, und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag fest. Karl wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses Landgut hinauszukommen, ein so frischgebackener Amerikaner wie Karl habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von New York manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen, und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.

Aber schon am nächsten Tag wurde Karl in ein Büro des Onkels beordert (der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause), wo er den Onkel und Herrn Pollunder ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf.

»Herr Pollunder,« sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen, »Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben.«

»Ich wußte nicht, daß es schon heute sein sollte«, antwortete Karl, »sonst wäre ich schon vorbereitet.«

»Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens«, meinte der Onkel.

»Was für Vorbereitungen!« rief Herr Pollunder. »Ein junger Mann ist immer vorbereitet.«

»Es ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel, zu seinem Gäste gewendet, »aber er müßte immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen, und Sie wären aufgehalten.«

»Es ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte Herr Pollunder, »ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluß gemacht.«

»Du siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlaßt.«

»Es tut mir leid«, sagte Karl, »aber ich werde gleich wieder da sein«, und wollte schon wegspringen.

»Übereilen Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder. »Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine Freude.«

»Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?«

»Nein«, sagte Karl, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an, eine Last zu werden, »ich wußte ja nicht –«

»Und trotzdem willst du wegfahren?« fragte der Onkel weiter.

Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zu Hilfe.

»Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen.«

»Das läßt sich hören«, sagte der Onkel. »Aber Mack wird dich doch erwarten.«

»Erwarten wird er mich nicht«, sagte Karl, »aber er wird allerdings hinkommen.«

»Nun also?« sagte der Onkel, als wäre Karls Antwort nicht die geringste Rechtfertigung gewesen.

Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende: »Aber Klara« – sie war Herrn Pollunders Tochter – »erwartet ihn auch und schon heute abend, und sie hat wohl den Vorzug vor Mack?«

»Allerdings«, sagte der Onkel. »Also lauf schon in dein Zimmer«, und er schlug mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: »Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?«

»Aber!« rief Herr Pollunder und drehte sich, soweit es seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. »Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück?«

»Das geht auf keinen Fall«, erwiderte der Onkel. »Ich kann sein Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen.«

›Was das für Widersprüche sind!‹ dachte Karl.

Herr Pollunder war traurig geworden. »Für einen Abend und eine Nacht steht es aber wirklich fast nicht dafür.«

»Das war auch meine Meinung«, sagte der Onkel.

»Man muß nehmen, was man bekommt«, sagte Herr Pollunder und lachte schon wieder. »Also, ich warte!« rief er Karl zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davoneilte.

Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte Karl ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, daß Karl nun doch mitfahre. Karl war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können.

»Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, daß ich fahre?«

»Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen.«

»Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das Frühere nicht so ernst gemeint hat?«

»O ja«, sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, daß er nicht lügen konnte.

»Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, obwohl Sie doch sein Freund sind.«

Auch Herr Pollunder konnte, obwohl er dies nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden, und beide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, obwohl sie gleich von anderen Dingen sprachen.

Sie saßen eng beieinander, und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Obwohl er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Karl, während er Herrn Pollunders Worte genau aufzunehmen suchte, um nichts anderes als Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine dunkle Kette ruhig hing. Aus den Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung in fliegendem Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Theatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im Streik standen, besetzt waren und nur der notwendigste Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil, aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden großen Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoirs angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hie und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferde oder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße gespannten Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht, obwohl sie über die eigentlichen Ereignisse im unklaren blieben. Karl aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte; die Überzeugung, daß er bald in einem beleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener Gast sein werde, tat ihm über alle Maßen wohl, und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit nicht mehr alles, was Herr Pollunder sagte, fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechung auffaßte, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerkte, denn das wollte er um jeden Preis vermieden wissen.

Amerika Kapitel 7


Ein Landhaus bei New York

»Wir sind angekommen«, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New Yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen – das Gitter war schon geöffnet – ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen: »Da ist ja endlich der Herr Jakob.«

»Ich heiße Roßmann«, sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte.

»Er ist ja nur Jakobs Neffe«, sagte Herr Pollunder erklärend, »und heißt selbst Karl Roßmann.«

»Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben«, sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag.

Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zuschritt: »Sie sind das Fräulein Klara?«

»Ja«, sagte sie, und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, »ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen.«

›Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet?‹ dachte Karl, der im Gehen allmählich aufwachte.

»Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend«, sagte Klara.

»Nicht möglich!« rief Pollunder ärgerlich.

»Herrn Green«, sagte Klara.

»Wann ist er gekommen?« fragte Karl, wie in einer Ahnung befangen.

»Vor einem Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem eueren gehört?«

Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber er hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehen.

»Es nützt nichts, nur knapp außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unseren Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen; und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich nach Hause komme.«

Sie blieben an der Freitreppe stehen.

»Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier«, sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich hinaus beruhigen wollte.

»Warum kommt er denn gerade heute abend«, sagte Pollunder, und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses, schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam.

»Allerdings!« sagte Klara.

»Vielleicht wird er bald wieder weggehen«, bemerkte Karl und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand.

»O nein«, sagte Klara, »er hat irgendein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, daß ich, wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.«

»Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht!« rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. »Ich hätte wahrhaftig Lust«, sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, »ich hätte wahrhaftig Lust, Sie, Herr Roßmann, wieder ins Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört, und wer weiß, wann Sie uns nächstens Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.«

Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Karl rührte sich nicht, und Klara bat, ihn hierzulassen, denn zumindest sie und Karl würden von Herrn Green nicht im geringsten gestört werden können, und schließlich merkte auch Pollunder selbst, daß sein Entschluß nicht der festeste war. Überdies – und dies war vielleicht das Entscheidende – hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: »Wo bleibt ihr denn?«

»Kommt«, sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen Karl und Klara, die einander jetzt im Licht studierten.

›Die roten Lippen, die sie hat‹, sagte sich Karl und dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten.

»Nach dem Nachtmahl«, so sagte sie, »werden wir, wenn es Ihnen recht ist, gleich in meine Zimmer gehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann so freundlich sein, mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das können, ich aber bin leider ganz unfähig, Musik auszuüben, und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.«

Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens – an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt –, die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Mann den Herrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.

Herr Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Karl, der beim Tische wartete, bis die anderen sich setzten, daß die große Glastüre zum Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube, da ging gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so jugendlich rasch, daß der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber, daß Karl die Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem anderen hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Karl wache und wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als daß man sie noch Liebe eines Onkels nennen könne.

›Nicht genug, daß er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen mich und den Onkel ein‹, dachte Karl und konnte keinen Schluck der goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wieder nichts anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und begann die Suppe stumm in sich hineinzuschütten. Das Essen verging langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfing sich nur einige Male in die Unterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen bald zurück, und Herr Green mußte ihn nach einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens Gewicht darauf – und da war es, daß Karl, der aufhorchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war –, daß er von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich, noch lange vor Geschäftsschluß, bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so daß er gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telephonieren, daß er über Nacht ausbleibe, und herauszufahren.

»Dann muß ich um Entschuldigung bitten«, sagte Karl laut und ehe jemand Zeit zur Antwort hatte, »denn ich bin daran schuld, daß Herr Pollunder sein Geschäft heute früher verließ, und es tut mir sehr leid.«

Herr Pollunder bedeckte den größeren Teil seines Gesichtes mit der Serviette, während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte.

»Da braucht es keine Entschuldigung«, sagte Herr Green, der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, »ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zu Hause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist, daß ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwerfällt, und ich mich für lange in meinen Sessel zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor kurzem habe ich durchgesetzt, daß der Diener die Speisen bis zur Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch gehört ihr, soweit ich sie verstehe.«

»Mein Gott«, rief Klara, »ist das eine Treue!«

»Ja, es gibt noch Treue auf der Welt«, sagte Herr Green und führte einen Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen.

»Sie müssen noch sitzen bleiben«, sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: »Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld.«

Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen, wenn er ihm Übelkeiten verursachte.

Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Karl versucht war, ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzusehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollunder nahm Karls Appetit in Schutz, obwohl er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch den Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, daß er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinen Zustand, daß er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der Unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die Speisen reichte, oft nichts anzufangen wußte.

»Ich werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtessen gekränkt haben«, sagte Herr Green und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch die Art, wie er mit Besteck hantierte, auszudrücken.

»Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist«, fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehen und schloß die Augen.

«Du Dingschen«, rief er, lehnte sich zurück und lachte, hochrot im Gesicht, mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Karl das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sich, und wenn er einmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts Besonderes zu reden. Dagegen duldete er, daß Green, dieser alte, ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, daß er Karl, Pollunders Gast beleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.

Nach Aufhebung der Tafel – als Green die allgemeine Stimmung merkte, war er der erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob – ging Karl allein abseits zu einem der großen, durch schmale weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren. Was war von der Abneigung übriggeblieben, die Herr Pollunder und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals Karl etwas unverständlich vorgekommen war? Jetzt standen sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der der Vater zu Hause hie und da als von einer Tatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluß auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. So weit entfernt Karl auch stand, noch spürte er von dem Rauch einen Kitzel in der Nase, und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Karls bei diesem Besuch, wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, obwohl er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte. Seit sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehen, kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür, auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder, wenn der Chauffeur schon schlief, allein nach New York hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor – und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl –, wie er am Morgen – früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen – den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche »Herein!« ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht viel, aber man mußte nur ausdenken, was das zur Folge haben könnte. Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie infolge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich auch offener miteinander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder, besser, starrköpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hierbleiben mußte – es sah leider ganz danach aus, obwohl man ihn hier beim Fenster stehen und auf eigene Faust sich unterhalten ließ –, vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Besseren in dem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute abend ähnliche Gedanken.

Amerika Kapitel 8

Ein wenig getröstet wandte er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: »Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen.«

Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefällten Getränken, die Karl unbekannt waren und die er zu kosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Ellbogen auf dem Tisch, sein ganzes Gesicht war Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, obwohl man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich und Green für sich, solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen.

›Wenn er das meint‹, sagte sich Karl, ›dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm, und er soll mich auch in Ruhe lassen.‹

Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft jene mit beiden Händen umschlossen hielten.

»Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt«, erklärte Klara. »Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt.«

»Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser«, sagte Karl.

»Natürlich«, sagte Klara lachend und zog ihn weiter. »Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika.«

»Sie sollen mich nicht auslachen«, sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.

Im Vorübergehen stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte, ohne anzuhalten: »Hier werden Sie schlafen.«

Karl wollte sich natürlich das Zimmer gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vogelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte, die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still.

Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich böse rief sie: »Was soll denn das?« und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mit großen Schritten auf ihn zu, rief: »Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?« stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derart in die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit den Füßen den Zimmerboden berührt.

»Jetzt wäre ich bald hinausgefallen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Schade, daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße Sie noch einmal hinunter.«

Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der, zuerst verblüfft, sich schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte sie.

»Ach, Sie tun mir weh«, sagte sie gleich.

Aber nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen.

»Lassen Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen, sie zu sehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.« ›Warum seufzt sie so‹, dachte Karl, ›es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht‹, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihm entwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich, mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend, gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen:

»Jetzt rühr dich, wenn du kannst.«

»Katze, tolle Katze«, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand.

»Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!«

»Gib acht auf deine Worte«, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun als Luft zu schnappen, während sie mit der anderen Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen konnte.

»Wie wäre es«, fragte sie dabei, »wenn ich dich zur Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte? Vielleicht wäre es dir nützlich für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglicher hübscher Junge, und hättest du Jiu-Jitsu gelernt, hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem – es verlockt mich geradezu riesig, dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern; wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann – ich möchte es fast glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich gewesen? Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht, auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn du heute also noch so loskommen solltest, benimm dich nächstens feiner. Ich bin nicht dein Onkel, dem du trotzen kannst. Im übrigen will ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß du, wenn ich dich ungeohrfeigt loslasse, nicht glauben mußt, daß deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das gleiche sind. Solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehen, dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle?«

Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.

Sie forderte ihn auf, aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt so, wie ihn Klara gebettet hatte, und wandte ihn nicht einen Fingerbreit. Klara ging im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehen.

»Ausgetrotzt?« hörte man sie dann fragen.

Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehen und redete, und er hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehen war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, nur hier auf dem Kanapee wollte er bleiben. Er lauerte nur darauf, daß sie wegginge, um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln, und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war.

Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke, und hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Vielleicht bekommst du später Lust, zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte, von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher du dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten, aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere dich, daß du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß dir das Sorge machen sollte.« Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.

Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen ging er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehen, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte – am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts –, und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahren oder gehen zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie Karl plante, ging man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener ging man mit einem Gaste derart um, wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit gehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja, war denn Karl zu einem Ringkampf eingeladen worden, so daß es für ihn beschämend gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen verbracht hatte? Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen; der war sicher einsichtig, das wußte Karl, obwohl er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im einzelnen zu erfahren. Karl wußte aber auch, daß, wenn Mack ihn unterrichtete, er noch viel größere Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das kleine Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.

Jetzt handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht, sich auszukennen. Er wußte zum Beispiel nicht einmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umsehen können. Herr Green und die leuchtertragenden Diener hatten ihm auch zu denken gegeben; kurz, er wußte jetzt tatsächlich nicht einmal, ob sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht zu schließen, lag das Zimmer ziemlich hoch, und er suchte sich deshalb einzubilden, daß sie über Treppen gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein? Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu hören gewesen wäre!

Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall, als sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach, für den äußersten Notfall, die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gang zeigte sich der Übelstand, daß gegen Karl – er ging natürlich von Klaras Türe weg nach links – ein Luftzug strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen können, so daß Karl die Flamme mit der Hand schützen und überdies öfters stehenbleiben mußte, damit die niedergedrückte Flamme sich erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen, und der Weg schien dadurch doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er suchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen, und Karl dachte an die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Tür schlug. Herr Pollunder schien Karl irregeführt zu sein von falschen Freunden und vernarrt in seine Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt, und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Karls keinen Einfluß zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Karl wollte das morgen dem Onkel ohne weiteres sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Karl an seinem Onkel nicht gefiel, und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.

Amerika Kapitel 34


Das Naturtheater von Oklahoma

Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: »Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!«

Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wörtchen von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiß genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.

Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. »Jeder war willkommen«, hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, daß man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, das auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahoma ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Karl las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmal den Satz: »Jeder ist willkommen« hervor. Zuerst dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das wären drei Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre dann möglicherweise gerade zurecht gekommen, um zu erfahren, daß man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren immer alle derartigen Stellenangebote abgefaßt. Karl sah ein, daß er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren mußte. Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Viel Glück zur Fahrt nach Clayton.« Karl nickte stumm und rechnete weiter. Aber er entschloß sich bald, teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn. Als er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Karl nicht, es bestätigte ihm vielmehr, daß das Theater von Oklahoma ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, daß alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er begriff nicht, wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck, um Personal zu erhalten, derartige Aufwendungen machten konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem Hunderte von Frauen, als Engel gekleidet, in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken, auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der Engelkleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet; es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen. Es gab nicht viele Zuhörer. Klein, im Vergleich zu den großen Gestalten, gingen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger älterer Mann war zu sehen, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, daß sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte sie. Karl war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: »Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Theater von Oklahoma?«

»Ich glaubte es auch«, sagte der Mann, »aber wir warten hier schon seit einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehen, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte.«

Karl sagte: »Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenig hier.«

»Möglich«, sagte der Mann, und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer, im Lärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte, und sie rief gleich Karl an: »Könnten Sie nicht in die Rennbahn hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet?«

»Ja«, sagte Karl, »aber ich müßte über das Podium gehen, zwischen den Engeln durch.«

»Ist das so schwierig?« fragte die Frau.

Für Karl erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken.

»Nun ja«, sagte Karl, »ich werde gehen.«

»Sie sind sehr gefällig«, sagte die Frau, und sie wie auch ihr Mann drückten Karl die Hand.

Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Karl auf das Podium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Karl gerade vorüberging, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem anderen Ende des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschen konnte. Karl wollte schon auf ihn zugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen.

»Karl!« rief der Engel. Karl sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu lachen an. Es war Fanny.

»Fanny!« rief er und grüßte mit der Hand hinauf.

»Komm doch her!« rief Fanny. »Du wirst doch nicht an mir vorüberlaufen!« Und sie schlug die Tücher auseinander, so daß das Postament und eine schmale Treppe, die hinaufführte, freigelegt wurde.

»Ist es erlaubt, hinaufzugehen?« fragte Karl.

»Wer will uns verbieten, daß wir einander die Hand drücken!« rief Fanny und blickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Karl lief aber schon die Treppe hinauf.

»Langsamer!« rief Fanny. »Das Postament und wir beide stürzen um!« Aber es geschah nichts, Karl kam glücklich bis zur letzten Stufe. »Sieh nur«, sagte Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, »sieh nur, was für eine Arbeit ich bekommen habe.«

»Es ist ja schön«, sagte Karl und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon Karl bemerkt und kicherten. »Du bist fast die Höchste«, sagte Karl und streckte die Hand aus, um die Höhe der anderen abzumessen.

»Ich habe dich gleich gesehen«, sagte Fanny, »als du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht, und rufen konnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast mich nicht erkannt.«

»Ihr blast ja alle schlecht«, sagte Karl, »laß mich einmal blasen.«

»Aber gewiß«, sagte Fanny und reichte ihm die Trompete, »aber verdirb den Chor nicht, sonst entläßt man mich.«

Karl fing zu blasen an; er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärmmachen bestimmt, aber nun zeigte es sich, daß es ein Instrument war, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Mißbrauch mit ihnen getrieben. Karl blies, ohne sich vom Lärm der anderen stören zu lassen, aus voller Brust ein Lied, das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundin getroffen zu haben und hier, vor allen bevorzugt, die Trompete blasen zu dürfen und möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele Frauen stellten das Blasen ein und hörten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wieder der vollständige Lärm zustande.

»Du bist ja ein Künstler«, sagte Fanny, als Karl ihr die Trompete wieder reichte. »Laß dich als Trompeter aufnehmen.«

»Werden denn auch Männer aufgenommen?« fragte Karl.

»Ja«, sagte Fanny, »wir blasen zwei Stunden lang. Dann werden wir von Männern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr schön? Und die Flügel?« Sie sah an sich hinab.

»Glaubst du«, fragte Karl, »daß auch ich noch eine Stelle bekommen werde?«

»Ganz bestimmt«, sagte Fanny, »es ist ja das größte Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, daß wir wieder beisammen sein werden! Allerdings kommt es darauf an, welche Stelle du bekommst. Es wäre auch möglich, daß wir, auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht sähen.«

»Ist denn das Ganze wirklich so groß?« fragte Karl.

»Es ist das größte Theater der Welt«, sagte Fanny nochmals, »ich habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner Kolleginnen, die schon in Oklahoma waren, sagen, es sei fast grenzenlos.«

»Es melden sich aber wenig Leute«, sagte Karl und zeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Familie.

»Das ist wahr«, sagte Fanny. »Bedenke aber, daß wir in allen Städten Leute aufnehmen, daß unsere Werbetruppe immerfort reist und daß es noch viele solcher Truppen gibt.«

»Ist denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Karl.

»O ja«, sagte Fanny, »es ist ein altes Theater, aber es wird immerfort vergrößert.«

»Ich wundere mich«, sagte Karl, »daß sich nicht mehr Leute dazu drängen.«

»Ja«, sagte Fanny, »es ist merkwürdig.«

»Vielleicht«, sagte Karl, »schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht.«

»Wie du das herausfinden kannst!« sagte Fanny. »Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer, vielleicht kannst du ihm dadurch nützen.«

»Wo ist er?« fragte Karl.

»In der Rennbahn«, sagte Fanny, »auf der Schiedsrichtertribüne.«

»Auch das wundert mich«, sagte Karl, »warum geschieht denn die Aufnahme auf der Rennbahn?«

»Ja«, sagte Fanny, »wir machen überall die größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die Wetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmekanzleien eingerichtet. Es sollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein.«

»Aber«, rief Karl, »hat denn das Theater von Oklahoma so große Einkünfte, um derartige Werbetruppen erhalten zu können?«

»Was kümmert uns denn das?« sagte Fanny. »Aber nun geh, Karl, damit du nichts versäumst, ich muß auch wieder blasen. Versuche, auf jeden Fall einen Posten bei dieser Truppe zu bekommen, und komm gleich zu mir, es melden. Denke daran, daß ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte.«

Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompete an die Lippen, blies aber nicht, ehe sie Karl unten auf dem Boden in Sicherheit sah. Karl legte wieder die Tücher über die Treppe, so wie sie früher gewesen waren. Fanny dankte durch Kopfnicken, und Karl ging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin überlegend, auf den Mann zu, der schon Karl oben bei Fanny gesehen und sich dem Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.

»Sie wollen bei uns eintreten?« fragte der Mann. »Ich bin der Personalchef dieser Truppe und heiße Sie willkommen.« Er war ständig wie aus Höflichkeit ein wenig vorgebeugt, tänzelte, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte, und spielte mit seiner Uhrkette.

»Ich danke«, sagte Karl, »ich habe das Plakat Ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort verlangt wird.«

»Sehr richtig«, sagte der Mann anerkennend, »leider verhält sich hier nicht jeder so richtig.«

Amerika Kapitel 35

Karl dachte daran, daß er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte, daß möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte er nur: »Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?«

»Natürlich«, sagte der Mann, »je mehr kommen, desto besser.«

»Er hat auch eine Frau bei sich und ein kleines Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?«

»Natürlich«, sagte der Mann und schien über Karls Zweifel zu lächeln. »Wir können alle brauchen.«

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte Karl und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er winkte dem Ehepaar zu und rief, daß alle kommen dürften. Er half, den Kinderwagen auf das Podium heben, und sie gingen nun gemeinsam. Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den Taschen, auf das Podium hinauf und folgten schließlich Karl und der Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue Passagiere hervor, die, angesichts des Podiums mit den Engeln, staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung um Stellen nun doch lebhafter werden sollte. Karl war sehr froh, so früh, vielleicht als erster, gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen gestellt würden. Karl sagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, daß jeder ohne Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.

Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, daß so viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden einzelnen durch eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine Reihe. Karl war der erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die anderen. Als sie sich alle aufgestellt hatten – die Burschen drängten sich zuerst durcheinander, und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruhe eintrat –, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten: »Im Namen des Theaters von Oklahoma begrüße ich Sie. Sie sind früh gekommen« (es war aber schon bald Mittag), »das Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten Ihrer Aufnahme werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle Ihre Legitimationspapiere bei sich.«

Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die unter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervorzog. Karl allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine Aufnahme werden? Immerhin wußte Karl aus Erfahrung, daß sich derartige Vorschriften, wenn man nur ein wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Es war nicht unwahrscheinlich. Der Personalchef überblickte die Reihe, vergewisserte sich, daß alle Papiere hatten, und da auch Karl die Hand, allerdings die leere Hand erhob, nahm er an, auch bei ihm sei alles in Ordnung.

»Es ist gut«, sagte dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre Papiere gleich untersucht haben wollten, »die Papiere werden jetzt in den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, welchen Beruf er bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine Kenntnisse verwerten kann.«

›Es ist ja ein Theater‹, dachte Karl zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu.

»Wir haben daher«, fuhr der Personalchef fort, »in den Buchmacherbuden Aufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder von Ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, die Familie gehört im allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des Mannes. Ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst Ihre Papiere und dann Ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden sollen, es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muß sich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weiteren Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist, wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter Ihnen?« Karl meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse er bestrebt sein, alle Formalitäten möglichst rasch durchzujagen, eine kleine Berechtigung, sich zu melden, hatte er auch, denn er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, daß Karl sich meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch alle; alle meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte zu den Burschen: »Sie sind Ingenieure?« Da senkten sie alle langsam die Hände, Karl dagegen bestand auf seiner ersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Karl schien ihm zu kläglich angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können, aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil Karl ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei, und Karl ging hin, während sich der Personalchef den anderen zuwandte.

In der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkeligen Pultes zwei Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Karl grüßend vor sie hintrat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen.

Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: »Ich bitte um Ihre Legitimationspapiere.«

»Ich habe sie leider nicht bei mir«, sagte Karl.

»Er hat sie nicht bei sich«, sagte der Schreiber zu dem anderen Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein Buch ein.

»Sie sind Ingenieur?« fragte dann der andere, der der Leiter der Kanzlei zu sein schien.

»Ich bin es noch nicht«, sagte Karl schnell, »aber –«

»Genug«, sagte der Herr noch viel schneller, »dann gehören Sie nicht zu uns. Ich bitte, die Aufschrift zu beachten.« Karl biß die Zähne zusammen, der Herr mußte es bemerkt haben, denn er sagte: »Es ist kein Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen.« Und er winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen den Barrieren umhergingen: »Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischen Kenntnissen.«

Der Diener faßte den Befehl wörtlich auf und faßte Karl bei der Hand. Sie gingen zwischen vielen Buden durch, in einer sah Karl schon einen der Burschen, der schon aufgenommen war und den Herren dort dankend die Hand drückte. In der Kanzlei, in die Karl jetzt gebracht wurde, war, wie Karl vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, daß er eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene Mittelschüler. Als Karl dort aber sagte, er hätte eine europäische Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen. Es war eine Bude am äußeren Rand, nicht nur kleiner, sondern sogar niedriger als alle anderen. Der Diener, der ihn hierhergebracht hatte, war wütend über die lange Führung und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Karl allein die Schuld tragen müßte. Er wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht. Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der Realschule zu Hause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte, nur in Einzelheiten; aber die auf der breiten Nase ruhende Brille, der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute Stimme hielten Karl noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise mußte er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu als in den anderen Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen, daß seine Legitimationspapiere fehlten, und der Kanzleileiter nannte es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu einer größeren Frage anschickte, Karl für aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte »Aufgenommen« und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei schon etwas so Schmähliches, daß man es jedem, der es von sich behauptete, ohne weiteres glauben könnte. Karl für seinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Sobald er hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber nicht; allzulange hatte er ihn verschwiegen, als daß er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein anderer Name einfiel, den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: »Negro«.

»Negro?« fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als hätte Karl jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht. Auch der Schreiber sah Karl eine Weile lang prüfend an, dann aber wiederholte er »Negro« und schrieb den Namen ein.

»Sie haben doch nicht Negro aufgeschrieben?« fuhr ihn der Leiter an.

»Ja, Negro«, sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung, als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter bezwang sich auch, stand auf und sagte: »Sie sind also für das Theater von Oklahoma –«, aber weiter kam er nicht, er konnte nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: »Er heißt nicht Negro.«

Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe, stand nun selbst auf und sagte: »Dann teile also ich Ihnen mit, daß Sie für das Theater in Oklahoma aufgenommen sind und daß man Sie jetzt unserem Führer vorstellen wird.«

Wieder wurde ein Diener gerufen, der Karl zur Schiedsrichtertribüne führte.

Unten an der Treppe sah Karl den Kinderwagen, und gerade kam auch das Ehepaar herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm.

»Sind Sie aufgenommen?« fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher, auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Karl antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung, sagte der Mann: »Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen worden. Es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall.« Sie sagten einander noch »Auf Wiedersehen«, und Karl stieg zur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben schien von Leuten überfüllt zu sein, und er wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehen und überblickte das große Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfaßte die Lust, einmal ein Pferderennen zu sehen, er hatte in Amerika noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an nichts anderes erinnern, als daß er von der Mutter zwischen vielen Menschen, die nicht auseinanderweichen wollten, durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch kein Rennen gesehen. Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnurren an, er drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe ziehen: »Kaufmann Kalla mit Frau und Kind.« Hier wurden also die Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.

Gerade liefen einige Herren, lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und Notizblätter in den Händen, die Treppe hinunter, Karl drückte sich ans Geländer, um sie vorbeizulassen, und stieg, da nun oben Platz geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern versehenen Plattform – das Ganze sah wie das flache Dach eines schmalen Turmes aus – saß, die Arme entlang des Holzgeländers ausgestreckt, ein Herr, dem ein breites weißes Seidenband mit der Aufschrift: »Führer der zehnten Werbetruppe des Theaters von Oklahoma« quer über die Brust hing. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiß auch bei den Rennen verwendeter telephonischer Apparat, durch den der Führer offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte Karl zunächst gar keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: »Negro, ein europäischer Mittelschüler.« Und als sei damit der sich tief verneigende Karl für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Karl führte, zu, blickte aber meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern auf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell bewegten Finger lenkten zeitweilig Karls Aufmerksamkeit auf sich, obwohl ihn der andere Herr genügend in Anspruch nahm.

»Sie sind stellungslos gewesen?« fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage, sowie fast alle anderen Fragen, die er stellte, waren sehr einfach, ganz unverfänglich, und die Antworten wurden überdies nicht durch Zwischenfragen nachgeprüft; trotzdem aber wußte ihnen der Herr durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hie und da laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es kam öfters vor, daß es Karl drängte, die gegebene Antwort zu widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück, denn er wußte, welch schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken machen mußte und wie unberechenbar überdies die Wirkung der Antworten meist war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon entschieden zu sein, dieses Bewußtsein gab ihm Rückhalt.

Amerika Kapitel 36

Die Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen »Ja«.

»Wo waren Sie zuletzt angestellt?« fragte dann der Herr. Karl wollte schon antworten, da hob der Herr den Zeigefinger und sagte noch einmal: »Zuletzt!«

Karl hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete: »In einem Büro.«

Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere Auskunft über die Art des Büros verlangen, so mußte er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondern stellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: »Waren Sie dort zufrieden?«

»Nein!« rief Karl, ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte Karl, daß der Führer ein wenig lächelte. Karl bereute die unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen, das Nein hinauszuschreien, denn während seiner ganzen letzten Dienstzeit hatte er nur den größten Wunsch gehabt, irgendein fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn richten. Seine Antwort konnte aber noch einen anderen Nachteil bringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Statt dessen fragte er jedoch: »Zu welchem Posten fühlen Sie sich geeignet?« Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, da Karl doch schon als Schauspieler aufgenommen war? Obwohl er das aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberuf besonders geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte, auf die Gefahr hin, trotzig zu erscheinen: »Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen, und da dort stand, daß man jeden brauchen kann, habe ich mich gemeldet.«

»Das wissen wir«, sagte der Herr, schwieg und zeigte dadurch, daß er auf seiner früheren Frage beharrte.

»Ich bin als Schauspieler aufgenommen«, sagte Karl zögernd, um dem Herrn die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich zu machen.

»Das ist richtig«, sagte der Herr und verstummte wieder.

»Nein«, sagte Karl, und die ganze Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, »ich weiß nicht, ob ich zum Theaterspielen geeignet bin. Ich will mich aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen.«

Der Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Karl schien richtig geantwortet zu haben, er faßte wieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächste Frage. Die lautete: »Was wollten Sie denn ursprünglich studieren?«

Um die Frage genauer zu bestimmen – an der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel –, fügte er hinzu: »In Europa, meine ich.« Hierbei nahm er die Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die dort einmal gefaßten Pläne seien.

Karl sagte: »Ich wollte Ingenieur werden.« Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war lächerlich, im vollen Bewußtsein seiner bisherigen Laufbahn in Amerika die alte Erinnerung, daß er einmal habe Ingenieur werden wollen, hier aufzufrischen – wäre er es denn selbst in Europa jemals geworden? –, aber er wußte gerade keine andere Antwort und sagte deshalb diese.

Aber der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. »Nun, Ingenieur«, sagte er, »können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigere technische Arbeiten auszuführen.«

»Gewiß«, sagte Karl, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten.

»Sind Sie denn kräftig genug für schwerere Arbeit?« fragte der Herr.

»O ja«, sagte Karl,

Hierauf ließ der Herr Karl näher zu sich herankommen und befühlte seinen Arm.

»Es ist ein kräftiger Junge«, sagte er dann, indem er Karl am Arm zum Führer hinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelage aufzurichten, Karl die Hand und sagte: »Dann sind wir also fertig. In Oklahoma wird alles noch überprüft werden. Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!«

Karl verbeugte sich zum Abschied, er wollte sich dann auch von dem anderen Herrn verabschieden, dieser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet, auf der Plattform auf und ab. Während Karl hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: »Negro, technischer Arbeiter.«

Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es war alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Karl schon von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte. Als Karl dann den Arm hob, um zu sehen, was auf der Binde stand, war dort der ganz richtige Aufdruck »Technischer Arbeiter«.

Wohin Karl nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny melden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr er vom Diener, daß die Engel ebenso wie auch die Teufel schon nach dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekanntzumachen.

»Schade«, sagte Karl, es war die erste Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, »ich hatte eine Bekannte unter den Engeln.«

»Sie werden sie in Oklahoma wiedersehen«, sagte der Diener, »nun aber kommen Sie, Sie sind der Letzte.«

Er führte Karl an der hinteren Seite des Podiums entlang, auf dem früher die Engel gestanden waren; jetzt waren dort nur mehr die leeren Postamente. Karls Annahme aber, daß ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommen würden, erwies sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhaupt keine Erwachsenen mehr, nur ein paar Kinder kämpften um eine lange weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die anderen Kinder mit einer Hand seinen Kopf niederdrücken wollten und mit der anderen Hand nach der Feder langten.

Karl zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte, ohne hinzusehen: »Kommen Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man hatte wohl Zweifel?«

»Ich weiß nicht«, sagte Karl erstaunt, er glaubte es aber nicht. Immer, selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgend jemand, der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt kamen, vergaß Karl bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser Tribüne war nämlich eine große, lange Bank, mit einem weißen Tuch gedeckt, alle Aufgenommenen saßen, mit dem Rücken zur Rennbahn, auf der nächst tieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, gerade als sich Karl unbemerkt als letzter auf die Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf, und einer hielt einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den »Vater der Stellensuchenden« nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, daß man ihn auch von hier aus sehen könne, und tatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in diese Richtung, auch Karl faßte das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf hin, daß man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher, und der andere Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn. Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hie und da drehte sich noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen, Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt – man merkte es kaum, man war über seinen Teller gebückt, und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines –, und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahoma besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder, und so geschah es, daß bei Karl, der der Letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen, mußten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle, rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.

Schließlich hätte er doch noch sehr gerne wenigstens eines der übrigen Bilder angesehen, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge mußte wohl gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend – zuerst glaubte er es gar nicht unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes: Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. »Giacomo!« rief er.

Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Karl zu sehen, bat ihn, sich neben ihn zu setzen, oder bot sich an, zu Karls Platz hinüberzukommen; sie wollten einander alles erzählen und immer beisammenbleiben. Karl wollte die anderen nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Ende sein, und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten. Aber Karl blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehen. Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußeren fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, daß er in einem halben Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsam herauszog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Karl an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern als Liftjunge aufgenommen, das Theater von Oklahoma schien wirklich jeden brauchen zu können! In den Anblick Giacomos verloren, blieb auch Karl allzulange von seinem Platz fort. Eben wollte er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die meisten aufstanden, und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der anderen schließlich auch zum Aufstehen gezwungen wurden.

»Ich will hoffen«, sagte er, Karl war inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurückgelaufen, »daß Sie mit unserem Empfangsessen zufrieden waren. Im allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muß ich die Tafel schon aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahoma bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise, Sie werden aber sehen, daß für Sie gut gesorgt ist. Hier stelle ich Ihnen den Herrn vor, der Ihren Reisetransport führen wird und dem Sie Gehorsam schulden.«

Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die Bank, auf welcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit, eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit ausgestreckten nervösen Händen zu zeigen, wie sie sich alle sammeln, ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann eine längere Dankrede, obwohl – Karl wurde ganz unruhig – eben gesagt worden war, daß der Zug bald abfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, daß auch der Personalchef nicht zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab, er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab, und schloß dann zusammenfassend mit dem Ausruf: »Geehrte Herren, so gewinnt man uns!« Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war doch mehr Wahrheit als Scherz.

Diese Rede büßte man überdies damit, daß jetzt der Weg zur Bahn im Laufschritt gemacht werden mußte. Das war aber auch nicht sehr schwer, denn – Karl bemerkte es erst jetzt – niemand trug ein Gepäckstück; das einzige Gepäckstück war eigentlich der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe, vom Vater gelenkt, wie haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet! Und dem Transportleiter mußten sie geradezu ans Herz gelegt worden sein. Bald faßte er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens und erhob die andere, um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den Seiten entlang, faßte einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen müßten.

Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie: »Alle diese gehören zum Theater von Oklahoma!«, das Theater schien viel bekannter zu sein, als Karl angenommen hatte, allerdings hatte er sich um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne Abteilung, ordnete hie und da etwas, und erst dann stieg er selbst ein. Karl hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben sich gezogen. So saßen sie aneinandergedrängt und freuten sich im Grunde beide auf die Fahrt. So sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die Burschen ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.

Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster, und Giacomo drängte sich so lange mit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel mit Kartenspiel beschäftigten, dessen überdrüssig wurden und ihm freiwillig den Fensterplatz einräumten. Karl dankte ihnen – Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich –, und sie wurden im Laufe der Zeit, wie es unter Coupégenossen nicht anders sein kann, viel freundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit oft lästig, da sie zum Beispiel immer, wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie den Boden nach ihr absuchten, Karl oder Giacomo mit aller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schrie dann, immer von neuem überrascht, und zog das Bein in die Höhe, Karl versuchte einmal, mit einem Fußtritt zu antworten, duldete aber im übrigen alles schweigend. Alles, was sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfüllten Coupé ereignete, verging vor dem, was draußen zu sehen war.

Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen, als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund eilend und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie waren so nahe, daß der Hauch der Kühle das Gesicht erschauern machte.

Amerika Kapitel 37


Fragmente

I

»Auf! Auf!« rief Robinson, kaum daß Karl früh die Augen öffnete. Der Türvorhang war noch nicht weggezogen, aber man merkte an dem durch die Lücken einfallenden, gleichmäßigen Sonnenlicht, wie spät am Vormittag es schon war. Robinson lief eilfertig mit besorgten Blicken hin und her, bald trug er ein Handtuch, bald einen Wasserkübel, bald Wäsche- und Kleidungsstücke, und immer, wenn er an Karl vorüberkam, suchte er ihn durch Kopfnicken zum Aufstehen aufzumuntern und zeigte durch Hochheben dessen, was er gerade in der Hand hielt, wie er sich heute noch zum letztenmal für Karl plage, der natürlich am ersten Morgen von den Einzelheiten des Dienstes nichts verstehen konnte.

Aber bald sah Karl, wen Robinson eigentlich bediente. In einem durch zwei Kasten vom übrigen Zimmer abgetrennten Raum – den Karl bisher noch nicht gesehen hatte, fand eine große Waschung statt. Man sah den Kopf Bruneldas, den freien Hals – das Haar war gerade ins Gesicht geschlagen – und den Ansatz ihres Nackens über den Kasten ragen, und die hie und da gehobene Hand des Delamarche hielt einen weit herumspritzenden Badeschwamm, mit dem Brunelda gewaschen und gerieben wurde. Man hörte die kurzen Befehle des Delamarche, die er dem Robinson erteilte, der nicht durch den jetzt verstellten eigentlichen Zugang des Raumes die Dinge reichte, sondern auf eine kleine Lücke zwischen einem Kasten und einer spanischen Wand angewiesen war, wobei er überdies bei jeder Handreichung den Arm weit ausstrecken und das Gesicht abgewandt halten mußte.

»Das Handtuch! Das Handtuch!« rief Delamarche. Und kaum erschrak Robinson, der gerade unter dem Tisch etwas anderes suchte, über diesen Auftrag und zog den Kopf unter dem Tisch hervor, hieß es schon: »Wo bleibt das Wasser, zum Teufel!« und über dem Kasten erschien hochgereckt das wütende Gesicht des Delamarche. Alles, was man sonst nach Karls Meinung zum Waschen und Anziehen nur einmal brauchte, wurde hier in jeder möglichen Reihenfolge viele Male verlangt und gebracht. Auf einem kleinen elektrischen Ofen stand immer ein Kübel mit Wasser zum Wärmen, und immer wieder trug Robinson die schwere Last zwischen den weit auseinandergestellten Beinen zum Waschraum hin. Bei der Fülle seiner Arbeit war es zu verstehen, wenn er sich nicht immer genau an die Befehle hielt und einmal, als wieder ein Handtuch verlangt wurde, einfach ein Hemd von der großen Schlafstätte in der Zimmermitte nahm und in einem großen Knäuel über die Kasten hinüberwarf.

Aber auch Delamarche hatte schwere Arbeit und war vielleicht nur deshalb gegen Robinson so gereizt – in seiner Gereiztheit übersah er Karl glattwegs –, weil er selbst Brunelda nicht zufriedenstellen konnte. »Ach!« schrie sie auf, und selbst der sonst unbeteiligte Karl zuckte zusammen. »Wie du mir weh tust! Geh weg! Ich wasche mich lieber selbst, statt so zu leiden! Jetzt kann ich schon wieder den Arm nicht heben. Mir ist ganz übel, wie du mich drückst. Auf dem Rücken muß ich lauter blaue Flecke haben. Natürlich, du wirst es mir nicht sagen. Warte, ich werde mich von Robinson anschauen lassen oder von unserem Kleinen. Nein, ich tue es ja nicht, aber sei nur ein wenig zarter. Nimm Rücksicht, Delamarche, aber das kann ich jeden Morgen wiederholen, du nimmst und nimmst keine Rücksicht. – Robinson!« rief sie dann plötzlich und schwenkte ein Spitzenhöschen über ihrem Kopf. »Komm mir zu Hilfe, schau, wie ich leide, diese Tortur nennt er Waschen, dieser Delamarche! Robinson, Robinson, wo bleibst du, hast auch du kein Herz?« Karl machte schweigend dem Robinson ein Zeichen mit dem Finger, daß er doch hingehen möge, aber Robinson schüttelte mit gesenkten Augen überlegen den Kopf, er wußte es besser. »Was fällt dir ein?« sagte Robinson, zu Karls Ohr gebeugt. »Das ist nicht so gemeint. Nur einmal bin ich hingegangen und nicht wieder. Sie haben mich damals beide gepackt und in die Wanne getaucht, daß ich fast ertrunken wäre. Und tagelang hat mir die Brunelda vorgeworfen, daß ich schamlos bin, und immer wieder hat sie gesagt: ›Jetzt warst du aber schon lange nicht im Bad bei mir‹ oder ›Wann wirst du mich denn wieder im Bade anschauen kommen?‹ Erst als ich ihr einigemal auf den Knien abgebeten habe, hat sie aufgehört. Das werde ich nicht vergessen.«

Und während Robinson das erzählte, rief Brunelda immer wieder: »Robinson! Robinson! Wo bleibt denn dieser Robinson!«

Obwohl ihr aber niemand zu Hilfe kam und nicht einmal eine Antwort erfolgte – Robinson hatte sich zu Karl gesetzt und beide sahen schweigend zu den Kasten hin, über denen hie und da die Köpfe Bruneldas oder Delamarches erschienen –, trotzdem hörte Brunelda nicht auf, laut über Delamarche Klage zu führen. »Aber Delamarche!« rief sie. »Jetzt spüre ich ja wieder gar nicht, daß du mich wäschst. Wo hast du den Schwamm? Also greif doch zu! Wenn ich mich nur bücken, wenn ich mich nur bewegen könnte! Ich wollte dir schon zeigen, wie man wäscht. Wo sind die Mädchenzeiten, als ich dort drüben auf dem Gut der Eltern jeden Morgen im Colorado schwamm, die beweglichste von allen meinen Freundinnen. Und jetzt! Wann wirst du denn lernen, mich zu waschen, Delamarche; du schwenkst den Schwamm herum, strengst dich an und ich spüre nichts. Wenn ich sagte, daß du mich nicht wund drücken sollst, so meinte ich doch nicht, daß ich dastehen und mich erkälten will. Du wirst sehen, daß ich aus der Wanne springe und weglaufe, so wie ich bin!«

Aber dann führte sie diese Drohung nicht aus – was sie ja auch an und für sich gar nicht imstande gewesen wäre –, Delamarche schien sie aus Furcht, sie könnte sich erkälten, erfaßt und in die Wanne gedrückt zu haben, denn mächtig klatschte es im Wasser.

»Das kannst du, Delamarche«, sagte Brunelda ein wenig leiser. »Schmeicheln und immer wieder schmeicheln, wenn du etwas schlecht gemacht hast.« Dann war es ein Weilchen still. »Jetzt küßt er sie«, sagte Robinson und hob die Augenbrauen.

»Was kommt jetzt für eine Arbeit?« fragte Karl. Da er sich nun einmal entschlossen hatte hierzubleiben, wollte er auch gleich seinen Dienst versehen. Er ließ Robinson, der nicht antwortete, allein auf dem Kanapee und begann das große, von der Last der Schläfer während der langen Nacht noch immer zusammengepreßte Lager auseinanderzuwerfen, um dann jedes einzelne Stück dieser Masse ordentlich zusammenzulegen, was wohl schon seit Wochen nicht geschehen war.

»Schau nach, Delamarche«, sagte da Brunelda, »ich glaube, sie zerwerfen unser Bett. An alles muß man denken, niemals hat man Ruhe. Du mußt gegen die beiden strenger sein, sie machen sonst, was sie wollen.« »Das ist gewiß der Kleine mit seinem verdammten Diensteifer!« rief Delamarche und wollte wahrscheinlich aus dem Waschraum hervorstürzen, Karl warf schon alles aus der Hand, aber glücklicherweise sagte Brunelda: »Nicht weggehen, Delamarche, nicht weggehen. Ach, wie ist das Wasser heiß, man wird so müde. Bleib bei mir, Delamarche.« Jetzt erst merkte Karl eigentlich, wie der Wasserdampf hinter den Kasten unaufhörlich emporstieg.

Robinson legte erschrocken die Hand an die Wange, als habe Karl etwas Schlimmes angerichtet. »Alles in dem gleichen Zustand lassen, in dem es war!« erklang die Stimme des Delamarche. »Wißt ihr denn nicht, daß Brunelda nach dem Bade noch immer eine Stunde ruht? Elende Mißwirtschaft! Wartet, wenn ich über euch komme! Robinson, du träumst wahrscheinlich schon wieder! Dich, dich allein mache ich für alles verantwortlich, was geschieht. Du hast den Jungen im Zaum zu halten, hier wird nicht nach seinem Kopf gewirtschaftet. Wenn man etwas will, kann man nichts von euch bekommen; wenn nichts zu tun ist, seid ihr fleißig. Verkriecht euch irgendwohin und wartet, bis man euch braucht!«

Aber sogleich war alles vergessen, denn Brunelda flüsterte, ganz müde, als werde sie von dem heißen Wasser überflutet: »Das Parfüm! Bringt das Parfüm!« »Das Parfüm!« schrie Delamarche. »Rührt euch!« Ja, aber wo war das Parfüm? Karl sah Robinson an. Robinson sah Karl an. Karl merkte, daß er hier alles allein in die Hand nehmen müsse, Robinson hatte keine Ahnung, wo das Parfüm war, er legte sich einfach auf den Boden, fuhr immerfort mit beiden Armen unter dem Kanapee herum, beförderte aber nichts anderes als Knäuel von Staub und Frauenhaaren heraus. Karl eilte zuerst zum Waschtisch, der gleich bei der Türe stand, aber in seinen Schubladen fanden sich nur alte englische Romane, Zeitschriften und Noten vor, und alles war so überfüllt, daß man die Schubladen nicht schließen konnte, wenn man sie einmal aufgemacht hatte. »Das Parfüm«, seufzte unterdessen Brunelda, »wie lange das dauert! Ob ich heute noch mein Parfüm bekomme!« Bei dieser Ungeduld Bruneldas durfte natürlich Karl nirgends gründlich suchen, er mußte sich auf den oberflächlichen ersten Eindruck verlassen. Im Waschkasten war die Flasche nicht, auf dem Waschkasten standen überhaupt nur alte Fläschchen mit Medizinen und Salben, alles andere war jedenfalls schon in den Waschraum getragen worden. Vielleicht war die Flasche in der Schublade des Eßtisches. Auf dem Weg zum Eßtisch aber – Karl dachte nur an das Parfüm, sonst an nichts – stieß er heftig mit Robinson zusammen, der das Suchen unter dem Kanapee endlich aufgegeben hatte und in einer aufdämmernden Ahnung vom Standort des Parfüms wie blind Karl entgegenlief. Man hörte deutlich das Zusammenschlagen der Köpfe, Karl blieb stumm, Robinson hielt zwar im Lauf nicht ein, schrie aber, um sich den Schmerz zu erleichtern, andauernd und übertrieben laut.

»Statt das Parfüm zu suchen, kämpfen sie«, sagte Brunelda. »Ich werde krank von dieser Wirtschaft, Delamarche, und werde ganz gewiß in deinen Armen sterben. – Ich muß das Parfüm haben«, rief sie dann, sich aufraffend, »ich muß es unbedingt haben! Ich gehe nicht aus der Wanne, ehe man es mir bringt, und müßte ich hier bis zum Abend bleiben.« Und sie schlug mit der Faust ins Wasser, man hörte es aufspritzen.

Aber auch in der Schublade des Eßtisches war das Parfüm nicht, zwar waren dort ausschließlich Toilettengegenstände Bruneldas, wie alte Puderquasten, Schminktöpfchen, Haarbürsten, Löckchen und viele verfilzte und zusammengeklebte Kleinigkeiten, aber das Parfüm war nicht dort. Und auch Robinson, der, noch immer schreiend, in einer Ecke von etwa hundert dort aufgehäuften Schachteln und Kassetten eine nach der anderen öffnete und durchkramte, wobei immer die Hälfte des Inhalts, meist Nähzeug und Briefschaften, auf den Boden fiel und dort liegenblieb, konnte nichts finden, wie er zeitweise Karl durch Kopfschütteln und Achselzucken anzeigte.

Da sprang Delamarche in Unterkleidung aus dem Waschraum hervor, während man Brunelda krampfhaft weinen hörte. Karl und Robinson ließen vom Suchen ab und sahen den Delamarche an, der, ganz und gar durchnäßt – auch vom Gesicht und von den Haaren rann ihm das Wasser –, ausrief: »Jetzt also fangt gefälligst zu suchen an!« – »Hier!« befahl er zuerst Karl zu suchen und dann »Dort!« dem Robinson. Karl suchte wirklich und überprüfte auch noch die Plätze, zu denen Robinson schon kommandiert worden war, aber er fand ebensowenig das Parfüm wie Robinson, der eifriger als er suchte, seitlich nach Delamarche ausschaute, der, so weit der Raum reichte, stampfend im Zimmer auf und ab ging und gewiß am liebsten sowohl Karl wie Robinson durchgeprügelt hätte.

»Delamarche!« rief Brunelda. »Komm mich doch wenigstens abtrocknen! Die beiden finden ja das Parfüm doch nicht und bringen nur alles in Unordnung. Sie sollen sofort mit dem Suchen aufhören. Aber gleich! Und alles aus der Hand legen! Und nichts mehr anrühren! Sie möchten wohl aus der Wohnung einen Stall machen. Nimm sie beim Kragen, Delamarche, wenn sie nicht aufhören! Aber sie arbeiten ja noch immer, gerade ist eine Schachtel gefallen. Sie sollen sie nicht mehr aufheben, alles liegenlassen, und aus dem Zimmer hinaus! Riegle hinter ihnen die Tür zu und komm zu mir. Ich liege ja schon viel zu lange im Wasser, die Beine habe ich schon ganz kalt.«

»Gleich, Brunelda, gleich!« rief Delamarche und eilte mit Karl und Robinson zur Tür. Ehe er sie aber entließ, gab er ihnen den Auftrag, das Frühstück zu holen und womöglich von jemandem ein gutes Parfüm für Brunelda auszuborgen.

»Das ist eine Unordnung und ein Schmutz bei euch«, sagte Karl draußen auf dem Gang, »sobald wir mit dem Frühstück zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen.«

»Wenn ich nur nicht so leidend wäre!« sagte Robinson. »Und die Behandlung!« Gewiß kränkte sich Robinson darüber, daß Brunelda zwischen ihm, der sie doch schon monatelang bediente, und Karl, der erst gestern eingetreten war, nicht den geringsten Unterschied machte. Aber er verdiente es nicht besser, und Karl sagte: »Du mußt dich ein wenig zusammennehmen.« Um ihn aber nicht gänzlich seiner Verzweiflung zu überlassen, fügte er hinzu: »Es wird ja nur eine einmalige Arbeit sein. Ich werde dir hinter den Kasten ein Lager machen, und wenn nur einmal alles ein wenig geordnet ist, wirst du dort den ganzen Tag liegen können, dich um gar nichts kümmern müssen und sehr bald gesund werden.«

»Jetzt siehst du es also selbst ein, wie es mit mir steht«, sagte Robinson und wandte das Gesicht von Karl ab, um mit sich und seinem Leid allein zu sein. »Aber werden sie mich denn jemals ruhig liegenlassen?«

»Wenn du willst, werde ich darüber selbst mit Delamarche und Brunelda reden.«

»Nimmt denn Brunelda irgendeine Rücksicht?« rief Robinson aus und stieß mit der Faust eine Tür auf, zu der sie eben gekommen waren, ohne daß er Karl darauf vorbereitet hätte.

Sie traten in eine Küche ein, von deren Herd, der reparaturbedürftig schien, geradezu schwarze Wölkchen aufstiegen. Vor der Herdtüre kniete eine der Frauen, die Karl gestern auf dem Korridor gesehen hatte, und legte mit den bloßen Händen große Kohlestücke in das Feuer, das sie nach allen Richtungen hin prüfte. Dabei seufzte sie in ihrer für eine alte Frau unbequemen, knienden Stellung.

»Natürlich, da kommt auch noch diese Plage«, sagte sie beim Anblick Robinsons, erhob sich mühselig, die Hand auf der Kohlenkiste, und schloß die Herdtüre, deren Griff sie mit ihrer Schürze umwickelt hatte. »Jetzt um vier Uhr nachmittags« – Karl staunte die Küchenuhr an – »müßt ihr noch frühstücken? Bande! – Setzt euch«, sagte sie dann, »und wartet, bis ich für euch Zeit habe.«

Robinson zog Karl auf ein Bänkchen in der Nähe der Türe nieder und flüsterte ihm zu: »Wir müssen ihr folgen. Wir sind nämlich von ihr abhängig. Wir haben unser Zimmer von ihr gemietet, und sie kann uns natürlich jeden Augenblick kündigen. Aber wir können doch nicht die Wohnung wechseln, wie sollen wir denn wieder alle die Sachen wegschaffen, und vor allem ist doch Brunelda nicht transportabel.«

»Und hier auf dem Gang ist kein anderes Zimmer zu bekommen?« fragte Karl.

»Es nimmt uns ja niemand auf«, antwortete Robinson. »Im ganzen Haus nimmt uns niemand auf.«

So saßen sie still auf ihrem Bänkchen und warteten. Die Frau lief immerfort zwischen zwei Tischen, einem Waschbottich und dem Herd hin und her. Aus ihren Ausrufen erfuhr man, daß ihre Tochter unwohl war und sie deshalb alle Arbeit, nämlich die Bedienung und Verpflegung von dreißig Mietern, allein besorgen mußte. Nun war noch überdies der Ofen schadhaft, das Essen wollte nicht fertig werden, in zwei riesigen Töpfen wurde eine dicke Suppe gekocht, und wie oft die Frau sie auch mit Schöpflöffeln untersuchte und aus der Höhe herabfließen ließ, die Suppe wollte nicht gelingen, es mußte wohl das schlechte Feuer daran schuld sein, und so setzte sie sich vor der Herdtüre fast auf den Boden und arbeitete mit dem Schürhaken in der glühenden Kohle herum: Der Rauch, von dem die Küche erfüllt war, reizte sie zu einem Husten, der sich manchmal so verstärkte, daß sie nach einem Stuhl griff und minutenlang nichts anderes tat als hustete. Öfters machte sie die Bemerkung, daß sie das Frühstück heute überhaupt nicht mehr liefern werde, weil sie dazu weder Zeit noch Lust habe. Da Karl und Robinson einerseits den Befehl hatten, das Frühstück zu holen, andererseits aber keine Möglichkeit, es zu erzwingen, antworteten sie auf solche Bemerkungen nicht, sondern blieben still sitzen wie zuvor.

Ringsherum, auf Sesseln und Fußbänkchen, auf und unter den Tischen, ja selbst auf der Erde in einem Winkel zusammengedrängt, stand noch das ungewaschene Frühstücksgeschirr der Mieter. Da waren Kännchen, in denen sich noch ein wenig Kaffee oder Milch vorfinden würde, auf manchen Tellerchen gab es noch Überbleibsel von Butter, aus einer umgefallenen großen Blechbüchse waren Keks weit herausgerollt. Es war schon möglich, aus all dem ein Frühstück zusammenzustellen, an dem Brunelda, wenn sie seinen Ursprung nicht erfuhr, nicht das geringste hätte aussetzen können. Als Karl das bedachte und ein Blick auf die Uhr ihm zeigte, daß sie nun schon eine halbe Stunde hier warteten und Brunelda vielleicht wütete und Delamarche gegen die Dienerschaft aufhetzte, rief gerade die Frau aus einem Husten heraus – während dessen sie Karl anstarrte –: »Ihr könnt hier schon sitzen, aber das Frühstück bekommt ihr nicht. Dagegen bekommt ihr in zwei Stunden das Nachtmahl.«

»Komm, Robinson«, sagte Karl, »wir werden uns das Frühstück selbst zusammenstellen.« »Wie?« rief die Frau, mit geneigtem Kopf. »Seien Sie doch, bitte, vernünftig«, sagte Karl, »warum wollen Sie uns denn das Frühstück nicht geben? Nun warten wir schon eine halbe Stunde, das ist lang genug. Man bezahlt Ihnen doch alles, und gewiß zahlen wir bessere Preise als alle anderen. Daß wir so spät frühstücken, ist gewiß für Sie lästig, aber wir sind Ihre Mieter, haben die Gewohnheit, spät zu frühstücken, und Sie müssen sich eben auch ein wenig für uns einrichten. Heute wird es Ihnen natürlich wegen der Krankheit Ihres Fräulein Tochter besonders schwer, aber dafür sind wir wieder bereit, uns das Frühstück hier aus den Überbleibseln zusammenzustellen, wenn es nicht anders geht und Sie uns kein frisches Essen geben.«

Aber die Frau wollte sich mit niemandem in eine freundschaftliche Aussprache einlassen, für diese Mieter schienen ihr auch noch die Überbleibsel des allgemeinen Frühstücks zu gut; aber andererseits hatte sie die Zudringlichkeit der beiden Diener schon satt, packte deshalb eine Tasse und stieß sie Robinson gegen den Leib, der erst nach einem Weilchen mit wehleidigem Gesicht begriff, daß er die Tasse halten sollte, um das Essen, das die Frau aussuchen wollte, in Empfang zu nehmen. Sie belud nun die Tasse in größter Eile zwar mit einer Menge von Dingen, aber das Ganze sah eher wie ein Haufen schmutzigen Geschirrs, nicht wie ein eben zu servierendes Frühstück aus. Noch während die Frau sie hinausdrängte und sie gebückt, als fürchteten sie Schimpfwörter oder Stöße, zur Tür eilten, nahm Karl die Tasse Robinson aus den Händen, denn bei Robinson schien sie ihm nicht sicher genug.

Auf dem Gang setzte sich Karl, nachdem sie weit genug von der Tür der Vermieterin waren, mit der Tasse auf den Boden, um vor allem die Tasse zu reinigen, die zusammengehörigen Dinge zu sammeln, also die Milch zusammenzugießen, die verschiedenen Butterüberbleibsel auf einen Teller zu kratzen, dann alle Anzeichen des Gebrauches zu beseitigen, also die Messer und Löffel zu reinigen, die angebissenen Brötchen geradezuschneiden und so dem Ganzen ein besseres Aussehen zu geben. Robinson hielt diese Arbeit für unnötig und behauptete, das Frühstück hätte schon oft noch viel ärger ausgesehen, aber Karl ließ sich durch ihn nicht abhalten und war noch froh, daß sich Robinson mit seinen schmutzigen Fingern an der Arbeit nicht beteiligen wollte. Um ihn in Ruhe zu halten, hatte ihm Karl gleich, allerdings ein für allemal, wie er ihm dabei sagte, einige Keks und den dicken Bodensatz eines früher mit Schokolade gefüllten Töpfchens zugewiesen.

Als sie vor ihre Wohnung kamen und Robinson ohne weiteres die Hand an die Klinke legte, hielt ihn Karl zurück, da es doch nicht sicher war, ob sie eintreten durften. »Aber ja«, sagte Robinson, »jetzt frisiert er sie ja nur.« Und tatsächlich saß in dem noch immer ungelüfteten und verhängten Zimmer Brunelda mit weit auseinandergestellten Beinen im Lehnstuhl, und Delamarche, der hinter ihr stand, kämmte mit tief hinabgebeugtem Gesicht ihr kurzes, wahrscheinlich sehr verfilztes Haar. Brunelda trug wieder ein ganz loses Kleid, diesmal aber von blaßrosa Farbe, es war vielleicht ein wenig kürzer als das gestrige, wenigstens sah man die weißen, grobgestrickten Strümpfe fast bis zum Knie. Ungeduldig über die lange Dauer des Kämmens, fuhr Brunelda mit der dicken, roten Zunge zwischen den Lippen hin und her, manchmal riß sie sich sogar mit dem Ausruf: »Aber Delamarche!« gänzlich von Delamarche los, der mit erhobenem Kamm ruhig wartete, bis sie den Kopf wieder zurücklegte.

»Es hat lange gedauert«, sagte Brunelda im allgemeinen, und zu Karl insbesondere sagte sie: »Du mußt ein wenig flinker sein, wenn du willst, daß man mit dir zufrieden ist. An dem faulen und gefräßigen Robinson darfst du dir kein Beispiel nehmen. Ihr habt wohl schon inzwischen irgendwo gefrühstückt; ich sage euch, nächstens dulde ich das nicht.«

Das war sehr ungerecht, und Robinson schüttelte auch den Kopf und bewegte, allerdings lautlos, die Lippen, Karl jedoch sah ein, daß man auf die Herrschaft nur dadurch einwirken könne, daß man ihr zweifellos Arbeit zeige. Er zog daher ein niedriges japanisches Tischchen aus einem Winkel, überdeckte es mit einem Tuch und stellte die mitgebrachten Sachen auf. Wer den Ursprung des Frühstücks gesehen hatte, konnte mit dem Ganzen zufrieden sein, sonst aber war, wie sich Karl sagen mußte, manches daran auszusetzen.

Glücklicherweise hatte Brunelda Hunger. Wohlgefällig nickte sie Karl zu, während er alles vorbereitete, und öfters hinderte sie ihn, indem sie vorzeitig mit ihrer weichen, fetten, womöglich gleich alles zerdrückenden Hand irgendeinen Bissen für sich hervorholte. »Er hat es gut gemacht«, sagte sie schmatzend und zog Delamarche, der den Kamm in ihrem Haar für die spätere Arbeit steckenließ, neben sich auf einen Sessel nieder. Auch Delamarche wurde beim Anblick des Essens freundlich, beide waren sehr hungrig, ihre Hände eilten kreuz und quer über das Tischchen. Karl erkannte, daß man hier, um zu befriedigen, nur immer möglichst viel bringen mußte, und in Erinnerung daran, daß er in der Küche noch verschiedene brauchbare Eßware auf dem Boden liegengelassen hatte, sagte er: »Beim ersten Mal habe ich nicht gewußt, wie alles angerichtet werden soll, nächstes Mal werde ich es besser machen.« Aber noch während des Redens erinnerte er sich, zu wem er sprach, er war zu sehr von der Sache selbst befangen gewesen. Brunelda nickte Delamarche befriedigt zu und reichte Karl zum Lohn eine Handvoll Keks.