Kapitel 19

 

19

 

Für Luke dauerte eine Fahrt niemals zu lange, er hatte immer sehr viel nachzudenken. Als er daher in Newmarket ankam, glaubte er, daß er eben erst in sein Auto gestiegen sei.

 

Obwohl das Wetter nicht sehr gut war, herrschte doch ein ziemlich lebhafter Verkehr auf den Straßen. Luke fuhr mit mehreren anderen Wagen zu gleicher Zeit beim Eingang zu den Tribünen vor, hielt vor einem kleinen Nebeneingang und schlüpfte unbemerkt hinein. Der Sattelplatz war schon stark belebt, obgleich die Nummern für das erste Rennen noch nicht aufgezogen waren.

 

In diesem Jahr interessierten sich die Leute sehr für das Cambridgeshire-Rennen. Es war ein halbes Dutzend bekannte Pferde genannt, die teilnehmen sollten, und die Wetten waren in diesem Jahr besonders hoch. Luke ging zu den Vertretern der Rennbehörde und hatte eine halbstündige Unterredung mit ihnen. Als er dann wieder auf den Rennplatz hinaustrat, hatte sich eine ungeheure Menge von Zuschauern eingefunden.

 

Das erste Rennen sah er nicht, aber er machte während der Zeit eine Runde bei all den Beamten, die er an den Ausgängen aufgestellt hatte. Goodie hatte er bereits gesehen, und während er zwischen den Posten umherging, fuhr Dr. Blanter in seinem großen Rolls-Royce vor, stieg aus und kam durch das Haupttor.

 

»Das ist der Wagen, auf den Sie aufpassen müssen«, sagte Luke zu den Beamten. »Wenn es notwendig ist, bringen Sie den Motor in Unordnung.«

 

Er wußte, daß er sich mit Blanter sehr in acht nehmen mußte. Der Doktor war ein genialer Mensch, der leider seine Begabung in einer falschen Richtung verwandte. Bisher war es ihm stets gelungen, seine Spuren zu verwischen, und als kluger Feldherr hatte er bestimmt für einen sicheren Rückzug gesorgt. Als er das erstemal in Verdacht geraten war, hatte er sich Luke gegenüber gerühmt: ›Ich sehe alles voraus, was Sie vorhaben; aber Sie wissen nicht, welche Schritte ich unternehmen werde. Deshalb werde ich Ihnen immer überlegen sein.‹

 

Bevor das Cambridgeshire-Rennen stattfand, war der Sattelplatz ungewöhnlich stark belebt, und es war unmöglich, in die Nähe der Pferde zu kommen. Als Luke wieder auf die Rennbahn kam, hörte er, daß ›Weiße Lilie‹ als starker Favorit angesehen wurde. Die Wetten standen fünf zu eins, aber man konnte bei keinem Buchmacher mehr eine Wette auf das Pferd abschließen. Verschiedentlich hörte er, wie die Buchmacher Leute aus dem Publikum abwiesen.

 

Bei diesem Rennen fand keine vorherige Parade der Pferde statt, aber als sie zum Start aufbrachen, sah Luke ein wunderbares Tier.

 

»Das ist der Gewinner – der sieht so aus, als ob er noch einen ganzen Omnibus mitschleppen und trotzdem als erster durchs Ziel gehen könnte«, sagte jemand neben ihm.

 

Keins der anderen Pferde konnte sich mit ›Weiße Lilie‹ vergleichen. Luke sah die aufgezogenen Zahlen und bemerkte, daß ›Weiße Lilie‹ Platz Nr. 1 hatte – den besten im ganzen Rennen.

 

Er stieg die Tribüne hinauf, um das Rennen zu beobachten. Beim Start gab es noch eine lange Verzögerung. Es war sehr schwer, die Pferde alle in eine Reihe zu bringen; zwei scheuten vor der Schnur, und ein drittes hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Rennen in umgekehrter Richtung zu beginnen. Die anderen mußten warten, bis es wieder eingefangen und zurückgebracht worden war.

 

»Sie sind gestartet!« erscholl es dann plötzlich wie ein weithin dröhnender Kanonenschuß aus Tausenden von Kehlen.

 

Es war ein herrlicher Anblick, als die Pferde in einer Geraden, wie mit der Schnur ausgerichtet, am Publikum vorbeijagten. ›Weiße Lilie‹ zeigte eine großartige Form. Es war Luke und tausend anderen Sachverständigen klar, daß dieses Pferd das Rennen gewinnen würde. Tatsächlich ging es auch mit drei Längen Vorsprung durchs Ziel.

 

Luke eilte auf den Sattelplatz und wartete dort. Er sah, wie Goodie langsam zu dem Platz ging, der für das siegreiche Tier reserviert war. Gleich darauf erschien auch der Jockei auf ›Weiße Lilie‹ über den Köpfen der Menge und ritt das Pferd in den abgegrenzten Raum. Goodie faßte es am Zügel und führte es, während der Jockei abstieg und den Sattel abschnallte. Dann gingen sie zusammen zur Waage.

 

Luke folgte ihnen auf den Fersen. Blanter konnte er nicht sehen, aber er zweifelte nicht daran, daß sich der Doktor irgendwo in der Nähe aufhielt.

 

Der Jockei setzte sich bereits auf die Waage, als Luke einem Beamten einen Zettel reichte, den dieser durchlas.

 

»Protestieren Sie gegen das Pferd, Mr. Luke?«

 

»Ja, und zwar, weil es nicht ›Weiße Lilie‹ ist, sondern aus Argentinien importiert wurde und den Namen ›Vendina‹ führt. Es wurde durch einen deutschen Stall von Señor Garcia angekauft.«

 

In Goodies Gesicht regte sich kein Muskel; der Mann blieb vollkommen ruhig.

 

»Das ist eine ganz blödsinnige Beschuldigung«, sagte er langsam. »Die Streitfrage wird ja von der Rennbehörde entschieden werden. Ich stehe zur Verfügung.«

 

Er ging von der Waage fort, und Inspektor Luke hielt sich dicht hinter ihm. Es wurden keine Anstalten getroffen, Goodie anzuhalten, bis er außerhalb der Umfriedung war. Dann traten verschiedene Beamte von Scotland Yard auf ihn zu.

 

Lukes Wachtposten bemerkten Blanter erst, als er aus dem Rennbüro herauskam und zu den geparkten Autos ging. Die Tatsache, daß der Chauffeur nicht auf dem Führersitz von Blanters Wagen saß, machte sie unachtsam. Ein großer französischer Wagen fuhr an dem Doktor vorbei; einen Augenblick kam dieser außer Sicht, und nachher war er verschwunden. Erst als das Auto die äußeren Tore passiert hatte, merkten die Beamten, was geschehen war. Blanter hatte vorsichtigerweise zwei Autos auffahren lassen und war in das zweite gesprungen. Nun hatte er bereits einen Kilometer Vorsprung.

 

Luke kam gleich darauf dazu und hörte, was geschehen war. Er verlor keine Zeit damit, den Leuten Vorwürfe zu machen, sondern sprang sofort auf das Trittbrett des Polizeiwagens, der sich bereits in voller Fahrt befand, um die Verfolgung aufzunehmen. Der Franzose war inzwischen außer Sicht gekommen. Sie konnten auch der Polizei von Cambridgeshire, die die Straßenkreuzungen bewachte, kein Signal geben. Der Wagen schlug die Richtung nach London ein. Die Entfernung zwischen beiden mochte etwa achthundert Meter betragen, und sie fuhren mit ungefähr gleicher Geschwindigkeit. Die Straßenkreuzung vor dem Ort hatten sie bereits passiert und rasten auf Six Mile Bottom zu. Und nun zeigte sich die Voraussicht Dr. Blanters, der mit größter Klugheit seinen Rückzug gedeckt hatte. Ein großes Lastauto, das vorher am Rand der Straße gestanden hatte, fuhr plötzlich quer über die Straße und sperrte den Verkehr. Die Sache war so gut inszeniert, daß Luke zunächst an einen Zufall glaubte. Das Lastauto bewegte sich erst, als der Wagen des Doktors vorbeigefahren war. Einer der Beamten sprang vom Polizeiwagen auf das Trittbrett des anderen Autos und schwang sich neben den Chauffeur.

 

»Sie sind verhaftet! Fahren Sie sofort aus dem Weg, oder ich schlage Ihnen mit dem Gummiknüppel eins über den Schädel!«

 

Als die Straße wieder frei war, konnten sie Blanters Wagen nicht mehr sehen. Gleich darauf hatten sie noch ein anderes Hindernis zu überwinden: Ein großer Pferdetransportwagen versperrte ihnen den Weg, fuhr jedoch ohne Eile gemächlich zur Seite und ließ sie passieren.

 

Blanter hatte allem Anschein nach eine Gefahr übersehen: Die Eisenbahnschranken in Six Mile Bottom konnten geschlossen sein!

 

Das war auch tatsächlich der Fall, als Luke näher kam. Sie wurden erst wieder geöffnet, als das Polizeiauto schon auf hundert Meter herangekommen war. Beide Wagen jagten nun in schnellstem Tempo die Straße entlang, und die Polizeibeamten holten dauernd auf. Bei der Kreuzung der Straßen nach Royston und Newport überholten sie schließlich den französischen Wagen und fuhren in scharfem Bogen vor. Luke kannte den Chauffeur nicht; der Mann war ihm fremd. Sofort sprang er ab, eilte zu dem anderen Auto und riß die Tür auf.

 

»Kommen Sie heraus, Doktor!«

 

Aber der Wagen war leer. Auf dem Boden lag eine Eintrittskarte zum Rennen. Luke hob sie auf und sah, daß ein paar Worte auf die Rückseite geschrieben waren. Der Doktor mußte sie während der Fahrt hingekritzelt haben, und allem Anschein nach war die Nachricht für Luke bestimmt.

 

Ich habe das alles vorausgesehen. Es tut mir leid, daß ich Sie so enttäuschen mußte.

 

Luke verhaftete den Chauffeur, fuhr dann nach Six Mile Bottom zurück und stellte dort Nachforschungen an. Es gab keine andere Möglichkeit: Nur an dieser Stelle konnte Dr. Blanter entkommen sein. Wahrscheinlich hatte er den Zug erreicht, für den die Schranken geschlossen worden waren.

 

Zu seinem Erstaunen hörte er jedoch, daß niemand aus dem Wagen gestiegen war und der Zug auf der Station überhaupt nicht gehalten hatte.

 

»Ich möchte auch einen Eid darauf leisten, daß das Auto leer war. Ich habe nämlich hineingesehen, während es vorüberfuhr«, sagte einer der Eisenbahnbeamten.

 

Wenn tatsächlich niemand im Wagen gesessen hatte, als dieser Six Mile Bottom erreichte, wo war es dann Dr. Blanter gelungen, zu entkommen? Luke dachte scharf nach. Es konnte nur bei einer Gelegenheit gewesen sein, und zwar, als das große Transportauto den Weg versperrte. Dr. Blanter hatte währenddessen Zeit genug gehabt, langsamer zu fahren oder gar anzuhalten. Aber wohin konnte er geflohen sein? In der Nähe war kein Haus zu sehen gewesen; es war eine völlig freie Gegend. Blanter war auch viel zu schlau, sich im Wald zu verstecken.

 

Als Luke zum Rennplatz zurückkam, war die Menschenmenge dort in einer furchtbaren Aufregung. Das Pferd war nicht disqualifiziert, sondern die Entscheidung der Obersten Rennbehörde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. Goodie hatte man zur Polizeistation der Stadt gebracht, ohne daß er Protest eingelegt hätte. Luke suchte Goodie in der Zelle auf, aber er konnte nichts von ihm erfahren. Goodie schwieg und schien sich überhaupt nicht für das Schicksal seines Partners zu interessieren. Er kümmerte sich auch wenig darum, was aus ihm selber werden würde. Luke nahm ihn mit nach London, nachdem ihm die Hände gefesselt worden waren, und brachte ihn zur Polizeistation in der Cannon Row.

 

Die Lage war durchaus noch nicht geklärt, und nach Meinung eines höheren Polizeibeamten war es nicht ausgeschlossen, daß Goodie vom Gericht freigesprochen werden würde. Die Rennbehörde hatte eine ungewöhnliche Haltung eingenommen, indem sie die Entscheidung vertagte. Allerdings handelte sie richtig, denn sie mußte warten, bis die Polizei unwiderlegliche Beweise vorbrachte. Die Verwirrung unter den Besuchern der Rennbahn war erklärlich. Niemand wußte, ob das erste oder das zweite Pferd gewonnen hatte.

 

»Seien Sie unbesorgt, ich werde einwandfreie Beweise bringen«, erklärte Luke seinem Vorgesetzten.

 

Am liebsten hätte er Goodies Haus versiegeln lassen, aber eine technische Schwierigkeit verhinderte das. Goodies Haus lag im Gebiet einer anderen Polizeistation, und schon früher hatte es Auseinandersetzungen zwischen Scotland Yard und den Provinzialbehörden gegeben, wenn sich die Londoner Polizei ungebeten einmischte. Deshalb entschloß man sich, diese Angelegenheit der örtlichen Behörde zu überlassen. Aber Luke setzte sich sofort mit der Kriminalpolizei von Berkshire in Verbindung; ihm war ein guter Gedanke gekommen. Eine Folge seiner Verständigung mit den dortigen Beamten war es, daß das Haus während der Nacht nicht einmal von der Polizei betreten wurde.

 

Mr. Trigger wurde nach Scotland Yard gerufen, um das Wesen der Transaktionen genau darzulegen. Wie Luke schon erwartet hatte, konnte der Mann nachweisen, daß er mit all den Schiebungen nichts zu tun hatte und nur den organisatorischen und verwaltungsmäßigen Teil des Geschäftes erledigte.

 

Das Haus Dr. Blanters wurde zum zweitenmal durchsucht und von der Polizei besetzt. Daß Blanter den Versuch machen würde, nach London zu kommen, erwartete Luke nicht. Er glaubte vielmehr, daß der Arzt einen Hafen erreichen wollte, um von dort aus mit dem Schiff nach dem Kontinent zu entkommen. Alle Polizeistationen in den großen Häfen wurden daher verständigt.

 

Luke war dankbar, daß er wenigstens so viel erreicht hatte. Goodie saß im Gefängnis, Blanter war auf der Flucht, und damit war seiner Meinung nach die Gefahr für Edna Gray beseitigt.

 

Rustem war nirgendwo aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte er sich auf irgendeine Besitzung im Innern des Landes zurückgezogen. Luke nahm an, daß sie irgendwo in der Nähe von Edinburgh liegen müsse.

 

Pilcher antwortete auf die Fragen der Polizei, daß er nichts von dem Aufenthaltsort seines Herrn wisse. Rustem hatte seinem Angestellten an dem Tag, an dem er verschwand, nur gesagt, daß er nicht ins Büro kommen würde.

 

Später wurde in Rustems Wohnung festgestellt, daß Pilcher die Wahrheit gesprochen hatte. Wenn Rustem außer Landes geflohen wäre, hätte er sicherlich die zweitausend Pfund mitgenommen, die die Polizei in den Schubladen seines Schreibtisches fand.

 

Man machte der Polizei einen Vorwurf daraus, daß sie nicht sofort das Haus Mr. Goodies besetzt hatte. Es lag allerdings ziemlich einsam und in großer Entfernung von Scotland Yard, und Beamte hatten für diesen Zweck nicht gleich zur Verfügung gestanden. Man konnte auch nicht annehmen, daß Blanter so kühn sein würde, sich an einen Platz zu begeben, wo er sicher Polizeibeamte treffen mußte. Alle Beschuldigungen wären jedoch überflüssig gewesen, wenn die Unterredung bekanntgeworden wäre, die Inspektor Luke mit der Polizeibehörde in Berkshire gehabt hatte. Er hatte dabei die großen Tiere erwähnt, die auf Goodies Grundstück untergebracht waren.

 

Es war ungefähr acht Uhr abends, als Lane ein großes Auto sah, wie es zum Transport von Rennpferden verwendet wurde. Der Wagen fuhr aus dem Tor von Goodies Grundstück und verschwand in südlicher Richtung. Das war kein ungewöhnliches Vorkommnis am Abend eines Renntages. Lane dachte sich deshalb auch nichts dabei. Er sah außerdem auch nicht, daß die beiden Scheinwerfer ausgeschaltet wurden, als der große, schwere Wagen von der Straße abbog.

 

Er enthielt keine Pferde, vielmehr hatte Dr. Blanter den ganzen Weg in dem kleinen, abgesonderten Raum geschlafen, der im Wagen für den Stallknecht vorgesehen war. Der Chauffeur sprang vom Sitz und öffnete die hintere Tür des Wagens.

 

»Wir sind am Ziel«, rief er ins Innere.

 

Dr. Blanter erhob sich; er streckte sich, denn er hatte zusammengekauert gelegen. Der Wagen war durch Newmarket gefahren und hatte einen Umweg über Cambridge gemacht.

 

Hätte Luke genauere Nachforschungen angestellt, so würde er herausgebracht haben, daß dies der Wagen war, der zwischen Six Mile Bottom und dem Rennplatz auf der Chaussee gestanden hatte, ebenso wie das andere große Lastauto, das ihm den Weg versperrte. Aber nicht im Traum hätte er sich einfallen lassen, daß ein unschuldig aussehender Transportwagen in der Richtung auf den Rennplatz den Verfolgten aufgenommen hatte. Durch diesen einfachen Trick hatte sich Dr. Blanter der sofortigen Verhaftung entzogen. Er war nicht nach Goodies Haus gefahren, um sich hier zu verstecken, sondern weil er voraussah, daß Luke in der ersten Aufregung übereilt handeln und nicht auf Edna Gray aufpassen würde. Darin täuschte er sich auch nicht. Außerdem konnte er auf den weiten Wiesenflächen am besten mit dem Flugzeug starten, das in dem großen Transportwagen verstaut war. Kurz vor Morgengrauen wollte er zum Kontinent hinüberfliegen.

 

Goodies Haus war jetzt vermutlich von der Polizei besetzt worden. Aber bestimmt hatte man Rustem nicht gefunden und ihm keine Gelegenheit geben können, seine Geschichte zu erzählen. Blanter wußte, daß sein eigenes Schicksal besiegelt war, wenn es ihm nicht gelang, mit dem Flugzeug England zu verlassen. Er zweifelte nicht im mindesten daran, daß er Erfolg haben würde.

 

Die Polizei hatte wahrscheinlich auch schon die beiden großen Tiere entdeckt. Er lächelte bei dem Gedanken. Die Bestien würden den Polizisten von Berkshire einen hübschen Schrecken eingejagt haben! Wie mochten die Leute wohl mit ihnen fertig geworden sein?

 

Der große, leere Wagen auf den Wiesen würde wahrscheinlich erst gegen Morgen entdeckt werden, lange nach dem Start. Stoover hatte im Krieg bei den Fliegern gedient und sich auch später als Pilot betätigt. Er war es gewesen, der dem Doktor geraten hatte, mit dem Flugzeug das Land zu verlassen.

 

Die großen, ausgedehnten Wiesen waren wie geschaffen für diesen Zweck; es war von jeher Blanters Absicht gewesen, von hier aus zu starten. Trotz seiner Körperschwere konnte er sehr leise gehen. Der Pferdeknecht, der im Stall von Longhall House schlief, sah und hörte nichts von ihm, als er vorüberkam. Blanter suchte die Lage des Hauses auszukundschaften. Wie er wußte, hatte Edna Gray außer Lane zwei männliche Dienstboten. Es war auch zu seiner Kenntnis gelangt, daß es sich um frühere Polizeibeamte handelte, die Luke besonders ausgewählt hatte, um Edna zu beschützen.

 

Nach langem Suchen fand er endlich eine Leiter auf dem Hof und lehnte sie an die Wand, und zwar in der Nähe des offenen Fensters, das zu Ednas Schlafzimmer gehörte. Diese Zimmer hatte er selbst bewohnen wollen, wenn es ihm gelungen wäre, den Landsitz zu kaufen; es war Dr. Blanter gewesen, in dessen Auftrag Rustem Miss Gray das fabelhafte Angebot gemacht hatte.

 

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er blieb ruhig stehen und rührte sich nicht. Erst nach einigen Augenblicken drückte er sich tiefer in den Schatten der Wand.

 

Von seinem Standpunkt aus konnte er die Ecke des Stalls überblicken. Das Licht, das im Innern brannte, fiel durch die offene Tür, und der Schein wurde von den glatten Steinen zurückgeworfen, mit denen der Hof belegt war.

 

Blanter hörte, daß Edna mit dem Pferdeknecht sprach. Allem Anschein nach war sie aus der Haustür herausgekommen und über den Rasen zum Stallgebäude gegangen. Sie gab dem Mann den Auftrag, ihr Pferd am nächsten Morgen frühzeitig zu satteln.

 

Er schlich sich an der Mauer entlang, bis er an die Hausecke kam. Nun konnte er ihren Rücken sehen; sie trug einen langen, dicken Mantel, aber keinen Hut.

 

Ein Pferd im Stall wurde unruhig, und der Knecht ging hinein, um nachzusehen. Edna Gray blieb noch eine Weile stehen und schaute nach dem Stall hinüber, dann ging sie zur Haustür. Aber im letzten Augenblick änderte sie ihre Absicht und wandte sich nach links, so daß sie direkt auf Blanter zukam. Ihn sah sie nicht, wohl aber die Leiter, die sich dunkel vom Abendhimmel abhob. Er hörte, daß sie einen leisen Ruf der Verwunderung ausstieß, dann faßte er einen kurzen Entschluß und sprang auf sie zu. Sie fühlte, daß sich eine große Hand auf ihren Mund preßte und daß ein Arm sie umfaßte.

 

»Wenn Sie Lärm machen, erwürge ich Sie«, flüsterte er ihr ins Ohr.

 

Sie machte die größten Anstrengungen, sich aus seinem Griff zu befreien, aber sie konnte nicht gegen ihn ankommen und brach wenige Sekunden später ohnmächtig zusammen. Er hörte, daß eine Tür zugeschlagen wurde, und schaute sich vorsichtig um. Schwere Tritte wurden auf dem Hof laut. Blanter trug Edna bis zur nächsten Hausecke und bemerkte, daß der Stallknecht auf das Haus zu verschwand.

 

Schnell entschlossen hob er Edna auf, eilte am Stall vorüber und ging durch eine Seitentür. Miss Gray war noch bewußtlos, als er das große Lastauto erreichte. Stoover, der eben einen Schluck aus einer Thermosflasche genommen hatte, sprang auf.

 

»Haben Sie das Mädel tatsächlich geschnappt?« fragte er. »Das war allerdings Glück, Doktor. Geben Sie her, ich werde es tragen.«

 

»Das ist nicht nötig«, entgegnete Blanter kurz.

 

Sie gingen in der Dunkelheit weiter und waren fast an der Stelle angekommen, von der sie starten wollten, als Edna zu stöhnen begann. Er fühlte auch, daß sie sich in seinen Armen bewegte. Einen Augenblick setzte er sie nieder, suchte in seinen Taschen und nahm dann einen kleinen Kasten heraus.

 

Er war es so gewohnt, anderen Leuten Morphiumspritzen zu geben, daß er kein Licht dazu brauchte. Der scharfe Stich in ihren Unterarm brachte Edna das Bewußtsein zurück. Dann beobachteten die beiden Männer, wie sie langsam die Besinnung wieder verlor.

 

»Im Haus ist niemand«, sagte Stoover leise. »Ich bin hineingegangen und habe mich überall umgesehen.

 

»Wie haben Sie denn das gemacht?« fragte der Doktor scharf.

 

»Ich habe das Schloß am Gittertor geöffnet. Das war ganz leicht.«

 

»Haben Sie die Tür offengelassen?«

 

»Nein, ich habe sie wieder zugeklinkt. Warum fragen Sie?«

 

Er hörte, wie der Doktor schnell atmete.

 

»Es ist nichts – kommen Sie mit.«

 

Er bückte sich, hob Edna auf, trug sie eine lange Strecke und legte sie erst wieder auf den Boden, als sie bei dem schweren, eisernen Gittertor angekommen waren, das den Zugang zu den Perrywig-Höhlen versperrte. Der Doktor schloß auf, und sie gingen zusammen hinein. Dann machten sie die Tür wieder leise hinter sich zu.

 

»Wenn Sie an der Wand entlangtasten, finden Sie eine Vertiefung. Darin steht eine Laterne. Zünden Sie die aber erst an, wenn ich es Ihnen sage.«

 

Die Höhle lief etwa fünfzig Meter gerade in den Felsen hinein und wandte sich dann in großem Bogen nach rechts. An dieser Stelle befand sich ein zweites Tor, das sie ebenfalls aufschlossen.

 

»Sie können jetzt die Laterne anzünden.«

 

Die Höhle, in der sie sich befanden, war doppelt so hoch wie ein gewöhnliches Zimmer. Hier stand ein großer, schneller Wagen, der mit Segeltuch zugedeckt war. Ringsum an den Wänden waren kleine Kammern in den Felsen eingehauen. Blanter setzte Edna ab, so daß sie mit dem Rücken an der Wand lehnte. Dann trat er an eine der Öffnungen im Felsen und leuchtete dem darin liegenden Mann mit der Laterne ins Gesicht.

 

»Wachen Sie auf, Arthur«, sagte er.

 

Rustem, der zusammengekauert auf einem Bund Stroh lag, fuhr auf und sah den Doktor verschlafen an. Von allen Menschen fürchtete er Blanter am meisten.

 

»Hallo, Doktor!« erwiderte er und nahm sich zusammen, um seine Furcht nicht zu zeigen. »Solche Methoden, wie Sie sie gegen mich anwenden, gehören aber nicht in die moderne Zeit, sondern ins Mittelalter. Was soll denn das eigentlich heißen?«

 

Als er seine Beine bewegte, schlugen Ketten aneinander, und beim Schein der Laterne war ein eiserner Ring an Rustems Fußgelenk zu sehen, an dem die Kette befestigt war.

 

»Sie müssen doch zugeben, Doktor, daß Sie keinen Grund haben, mich zu verdächtigen –«

 

»Halten Sie den Mund«, erwiderte Blanter ungerührt. »Ich will Ihnen nur mitteilen, was inzwischen passiert ist. Man hat Goodie verhaftet und ist hinter mir und Ihnen her.«

 

Rustem sah sehr angegriffen und elend aus. Unsicher erhob er sich. Die Kette war ziemlich lang, so daß er sich frei in der Höhle bewegen konnte.

 

»Was hat denn die Polizei gegen uns?«

 

»Ich weiß nicht, worum es sich handelt, aber ich kann mir denken, um was es geht. Sie werden uns wegen Mordes anklagen. Und wir sind alle daran beteiligt. Nur Sie nicht.«

 

»Nein, ich nicht«, entgegnete der Gefangene und machte nervöse Bewegungen mit den Händen. »Ich habe nichts von alledem gewußt, und ich habe ja auch damals darauf bestanden –«

 

»Ich sagte doch schon: nur Sie nicht. Sie würden an dem Prozeß nur als Kronzeuge teilnehmen, und das spricht natürlich nicht zu Ihren Gunsten«, erklärte Blanter mit sanfter Stimme. »Ich habe Ihnen hier eine kleine Freundin gebracht, aber sie soll Ihnen nicht Gesellschaft leisten – den Gedanken können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen.«

 

Rüstern sah sich um und entdeckte Edna.

 

»Das ist ja Miss Gray!« sagte er erschrocken:

 

»Nennen Sie sie ruhig Edna. Wenn Sie erst erledigt sind, werden wir uns ein wenig mit ihr amüsieren – ich meine, Stoover und ich.«

 

Blanter sah ihn belustigt an, dann grinste er.

 

Rustem war ein Feigling, aber weil er ohnehin in Todesgefahr schwebte, fühlte er plötzlich keine Furcht mehr. Ihm fiel auf, daß Miss Gray die Besinnung wiedererlangt hatte und alles hörte, was gesprochen wurde. Sie hatte den Kopf gesenkt und hielt sich ähnlich wie Goodie. Ein lächerlicher Vergleich! Rustem hätte lachen mögen, aber er fürchtete, daß seine Nerven dann versagten. Und wenn das geschah, war er verloren. Er kannte Blanter besser als irgendein anderer und wußte, daß dieser Mann ihn dann ohne Zögern ermorden würde.

 

Der Doktor nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und suchte einen Schlüssel aus.

 

»Wir wollen Sie ein paar Minuten von Ihren mittelalterlichen Qualen erlösen. Dafür will ich meine kleine Freundin anketten. Ich kann Ihnen ja auch verraten, daß es neue Eisen sind. Die letzten wurden von Ihrem Vorgänger hier zerbrochen.«

 

»Sie wollen mich erlösen? Sie meinen doch nicht etwa –«

 

»Doch, das meine ich. Sie sind zu gefährlich, Rustem, und außerdem können Sie sich nicht beherrschen. Es ist besser – für uns alle. – Natürlich tut es uns leid, daß wir Sie verlieren«, fügte er spöttisch hinzu. »Warten Sie einen Augenblick.«

 

Rustem sah, daß Blanter in seiner Westentasche herumsuchte, und unterbrach ihn. »Doktor, vor langer Zeit haben Sie mir einmal etwas von einem Gift erzählt – Kelacin. Sie sagten damals, wenn Sie sich jemals das Leben nehmen würden, wollten Sie dieses Mittel gebrauchen.«

 

Blanter lächelte.

 

»Ihr Gedächtnis ist geradezu wunderbar!«

 

Er nahm eine kleine Schachtel aus der Westentasche, öffnete sie und zog eine Glasröhre heraus.

 

»Ich freue mich, daß Sie vernünftig sind und keinen Spektakel machen. Ich muß sagen, daß ich Ihre Wünsche vorausgesehen habe. Kelacin ist tatsächlich die Medizin, die ich Ihnen verschreibe.«

 

Edna beobachtete alles, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie war so starr vor Schrecken, daß sie keinen Laut hervorbringen konnte. Sie hatte Rustem erkannt, und die lange Kette, an die er gefesselt war, erklärte ihr den Zusammenhang.

 

Es standen einige Möbelstücke in der Höhle, offenbar befand sich auch eine Wasserleitung in der Nähe, denn der Doktor verschwand und kam bald darauf mit einem halbgefüllten Wasserglas zurück, von dem er etwas auf den Boden schüttete.

 

»Wie wirkt denn das Mittel?« fragte Rustem mit erzwungener Ruhe.

 

Der Doktor antwortete nicht, aber ein Tropfen nach dem anderen fiel aus dem Hals der kleinen Röhre in das Wasserglas.

 

»Ein Tropfen verursacht vollkommene Lähmung, bei zwei oder drei Tropfen sterben Sie – je nach der Stärke Ihrer Konstitution. Ich gebe Ihnen sechs – oder vielmehr, Sie nehmen aus freien Stücken sechs.«

 

»Geben Sie mir sechzig«, entgegnete Rustem gefaßt. »Wenn es schon sein muß, soll es schnell vorübergehen.«

 

Der Doktor lächelte.

 

»Das ist tapfer von Ihnen«, sagte er und leerte den ganzen Inhalt des Fläschchens ins Glas.

 

Stoover schaute fasziniert zu. Edna konnte sehen, wie Rustem das Glas mit zitternden Händen gegen das Licht hielt.

 

»Wollen Sie mir nicht vorher wenigstens die Fesseln abnehmen? Ich möchte nicht in Ketten sterben.«

 

Blanter warf ihm einen schnellen Blick zu, nahm dann einen Schlüssel vom Bund und erfüllte den Wunsch.

 

»Ich danke Ihnen.«

 

Rustem war sehr höflich, und hätte seine Hand nicht so sehr gezittert, würde man überhaupt nicht gemerkt haben, daß er aufgeregt war.

 

»Bevor ich sterbe, will ich Ihnen noch ein Geheimnis anvertrauen.« Bei diesen Worten beobachtete er den Doktor scharf. »Wäre ich diesem Schicksal entkommen, so wäre ich in ein Kloster gegangen.«

 

Blanter zog die Augenbrauen hoch und öffnete den großen Mund.

 

Es war eine Grimasse, die er immer schnitt, wenn er sich über etwas amüsierte. Gewöhnlich folgte darauf ein dröhnendes Lachen. Rüstern wußte das, und als Blanter den Mund öffnete, machte er eine scharfe Bewegung mit dem Handgelenk und goß ihm den Inhalt des Glases ins Gesicht. Blanter taumelte zurück, faßte mit der Hand nach der Tasche, stieß einen Schmerzensschrei aus und sank dann auf die Knie, während sich sein Gesicht unverzüglich blau färbte und er nach Luft zu ringen anfing.

 

Stoover sprang hinzu und packte ihn am Arm; Rustem eilte zu Edna und riß sie hoch.

 

»Laufen Sie!« schrie er ihr zu.

 

Das Tor stand auf, und er warf es zu, als sie draußen waren. Das äußere Tor war verschlossen, aber er hatte den Schlüssel vom Boden aufgenommen, den der Doktor hatte fallen lassen. Mit zitternden Händen bemühte er sich, es zu öffnen.

 

Endlich gelang es ihm.

 

Er hörte Schritte hinter sich und hatte nicht mehr den Mut, stehenzubleiben und wieder zuzuschließen. Er lief, so schnell er nur laufen konnte.

 

»Kennen Sie den Weg zu Ihrem Haus?« fragte Rustem atemlos.

 

Vor Furcht und Schwäche konnte sich Edna kaum aufrecht halten. Sie murmelte nur ein paar unverständliche Worte.

 

Jemand eilte hinter ihnen her – wahrscheinlich war es Stoover. Edna erschien es unmöglich, daß sie lange bei Kräften bleiben würde. Ihr Haus lag noch weit entfernt, und der Boden war so uneben, daß sie dauernd stolperte.

 

Rustem sah über die Schulter, und zu seinem größten Schrecken erkannte er den Doktor.

 

Als sie die Ecke des Drahtzauns erreicht hatten, taumelte Edna. Der Zaun gab nach, und nun sah sie, daß es eine Tür war. Rustem bemerkte die Zuflucht gleichfalls, eilte hinter ihr her und warf die Tür zu. Aber das Schloß schnappte nicht ein.

 

Sie eilte weiter und hörte, daß hinter ihr Leute aneinandergerieten. Plötzlich blieb sie starr vor Schrecken stehen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien; entsetzliche Furcht lähmte sie. Im Dunkel sah sie grüne, funkelnde Augen vor sich, dann hörte sie wildes Schreien, so daß ihr das Blut in den Adern gerann.

 

Die beiden großen schwarzen Tiere, die sie für Hunde gehalten hatte, waren Panther!

 

Bewußtlos brach Edna zusammen.

 

Aber nicht sie hatte die Aufmerksamkeit der beiden wilden Tiere erregt, sondern die zwei Männer, die am Boden miteinander rangen. Fauchend sprangen die Bestien auf die beiden los. Blanter hatte gerade noch Zeit, sich aufzurichten. Zweimal feuerte er, und der eine Panther heulte wild auf. Dann sprang der andere zu. Als er mit den Tatzen zuschlug, fielen in der Nähe zwei Schüsse, und das Raubtier sank, zu Tode getroffen, neben seinem Gefährten nieder.

 

Kapitel 2

 

2

 

Früher hatte Mr. Rustem ein großes Messingschild mit einer pompösen Inschrift gehabt:

 

 

Arthur M. Rustem

Rechtsanwalt und Notar

 

 

Eines schönen Tages wurde es aber abgeschraubt und durch ein kleineres, weniger anspruchsvolles ersetzt. Mr. Rustem war zu der Zeit auf Ferien und wohnte im ›Hotel Danielli‹ in Venedig, wo er ein Appartement mit Blick auf den Canale Grande und die schönen Bauten der Stadt gemietet hatte.

 

Telegrafisch wurde er von der neuen Sachlage verständigt:

 

Verhandlung gegen Sie hat heute stattgefunden. Starker verteidigte Sie glänzend. Richter verfügte aber Streichung auf der Anwaltsliste. Gruß Pilcher

 

Er saß gerade in einem berühmten Café am Markusplatz und aß Eiscreme, als ihm ein Hotelangestellter die Depesche überreichte. Er las sie vollkommen ruhig durch, ließ sich ein Telegrammformular geben und schrieb kurz darauf:

 

Ändern Sie Firmenschild in A. M. Rustem.

Besten Dank.

 

Er gab dem Boten ein Trinkgeld und aß dann seine Eiscreme weiter. Andere Anwälte, die mehr Charakter und Ehrgefühl besaßen als er, hatten sich bei solchen Gelegenheiten das Leben genommen, aber ihn stimmte dieser Vorfall nicht traurig.

 

Er hatte von vornherein erwartet, daß die Anwaltskammer ihn aus der Liste streichen würde, und er war froh, daß es nicht auch noch zu einem Prozeß gekommen war. Seiner Meinung nach war es ja kleinlich, soviel Spektakel wegen ein paar tausend Pfund zu machen. Er hatte sie von dem Vermögen einer kindischen alten Dame genommen, deren Gelder er verwaltete. Sie war inzwischen gestorben, und ihre Erben waren dickköpfig genug, die Anzeige gegen ihn doch noch zu erstatten, obwohl er das Geld längst ersetzt hatte und die Leute sehr reich waren. Und nun hatte die Anwaltskammer die Konsequenzen daraus gezogen und ihn ausgeschlossen.

 

Er verwaltete nur noch das Vermögen eines anderen Klienten, aber das war so unbedeutend, daß es kaum der Mühe wert war, sich damit abzugeben. Er selbst besaß ein Vermögen von mehr als hunderttausend Pfund und hatte außerdem ein Einkommen von mindestens zehntausend Pfund jährlich. Es erschien ihm selbst lächerlich, daß er sich unter diesen Umständen dazu hatte verleiten lassen, fremde Gelder anzugreifen.

 

Einen Monat später kehrte er nach London zurück, und die neue Messingplatte an seiner Tür gefiel ihm, als er in sein luxuriös ausgestattetes Büro trat.

 

Sein Bürovorsteher begrüßte ihn grinsend. Der Mann war zwar noch ziemlich jung, aber tüchtig in seinem Beruf und gerissen. Seine Haltung und Kleidung zeugten davon, daß es ihm gut ging. Er sah entschieden eleganter aus als die Bürovorsteher anderer Rechtsanwälte. Abgesehen von seinem guten Gehalt, verdiente er auch noch viel Geld durch Rennwetten. Er ließ seine Anzüge bei demselben Schneider machen wie sein Chef, kaufte seine Hüte bei demselben Hutmacher und ließ sich bei dem gleichen Friseur rasieren. Mr. Pilcher nahm sich seinen Chef in jeder Weise zum Vorbild und hoffte, daß er eines schönen Tages auch in der Lage sein würde, sich einen so teuren und eleganten Wagen leisten zu können wie Mr. Rustem, und daß auch er nicht mit der Wimper zucken würde, wenn er als Rechtsanwalt aus der Liste gestrichen würde.

 

»Das war Pech, Pilcher. An Ihrer Stelle würde ich jetzt zu den Rechtsanwälten Doberry und Pank gehen«, sagte Rustem, als er hereinkam.

 

Er ließ sich in seinem Sessel nieder und sah die Korrespondenz durch, die auf ihn wartete.

 

Ein verächtliches Lächeln zeigte sich auf Pilchers Gesicht.

 

»Wenn es Ihnen recht ist, dann ist es auch mir recht. Ich mache mir sowieso nichts aus dem ganzen Kram.«

 

»So? Nun, das ist recht klug von Ihnen. An dem ganzen Rechtsanwaltsberuf ist auch nicht viel dran. Man ist nur ständig allen möglichen Angriffen ausgesetzt. – Rufen Sie den Friseur an und sagen Sie ihm, er soll eine Maniküre herschicken – die große Blondine. Wie heißt sie doch gleich … ach so, Elsie.«

 

»Die ist auf Urlaub, aber sie haben eine neue eingestellt – ich sage Ihnen, zum Anbeißen schön!«

 

Pilcher ging in den äußeren Raum, um zu telefonieren, während Mr. Rustem seine Briefe durchschaute und abwechselnd die Stirn runzelte und lächelte. Wenn er lächelte, sah er sehr gut aus – trotz seiner vierzig Jahre. Seine braune Haut war wunderbar zart und ohne Falten. Im allgemeinen nahm man an, daß er irgendwie orientalisches Blut in den Adern habe – ›Rustem‹ war sicher ein Name, der aus dem Orient stammte –, und auch manche Eigenschaften deuteten darauf hin, zum Beispiel sein großes Sprachentalent.

 

Man sagte von Rustem, daß er Zeugen in zehn verschiedenen Sprachen verhören könnte und daß er es verstände, in zwanzig verschiedenen Sprachen andere Leute zu erpressen.

 

In seinen jungen Jahren hatte er als Strafverteidiger einen großen Ruf. Vielen Schwindlern und Betrügern hatte er bei schweren Prozessen durchgeholfen, selbst wenn eine erdrückende Beweislast vorlag. Es gab kaum einen großen Betrüger in Europa, der sich nicht in der einen oder anderen Sache an ihn um Rat gewandt hatte.

 

Mr. Pilcher trat wieder ins Büro.

 

»Die junge Dame kommt sofort. Sie ist ein wenig zurückhaltender und feiner als die anderen, aber Ihnen wird sie wohl kaum zehn Minuten widerstehen können.«

 

Mr. Rustem lächelte über das Kompliment und wandte sich dann wieder seinen Briefen zu.

 

»Edna Gray«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf einen der Briefe. »Das ist doch die junge Dame, die das Vermögen des Alten erbte?«

 

Pilcher nickte.

 

»Sie war während Ihrer Abwesenheit einmal hier im Büro. Das wäre etwas für Sie, Mr. Rustem! Eine glänzende Erscheinung – und eine Dame! Außerdem jung. Sie kann meiner Ansicht nach höchstens zweiundzwanzig sein.«

 

Mr. Rustem hörte nur halb zu, denn Pilcher war immer begeistert; er hielt aber nicht viel von dem Geschmack des jungen Mannes.

 

»Ich möchte eigentlich die Verwaltung des Grayschen Vermögens loswerden. Die ganze Sache ist doch nur ein paar tausend Pfund wert. Ist sie die einzige Erbin?«

 

Pilcher bejahte. »Ich werde die Akte holen«, fügte er hinzu.

 

Gleich darauf kam er mit einer Mappe zurück, und Rustem sah den Inhalt durch.

 

»Ach so, dazu gehört ja auch die Gillywood-Farm. Das hatte ich ganz vergessen. Aber Goodie hat doch die Sache noch auf fünfzehn Jahre gepachtet. Longhall House – wo ist denn das?«

 

»Auch auf dem Landgut. Erinnern Sie sich nicht? Es ist ein Grundstück von etwa zehn Morgen. Sie versuchten doch immer, den alten Gray dazu zu bringen, daß er es auch verpachten sollte, aber der wollte nicht. Er sagte, das wäre sein Geburtshaus oder so etwas Ähnliches.«

 

Mr. Rustem nickte und strich nachdenklich seinen schwarzen Schnurrbart.

 

»Es wäre ja möglich, daß sie das Haus verpachtet. Mr. Goodie hat das letztemal auch darüber gesprochen, als ich ihn sah. Ich kann gut verstehen, daß er das Training seiner Pferde nicht beobachtet haben will.«

 

»Das große Gelände, wo er die Morgengaloppe abhält, gehört ihr auch. Es sind ungefähr tausend Morgen Heideland. Der alte Gray hat nur auf fünf Jahre verpachtet, und die Zeit ist nahezu abgelaufen.«

 

Mr. Rustem schloß das Aktenstück.

 

»Merkwürdig, daß ich das alles vergessen hatte, aber ich habe die Sache ja so lange allein verwaltet. Es kam mir gar nicht mehr in den Sinn, daß es sich um fremdes Eigentum handelt.«

 

Das war stets seine gewöhnliche Haltung und seine Einstellung all seinen Klienten gegenüber gewesen.

 

»Nein, die Verwaltung können wir nicht aus der Hand geben, das ist ausgeschlossen. – Die junge Dame soll also sehr schön sein?«

 

»Ich sagte Ihnen: bildhübsch! Sie ist nicht sehr groß, eher zierlich. Sie ist Engländerin, und obgleich sie lange Jahre in Südamerika gelebt hat, sieht sie nicht ein bißchen fremdländisch aus. Sie muß außerdem sehr reich sein. Das ist ja auch kein Wunder, wenn sie die Nichte und Erbin des alten Gray ist.«

 

Mr. Rustem interessierte sich nun doch mehr für Edna Gray. Über den verstorbenen Donald Gray wußte er sehr wenig. Der Mann hatte in Argentinien gelebt und große Viehfarmen besessen. Mr. Rustem hatte ihn niemals persönlich gesehen. Die englische Besitzung des alten Gray war früher immer von Rustems Partner verwaltet worden, als die Firma noch anders lautete und durchaus ehrlich war.

 

In diesem Augenblick meldete sich die Maniküre, und Pilcher verschwand aus dem Büro. Mr. Rustem dachte aber so intensiv an das Landgut von Miss Gray, daß er nicht den mindesten Versuch, machte, mit der hübschen jungen Dame anzubändeln.

 

*

 

»Wieso kommen Sie darauf, daß Miss Gray reich ist?« fragte er seinen Bürovorsteher, als sie wieder gegangen war.

 

Pilcher lächelte.

 

»Sie hat einen Rolls-Royce und wohnt am Berkeley Square. Außerdem ist sie sehr hochmütig. Sie verstehen schon, wie ich es meine. Ich versuchte, liebenswürdig zu ihr zu sein, fragte sie, wie es ihr in England gefiele und ob sie hierhergekommen sei, um sich zu verheiraten –«

 

Mr. Rustem warf ihm einen eisigen Blick zu.

 

»Ach, das haben Sie alles gefragt? Ich verstehe nicht, daß Sie sich so wenig benehmen können. Meinen Sie, das sei die richtige Art, vornehme Damen zu behandeln? Hoffentlich haben Sie sich nicht auch erkundigt, was sie am Abend vorhätte und ob Sie ihr eventuell Gesellschaft leisten dürften?«

 

Pilcher lächelte; er fühlte sich nicht beleidigt. Schon viele Leute hatten versucht, einmal ein ernstes Wort mit ihm zu reden, aber niemand hatte bisher rechten Erfolg gehabt.

 

»Mir sind alle Frauen gleichgültig«, erwiderte er halb verächtlich. »Aber, um bei der Wahrheit zu bleiben, ich habe ihr nichts weiter gesagt. Sie gehört zu den kalten Naturen. Nein, ich sagte nur ›Auf Wiedersehend‹ zu ihr, als sie ging.« »Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, daß Mr. Rustem eigens vom Kontinent zurückgekehrt sei, um sie zu sprechen. Und fragen Sie sie, wann es ihr paßt, zu einer Besprechung zu kommen.«

 

Pilcher entfernte sich und ließ Mr. Arthur Rustem nachdenklich zurück.

 

Aber dieser hatte nicht lange Zeit, über gewisse Dinge nachzugrübeln, denn Pilcher kam gleich darauf strahlend wieder.

 

»Ein glänzender Zufall!« flüsterte er. »Sie ist …«

 

Er wies mit dem Kopf nach dem äußeren Raum.

 

»Was – Miss Gray ist gekommen?«

 

Pilcher nickte.

 

»Sie hat einen alten Kerl bei sich – einen Ausländer.«

 

»Führen Sie die Dame herein.«

 

Pilcher ersuchte Miss Gray mit ausgesuchter Höflichkeit, näher zu treten.

 

Rüstern erhob sich sofort.

 

Diesmal hatte Pilcher die Wahrheit gesagt. Edna Gray war mehr als hübsch, sie war eine Schönheit. Selbst Rustem, der viele Frauen kennengelernt hatte, mußte das zugeben. Sie hatte eine wundervolle Figur, und die Sonne Südamerikas hatte ihrem Teint nicht im mindesten geschadet. Rustem interessierte sich nun in jeder Weise für diese Dame mit den ernsten Augen, die so selbstbewußt auftreten konnte.

 

Die elegante Erscheinung des Anwalts schien jedoch nicht den geringsten Eindruck auf sie zu machen.

 

»Sind Sie Mr. Rustem?«

 

Noch bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin Edna Gray, die Nichte von Donald Gray. Mein Bankier hat Ihnen von Buenos Aires aus geschrieben, und der Rechtsanwalt meines Onkels –«

 

Mr. Rustem schob ihr einen Sessel hin und warf Pilcher einen scharfen Blick zu, so daß der junge Mann aus dem Zimmer verschwand. Jetzt ließ auch er sich in seinem großen Schreibtischsessel nieder und sah seine Klientin erwartungsvoll an.

 

»Ja, ich entsinne mich«, sagte er zuvorkommend und höflich wie der beste Rechtsanwalt einer alten Familie. »Ihr Landbesitz in England ist nicht gerade sehr ausgedehnt, aber meiner Meinung nach doch ziemlich wertvoll. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Behalten Sie den Besitz – obgleich ich einige vorteilhafte Angebote erhalten habe, besonders für die Gillywood-Farm. Longhall House –«

 

»Ich bin gerade gekommen, um mit Ihnen über Longhall House zu sprechen. Ich habe mich nämlich entschlossen, dort zu wohnen. Soviel ich erfahren habe, ist ein Teil des Landbesitzes an Mr. Goodie verpachtet.«

 

Rustem runzelte die Stirn.

 

»Ja, das stimmt. Ich habe das veranlaßt. Mr. Goodie hat mich um die Erlaubnis gebeten, auch die Scheunen und Ställe benützen zu dürfen –«

 

»Das ist in Ordnung«, sagte sie und lächelte ihn an.

 

Er wunderte sich über ihren scharfen, etwas geschäftlichen Ton.

 

»Aber jetzt soll er die Ställe und Scheunen räumen, denn ich will das Grundstück wieder in Ordnung bringen. Wer hat die Schlüssel?«

 

»Mr. Goodie hat sie. Ich kann sie in ein paar Tagen von ihm bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß aber nicht, ob Ihnen Longhall House gefallen wird. Haben Sie es sich schon einmal angesehen?«

 

»Nein.«

 

»Das Haus ist ziemlich verfallen. Einen dauernden Aufenthalt dort halte ich nicht für sehr gesund. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – und ich spreche mehr als Rechtsanwalt denn als ihr Verwalter –«

 

»Aber Sie sind doch nicht mehr Rechtsanwalt, Mr. Rustem?« Es lag nichts Beleidigendes in der Frage. »Soviel ich hörte, haben Sie den Beruf aufgegeben?«

 

Er faßte sich sofort wieder und lächelte.

 

»Ja, ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit der Anwaltskammer, aber das war nicht von Bedeutung«, erwiderte er leichthin. »Wir haben noch recht altmodische Bestimmungen in England, und ohne es zu wissen oder zu wollen, verstößt man sehr leicht einmal dagegen.«

 

Er ärgerte sich selbst, daß er sich gewissermaßen bei ihr entschuldigte, und noch mehr ärgerte er sich darüber, daß er, der doch sonst immer Herr der Situation blieb, diese Schwäche gezeigt hatte. Obendrein ließ ihm ihr energisches Auftreten wenig Zeit, die Gedanken zu sammeln.

 

»Wo ist Mr. Goodie jetzt?«

 

»Soviel ich weiß, in Doncaster. Ich hätte ihn eigentlich gestern treffen sollen, aber meine Ankunft wurde durch Nebel verzögert. Doncaster ist eine Stadt in Nordengland –«

 

»Oh, ich weiß, wo Doncaster liegt.« Wieder spielte ein schnelles Lächeln um ihren Mund. »Nächstens ist doch ein Rennen in Doncaster – das berühmte Saint-Leger-Rennen. Es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich auch dort hinführe, um Mr. Goodie zu treffen. Wissen Sie, wo er dort wohnt?«

 

Mr. Rüstern konnte oder wollte ihr keine Antwort darauf geben. Er sagte, daß er nicht so eng mit dem Herrn befreundet sei, um dauernd dessen Aufenthalt zu kennen.

 

Edna Gray erhob sich unerwartet.

 

»Ich würde Sie gern nächste Woche sprechen, Mr. Rustem, und zwar wegen des Landsitzes. Vielleicht setzen Sie sich inzwischen schon mit meinem Rechtsanwalt in Verbindung.«

 

Sie öffnete ihre Handtasche, nahm eine Karte heraus und legte sie vor ihn auf den Tisch. Noch ehe Arthur Rustem sich von seiner Überraschung erholen konnte, hatte sie ihm kurz zugenickt und das Zimmer verlassen. Draußen erhob sich der ältere Herr, und sie ging mit ihm auf die Straße hinunter. Pilcher, der gerade eine Aufstellung kontrollierte, bemerkte überhaupt nicht, daß sie gegangen waren.

 

Edna Gray blieb vor dem Haus stehen und sah ihren Begleiter an. Er war in der Tat ziemlich alt und trug vollkommen schwarze Kleidung und einen großen, breitkrempigen schwarzen Hut. In Buenos Aires hätte man ihn sofort erkannt, aber in den Straßen Londons nahm er sich etwas sonderbar und fremdländisch aus.

 

»Er hat doch recht gehabt, Mr. Garcia.«

 

Er sah sie verständnislos an und begriff erst nach einer Weile, worauf sich diese Bemerkung bezog.

 

»Sind Sie Ihrer Sache auch sicher?« fragte er freundlich. »Meine liebe Edna, es ist nicht recht, wenn man sofort alle möglichen Schlußfolgerungen zieht. Dieser Herr, den wir auf dem Dampfer kennengelernt haben, war ein sehr angenehmer Gesellschafter, aber vielleicht hat er sich auch geirrt. Das ist doch möglich.«

 

»Ich habe einen sehr ungünstigen Eindruck von Mr. Rustem bekommen. Er ist kein angenehmer Charakter – aalglatt und gefährlich. Ich bin froh, daß er nicht mein Anwalt ist.«

 

Sie hatte ihrem Chauffeur einen Wink gegeben, und der elegante Rolls-Royce hielt geräuschlos an der Bordschwelle. Edna Gray stieg ein, und Mr. Garcia folgte ihr.

 

»Ich werde nach Berkshire fahren, um mir meinen Landsitz anzusehen«, sagte sie entschlossen. »Ich bin sicher, daß irgendein Schwindel dahintersteckt. Und dann fahre ich nach Doncaster. Kommen Sie mit?«

 

Er schüttelte den Kopf und zupfte nervös an seinem kleinen weißen Bart.

 

»Nein, mein Kind, ich muß nach Deutschland fahren, ich habe solche Sehnsucht, ›Vendina‹ wiederzusehen! – Vielleicht kann ich das Pferd zurückkaufen«, sagte er dann gut gelaunt. »Es war überhaupt nicht recht von mir, daß ich es verkaufte; aber damals haben mir alle zugeredet. Mein Trainer, mein Neffe und alle anderen sagten, daß ich unpraktisch sei und daß ich noch Bankrott machen würde. Die Summe, die man mir anbot, war auch so hoch, daß ich sie nicht gut zurückweisen konnte.«

 

Er seufzte schwer, denn er hatte ›Vendina‹ persönlich großgezogen, und nach Ansicht Alberto Garcias war dies das beste und wertvollste Pferd auf der ganzen Welt. Als er das Tier an ein deutsches Gestüt verkaufte, schwand damit die Hälfte seines Interesses am Leben.

 

»Man soll nicht sentimental werden, aber ich hätte das Pferd behalten und am Rennen teilnehmen lassen sollen.« Er sah traurig aus dem Fenster des Wagens. »Aber vielleicht kann ich die Stute zurückkaufen. Denken Sie, Edna, nicht ein einziges Mal haben sie mir etwas über das Pferd geschrieben. Ich weiß nicht, wie es ›Vendina‹ geht, ob sie die Reise gut überstanden hat, ob sie krank ist und ob sie erstaunt waren, als sie das schöne Tier sahen.«

 

Die Geschichte von ›Vendinas‹ Verkauf kannte Edna zur Genüge. Hätte ihr ein anderer dauernd davon erzählt, so würde sie sich gelangweilt haben, aber sie liebte diesen alten Mann, den besten Freund ihres verstorbenen Onkels.

 

»Haben Sie Mr. Luke wiedergesehen?« fragte er.

 

Sie schrak leicht zusammen, denn auch sie hatte im selben Augenblick an ihn gedacht.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen, seit wir das Schiff verließen. Wollen Sie mitfahren zu meiner Besitzung? Es ist nur eine Stunde. Vielleicht sind die Schlüssel dort.«

 

Er sah sie fast ängstlich an.

 

»Aber Edna, morgen ist doch auch noch ein Tag. Sie müssen mich nicht so zur Eile antreiben. Ich bin ein alter Mann und nicht an das furchtbare gehetzte Tempo der modernen Zeit gewöhnt. Vor allem muß ich nach Deutschland reisen …«

 

Schließlich kam es zu einem Kompromiß. Sie speisten erst im ›Carlton‹ zu Mittag und fuhren dann zusammen nach Berkshire.

 

*

 

Gillywood Cottage konnte man von der Straße aus nicht sehen, denn das Gelände war von einer hohen roten Ziegelmauer umgeben. Die Straße bog im rechten Winkel ab, und von da aus führte ein breiter Weg direkt zu dem schmucken Haus. Die Zufahrt zu dem Grundstück war durch ein hohes Eisentor versperrt.

 

Edna Gray stieg aus und drückte gegen das Tor; es öffnete sich, und sie fuhren den Weg entlang. Nach fünfzig Metern machte der Weg wieder eine Biegung, und wieder stand der Wagen vor einem eisernen Gittertor. Dahinter sah man in einiger Entfernung das Haus, das mit seinen weißen Mauern und grünen Fensterläden einen freundlichen Eindruck machte. Das Tor war fest verschlossen, und sie klingelte deshalb.

 

Während sie wartete, sah sie sich erstaunt um. Die hohe Mauer war oben mit Stacheldraht und spitzen Eisen armiert, und am Ende der Mauer begann ein Drahtzaun, so daß das Haus wie in einem großen Käfig stand. Schwere eiserne Stangen sicherten die Fenster von außen. Man hätte denken können, es wäre ein Gefängnis und nicht ein Landhaus.

 

Aber die Sauberkeit und Ordnung im Garten mußte Edna bewundern. Die Wege waren vollkommen frei von Unkraut; der Rasen war gut und kurz gehalten. Links sah sie die Ecke des neuen Stallgebäudes, weiter hinten lag das ausgedehnte Heideland. Hier mußten auch die Perrywig-Höhlen sein, von denen ihr Onkel Donald soviel erzählt hatte. Wahrscheinlich lagen sie hinter den Hügeln versteckt. Weiter hinten mußte ein Dorf liegen, denn sie sah eine Kirchturmspitze.

 

Ein schönes Stückchen Erde! Longhall House konnte sie im Augenblick nicht sehen; eine große Gruppe von Nußbäumen, die die südliche Grenze der Gillywood-Farm bildeten, verbargen es.

 

Während Edna nach dem Haus hinübersah, öffnete sich die vordere Tür. Ein großer Mann kam auf das Tor zu, aber er machte es nicht auf. Er hatte einen runden, dicken Schädel und ein abstoßend häßliches Gesicht.

 

»Was wollen Sie?«

 

Man merkte, daß Englisch nicht seine Muttersprache war.

 

»Ich bin Miss Gray und möchte Mr. Goodie sprechen. Er hat die Schlüssel von Longhall House.«

 

Er betrachtete sie mit feindseligen Blicken. Allem Anschein nach fiel es ihm schwer, ihren Worten zu folgen. Schließlich schüttelte er den Kopf.

 

»Mr. Goodie ist nicht zu Hause.« Er machte eine Pause, denn es kostete ihn einige Anstrengung, sich auf Ortsnamen zu besinnen. »Er ist in Don – cast – ro.«

 

»Ach, Sie meinen Doncaster?«

 

Er nickte. »Si – ja, Doncastro.«

 

Sein Gesicht kam ihr bekannt vor; sie mußte diese abstoßenden Züge schon einmal gesehen haben.

 

»Ich bin die Eigentümerin dieses Landsitzes«, sagte sie dann auf spanisch. »Das ist mein Haus.« Sie zeigte zu den Nußbäumen hinüber. »Senor Goodie hat die Schlüssel.«

 

Er sah sie ungewiß an, aber sie konnte nichts aus seinem Gesichtsausdruck entnehmen.

 

»Der Patron ist fort, Señorita. Er ist nach Doncastro, um Pferde zu kaufen. Ich bin nur sein Diener und kann Ihnen keine weitere Auskunft geben.«

 

Er wandte sich dem Haus zu und schloß hinter sich die Tür.

 

Sie sah ihm ärgerlich nach, dann ging sie zum Auto zurück.

 

»Wer war denn der Mann?« fragte Garcia ungewöhnlich erregt. »Den kenne ich doch! Das war Manuel Concepcione! Der gemeine Kerl war früher auf meiner Estanzia. – Sah er nicht wie ein Spanier aus?«

 

»Ja, er sprach sogar spanisch. Meiner Meinung nach ist er ein Halbblut.«

 

»Es kann sehr gut Manuel gewesen sein. Der ist nämlich verschwunden, das heißt, ich habe ihn fortgejagt. Er ist ein ganz gefährlicher Mensch – ein Dieb, ein Verbrecher! Ich möchte nur wissen, wie der hierherkommt!«

 

Auch sie hielt es für einen sonderbaren Zufall. Sie hatte mit. dem großen, schweren Wagen gewendet und fuhr nun nach Longhall. Die eisernen Tore waren ebenfalls verschlossen, aber hinter den Bäumen konnte sie das Haus erkennen. Es sah etwas vernachlässigt und verfallen aus; die mit Schotter bestreute Zufahrt war fast ganz mit Unkraut zugewachsen, und das Gras stand fast einen halben Meter hoch.

 

»Ich muß also doch nach Doncaster fahren, um mir die Schlüssel zu holen«, sagte sie schließlich.

 

Sie war sehr energisch und handelte dementsprechend. Bis zur äußersten Grenze von Europa wäre sie gefahren, nur um sich die Schlüssel zu beschaffen. Denn in diesem Haus hatten ihre Vorfahren gelebt.

 

Als sie nach der Hauptstraße zurückfuhr, rief Garcia plötzlich erstaunt aus: »Sehen Sie doch die schönen Tiere!«

 

Sie entdeckte eine ganze Anzahl Pferde, die einen Abhang hinuntergeführt wurden. Im ganzen konnte sie zwölf zählen. Sie wurden nach den Ställen geführt, die hinter Gillywood Cottage lagen.

 

»Ach, halten Sie doch bitte an!«

 

Sie brachte den Wagen zum Stehen, und Garcia stieg aus.

 

»Einfach prachtvoll! Vielleicht sind sie noch nicht gut trainiert, aber jedenfalls sind es echte Vollblüter!«

 

Sie war neben ihn getreten und beobachtete ebenfalls.

 

»Sie müssen Mr. Goodie gehören.«

 

Als das letzte Pferd hinter einem kleinen Gehölz verschwunden war, rührte sich Mr. Garcia immer noch nicht. Er starrte auf die Baumgruppen, die die weitere Aussicht hemmten.

 

»Es war ein Fehler, daß ich Ihnen überhaupt wieder Pferde gezeigt habe«, sagte sie lachend. »Sie müssen zu dem großen Rennen nach Doncaster mitkommen.«

 

Ohne etwas zu erwidern, ging er zum Wagen zurück. Auch während der Rückfahrt nach London sprach er kaum ein Wort.

 

Als sie ihn am nächsten Morgen in seinem Hotel aufsuchen wollte, um ihn nach Doncaster mitzunehmen, erfuhr sie, daß er noch am Abend abgereist war.

 

Kapitel 20

 

20

 

Edna war es, als ob sie aus einem bösen Traum erwachte. Sie versuchte, sich auf der Couch, auf der sie lag, aufzurichten. Alles drehte sich um sie, und sie fühlte sich merkwürdig schwach. Jemand rieb ihre Stirn und ihren Nacken mit Eau de Cologne ein.

 

»Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte Luke.

 

Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie, daß er auf einem Stuhl neben ihrem Lager saß. Er sah müde und übernächtigt aus. Das war auch nicht verwunderlich, denn er war im Augenblick höchster Not dazugekommen und hatte im Dunkeln den zweiten Panther durch zwei Schüsse niedergestreckt. Seine Aufregung war zu verzeihen; er hatte ja nicht gewußt, ob das Geschoß die Bestie oder ihr Opfer treffen würde. Und das Opfer konnte die Frau sein, die er über alles liebte. Es war zwei Uhr morgens, als sie wieder vollkommen zu sich kam und wissen wollte, wie sieh alles zugetragen hatte.

 

»Aber Sie müssen auch vollkommen ruhig bleiben.«

 

»Das verspreche ich Ihnen.«

 

»Also, ich kam hierher – ich hatte eine Ahnung, daß hier nicht alles in Ordnung war. Allerdings wußte ich nicht, daß ich einen Panther erschießen müßte und daß ich Sie hier in solcher Gefahr finden würde.«

 

Er versuchte gleichgültig zu sprechen, aber sie hörte doch am Ton seiner Stimme, daß er schreckliche Augenblicke durchlebt haben mußte.

 

»Es waren Goodies Panther, die er in dem unterirdischen Käfig eingesperrt hielt. Er hatte sie früher großgezogen, und er ließ sie während der Nacht frei auf dem Grundstück umherlaufen. Tagsüber waren sie in einem unterirdischen Gewölbe eingesperrt. Deshalb habe ich die Polizei gewarnt, das Grundstück zu betreten, bis ich die beiden Tiere erledigt hätte. Bei Tage ließen sie sich nicht sehen, aber nachts schweiften sie auf dem Gelände umher. Sie waren der beste Schutz gegen Einbrecher, den sich dieser Kerl nur wünschen konnte! Aber er hatte nicht vorausgesehen, welche Folgen das haben würde. Die Pferde konnten den Geruch der Raubtiere nicht vertragen. Deshalb mußte er sie in neue Ställe überführen.

 

Goodie bewahrte viele Geheimnisse in seinem Haus, darunter auch eine selbstverfaßte Lebensbeschreibung, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Er sagte zwar, daß nichts darin steht, woraus wir ihm einen Strick drehen könnten, aber das wird sich ja zeigen.«

 

Sie erzählte ihm dann alles, was sich in der Höhle zugetragen hatte, doch das hatte ihm Rustem schon alles mitgeteilt, bevor er ins Krankenhaus geschafft worden war.

 

»Ja, ich weiß, das ist auch der Ort, an dem sie den armen alten Garcia gefangenhielten. Er hat sein Pferd erkannt, als er damals mit Ihnen herkam, wollte sich aber noch genauer davon überzeugen. Er reiste deshalb hierher und logierte im ›Roten Löwen‹. Rustem hat ihn wahrscheinlich beobachten lassen, und als sie erfuhren, daß ihr Betrug herausgekommen war, berieten sie sich.

 

Sie entsinnen sich doch noch, daß Rustem damals so eilig auf den Rennplatz von Doncaster kam? Damals erzählte er den anderen, daß Garcia im Gasthaus wohne und sein früheres Pferd wiedererkannt habe. Er hat mir das alles eingestanden. In derselben Nacht gelang es ihnen, Garcia gefangenzusetzen und in die Höhle zu bringen. Allem Anschein nach hat er mehrmals den Versuch gemacht zu entkommen; deshalb legten sie ihn in Ketten.

 

Sie scheinen ihn, soweit sie konnten, gut behandelt zu haben. Sie können sich doch noch auf die Speisereste besinnen, die Sie vor dem Höhleneingang entdeckten? Garcia gelang es, sich von den Fesseln zu befreien, und er suchte einen Ausweg aus der Höhle. Wie durch ein Wunder fand er den Verbindungsgang, der zu der kleineren Höhle führt, zerbrach den hölzernen Zaun mit einem starken Felsblock und versteckte sich tagelang. Seine Flucht brachte die drei in furchtbare Aufregung, zumal er wußte, daß sie ›Vendina‹ unter falschem Namen für das Rennen gemeldet hatten. Wie es ihnen gelang, ihn wieder einzufangen, weiß ich nicht. Und dann brachten sie ihn in ein kleines Haus, das Goodie gehört.

 

Ich glaube nicht, daß sie ihm etwas zuleide getan haben; wahrscheinlich ist er durch die vielen Anstrengungen so schwach geworden, daß er starb. Vielleicht hat er auch die vielen Spritzen nicht vertragen, die sie ihm gaben, um ihn ruhig zu halten. Rustem sagte mir, daß sie die Absicht hatten, ihn aus England hinauszuschmuggeln.

 

Er war es auch, der durch seine Agenten die Telegramme an Sie senden ließ. Vor Ihnen hatten sie am meisten Angst.«

 

»Vor mir?« fragte sie erstaunt.

 

Er nickte.

 

»Zuerst wollten sie überhaupt verhindern, daß Sie hierherzogen, damit Sie nicht das Gelände übersehen konnten. Goodie fürchtete auch, daß Sie die Panther entdecken und sich bei der Polizei beschweren würden. Und schließlich waren Sie wichtig, weil sie die einzige Person in England waren, die genau über Garcia Bescheid wußte. Zu allem Überfluß tauchte dann noch Punch Markham auf.

 

Er muß das Pferd gesehen und dabei erkannt haben, daß es nicht das Tier war, das er früher an Goodie verkauft hatte. Er konnte es leicht identifizieren, denn ein Huf war kleiner als die anderen. In derselben Nacht, in der diese Entdeckung gemacht wurde, erschoß Goodie ›Weiße Lilie‹ und ließ sie begraben. Beim Cambridgeshire-Rennen wollten sie ihren letzten großen Triumph feiern. Ich habe herausbekommen, daß sie mindestens eine halbe Million Pfund dabei verdient hätten. Punch Markham stand ihnen im Weg, deshalb mußte er sterben. Es war eine Idee Dr. Blanters, den toten Garcia in meine Wohnung zu bringen. Rustem wußte nichts von der Sache, und Blanter fiel es ja leicht, in meine Wohnung einzudringen, weil er einen Schlüssel hatte. Der Nebel während jener Nacht begünstigte obendrein die Ausführung seines Planes. Während er in meiner Wohnung war, rief zufällig Punch an. Er hatte versprochen, mich um halb elf Uhr anzurufen. Dadurch erfuhr der Doktor, daß das Spiel verloren war. Punch hinderte ihn daran, ein großes Vermögen zu erwerben. Blanter verabredete sich mit ihm und bestellte ihn ans Embankment. Er wußte ja, daß abends der Nebel dort dichter ist als an irgendeiner anderen Stelle in London. Punch hatte ihn nicht von Ansehen gekannt und wurde dann an der verabredeten Stelle aus nächster Nähe erschossen.«

 

»Haben Sie Doktor Blanter auch schon verhaftet, oder ist er entkommen?«

 

»Er lebt nicht mehr. Der eine Panther hat ihn vollkommen zerfleischt.«

 

Kapitel 15

 

15

 

Diesem Rundschreiben war das Folgende vorausgegangen.

 

Dr. Blanter traf Mr. Trigger eines Tages in ihrem Stammlokal in der Wardour Street.

 

»Die Sache wird nicht so glatt gehen, Doktor. Wir können nicht jede Woche ein Pferd laufen lassen, auch nicht alle vierzehn Tage. Wenn wir nicht vorsichtig sind, geht das Ganze in die Binsen.«

 

»Aber wir müssen es jetzt machen«, brummte Blanter. »Ich muß Geld einnehmen, und ich habe auch alle Pferde, die dazu nötig sind.« Der kleine Mann schüttelte düster den Kopf.

 

»Es gibt nur einen Weg, viel Geld zu verdienen, Doktor, und dazu müssen wir vor allem Geduld haben. Ich verstehe ja nicht viel von den Rennen, aber soviel ich gehört habe, ruinieren sich viele andere Leute und haben große Verluste, weil sie nicht warten können. Es geht auch gar nicht, daß wir jede Woche ein Pferd laufen lassen; das macht viel zuviel Arbeit. Dann müßten meine Angestellten ja Tag und Nacht arbeiten.«

 

»Gut, dann lassen Sie doch die Mädels Tag und Nacht arbeiten«, erwiderte Blanter ärgerlich. »Und versuchen Sie ja nicht, mir Angst einzujagen, denn ich habe schon genug Schwierigkeiten, ohne daß Sie mir obendrein noch den Kopf vollmachen mit Ihren Sorgen.«

 

Mr. Trigger lächelte.

 

»Ich habe keine Sorgen. Ich habe bereits mehr Geld, als ich jemals in meinem Leben ausgeben kann. Sie können mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, was Sie auch unternehmen mögen. Ich habe Luke neulich gesagt –«

 

»Wie, der ist in Ihrem Büro gewesen?« fragte Blanter schnell. »Zum Teufel, warum haben Sie mir das nicht mitgeteilt?«

 

»Weil es gar keinen Wert hat, über dergleichen zu sprechen«, entgegnete Trigger kühl.

 

Er berichtete kurz von Lukes Besuch, und Blanter sah ihn argwöhnisch an.

 

»Ist sonst nichts geschehen? Sie verheimlichen mir doch nichts? Ich traue Ihnen nicht mehr ganz, Trigger.«

 

Der kleine Mann lächelte wieder.

 

»Sie vertrauen mir doch aber Ihr Geld an, Doktor. Nein, ich versuche nicht im mindesten, Sie hinters Licht zu führen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich mit ihm sprach. Ich habe ihm die ganze Einrichtung der Büros gezeigt, und wenn er es verlangen sollte, bin ich bereit, ihm die Geschäftsbücher vorzulegen. Nichts verstößt gegen irgendwelche Gesetze oder Vorschriften.«

 

Blanter sah ihn düster an.

 

»Sie glauben also, daß Sie nichts zu fürchten hätten, wenn es hart auf hart kommt? Nun, das können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Sie haben aus allem, was wir getan haben, pekuniären Vorteil gezogen. Wir haben Ihnen so weit vertraut, daß wir Ihnen unser Geld gegeben haben, und Sie haben uns Ihr Ehrenwort geben müssen, daß Sie uns ehrlich am Gewinn beteiligen. Wenn es irgendwie Unannehmlichkeiten geben sollte, Trigger, dann sind Sie auch daran beteiligt. Ich werde schon dafür sorgen! Setzen Sie sich also keine Flausen in den Kopf, daß Sie sicher wären und daß man Ihnen nichts vorwerfen könnte!«

 

Trigger sah ihn interessiert und mit großen Augen an, aber er sagte nichts. Er war sowohl über die Beleidigungen als auch über den Argwohn Blanters erhaben. Seine früheren Erfahrungen schienen ihn das gelehrt zu haben. Auf jeden Fall zeigte er nicht die geringste Feindseligkeit im Lauf der Unterhaltung.

 

Dann verhandelten die beiden rein geschäftlich miteinander.

 

»Ich benötige dreißigtausend Pfund. Lord Lethfields berühmtes Rennpferd steht zum Verkauf. Ich glaube, wir können einen guten Zug damit machen.«

 

Zu seinem größten Erstaunen schüttelte Trigger den Kopf.

 

»Also hören Sie, Doktor, wir haben unser Geschäft nach gewissen Prinzipien organisiert. Sie und die anderen heben so viel Geld ab, wie Sie brauchen, aber wir haben immer darauf gedrungen, daß vor Saisonende keine größeren Summen ausgezahlt werden sollen, sondern nur das, was im Augenblick benötigt wird.«

 

Der Doktor wurde rot vor Ärger.

 

»Wenn ich eine Regel aufstelle, dann kann ich sie doch schließlich auch umstoßen.«

 

»Sie haben die Regel nicht allein aufgestellt«, erwiderte Trigger gelassen. »Das haben wir alle zusammen getan. Und zwar haben wir diesen Beschluß auf Rustems Anregung gefaßt. Goodie hat auch zugestimmt. Wenn Sie wünschen, können wir eine Sitzung einberufen, aber ich zahle Ihnen auf keinen Fall dreißigtausend Pfund auf eigene Verantwortung aus, ganz gleich, ob Sie das Rennpferd kaufen wollen oder nicht.«

 

Trigger trank sein Glas aus und erhob sich.

 

»Ich habe jetzt zu arbeiten«, sagte er und verließ plötzlich das Lokal.

 

Das war das erste Anzeichen, daß Trigger aufsässig wurde, und der Doktor wurde plötzlich nüchtern. Er ging nach Hause und rief Mr. Rustem an.

 

Der Rechtsanwalt folgte seiner Aufforderung, zu ihm zu kommen, nur widerwillig. Er kam dann in schlechter Stimmung in sein Büro zurück.

 

Blanter war sehr großzügig in seinen Dispositionen. Rustem war vorsichtiger und wollte alles genau überlegt und ausgearbeitet wissen. Er hatte einen gewissen Sinn für drohende Gefahren und sah sie bereits, wenn die anderen sie noch nicht entdecken konnten. Der Doktor hatte ihm eine unmögliche, ja lächerliche Aufgabe übertragen. Rustem hatte ihm das zur Genüge gesagt, ohne daß Blanter zur Vernunft gekommen wäre.

 

Rustem ließ Pilcher gehen und meldete ein Telefongespräch nach Berlin an. Als der Mann, mit dem er sich in Verbindung setzen wollte, sich meldete, unterhielt er sich zwölf Minuten lang mit ihm in französischer Sprache. Als er das Telefongespräch beendet hatte, ging er nach Hause.

 

Um halb zwölf Uhr nachts rief er Edna Gray an, und trotz der späten Stunde meldete sie sich sofort. Ihre Stimme klang besorgt. Daraus schloß er, daß sie das Telegramm, das er ihr hatte senden lassen, erhalten haben mußte.

 

»Ist dort Miss Gray?« fragte er mit verstellter Stimme und sprach wie ein Deutscher, der das Englische nicht vollkommen beherrscht. »Ich bin Doktor Thaler. Eben aus Berlin eingetroffen. Haben Sie von meinem armen Freund Garcia gehört?«

 

»Ja, ich habe gerade ein Telegramm von ihm bekommen. Ist er sehr schwer krank?«

 

»Ich fürchte, es ist ein hoffnungsloser Fall.« Dann sagte er ein paar deutsche Worte, die Edna nicht verstand. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, aber leider muß ich heute nacht noch nach Irland weiterfahren. Es kommt ihm vor allem darauf an, daß niemand außer Ihnen etwas von seiner Erkrankung erfährt.«

 

»Besteht denn keine Hoffnung mehr, daß er wieder gesund wird?« fragte sie und unterdrückte nur mühsam ein Schluchzen.

 

»Leider nicht. Es kann noch eine Woche, vielleicht zwei Wochen dauern … Bei seinem Alter ist der Fall sehr bedenklich.«

 

»Ich fahre morgen früh mit dem ersten Zug«, erklärte sie.

 

Als Rustem den Hörer auflegte, war er sehr zufrieden mit sich und fuhr sofort zu Dr. Blanter, um ihm den Erfolg mitzuteilen. Als er aber vor dessen Haus ankam, hörte er, daß der Doktor in größter Eile aufs Land gefahren war.

 

*

 

Edna las das Telegramm noch einmal durch; es war tatsächlich in Berlin aufgegeben.

 

Bin schwer krank. Dr. Thaler, der eben nach London abgeflogen ist, wird Sie anrufen. Bitte kommen Sie so bald wie möglich zu mir, teilen Sie aber anderen Leuten nicht mit, daß Sie nach Deutschland reisen. Das vor allem ist wichtig. Ich muß Ihnen ein großes Geheimnis mitteilen. Alberto, Hotel Esplanade.

 

Sie war traurig und wußte nicht recht, was das alles zu bedeuten hatte. Seinem letzten Telegramm nach müßte er jetzt eigentlich in Kleinasien sein; andererseits war es auch möglich, daß er Istanbul überhaupt nicht verlassen hatte. Vielleicht war er krank geworden und hatte sich zur Behandlung nach Berlin begeben.

 

Sie traf alle Vorbereitungen, um am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen. Als sie ihren Chauffeur gerufen hatte, um ihm Instruktionen zu geben, änderte sie plötzlich ihre Absicht. Sie wollte noch am selben Abend nach London fahren, dann konnte sie in der Stadt schlafen und am nächsten Morgen die Reise antreten. Das war auf jeden Fall weniger anstrengend.

 

Ihr Mädchen packte schnell einen Koffer, während der Butler das Hotel anrief und ein Zimmer reservieren ließ.

 

Um ein Uhr in der Nacht fuhr sie fort. Kaum hatten sie fünfzehn Kilometer zurückgelegt, als der Chauffeur bremste. Die Nacht war dunkel, und es fiel ein leichter Sprühregen. Sehen konnte sie nichts, selbst als sie das Fenster herunterdrehte und hinausschaute.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie.

 

»Zwei Wagen versperren die Straße.«

 

Das rote Schlußlicht des einen Autos war zu erkennen; plötzlich wurden auch die Scheinwerfer des zweiten eingeschaltet, aber nur für einen kurzen Augenblick, dann wurde es wieder dunkel. Sie hörte das Geräusch des Motors, als der Wagen rückwärts fuhr. Undeutlich konnte sie ein kleines Haus hinter einer Hecke erkennen, und als der eine Wagen dicht neben dem anderen stand, erkannte sie oben auf der Böschung die Gestalten zweier Männer. Die beiden hatten ihr den Rücken zugekehrt und standen nicht, sondern knieten auf dem Boden.

 

»Es sieht fast so aus, als ob hier ein Unglück passiert wäre«, meinte der Chauffeur, »aber sie scheinen keine weitere Hilfe zu brauchen.«

 

Sie fuhren weiter, und bald dachte Edna nicht mehr an den Vorfall. An einer Tankstelle machten sie halt, und bei der Gelegenheit unterhielt sich der Chauffeur mit ihr über das Erlebnis auf der Straße.

 

»Einer der beiden Leute sah so aus, als ob es Goodie gewesen sein könnte. Er trägt immer einen grauen Regenmantel mit einer Kapuze. Ich habe nachher, als wir vorbeifuhren, auch nichts von einem Zusammenstoß oder einer Beschädigung entdecken können.«

 

Sie selbst hatte wenig gesehen; das plötzliche Aufflammen der Scheinwerfer an dem einen Wägen hatte sie geblendet.

 

Sie erreichten London in den frühen Morgenstunden, und Edna war froh, als sie sich zur Ruhe legen konnte. Der Nachtportier hatte bereits ihre Fahrkarte nach Berlin besorgt, und um halb elf Uhr war sie auf dem Victoria-Bahnhof.

 

»Wohin wollen Sie denn?«

 

Sie erkannte sofort Lukes Stimme und drehte sich um. Der Inspektor sah sie düster an. Er war sehr müde, denn er hatte in der vergangenen Nacht kaum drei Stunden Schlaf gehabt.

 

»Nach Berlin.«

 

»Das habe ich bereits an Ihren Kofferzetteln gesehen«, entgegnete er höflich. »Diese Reise kommt wohl sehr unerwartet?«

 

Sie zögerte. »Ja, ich handle manchmal etwas impulsiv. Ich dachte, das wäre Ihnen schon bekannt.«

 

»Hat Mr. Garcia Sie gebeten, zu ihm zu kommen?« fragte er.

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Ja.«

 

»Ist er krank? Ich meine, handelt es sich um eine ernste Angelegenheit?«

 

Sie seufzte ungeduldig.

 

»Sie fragen mich so dringend, daß ich tatsächlich in Versuchung komme, mein Wort zu brechen.«

 

»Ach, Sie sind gebeten worden, niemand etwas von Ihrer Abreise mitzuteilen?« fragte er scharf. »Ärgern Sie sich bitte nicht über mich, Miss Gray, aber ich bin sehr daran interessiert, alle Einzelheiten über Ihre Reise nach Deutschland zu erfahren.«

 

»Stehe ich denn unter Polizeiaufsicht?«

 

»Im Augenblick, ja«, entgegnete er brüsk.

 

Warum sie ihm das nicht übelnahm, konnte sie sich selbst nicht erklären.

 

»Gestern abend erhielt ich ein Telegramm von Mr. Garcia. Er ist sehr krank und bat mich, ihn aufzusuchen. Er wohnt im ›Hotel Esplanade‹. Der deutsche Arzt, der gestern abend nach London kam, rief mich an – «

 

»Wann war das?«

 

»Um halb zwölf.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Um die Zeit kommt kein Flugzeug vom Kontinent an. Sie treffen entweder am Morgen oder am Nachmittag ein. Können Sie mir noch sagen, was in dem Telegramm stand?«

 

Sie sagte es ihm so genau wie möglich.

 

Ein Gepäckträger wollte das Gepäck zum Zug bringen, aber Luke hielt ihn zurück. Dann führte er Edna außer Hörweite.

 

»Ich möchte Sie um einen sehr großen Gefallen bitten: Fahren Sie nicht nach Deutschland.«

 

»Warum denn nicht?«

 

»Ich habe im Augenblick nicht die nötige Zeit, Sie auf dieser Reise zu begleiten, und ich habe auch keinen anderen Beamten, den ich mitschicken könnte. Sagen Sie mir nur nicht, es sei nicht notwendig, Sie zu begleiten. Noch einmal, ich bitte Sie dringend und inständig, nicht dorthin zu fahren.«

 

»Aber Mr. Garcia – «

 

»Ich verspreche Ihnen, daß Mr. Garcia alle Pflege haben soll, die er braucht. Und wenn es tatsächlich notwendig sein sollte, können Sie heute abend immer noch reisen. Das macht nur ein paar Stunden Unterschied aus.«

 

Er sprach so dringend und ernst, daß sie es ihm nicht abschlagen konnte. Er fuhr mit ihr zum Hotel zurück und sagte ihr, wie er sich die ganze Sache erklärte. Als er ihr dann noch obendrein vorschlug, mit ihm nach Kempton zum Rennen zu fahren, schien das die Höhe der Unverschämtheit zu sein.

 

»Aus verschiedenen Gründen bitte ich Sie, mich dorthin zu begleiten«, unterbrach er ihre ablehnenden Worte. »Erstens einmal ist es nötig, daß Sie heute in meiner Gesellschaft gesehen werden, zweitens muß ich feststellen, ob zwei unserer Freunde zugegen sind, und drittens möchte ich gern diesen Tag mit Ihnen verbringen.«

 

Sie lächelte.

 

»Diese letzten Worte fasse ich lieber nicht als ein Kompliment auf.«

 

»Nein, tun Sie das besser nicht.«

 

Als er sie später im Hotel abholte, brachte er sein Gepäck mit. Er war in der besten Stimmung. Es hatte aufgehört zu regnen, und es war ein herrlicher Herbsttag geworden.

 

Edna vergaß sehr bald die Sorge, die sie sich um Garcia gemacht hatte. Sie hatte den alten Mann wirklich gern, aber seine Gesellschaft war doch etwas anderes als das Zusammensein mit Mr. Luke.

 

Sie hielten vor dem Eingang zur Rennbahn an, und er führte sie hinein. Bald darauf entdeckte er die Männer, die er suchte. Goodie und Dr. Blanter standen dicht zusammen und sprachen eifrig miteinander; Rustem hielt sich etwas abseits. Luke selbst stand an einem geschützten Platz, so daß sie ihn nicht sehen konnten, und beobachtete die drei durch den Feldstecher. Goodie und Blanter schienen eine sehr ernste Unterhaltung zu führen.

 

Rustem ging ruhelos auf und ab. Einmal steckte er die Hände in die Taschen, dann nahm er sie wieder heraus und legte sie auf den Rücken.

 

»Sie sind also schon gestern abend in die Stadt gekommen«, sagte Luke zu Edna. »Ich erfuhr es erst, als ich Sie heute früh in Longhall anrufen wollte.«

 

»Ich mache mir doch noch große Sorgen um Mr. Garcia. Wenn er tatsächlich meine Hilfe brauchen sollte – «

 

»Die braucht er nicht. Er ist auch gar nicht in Berlin. Ich habe mich an die dortige Polizei gewandt, und die hat bei dem präzisen Meldewesen einen genauen Überblick, welche Fremden sich in der Stadt aufhalten. Übrigens ist auch das Gepäck Mr. Garcias, das Sie nach der Friedrich-Wilhelm-Straße geschickt haben, von dort noch nicht abgeholt worden.«

 

»Aber Doktor Thaler hat mich doch angerufen!«

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht an die Echtheit dieses Doktor Thaler. Aus irgendeinem Grund wollte die Bande, daß Sie nach Berlin reisten, und ich kann vermuten, welcher Grund das war. Ich weiß nicht, ob Mr. Garcia krank ist oder nicht; ich habe auch keine Ahnung, ob er sich in Istanbul oder in Wien aufhält, aber auf keinen Fall ist er in Berlin.«

 

»Er war aber dort«, entgegnete sie hartnäckig.

 

»Das weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Punkte bei der Sache, die mich beunruhigen. – Sehen Sie, da kommt das erste Pferd auf die Bahn: Sie sollten eigentlich darauf setzen.«

 

Er zeigte auf einen großen Braunen, der ruhig hinter dem Mann herging, der ihn umherführte, und sah dann auf seine Rennkarte.

 

» ›Ginny‹ – wer mag das bloß sein? Ein Trainer, dessen Name ich bisher noch nie gehört habe.«

 

Ein Bekannter, der vorüberkam, klärte ihn auf.

 

Mr. Ginny war ein Ire. Es gab zwei Brüder dieses Namens; der eine hatte einen Rennstall in Irland, der andere einen im Norden Englands.

 

Luke sah sich das große Pferd etwas genauer an. Es war ein Dreijähriger, und Trigger führte seine Transaktionen meistens mit dreijährigen Pferden durch. Er ließ Edna allein und suchte sich neue Informationen zu verschaffen. Als die Jockeis aufsaßen, kam er zurück.

 

»Wollen Sie nicht wetten?« fragte er. »Wenn Sie keinen Buchmacher kennen, werde ich Sie mit einigen bekannt machen. Sie können im Augenblick viel Geld verdienen. Ich würde Ihnen nicht dazu raten, wenn ich nicht wüßte, daß Sie wohlhabend sind und auch einen eventuellen Verlust verschmerzen könnten.«

 

Auf seinen Rat hin setzte sie fünfhundert Pfund auf ›Rote Dahlie‹.

 

»Welches Pferd ist denn das?« fragte sie erstaunt.

 

Er erklärte ihr, daß es der Braune sei, den sie eben gesehen hatten.

 

»Ich bin ziemlich sicher, daß es sich hierbei um eine Transaktion handelt, und ich werde jetzt die Sache bekanntmachen; bin gespannt, was dann geschieht. Dieses Pferd ist noch nie vorher in einem Rennen gestartet; es ist ein kräftiger Dreijähriger. Niemand weiß, wo das Pferd eigentlich trainiert worden ist.«

 

Als die Jockeis zum Start ritten, sagte Luke verschiedenen Bekannten, daß es sich um eine Transaktion Triggers handele, und in zwei Minuten fielen die Quoten der Wetten von zehn zu eins auf sechs zu eins. Luke war hochbefriedigt, als er sah, daß Dr. Blanter auf den Rennplatz kam. Der Mann ließ sich nichts anmerken; allem Anschein nach machte die Bekanntgabe keinen Eindruck auf ihn. Er wandte sich an den nächsten Buchmacher, und Luke trat näher, um zu hören, was die beiden sprachen.

 

»Nun, was hat es eben gegeben?« fragte Blanter. »›Rote Dahlie‹ ist sehr gefallen?« Er machte nun doch ein bedrücktes Gesicht. »Stimmt es, daß die Wetten sechs zu eins stehen?« fragte er ungläubig.

 

Dann wandte er sich um und sah Luke hinter sich.

 

»Ist das Ihr Werk?« fragte er den Inspektor.

 

»Richtig geraten, Doktor. Aber ich sehe, daß Sie die Nerven verlieren. Zum erstenmal zeigen Sie, daß Sie an Triggers Transaktionen beteiligt sind. ›Rote Dahlie‹ ist also auch ein Pferd, das für Mr. Trigger läuft?«

 

Blanter zitterte vor Wut. Er war plötzlich so aufgeregt, daß er im Augenblick keine Worte fand. Mit einem Fluch drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

 

»Sie haben Glück«, sagte Luke, als er wieder neben Edna auf dem Rasen stand. »Sie haben noch eine Wette von zehn zu eins auf ein Pferd abschließen können, für das jetzt gleich überhaupt keine Wetten mehr angenommen werden.«

 

Luke war kein schlechter Prophet. Bevor die Pferde starteten, war es unmöglich, noch eine Wette auf ›Rote Dahlie‹ abzuschließen. Das Pferd kam nicht gerade sehr gut beim Start ab, aber der Jockei trieb es auch nicht zu scharf an. Schließlich lag es an dritter Stelle. Der Jockei ritt sehr vorsichtig; obwohl sich verschiedenemal eine Lücke zwischen den Pferden zeigte, nützte er die Gelegenheit nicht aus. Er kannte die Tricks bei den Rennen sehr genau und suchte seinen Platz an der Außenseite. Zwanzig Meter vor dem Ziel setzte er sich dann an die Spitze des Feldes und gewann das Rennen in großem Stil.

 

Nach den Regeln des Rennens mußte der Gewinner verauktioniert werden. Luke drängte sich auch sofort zu dem Verkaufsstand. Er erwartete, daß das Pferd einen hohen Preis bringen würde, und er war erstaunt, als er hörte, welche Summe gezahlt wurde. Erst als Goodie dem Auktionator zunickte, fiel der Hammer, und das Pferd wurde um zweitausendachthundert Pfund zugeschlagen.

 

»Nun, da habe ich ihm einmal gründlich Wasser in den Wein gegossen«, meinte Luke zu Edna. »Ich will vor allem die Bande in Schrecken setzen. Das Pferd ist wahrscheinlich fünftausend Pfund wert.«

 

Kapitel 16

 

16

 

Als sie die Rennbahn verließen, sähen sie den großen französischen Wagen des Doktors in entgegengesetzter Richtung abfahren. Blanter saß allein darin. Goodie hatte sich wahrscheinlich schon vorher entfernt, denn er hatte es sich zur Regel gemacht, zu gehen, wenn das Pferd, für das er sich interessierte, gelaufen war.

 

»Nun weiß ich nicht, was ich mit Ihnen machen soll, Miss Gray«, sagte Luke.

 

»Ich werde nach Longhall zurückkehren.«

 

Er war damit einverstanden.

 

»Es ist leichter, Sie dort zu bewachen als in London.«

 

Erstaunt sah sie ihn an.

 

»Warum ist es denn überhaupt notwendig, mich zu bewachen? Glauben Sie wirklich, daß mir etwas zustoßen könnte?«

 

Er rieb sich erregt das Kinn.

 

»Das weiß ich selbst nicht. Ich habe versucht, alle Geheimnisse dieses Falles aufzudecken, aber warum Trigger, der Doktor und die anderen sich soviel Mühe geben, Sie von Longhall wegzubringen, ist mir ein vollkommenes Geheimnis. Natürlich wünscht Goodie nicht, daß die Morgenarbeit seiner Pferde beobachtet wird. Ich denke aber außerdem immer an das Buch von Mr. Garcia. Dann an diese verschiedenen Telegramme – ich glaube nicht, daß sie echt sind.«

 

»Sie sind aber sehr argwöhnisch.«

 

Er nickte.

 

»Sie meinen, daß ich immer das Schlechteste denke?«

 

»Was ist denn das Schlechteste, das Sie von mir denken?« fragte sie herausfordernd.

 

Er schaute sie ruhig an.

 

»Das will ich Ihnen sagen. Sie machen sich Sorgen, daß ich eines Tages doch einmal die Grenze zwischen uns überschreiten und Ihnen eine Liebeserklärung machen könnte. Aber manchmal denken Sie auch, die Tatsache, daß Sie eine Viertelmillion besitzen, könnte mich davon abhalten.« Er sah, daß sie errötete, und lachte. »Ich hab’s getroffen, was?«

 

»Es tut mir leid, daß ich mit Ihnen zurückgefahren bin«, entgegnete sie trotzig. »Sie sind einfach unausstehlich.«

 

»Entweder müssen Sie mich in Ihrem Wagen mitnehmen, oder ich muß zu Fuß gehen«, sagte er gut gelaunt. Aber dann änderte er das Thema. »Ich bewache Sie, weil ich Sie für eine wichtige Persönlichkeit halte. Es ist der Versuch gemacht worden, Sie nach Deutschland zu schicken. Die Sache war sehr gut ausgedacht. Doktor Thaler, der Sie angerufen hat, ist vermutlich unser guter alter Freund Rustem – der spricht deutsch wie ein Deutscher. Ich habe telegrafisch veranlaßt, daß Nachforschungen wegen des in Berlin aufgegebenen Telegramms angestellt werden.«

 

Er war erstaunt, daß sie die polizeiliche Bewachung ohne weiteren Protest zuließ. Er selbst wäre auch niemals auf diesen Gedanken gekommen, wenn nicht das Telegramm aus Berlin eingetroffen wäre. Danach war es vollkommen klar, daß die Leute Miss Edna Gray aus dem Weg haben wollten. Vielleicht verfolgten sie noch einen Weiteren, verbrecherischen Plan, aber daran wagte er nicht zu denken.

 

Er verabschiedete sich von Edna bei ihrer Abfahrt vom Hotel und verabredete sich mit ihr zum Theaterbesuch am folgenden Mittwoch. Vorher hatte er dafür gesorgt, daß ihr ein Beamter von Scotland Yard als Schutz mitgegeben wurde.

 

*

 

Luke hatte am Abend noch sehr viel zu tun. Es gelang ihm der eindeutige Nachweis, daß ›Rote Dahlie‹ tatsächlich eine Transaktion Triggers gewesen war. Als er abends an Triggers Büro in der Lower Regent Street vorbeikam, sah er, daß alle Büroräume taghell erleuchtet waren.

 

Luke hatte den Eindruck, daß Trigger nicht vollständig von Goodie, Blanter und Rüstern abhängig war, sondern auch andere Verbindungen zur Rennwelt unterhielt. Der Mann war klug und weitsichtig und wußte, daß eines Tages Goodie und Blanter zur Rechenschaft gezogen werden würden. Deshalb sah er sich beizeiten nach Ersatz für sie um.

 

Luke machte die Runde in verschiedenen Nachtklubs, die nicht gerade erstklassig waren, und hörte verschiedenes. Zuletzt besuchte er ein Lokal in der Wardour Street, das er schon seit einiger Zeit beobachten ließ. Es war einer der exklusivsten kleinen Klubs, sehr gut und luxuriös ausgestattet.

 

Hier traf er in einem stillen Winkel Mr. Rustem. Die Augen des Mannes glänzten, seine Stimme war etwas heiser und seine Zunge schwer. Er saß allein an einem kleinen Tisch und trank Whisky. Das war außergewöhnlich, da man ihn sonst stets in Damenbegleitung sah. Beim Anblick des Inspektors sprang er erregt auf und sah diesen unsicher an.

 

»Was gibt es? Was wollen Sie von mir?« fragte er. Überreichlicher Whiskygenuß mochte die Ursache für Rustems ungewöhnliche Nervosität sein. Luke hatte ihn schon öfter unter ähnlichen Umständen getroffen, aber noch nie war der Mann so aufgeregt gewesen wie heute.

 

Der Inspektor zog einen Stuhl an den Tisch und ließ sich nieder. Die Umsitzenden beobachteten die beiden interessiert, denn Luke war in diesem Klub als Beamter von Scotland Yard bekannt, und viele Anwesende atmeten auf, als er sich Rüstern zuwandte.

 

»Was ist denn mit Ihnen? Sie sind ja so erregt? Hat Doktor Blanter Ihnen einen bösen Streich gespielt?«

 

Rustem zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Ausgerechnet Blanter!« sagte er ärgerlich. »Um Himmels willen, es gibt überhaupt niemand in der Welt, der mir einen bösen Streich spielen könnte. Sie in Scotland Yard glauben, Sie wüßten alles ganz genau, aber es gibt genug Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen Sie sich nichts träumen lassen. Es wagt so leicht keiner, mir einen bösen Streich zu spielen! Im Gegenteil, die kommen alle zu mir gekrochen und bitten mich händeringend, daß ich sie aus der Patsche ziehe.«

 

Luke war davon überzeugt, daß etwas geschehen war, das Rustem so erschüttert hatte.

 

»Wollen Sie auch etwas trinken, Luke? Ich sah Sie heute in Kempton – haben Sie eigentlich gewettet? Ach, ich vergaß, Sie wetten ja nie. Das ist wirklich ein nettes, hübsches Mädchen, das Sie bei sich hatten. Ich meine die Dame aus Argentinien – wie heißt sie doch gleich?«

 

»Was macht denn der Doktor?« fragte Luke, ohne darauf einzugehen.

 

»Der Doktor? – Ach der!« Mr. Rustem schnipste mit den Fingern. »Hinter dem alten Prahlhans steckt doch nichts.« Er lehnte sich vertraulich über den Tisch zu Luke hinüber. »Ich bin so gut wie fertig mit der ganzen Gesellschaft. Die Leute sind mir doch zu scharf. Verstehen Sie, was ich meine? Ich bin immer für Gesetz und Ordnung. – Aber damit will ich nicht sagen«, fügte er hastig hinzu, »daß sie die Gesetze übertreten. Nein, das nicht. Aber sie nehmen es nicht allzu genau, und da mache ich nicht mit.«

 

Luke winkte dem Kellner und ließ sich auch ein Getränk bringen. Rustem war im Augenblick in einer seltsamen Stimmung, die ausgenützt werden mußte.

 

»Triggers Transaktion ging heute nicht in Ordnung, was?«

 

Rustem zuckte die Schultern.

 

»Ach, das ist ein ganz gemeines Geschäft, den Leuten die Tips für die Rennen zu geben. Da kann man auch gleich Buchmacher werden. Dagegen habe ich mich immer gesträubt. Die Transaktion ist durchgeführt worden, nur die Quote war hundsmiserabel. Das haben wir Ihnen zu verdanken, Sie verdammter alter Teufel!«

 

Luke betrachtete die Flasche Whisky, die allem Anschein nach erst an diesem Abend angebrochen worden und nahezu leer war.

 

»Hören Sie«, sagte Rustem und sah sich vorsichtig um. »Sie wetten nicht, das ist dumm von Ihnen. ›Weiße Lilie‹ wird das Cambridgeshire-Rennen todsicher gewinnen. Das ist Geld, das Sie so nebenbei einstecken können. Ich wette ja persönlich im allgemeinen auch nicht, aber ich sage Ihnen, diesmal können Sie ein Vermögen dabei gewinnen. Aber, um Himmels willen, sagen Sie Blanter nicht, daß ich Ihnen das zugeflüstert habe.«

 

»Ist das die nächste Transaktion?«

 

»In gewisser Weise, ja. Es ist nicht eine gewöhnliche Sache, die wir schon lange im Programm hatten; es wurde unseren Kunden in aller Eile mitgeteilt. Man kann jetzt nur noch eine gute Quote bekommen, und es gehört eine Menge Geld dazu, um ein Pferd von dreiunddreißig zu eins auf zehn zu eins zu bringen. Augenblicklich können Sie noch bequem fünfundzwanzig zu eins bekommen und ein Vermögen machen. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen das gesagt habe.«

 

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah den Inspektor unsicher an. Dann zog er verlegen die Uhr.

 

»Viertel vor zwölf. Wissen Sie, wohin ich jetzt gehe?« fragte er mit Nachdruck. »In ein türkisches Bad. Und dort bleibe ich bis morgen früh sieben Uhr. Ich ärgere mich über diese modernen Folterkammern, aber ich muß hingehen. Morgen früh fahre ich dann nach Edinburgh, um eine Klientin zu besuchen. Sie ist eigentlich nicht direkt meine Klientin, sondern ein nettes, liebes Mädel, das in der Revue ›Rosy Rosy‹ auftritt. – Wollen Sie mir einen großen Gefallen tun? Kommen Sie mit und nehmen Sie auch ein Bad!«

 

Luke schüttelte lächelnd den Kopf, aber Rustem ließ sich nicht abweisen.

 

»Dann begleiten Sie mich wenigstens bis zum Eingang. Ich kann es Ihnen schließlich nicht verdenken, daß Sie die Prozedur nicht mitmachen wollen …«

 

Er erhob sich unsicher, legte eine Fünfpfundnote auf den Marmortisch und wartete nicht, daß der Kellner ihm herausgab. Rustem war sehr freigebig gegen Nachtklubkellner.

 

Luke erfüllte ihm tatsächlich seinen Wunsch – einmal, um ihn in gute Stimmung zu bringen, zweitens, um noch mehr von ihm zu erfahren. Sie fuhren also zu einem bekannten türkischen Bad und trennten sich vor der Tür. Rustem war ein wenig unsicher auf den Beinen, und es fiel ihm schwer, ohne die Hilfe seines Begleiters weiterzugehen. Aber so betrunken er auch war, er zog doch noch die Uhr und hielt sie dicht an die Augen.

 

»Es ist jetzt zwölf Minuten nach zwölf – vergessen Sie das nicht!«

 

Luke beobachtete ihn, bis er außer Sicht kam. Was war denn wieder im Gang? Warum hatte Rustem soviel Gewicht darauf gelegt, die Zeit festzustellen, als sie sich trennten? Warum besuchte er ein türkisches Bad, wenn er die Prozedur nicht leiden mochte? Allem Anschein nach, weil er sich für die Zukunft ein einwandfreies Alibi verschaffen wollte. Aus demselben Grund reiste er auch nach Edinburgh.

 

*

 

Als Rustem wieder nüchtern geworden war, führte er tatsächlich die Pläne aus, die er sich in der Nacht überlegt hatte. Um zehn Uhr verließ er das türkische Bad und nahm den ersten Zug nach Edinburgh. Luke hatte allerdings festgestellt, daß die Revue ›Rosy Rosy‹ nicht dort, sondern in Blackpool gespielt wurde.

 

Luke dachte an diesem Tag viel an Mr. Garcia und seine geliebte ›Vendina‹. Aus einem Rennbüro in der Pall Mall beschaffte er sich eine Liste aller wichtigen Rennställe in Deutschland und sandte gleichlautende Briefe an sie.

 

Es zeigte sich auch, daß die Vorsichtsmaßnahme, die er in bezug auf Edna getroffen hatte, sehr nützlich war. Der Kriminalbeamte, den er nach Longhall mitgeschickt hatte, rief ihn an und berichtete, daß in der Nähe von Longhall eine Menge fremder, verdächtiger Männer gesehen worden seien. Einen hatte er erkannt; es war ein auf Bewährung entlassener Strafgefangener, der sich bei der Polizei nicht mehr gemeldet hatte und infolgedessen gleich wieder verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde. Die anderen waren dem Beamten von Scotland Yard unbekannt. Zwei der Leute hatten sich im ›Roten Löwen‹ einquartiert.

 

Luke wurde unruhig. Es war allerdings nicht gesagt, daß die Fremden böse Absichten hatten; vielleicht wollten sie nur die Morgenarbeit von Goodies Pferden beobachten. Es wurde bereits über ›Weiße Lilie‹ gesprochen, und Rustem hatte recht, als er sagte, daß die Quote von dreiunddreißig auf fünfundzwanzig zu eins gefallen war. In solchen Fällen schickten Leute, die von den Rennwetten lebten, sachverständige Beobachter oder kamen selbst, um die Pferde beim Morgengalopp zu beobachten.

 

Luke besaß ein Haus in einer kleinen Straße in Knightsbridge. Dienstboten beschäftigte er nicht; er hatte das Haus so gut mit allen möglichen elektrischen Geräten ausgestattet, daß er sich selbst versorgen konnte. Er hatte auf die Innenausstattung mehr verwandt, als das ganze Haus kostete. Eine Aufwartefrau machte täglich sauber.

 

Als er an diesem Abend nach Hause kam, merkte er, daß etwas nicht in Ordnung war.

 

Er drückte auf den Lichtschalter in der Diele, aber es blieb dunkel. Beim Schein seiner Taschenlampe sah er, daß die Birne ausgeschraubt war. Die Türen standen offen, alle Schubladen seines Schreibtisches waren herausgezogen; der Inhalt lag auf dem Schreibtisch verstreut. Jeder Brief, jedes Notizbuch war durchgesehen und gelesen. Die Einbrecher mußten genau gewußt haben, wo er war, denn sie hatten in aller Ruhe gearbeitet. Hatte ihn Rustem mitgenommen, weil er von diesem Überfall wußte? Aber das erschien Luke doch unwahrscheinlich. Rustem konnte man viel zutrauen, aber ein Einbrecher war er nicht.

 

Er hielt den früheren Rechtsanwalt in diesem Fall für unschuldig. Es mußten übrigens ganz gerissene Leute gewesen sein, die in die Wohnung eingedrungen waren. Nicht die geringste Spur hatten sie hinterlassen, nicht einmal einen Fingerabdruck.

 

Luke ging von einem Raum zum anderen; Schlaf- und Arbeitszimmer waren systematisch durchsucht worden. Mehrere Wertsachen fehlten, Stücke im Wert von etwa zehn Pfund, die er in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte.

 

Luke ärgerte sich. Er sah darin Dr. Blanters Antwort darauf, daß er dessen Wohnung durchsucht hatte.

 

Er setzte sich an den Schreibtisch, sah die Dokumente durch und suchte sich zu vergegenwärtigen, was in den einzelnen Fächern gelegen hatte.

 

Mechanisch benachrichtigte er die Polizeistation, und als der Inspektor mit seinen Assistenten eintraf, durchsuchten sie die Wohnung eingehend.

 

»Sie haben gerade keine wertvollen Sachen gestohlen«, erklärte Luke, »und ich glaube auch nicht, daß sie irgendwelche wichtigen Unterlagen gefunden haben.«

 

Er räumte nur sein Schlafzimmer einigermaßen auf und gab sich nicht einmal die Mühe, das Fenster in Ordnung zu bringen, durch das sich die Einbrecher Eintritt in die Wohnung verschafft hatten. Dann legte er sich zur Ruhe.

 

Kapitel 1

 

1

 

Mr. Luke ging gemächlich die Lower Regent Street entlang und betrachtete den neuen, großen Gebäudeblock, der während seines Aufenthalts in Südamerika hier errichtet worden war.

 

Auf allen Fensterscheiben des ersten und zweiten Stocks waren zwei große lateinische T ineinander verschlungen, und um diese wand sich ein grünes Band, das unten durch einen Knoten zusammengehalten wurde.

 

Langsam ging ein Grinsen über seine Züge. Das sah alles so schön und solide aus; es wirkte nicht als aufdringliche Reklame. Die Leute hatten inzwischen etwas gelernt. Statt schreiender Plakate lenkten nur die beiden goldenen Buchstaben und das grüne Band die Aufmerksamkeit auf den allwissenden Joe Trigger und seine Transaktionen. Die Farbtöne waren vornehm auf die prachtvolle Marmorfassade abgestimmt. Dem Äußeren nach hätte das Geschäft ebensogut eine Bank oder eine Reederei sein können.

 

Luke nahm eine Tagessportzeitung aus der Tasche und schlug sie auf. Eine große Anzeige nahm die ganze vierte Seite ein:

 

 

 

 

 

Triggers Transaktionen Nr. 7 wird zwischen dem 1. und dem 15. September laufen.

 

 

Die eingeschriebenen Mitglieder werden gebeten, ihre Dispositionen vor dem 1. September zu treffen. Die Bücher werden am Nachmittag des 31. August geschlossen und nicht wieder geöffnet vor dem 16. September, mittags 12 Uhr.

 

Gentlemen von tadellosem Ruf, die die Mitgliedschaft zu erwerben wünschen, wollen sich bitte wenden an:

 

Das Sekretariat von Triggers Transaktionen, unter dem Zeichen des grünen Bandes, 704 Lower Regent Street, London W. 1

 

 

 

Luke las die fettgedruckten Worte, die einen so großen Raum einnahmen, faltete die Zeitung wieder zusammen, steckte sie ein und setzte seinen Weg fort. ›Gentlemen von tadellosem Ruf‹ – das war der Grundton und das Fundament von Mr. Triggers Firma. Es war bedeutend leichter, in einen exklusiven Klub im Westend einzutreten, als Mitglied der Triggerschen Organisation zu werden und eine Karteikarte in dessen Kartothek zu erhalten.

 

Luke gelangte zum Piccadilly Circus und überquerte den großen, belebten Platz. Als er auf der anderen Seite ankam, sah er auf die große Uhr eines Juwelierladens. Er war stolz darauf, daß er unbedingt pünktlich war – wohlverstanden mit einem Spielraum von fünf Minuten, der in der Riesenstadt London auch ganz erklärlich war.

 

Er ging zu einem Restaurant in der Wardour Street, das zur Abendzeit viele Gäste hatte, mittags aber verhältnismäßig wenig besucht war. Es gab nicht weniger als drei Eingänge zu diesem Lokal, und Mr. Luke kannte sie alle. Er wußte allerdings nicht genau, in welchen Raum er gehen sollte, aber ein Kellner, der ihn für den vierten erwarteten Teilnehmer einer kleineren Gesellschaft hielt, führte ihn zu der Tür des reservierten Zimmers.

 

Ohne anzuklopfen trat er ein. Die drei Leute, die um den runden Tisch saßen, sahen zu gleicher Zeit zu ihm auf. Der eine war ein Hüne mit rotem Gesicht, breiten Schultern und dichtem, grauem Haar. Der zweite war ebenso groß und machte einen düsteren Eindruck. Der dritte dagegen war klein und korpulent und hatte listige, schwarze Augen.

 

»Guten Tag, und Gott grüße diese edle Versammlung«, sagte Luke und schloß die Tür leise hinter sich. Dann setzte er sich auf den vierten, leeren Stuhl. »Rustem kann leider nicht kommen; sein Dampfer hat wegen des Nebels im Kanal einige Verspätung. Warum er sich nicht ausbooten ließ und auf dem Landweg nach London kam, kann ich allerdings nicht sagen. Wenn ich so viel Geld hätte wie er –«

 

»Zum Teufel, Luke, wer hat denn Sie eingeladen, hierherzukommen?« explodierte der große Mann mit dem roten Gesicht.

 

»Niemand, Doktor.«

 

Luke war hager und sonnengebräunt; er hatte eine schlanke, geschmeidige Gestalt und einen etwas melancholischen Gesichtsausdruck, aber lebhafte, freundliche Augen.

 

»Niemand hat mich eingeladen. – Hallo, Mr. Trigger«, wandte er sich an den kleinen, korpulenten Herrn, »wie geht es mit Ihren Transaktionen? Sie haben Ihr Büro ja in einen wunderbaren Palast verlegt. Beinahe wäre ich versucht gewesen, einzutreten und mich als Gentleman von tadellosem Ruf in Ihrem Sekretariat zu melden. Ich dachte, es könnte Ihnen angenehm sein, zu erfahren, daß ich aus dem goldenen Süden zurückgekehrt bin. Und was machen Sie, Goodie? Fahren Sie auch zum Rennen nach Doncaster? Sie machen ja ein Gesicht, als ob Sie von einer Beerdigung kämen.«

 

Der düstere Mr. Goodie sagte nichts, er sah nur von einem zum anderen, als ob er erwartete, daß seine Gefährten ihm zu Hilfe kämen.

 

»Dies ist ein Privatzimmer«, erklärte Dr. Blanter heftig und laut, während sein Gesicht dunkelrot wurde. »Ich will hier keine verdammten Polizeibeamten in meiner Nähe haben. Machen Sie, daß Sie hinauskommen!«

 

»Hier sitzen ein paar hübsche alte Sünder beisammen. Ich möchte nur wissen, wieviel Jähre Gefängnis oder Zuchthaus dabei herauskämen, wenn die Polizei alles wüßte«, erwiderte er freundlich. »Nun, was für eine wichtige Konferenz halten Sie hier ab? Sie setzen wohl das Rennprogramm von Doncaster auf? Welchen neuen Schwindel haben Sie vor, Trigger? Ich bin eben an Ihrem Büro in der Regent Street vorbeigekommen. Ein großartiges Geschäftszeichen haben Sie sich zugelegt – ein grünes Band und zwei goldene T. Tatsächlich eine gute Idee.«

 

Dr. Blanter, der seiner Haltung und seinem Auftreten nach der Leiter der kleinen Versammlung war, unterdrückte seinen Ärger.

 

»Nun hören Sie mal zu, Sergeant –«

 

»Inspektor, bitte«, unterbrach ihn Luke. »Ich bin inzwischen wegen außerordentlicher Leistungen befördert worden.«

 

»Entschuldigen Sie, Inspektor.« Dr. Blanter schluckte. »Ich will hier kein Aufsehen erregen, und es soll auch keinen Spektakel geben. Sie haben aber kein Recht, bei uns hier einzudringen. Ich möchte nichts mit Ihnen zu tun haben – Polizeibeamte sind ja gut und schön, wenn sie sich in ihren Grenzen halten –«

 

»Sie haben kein Heim, niemand mag sie leiden, und alle Leute wenden sich von ihnen ab«, entgegnete Mr. Luke traurig. »Waren Sie auf Urlaub?« fragte Mr. Trigger, um die Unterhaltung ein wenig liebenswürdiger zu gestalten.

 

»Ja, in Südamerika. Wirklich ein schönes Land, dort sollten Sie einmal hinfahren, Doktor.«

 

»Kann alles noch kommen«, erwiderte Dr. Blanter und zwang sich zu einem Lächeln. »Aber ich habe zuviel zu tun und kann mir solche Ferienreisen nicht leisten. Ich versuche meinen Lebensunterhalt schlecht und recht auf der Rennbahn zu verdienen, ebenso meine Freunde –«

 

»Wenn ich wollte, könnte ich auch von den Rennen leben«, warf Luke ein. »Ich könnte ja von Ihnen im Jahr eine Zahlung von tausend Pfund erhalten, wenn ich mich verpflichtete, ein Auge zuzudrücken.«

 

»Haben Sie beweisen können, daß ich oder einer von uns je in eine dunkle Affäre verwickelt war?« fragte der Doktor jetzt zornig. »Habe ich jemals ein Verbrechen begangen? Also, Luke, allmählich wird es mir aber zuviel, daß Sie hierherkommen und uns nicht nur stören, sondern obendrein noch in der gröbsten Weise beleidigen. Morgen werde ich mich an Ihre Vorgesetzten wenden!«

 

»Was haben Sie denn ausgefressen, daß Sie der Polizei beichten wollen? Wenn Sie in Schwierigkeiten geraten sollten, brauchen Sie nur meinen Namen nennen, dann ist alles in Ordnung.«

 

Dr. Blanter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

 

»Was wollen Sie denn eigentlich?« fragte er resigniert.

 

Luke schüttelte den Kopf.

 

»Nichts Besonderes. Ich spiele nur zu gern den schwarzen Mann, vor dem sich die unartigen Kinder fürchten. Auf diese Weise führe ich manches schwarze Schaf wieder auf den Pfad der Tugend zurück. Ich dachte, Sie würden sich dafür interessieren, daß ich in London bin und meine Tätigkeit hier wieder aufgenommen habe. – Welches Pferd wird denn das Saint-Leger-Rennen gewinnen, Mr. Trigger?«

 

Der dicke Mann zwang sich zu einem Lächeln. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, aber er wischte sie nicht ab, weil er seine Verwirrung nicht zugeben wollte. Luke hatte ihn jedoch längst durchschaut.

 

»›Almond‹ hat meiner Meinung nach große Chancen«, entgegnete er leichthin. »In Beckhampton hält man sie für sehr aussichtsreich, und die Leute müssen es am besten wissen. Ich werde nicht mitwetten.«

 

»Das ist auch sehr klug von Ihnen. Das viele Wetten bei den Rennen ist tatsächlich ein Laster und ein Fluch. Dadurch sind schön viele Existenzen zugrunde gerichtet worden.«

 

Luke erhob sich von seinem Stuhl. »Was ist denn Transaktion Nummer 7? Ist das vielleicht ein Pferd von Goodie?«

 

Der düstere Mann schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Mr. Luke, wenigstens glaube ich es nicht. Mr. Trigger ist ein zu guter Freund von mir, als daß er Informationen geschäftlich ausnützte, die ich ihm unter der Hand geben kann.«

 

»Ach so, er ist ja auch ein Gentleman von tadellosem Ruf.«

 

Luke lächelte und schlenderte zur Tür. Dort blieb er noch einen Augenblick stehen.

 

»Ich bin also wieder da. Weiter wollte ich nichts sagen.«

 

Damit ging er hinaus und schloß die Tür geräuschlos.

 

Die drei schwiegen eine Weile.

 

»Trigger, sehen Sie doch einmal draußen nach«, bat der Doktor schließlich.

 

Der dicke Mann schaute sich auf dem Korridor um, ob Luke vielleicht stehengeblieben war und lauschte.

 

»Dort geht er eben über die Straße«, rief Mr. Goodie, der aus dem Fenster sah und die Straße unten beobachtete.

 

»Also, schließen Sie die Tür wieder und setzen Sie sich. Ich möchte nur wissen, warum er hergekommen ist!« Blanter war immer noch in großer Aufregung. »Der kann einen tatsächlich krank machen!«

 

»Rustem ist also noch nicht zurückgekommen?« fragte Trigger. »Sein Bürovorsteher sagte, daß er ihn heute morgen erwartete. Nur schade, daß wir ihn nicht vorher angerufen haben.«

 

Dr. Blanter machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir wollen jetzt endlich zur Sache kommen. Also, wie steht es mit dem Pferd, Goodie?«

 

Die drei hatten dann noch eine ernste, lange Unterhaltung, bei der sie nicht mehr gestört wurden.

 

Kapitel 10

 

10

 

Dr. Blanter begab sich nach Scotland Yard, um sich zu beschweren, erreichte aber nur, daß Luke ihm unter vier Augen eindeutig die Meinung sagte. Der Inspektor wußte, daß dieser Mann vor nichts zurückschreckte und in mehrere häßliche Verbrechen verwickelt war.

 

Luke erinnerte sich dann plötzlich an etwas, das ihm ein Kollege am Morgen gegeben hatte. Er steckte die Hand in die Westentasche, nahm ein kleines Stück weiße Kreide heraus und legte es auf den Tisch.

 

»Hier haben Sie ein kleines Andenken, ein Maskottchen, wenn Sie wollen.«

 

Blanter sah düster darauf.

 

»Es ist das Stück Kreide, das der Henker heute morgen bei der Hinrichtung des Highbury-Mörders gebraucht hat. Der Henker macht einen Strich, wo der Verurteilte die Füße hinstellen muß, bevor sich der Boden in die Tiefe senkt. Behalten Sie es, vielleicht bringt es Ihnen Glück. Wir finden schon noch ein anderes Stück Kreide, wenn die Reihe an Sie kommt.«

 

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Blanter starrte auf das kleine weiße Ding, und sein Gesicht zuckte vor Furcht und Schrecken. Er erhob sich und schob den Stuhl zurück.

 

»Nehmen Sie es nur ruhig. Ich würde es auch Goodie zeigen, der ist ein genauso gemeiner Schuft wie Sie.« Luke ging zur Tür und öffnete sie. »So, und jetzt machen Sie, daß Sie hinauskommen!«

 

Dr. Blanter sann auf Rache und überlegte, wie er Luke am schwersten treffen könnte. Auch dieser Mann mußte irgendwie verwundbar sein. Mehrfach hatte der Arzt von der Freundschaft des Inspektors mit Miss Gray gehört, und er beschloß, sich einmal genauer zu erkundigen.

 

Kapitel 11

 

11

 

Tommy Dix, ein Veteran unter den Jockeis, war stolz auf seine lange Verbindung mit dem Turf und lebte das typische Leben eines Rennreiters. Er kannte auch Mr. Goodie, und eines Sonntagmorgens kam er nach Berkshire, um ›Weiße Lilie‹ bei der Morgenarbeit zu prüfen. Mr. Goodie war bei der Gelegenheit zugegen. ›Weiße Lilie‹ gewann nur um eine Halslänge vor einem anderen, ziemlich gewöhnlichen Gaul, und als Tommy aus dem Sattel stieg, kam Mr. Goodie zu ihm.

 

»Nun, was meinen Sie? Ist das Pferd gut genug, daß es das Rennen in Cambridgeshire gewinnen kann?«

 

Tommy sah auf ›Weiße Lilie‹, dann auf Mr. Goodie.

 

»Hat der Sattel das Normalgewicht?«

 

Goodie nickte.

 

»Dann haben Sie keine Aussichten«, erklärte Tommy.

 

Er war ein wenig erstaunt. Auf dem Weg zum Start hatte er den Sattel untersucht, aber kein Bleigewicht entdecken können. Es kam häufig vor, daß Trainer die Jockeis nicht ins Vertrauen zogen, und da Tommy Dix den Ruf Goodies kannte, hatte er erwartet, daß Goodie den Sattel schwerer gemacht hätte. Seiner Meinung nach hatte das Pferd keine Aussicht zu gewinnen.

 

Dem Jockei war es ganz gleich, wer das Pferd beim Cambridgeshire-Rennen reiten sollte. Es war nun einmal klar, daß von den vielen Pferden, die bei einem solchen Rennen starteten, nur eins gewinnen konnte. Er machte einen schwachen Versuch, aus dem Vertrag auszusteigen, aber Mr. Goodie erklärte ihm sofort, daß er ihn nicht aus dem Kontrakt entlassen würde. Und die oberste Rennbehörde war in diesem Punkt auch sehr scharf. Wenn ein Jockei einen Vertrag abschloß, mußte er ihn unter allen Umständen einhalten, sonst konnte es ihn die Lizenz kosten.

 

Mr. Goodie wartete, bis der Jockei in seinem Auto fortgefahren war und man in der Ferne nur noch eine Staubwolke sah. Dann gab er Jose den Befehl, den Sattel abzunehmen. Jose war ein starker Mann und konnte infolgedessen leicht den Sattel heben, der auf Anordnung Goodies besonders hergestellt worden war. In den Sitz war eine schwere Bleiplatte eingearbeitet. ›Weiße Lilie‹ hatte bei dem Galopp tatsächlich einen zu schweren Sattel getragen.

 

Tommy fuhr nach London zurück, und als er durch die Vorstädte kam, hielt er vor dem Hause eines bekannten Buchmachers. Es war eine bedauernswerte Tatsache, daß Jockeis und Buchmacher häufig zusammenkamen.

 

»Nun, wie ist ›Weiße Lilie‹ gelaufen?«

 

»Auf das Pferd können Sie ruhig Wetten annehmen, dabei verlieren Sie nichts. Der Gaul gewinnt das Cambridgeshire-Rennen nicht.«

 

Es war Tommys größter Fehler, daß er den Mund nicht halten konnte. In wenigen Tagen wußten alle Leute in Newmarket, die es wissen wollten, ebenso die meisten Berichterstatter in der Fleet Street in London, daß ›Weiße Lilie‹ für einen Sieg beim Cambridgeshire-Rennen nicht in Betracht kam.

 

›Ich hoffe, daß sie noch bedeutend aufholt‹, schrieb Mr. Goodie am nächsten Tag an Tommy Dix. ›Sie wird immer besser, und ich hoffe, daß sie schnelle Fortschritte macht.‹

 

Tommy las den Brief und machte eine unfreundliche Bemerkung.

 

*

 

Auch Edna Gray hatte den Galopp am Sonntag morgen gesehen. Sie hatte einen großen Ritt über die Wiesen und Felder gemacht und war gerade zu dem Trainingsfeld gekommen, als Tommy Dix startete. Sie verstand nicht viel von Rennen, aber sie war doch der Ansicht, daß der Mann im Sattel außerordentlich viel konnte.

 

Schließlich ritt sie weiter und wählte zum Abstieg einen steilen, ziemlich gefährlichen Pfad. Sie kam am Eingang der Perrywig-Höhlen vorbei, ließ ihr Pferd halten und schaute auf die große, düstere Öffnung. Über das schwere Tor hinweg suchte sie mit ihren Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, aber sie sah nichts als eine Felswand, die die Höhle in verhältnismäßig kurzer Entfernung abschloß. Sie hatte gehört, daß man durch ein Labyrinth von Gängen meilenweit unter der Erde vordringen könne und die Hügel vollkommen unterminiert seien.

 

Sie trieb das Pferd ein paar Schritte vor, dann hielt sie wieder. Es war deutlich zu sehen, daß hier ein Picknick stattgefunden hatte; die Reste der Mahlzeit – Apfelsinenschalen, Hühnerknochen und ein paar Stück Brot – waren hinter einen Strauch geworfen worden.

 

Luke hatte versprochen, am Sonntag zum Mittagessen zu erscheinen, und als sie nach Hause kam, war sie angenehm überrascht, ihn in einem großen Korbstuhl in der Sonne sitzend bereits anzutreffen.

 

»Sie haben also den Geist auch gehört?« begrüßte er sie und machte nicht einmal Anstalten, sich zu erheben. Er hatte wirklich sehr schlechte Manieren. »Sind Sie jetzt endlich so vernünftig geworden, daß Sie mit mir in die Stadt kommen?«

 

Er erhob sich endlich, als sie näher kam.

 

»Die Ratten sind, wie ich gehört habe, vollkommen verschwunden. Rustem und Goodie haben viel Zeit und Geld nutzlos verschwendet. – Begleiten Sie mich in die Stadt?«

 

»Warum denn?«

 

»Es ist doch ein furchtbar einsames Leben hier für eine hübsche junge Dame. Übrigens – mir ist etwas sehr Dummes passiert.«

 

Er folgte ihr in die Halle und ließ sich dazu herbei, ein Kissen für sie in einen Sessel zu legen.

 

»Es ist ja erstaunlich, daß Sie solche Geständnisse machen. Was haben Sie denn getan?«

 

»Irgendein Unbekannter hat mich gestern angeläutet und gefragt, ob ich Sie kenne. Als ich das bestätigte, sagte er eine Gemeinheit über Sie. Es war natürlich eine grobe Erfindung, die in ganz bestimmter Absicht ausgesprochen wurde, und ich bin auch sofort darauf hereingefallen und habe mich furchtbar aufgeregt. Weiter wollte der Mann nichts. Er legte schon auf, als ich merkte, wie dumm ich mich benommen hatte.«

 

Sie sah ihn groß an.

 

»Das verstehe ich nicht.«

 

»Ist es nicht schlimm, wenn man sich durch einen so einfachen Trick fangen läßt? Ich muß sagen, daß ich mich schäme.«

 

»Aber was bedeutet das alles? Welche Gemeinheit hat er gesagt?«

 

»Darauf kommt es im Augenblick nicht an. Der Mann wollte vor allem wissen, ob ich mich genügend für Sie interessiere, um bei der ersten gemeinen Bemerkung über Sie in Wut zu geraten und er hat tatsächlich sein Ziel erreicht.«

 

Bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter.

 

»Wenn ich sage, daß ich mich genügend für Sie interessiere, dann soll das nicht heißen, daß ich mich hoffnungslos in Sie verliebt habe. Es bedeutet nur, daß ich Sie gern habe. Zwischen diesen beiden Zuständen besteht ein großer Unterschied.«

 

»Das hoffe ich auch«, entgegnete sie kühl.

 

»Wenn dieser Mann zum Beispiel glaubt, er könne mich dadurch treffen, daß er Ihnen ein Leid antut, dann ist das für mich sehr wichtig. Ich muß also dafür sorgen, daß er nicht an Sie herankommt. Doktor Blanter ist ein Mann, mit dem Sie nicht zusammentreffen dürfen.«

 

Sie wandte sich schnell zu ihm und verbarg ihren Ärger nicht.

 

»Sie hätten das vielleicht ein wenig taktvoller sagen können, Mr. Luke«, erwiderte sie ungnädig. »Er mag ein unangenehmer Mensch sein, aber ich habe Ihnen doch nicht das Recht eingeräumt, zu bestimmen, mit wem ich zusammentreffen soll oder nicht. Es tut mir leid, daß Sie sich eine ganz falsche Stellung anmaßen. Sie sind zuvorkommend und liebenswürdig zu mir gewesen, das will ich gern anerkennen, aber ich kann nicht dulden, daß Sie so tun, als ob Sie für mich verantwortlich wären. Das ist nicht nur peinlich, sondern geradezu empörend.«

 

Er antwortete nicht gleich, sah sie aber sehr ernst an.

 

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er nach einem langen Schweigen. »Sie müssen schon entschuldigen, daß meine Manieren nicht gerade die besten sind. Es tut mir leid.«

 

Sie bereute sofort, daß sie so vorschnell gewesen war, aber sie nahm sich zusammen und ließ sich nichts von ihrer Reue anmerken. Sie hatte einen kleinen Sieg über ihn davongetragen, allerdings nicht ohne Opfer. In gewisser Weise hatte sich seine Haltung ihr gegenüber vollkommen geändert.

 

Während des Essens gab sie sich Mühe, wieder das alte vertrauliche Verhältnis herbeizuführen, das jedenfalls weit erträglicher war als dieses absolut korrekte und respektvolle Benehmen, das er jetzt zeigte. Schließlich machte sie ihm Vorwürfe, daß er in schlechter Stimmung sei.

 

Er lachte.

 

»Hoffentlich haben Sie unrecht. Aber in den Männern kennt man sich nie aus; sie sind eitle Geschöpfe, die sehr leicht etwas übelnehmen. – Haben Sie noch etwas von den großen schwarzen Hunden gesehen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Sehen Sie sich die Tiere genauer an, wenn Sie wieder Gelegenheit dazu haben. Fürchten Sie sich nicht vor ihnen?«

 

»Vor Hunden fürchte ich mich nicht.«

 

Er blieb nach Tisch noch eine Stunde, und sie hätte nie geglaubt, daß er ein so guter Gesellschafter sein könnte. Als er gegangen war, blieb sie mit einem Gefühl der Verlassenheit zurück. Sie war mit sich, mit ihm, mit ihrem Haus und ihrem ganzen Leben unzufrieden, und sie fürchtete sich fast vor dem einsamen Abend, der ihr bevorstand.

 

Sie klingelte ihrer Zofe.

 

»Packen Sie meinen Koffer und rufen Sie das Carlton-Hotel an, daß Zimmer für mich reserviert werden. Dann sagen Sie dem Chauffeur, daß ich heute abend noch nach London fahren will.«

 

Zum erstenmal seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft teilte sie Luke nicht mit, daß sie in die Stadt kam.

 

London ist an einem regnerischen Sonntagabend eine langweilige Stadt, selbst wenn man in einem so eleganten Hotel wohnt. Nicht einmal ins Theater konnte sie gehen, und sie legte sich deshalb frühzeitig zur Ruhe, enttäuscht von sich und der ganzen Welt. Am liebsten hätte sie weinen mögen.

 

Kapitel 12

 

12

 

Luke arbeitete am nächsten Morgen in seinem Büro, als sein Assistent ihm meldete, daß ihn ein Mann sprechen wolle.

 

»Er sieht aus wie jemand, der Ihr Mitleid erregen will.«

 

»Bringen Sie ihn herein.«

 

Er wandte sich in seinem Schreibtischsessel um und betrachtete den heruntergekommenen kleinen Mann, der an der Tür stand und seine schmutzige, alte Mütze zwischen den Fingern drehte.

 

»Hallo, Punch! Treten Sie näher.«

 

Er nickte seinem Assistenten zu, daß er gehen solle.

 

Punch sah noch etwas abgerissener aus als bei ihrer letzten Begegnung in Doncaster. Allem Anschein nach hatte er in der letzten Zeit in seinen Kleidern geschlafen.

 

»Mr. Luke, ich bin von Newbury zu Fuß hergekommen. Ich erhielt dort keine Eintrittskarte. Wenn ich auf dem Rennen gewesen wäre und nur ein paar Shilling hätte leihen können, hätte ich gewettet und gewonnen. Der alte Goodie war auch dort. Als ich ihn um etwas Geld bat, schimpfte er furchtbar und sagte, ich solle mich zum Teufel scheren. Trigger hätte mir das Geld gegeben, der ist kein schlechter Kerl. Ich habe ihm schon ein paarmal einen Dienst erwiesen, als er noch nicht so berühmt und reich war, und er hat mich immer gut bezahlt.«

 

»Also, Punch, Sie sind doch sicher nicht hergekommen, um mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Was wollen Sie?«

 

Der Mann feuchtete die trockenen Lippen an.

 

»Ich habe seit gestern nichts mehr zu essen gehabt.«

 

»Und nichts mehr zu trinken seit heute morgen.«

 

Punch schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin ganz heruntergekommen, Mr. Luke. Mehr als hunderttausend Pfund sind durch meine Hände gegangen, und ich habe alles vertrunken. Erst vor einem Monat habe ich eingesehen, daß das eine große Dummheit von mir war. Es handelt sich nicht so sehr darum, daß man ein ehrliches Leben führt, als daß man nüchtern bleibt. Und ich weiß, Sie überlegen es sich nicht lange, wenn es sich darum handelt, einem armen Kerl zu helfen, der ein neues Leben anfangen will.«

 

»Sie haben früher schon mehrmals eine Chance gehabt.«

 

Punch nickte.

 

»Gewiß«, entgegnete er bitter. »Deshalb habe ich auch kaum noch Aussicht, in die Höhe zu kommen. Alle Leute sind bereit, mir einmal zu helfen, aber nicht zweimal. Wenn man Gewohnheitstrinker wird, ist man ganz erledigt – dann bekommt man nicht einmal mehr Geld zum Essen. Aber ich mache keinem einen Vorwurf, nur mir selbst. Niemand glaubt mir, wenn ich sage, daß ich jetzt das Trinken aufgegeben habe.«

 

Luke sah ihn nachdenklich an.

 

»Ich möchte nur wissen, ob man Ihnen trauen kann. Auf jeden Fall will ich es noch einmal mit Ihnen versuchen, Punch. Aber wenn Sie diesmal Ihr Wort nicht halten, ist es aus. Dann brauchen Sie nicht mehr zu mir zu kommen.«

 

Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihm zwei Fünfpfundnoten.

 

»So, nun baden Sie, kaufen Sie sich anständige Kleidung und verbrennen Sie die Lumpen, in denen Sie herumlaufen. Dann suchen Sie sich ein Zimmer. Heute nachmittag melden Sie sich bei mir, aber sprechen Sie nicht weiter darüber.«

 

Punch war fast sprachlos vor Freude.

 

»Ich wollte Ihnen noch sagen, Mr. Luke, daß ›Weiße Lilie‹ keine Aussichten beim Cambridgeshire-Rennen hat. Tommy Dix hat das Pferd geritten; ich habe heute morgen einen meiner früheren Kollegen getroffen, der hat es mir gesagt. Ich habe auch gar nicht verstanden, warum der Gaul beim Cambridgeshire-Rennen gemeldet wurde.«

 

»Schon gut«, erwiderte Luke ungeduldig. »Melden Sie sich heute nachmittag in meiner Wohnung.«

 

Punch verließ das Zimmer.

 

Nachdem er gegangen war, nahm Luke drei blaue Mappen mit der Aufschrift ›Das grüne Band‹ aus einer Schublade und fügte den Akten ein paar Bemerkungen über Mr. Trigger hinzu. Dann las er, mindestens zum zwanzigsten Male, die wenigen Einzelheiten, die Scotland Yard über diesen Mann bekannt waren.

 

Die Akten über Dr. Blanter waren viel wichtiger; sie enthielten Zeitungsausschnitte über zwei gerichtliche Leichenschauverhandlungen, dann einen Bericht über eine Verhandlung vor der Ärztekammer, ferner eine Anzahl von Briefen, die meistens anonyme Anzeigen waren. Ein fortlaufender Bericht über die Aufenthaltsorte des Doktors lag vor, aber daraus konnte Luke im Augenblick wenig Brauchbares entnehmen. Man glaubte im allgemeinen in Scotland Yard, daß der Arzt mit verschiedenen Verbrecherbanden in Verbindung stand.

 

Dr. Blanter zahlte gut und hatte daher immer Männer und Frauen an der Hand, die bei irgendeiner Gelegenheit Aufträge für ihn ausführten. Dazu gehörten auch die Angestellten von verschiedenen Nachtklubs, die er finanziert hatte. In der Verbrecherwelt kannte man ihn als einen Mann, der das nötige Geld für die Verteidigung aufbrachte, wenn seine Helfer vor Gericht gestellt wurden. Er hatte daher viele Anhänger, auf die er sich im Fall der Not verlassen konnte.

 

Luke unterschätzte die Bedeutung des Mannes in keiner Weise und hatte gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dr. Blanter hatte keine Ahnung, daß er beobachtet wurde.

 

*

 

Am Montag morgen lief ein langes Telegramm bei Dr. Blanter ein, das ihm ein Agent aus Südamerika gesandt hatte. Er las es durch, lernte es dann Wort für Wort auswendig und vernichtete das Formular. Ein paar Minuten später, nachdem er sich verschiedenes überlegt hatte, rief er eine junge Dame an, die in Bayswater wohnte. Sie antwortete ihm recht unhöflich, denn sie war in ihrem Morgenschlaf gestört worden.

 

»Hier ist der Doktor. Ich brauche Sie, Maggie. Kommen Sie um halb zwölf zu mir, ich muß Sie sprechen.«

 

»Es tut mir unendlich leid, Blanter, ich erkannte Ihre Stimme nicht«, entschuldigte sie sich. »Ich bin sofort bei Ihnen.«

 

Diese junge Dame führte den stolzen Bühnennamen ›Ruby de Vinne‹, obwohl sie nur ab und zu in einer winzigen Rolle auftrat. Aber sie war bildhübsch, jung und temperamentvoll.

 

Pünktlich um halb zwölf Uhr erschien sie.

 

»Ach, Doktor, Sie haben mich heute morgen so erschreckt! Ich dachte, mein Freund wäre aus Deutschland zurückgekommen.« »Maggie, mein Liebling, hören Sie zu. Ich habe einen Auftrag für Sie.«

 

Sie nickte. Sie hatte schon früher Aufträge für ihn erledigt, und er hatte sie jedesmal sehr gut bezahlt. Geizig war er nicht. Leute, die für ihn gearbeitet hatten, wollten gern weiter für ihn tätig sein.

 

»Sie sprechen doch spanisch?«

 

»Wie eine Spanierin«, behauptete sie.

 

»Nun gut, Sie können also ein paar Worte sprechen, das ist alles, was ich brauche. Sie sind in Südamerika als Kabarettsängerin auf Tournee gewesen?«

 

»Ja, ich war für Gastspielreisen engagiert«, entgegnete sie prompt, »oder vielmehr die Truppe, zu der ich gehörte. Ich war die Leiterin.«

 

»Vergessen Sie das alles jetzt einmal und hören Sie gut zu. Sie sind früher einmal mit Ihrem Vater, einem Oberst, nach Buenos Aires gefahren und während Ihres dortigen Aufenthaltes auch Edna Gray vorgestellt worden. Ich werde Ihnen noch alle Einzelheiten darüber geben, wo sie lebte und so weiter. Sie müssen auch das Hotel kennen, in dem sie in Buenos Aires wohnte, ebenso ihre Schneiderin. Das ist übrigens ein guter Gedanke – Sie haben Edna Gray bei ihrer Schneiderin kennengelernt. Alle drei Monate kam sie in die Hauptstadt, und es ist sehr wohl möglich, daß Sie sie dort getroffen haben. Jetzt wohnt sie im Carlton-Hotel. Sie müssen sich mit ihr in Verbindung setzen, aber es muß so arrangiert werden, daß es wie ein Zufall aussieht. Sie speist gewöhnlich dort zu Mittag, wenn sie in London ist, und sie hält sich augenblicklich hier auf. Sie müssen sich mit ihr anfreunden, aber seien Sie nicht zu stürmisch. Laden Sie die Dame ins Theater ein. Ich besorge Ihnen eine Loge für die neue Revue. Sie brauchen mich nur beizeiten telefonisch zu verständigen, für welchen Abend ich Karten beschaffen soll, Haben Sie anständige Kleider?«

 

Miss de Vinne war im Augenblick sehr gut ausgestattet.

 

»Nehmen Sie Miss Gray aber nicht in eins dieser Nachtlokale mit, in denen Sie verkehren. Laden Sie sie ins Ritz oder ins Berkeley-Hotel zum Mittagessen ein. Und nehmen Sie sich zusammen, daß Sie nicht Londoner Dialekt sprechen. Heute nachmittag kommen Sie wieder, dann erörtern wir das Weitere. Hier haben Sie vorläufig einmal fünfzig Pfund für kleine Auslagen. Wenn das Geld aufgebraucht ist, können Sie weitere fünfzig von mir haben.«

 

Miss de Vinne fand sich schnell in die Rolle hinein, die sie zu spielen hatte. Am Nachmittag erschien sie zur festgesetzten Zeit. Dr. Blanter instruierte sie eingehend und war mit ihren Antworten auf seine Fragen sehr zufrieden.

 

»Ich möchte Ihnen noch eine andere wichtige Sache einschärfen«, meinte er schließlich. »Luke von Scotland Yard ist mit ihr befreundet – die beiden kamen auf demselben Dampfer nach England. Dort hat er sie wahrscheinlich auch kennengelernt.«

 

»Luke? Der kennt mich, er hat mich ja in Scotland Yard wegen der Pyrock-Geschichte verhört. Ich hatte natürlich nicht die geringste Ahnung, aber er hat mich sechs Stunden lang kreuz und quer gefragt, bis ich schließlich nicht mehr wußte, ob ich Männlein oder Weiblein war.«

 

»Sie müssen es so einrichten, daß Sie nicht mit ihm zusammenkommen. Wenn Ihnen das gelingt, ist die Sache ziemlich einfach. Sehen Sie vor allem zu, daß Miss Gray Sie in ihr Landhaus Longhall einlädt. Und Sie heißen natürlich nicht ›Ruby de Vinne‹, sondern ›Maggie Higgs‹. Das ist ja auch Ihr richtiger Name.«

 

Damit war sie nicht sehr einverstanden.

 

*

 

Die Bekanntschaft war ziemlich schnell gemacht. Edna ging am Abend ins Theater, und als sie in der Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt in die Halle kam, trat plötzlich eine glänzend gekleidete junge Dame auf sie zu, deren Brillantarmbänder schon von weitem in den Strahlen der großen Kronleuchter blitzten.

 

»Ach, sind Sie nicht Miss Edna Gray?« fragte die junge Dame lebhaft. »Aber ganz gewiß, ich habe Sie sofort wiedererkannt!«

 

Edna war erstaunt, aber angenehm berührt.

 

»Ja, so heiße ich.«

 

»Können Sie sich nicht auf mich besinnen? Aber warum sollten Sie auch! Ich habe Sie ja nur ein einziges Mal getroffen. Sie kennen doch Señora Rugatti in Buenos Aires? Sie kamen damals von der Estanzia Ihres Onkels. Erinnern Sie sich nicht? Sie waren so furchtbar müde!«

 

Edna schüttelte den Kopf und lächelte freundlich.

 

»Nein, ich kann mich nicht darauf besinnen, aber ich bin oft nach Buenos Aires gekommen und habe mich müde gefühlt.«

 

»Ach, ich freue mich so, daß ich Sie hier wiedersehe«, erwiderte Maggie Higgs strahlend. »Ich bin für ein bis zwei Monate in London und war schon neugierig, ob ich wohl eine Bekannte hier treffen würde. Ich fühle mich hier sehr einsam. Mein Vater ist nach Afrika zu seinem Regiment zurückgekehrt.«

 

Edna war angenehm überrascht, hier eine Bekannte aus Südamerika zu treffen. Sie plauderten noch ein paar Minuten, bis es klingelte, und kehrten dann zu ihren Plätzen zurück. Nachdem das Stück zu Ende war, fand Edna Miss Higgs in der großen Halle, wo sie auf sie wartete.

 

»Wo wohnen Sie? Darf ich Sie in meinem Wagen mitnehmen? Er wartet hier in der Nähe des Theaters.«

 

Sie speisten in einem eleganten Restaurant zu Abend und verabredeten sich dann für den folgenden Tag.

 

Maggie meldete sich triumphierend bei Dr. Blanter in der Half Moon Street. Stirnrunzelnd hörte er ihr zu und schien von ihrem Bericht nicht gerade sehr angenehm berührt zu sein.

 

»Schade, daß Sie in einem öffentlichen Lokal gespeist haben. Morgen erzählen Sie ihr, daß Sie auch ins ›Carlton‹ ziehen. Mieten Sie dort ein Appartement und nehmen Sie Ihre Mahlzeiten nicht im großen Speisesaal ein.«

 

*

 

Im gleichen Augenblick telefonierte ein junger Mann in Abendkleidung mit Mr. Luke.

 

»Können Sie sich noch auf Ruby besinnen? – Ja, das ist dieselbe wie Maggie – Higgs, ja, das ist ihr eigentlicher Name. Sie hat sich mit Miss Gray angefreundet. Sie waren zusammen im Theater und sind dann zum Abendessen gegangen. Die junge Dame ist darauf sofort zu Doktor Blanters Wohnung gefahren. Dort ist sie noch. Haben Sie weitere Aufträge für mich?«

 

»Holen Sie midi morgen früh hier ab«, entgegnete Luke ruhig. »Wenn Maggie ins ›Carlton‹ ziehen sollte, nehmen Sie dort auch ein Zimmer. Ich komme für die Auslagen auf. Wenn ich mir die Sache recht überlege, ist es am besten, Sie folgen Maggie bis nach Hause.«

 

Um zwei Uhr morgens fuhr Miss Higgs zu ihrer schönen Wohnung in Bayswater, ohne zu wissen, daß sie beobachtet wurde.

 

*

 

Als Dr. Blanter am nächsten Morgen beim Frühstück saß, meldete ihm sein Diener, daß er dringend am Telefon verlangt werde.

 

»Sagen Sie dem Kerl, er soll sich zum Teufel scheren«, brummte der Doktor, der in der Nacht nicht gut geschlafen hatte. »Wer ist es denn?«

 

»Mr. Luke.«

 

Der Doktor legte sofort Messer und Gabel hin und ging in sein Arbeitszimmer.

 

»Sind Sie am Apparat, Blanter? Hier ist Luke.«

 

»Nun, was wünschen Sie?« fragte der Doktor ärgerlich.

 

»Lassen Sie diese Higgs aus dem Spiel und sorgen Sie dafür, daß sie Miss Gray nicht mehr belästigt, sonst erleben Sie eine recht unangenehme Überraschung.«

 

Dr. Blanter atmete schwer.

 

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte er nach einer Pause. »Wer ist denn überhaupt ›Higgs‹?«

 

»Stellen Sie sich doch nicht dumm! Ich gebe Ihnen nur einen guten Rat«, erwiderte Luke eisig und legte auf.

 

Nachdenklich kehrte Blanter zum Frühstückstisch zurück.

 

*

 

Edna wartete umsonst auf Miss Higgs, die sie um elf Uhr abholen wollte, um mit ihr Einkäufe zu machen und dann gemeinsam mit ihr zu Mittag zu speisen. Es wurde halb zwölf und zwölf Uhr, und noch immer zeigte sich Miss Higgs nicht. Edna war erstaunt und nicht wenig enttäuscht. Wenn sie auch gerade keine große Zuneigung zu dieser neuen Freundin gefaßt hatte, die ihr über den Weg gelaufen war, so hatte sie sich doch auf einen angenehmen Tag in der Gesellschaft einer Frau gefreut. Kurz vor dem Essen kam ein Telegramm aus Deutschland. Mr. Garcia hatte sich entschlossen, eine Erholungsreise durch Südeuropa zu machen, und bat sie, ihm unter der Adresse des Argentinischen Konsulates in Istanbul zu schreiben. Hätte er ihr die Reiseroute mitgeteilt oder eine Adresse angegeben, an die sie hätte telegrafieren können, so würde sie sofort ihre Koffer gepackt haben und mit ihm gereist sein. Statt dessen fuhr sie spät am Nachmittag nach Longhall zurück. Sie fand aufs neue, daß der Aufenthalt auf dem Land noch weniger unterhaltend für eine alleinstehende junge Dame war als das Leben in der Stadt, und sie überlegte sich ernsthaft, ob sie nicht nach Argentinien zurückkehren sollte.

 

Kapitel 13

 

13

 

Als Edna Gray eines Morgens von ihrem Ritt zurückkam, hatte sie ein merkwürdiges Erlebnis. Sie hatte durch die Wiesen einen neuen Weg gefunden, der über einen leichten Abhang führte. Er wurde wenig benützt, und sie Bog gerade um einen grünen Hügel herum, als sie zwei Leute entdeckte, die eine Grube aushoben. Die Arbeiter sahen sie düster an, als sie näher heranritt, und beantworteten ihren freundlichen Gruß nur brummend.

 

Die Grube befand sich auf Mr. Goodies Gelände. Edna setzte ihren Weg fort und dachte nicht weiter über die Sache nach. Alles, was mit Bauen zusammenhing, erschien ihr geheimnisvoll.

 

Lane kam am selben Abend zu ihr, weil einige Rechnungen bezahlt werden mußten.

 

»Hat Mr. Goodie Ihnen mitgeteilt, daß er auf Ihrem Besitz einen Bau errichten will, Miss Gray?« fragte er. »Wie ich sehe, sind ein paar Arbeiter damit beschäftigt, auf dem Heideland eine Grube auszuheben. Ich weiß nicht, welche Bedingungen in dem Pachtvertrag stehen, aber ich glaube doch, daß er ohne Ihre Erlaubnis kein Gebäude errichten darf.«

 

»Ich werde mich einmal mit der Sache befassen, Mr. Lane«, sagte sie, obwohl sie nicht ernstlich diese Absicht hatte.

 

Am Abend erhielt sie jedoch eine Erklärung für die seltsame Betriebsamkeit. Es war beinahe dunkel, als sie mit ihrem kleinen Auto noch eine Fahrt durch das Gelände machte. Unglücklicherweise hatte sie einen Weg eingeschlagen, der von den Landleuten nur mit Ackerwagen benützt wurde. Als es ganz finster geworden war, blieb zu ihrer Bestürzung der Motor stehen.

 

Sie stieg aus und hatte bald die Ursache herausgefunden. Unvorsichtigerweise hatte sie vor Beginn der Fahrt den Tank nicht auffüllen lassen. Sie befand sich jedoch nur etwa fünf Kilometer von ihrem Haus entfernt, und da sie einen guten Orientierungssinn hatte, konnte sie den Weg finden, ohne jemanden fragen zu müssen. Sie ließ also den Wagen stehen und setzte ihren Weg zu Fuß fort. Es war vollkommen dunkel, als sie den südlichen Abhang hinunterstieg. Sie bemerkte, daß zwischen der Straße und den Hügeln ein sonderbarer Wagen stand, den sie nach den Scheinwerfern für ein Lastauto hielt.

 

Kaum war ihr diese Tatsache bewußt geworden, als sie jemand kommen hörte. Sie wich in den Schatten eines Gebüsches zurück, obwohl kein Grund vorlag, sich zu fürchten. Sie vernahm auch Hufschlag. Wahrscheinlich war es einer von Goodies Leuten, der ein Pferd des Weges führte. Von Natur aus war sie nicht nervös, aber sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug und ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief.

 

Jetzt erkannte sie die Gestalten – es war Goodie selbst, der ein Pferd führte. In einer Entfernung von sechs Meter kam er an ihr vorüber und ging zu der Stelle, wo die beiden Arbeiter die Grube ausgehoben hatten. Selbst in der Dunkelheit konnte sie die helle, kreidige Erde sehen, die die Leute aufgetürmt hatten. Dort hielt Goodie mit dem Pferd an. Edna strengte ihre Augen an und beobachtete, daß das Pferd direkt am Rand der Grube stand. Goodie nahm einen großen Gegenstand aus der Tasche. Sie interessierte sich jetzt so sehr für den Vorgang, daß sie ihre Nervosität vollständig vergaß.

 

Gleich darauf fiel ein Schuß, der so laut dröhnte, als ob ein schweres Eisentor plötzlich mit aller Wucht ins Schloß geworfen würde. Das Pferd stürzte nieder und verschwand. Ednas Herz schlug wild, als ihr zum Bewußtsein kam, was geschehen war. Goodie hatte das Pferd erschossen; die Arbeiter hatten zu diesem Zweck die tiefe Grube ausgehoben. Sie zitterte und war einer Ohnmacht nahe, überwand aber die Schwäche und schlich auf Zehenspitzen davon. In weitem Bogen ging sie dem Lastauto aus dem Weg, doch kam sie nahe genug daran vorbei, um zu erkennen, daß es ein Transportwagen für Pferde war; im Augenblick war niemand bei dem Gefährt. Sie ging in etwa zwanzig Meter Entfernung daran vorüber und kam dann auf die Straße.

 

In großer Erregung erreichte sie schließlich das Haus und gelangte unbemerkt in ihr Schlafzimmer. Als sie ruhiger geworden war und über alles nachdenken konnte, schämte sie sich, daß sie sich so gefürchtet hatte. Es war zwar dunkel, aber sonst doch nichts Besonderes an dem Vorgang gewesen. Pferdebesitzer waren manchmal durch die Umstände gezwungen, ein Tier zu erschießen. Vielleicht war dies ein besonderes Lieblingspferd von Goodie; so daß er nicht zuließ, daß einer seiner Leute ihm den Gnadenschuß gab.

 

Von dem Fenster ihres Schlafzimmers aus hielt sie Ausschau, ob sie nicht Mr. Goodie auf dem Gelände entdecken konnte, aber damit hatte sie keinen Erfolg. Um neun Uhr stand das Transportauto immer noch an derselben Stelle. Die Scheinwerfer brannten nur trübe.

 

Als sie jedoch am Morgen wieder hinausschaute, war der Wagen verschwunden. Später ritt sie aus und kam an den Arbeitern vorbei, die die Grube wieder zuschaufelten. Sie setzte ihren Weg bis zu den Hügeln fort und mußte dabei über eine Hochfläche reiten. Dort traf sie unerwartet Goodie. Er saß ebenfalls im Sattel und blickte düster in die herrliche Landschaft hinaus. Als sie in der Nähe vorüberkam, wandte er sich ihr zu, und zum erstenmal seit ihrem Aufenthalt in Longhall sprach er sie an.

 

»Guten Morgen, Miss Gray.«

 

Sie erwiderte den Gruß höflich.

 

»Habe ich Sie gestern abend erschreckt?«

 

Sie zuckte zusammen, denn auf diese Anspielung war sie nicht vorbereitet.

 

»Ich selbst habe Sie nicht gesehen, aber einer meiner Leute hat Sie beobachtet. Ich mußte ein altes Pferd erschießen, und ich wollte es tun, wenn niemand in der Nähe war. Es kommen häufig Ausflügler hierher. Ganz abgesehen davon, daß die Leute bei einem solchen Schuß erschrecken, ist es auch mir sehr unangenehm, wenn ich gezwungen bin, ein Tier zu erschießen.«

 

Er sah sie unentwegt an, während er sprach.

 

»Ich hoffe, Sie werden mir in nächster Zeit diese ganzen Ländereien verkaufen, Miss Gray. Ich habe mich so an diese Gegend gewöhnt, daß es mir schwerfiele, sie zu verlassen. – Sie müssen sich einmal meine Pferde bei der Morgenarbeit ansehen. Sie sind zwar nicht sehr berühmt, aber ein oder zwei prächtige Tiere sind doch darunter. Ich habe gehört, daß Sie selbst die Absicht haben, sich Rennpferde zu halten? Ich habe zwar noch niemals Pferde anderer Leute in Pflege genommen, aber wenn Sie wollen, können Sie schon ein paar Tiere bei mir einstellen. Ich werde mich eingehend um sie kümmern. Vielleicht können wir es auch so weit bringen, daß eins Ihrer Pferde gelegentlich ein Rennen gewinnt. Ich habe übrigens ein Pferd, das ich Ihnen verkaufen könnte …«

 

Zu ihrer Bestürzung hörte sie, daß ihm ihre Pläne, die sie doch nur mit Luke besprochen hatte, bekannt waren. »Ja, ich dachte daran, aber ich bin mir noch nicht schlüssig geworden.«

 

»Ich habe ein Pferd, das ich Ihnen für tausend Pfund verkaufen kann. Es ist allerdings bedeutend mehr wert, aber ich glaube, der Eigentümer ist mehr oder weniger zum Verkauf gezwungen. Es handelt sich um ›Weiße Lilie‹. Ich hatte sowieso vor, Ihnen deshalb einen Besuch zu machen. Es ist ein tadelloses Pferd mit einem wundervollen Stammbaum. Die Mutter hat manches Rennen in Irland gewonnen.«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich verstehe noch zu wenig vom Rennbetrieb –«, begann sie.

 

»Wenn die Trainer warten müßten, bis nur Sachverständige ihnen ihre Pferde anvertrauen, könnten sie verhungern. Dieses Pferd ist für das Cambridgeshire-Rennen gemeldet, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es gewinnt. Ich sage nicht, daß es unbedingt gewinnt, aber immerhin besteht die Möglichkeit. Neulich morgen habe ich es daraufhin geprüft. Haben Sie den Galopp nicht auch gesehen? – Na, vielleicht überlegen Sie es sich noch, Miss Gray.«

 

Er schob den Unterkiefer vor, lenkte das Pferd herum und galoppierte zu seinen Pferden, die in einem großen Kreis von seinen Leuten herumgeführt wurden.

 

Edna war erstaunt, und doch sagte sie sich auf dem Heimritt, daß nichts Außergewöhnliches darin lag, wenn ihr ein Trainer ein Rennpferd zum Kauf anbot.

 

Sie hatte an diesem Tag Gelegenheit, mit Luke telefonisch zu sprechen, und sie erwähnte, auch ihre Unterhaltung mit Goodie, wofür er sich sehr interessierte.

 

»Wenn er Ihnen ›Weiße Lilie‹ für tausend Pfund angeboten hat, so wäre das sicher ein sehr gutes Geschäft für Sie. Aber ich bin froh, daß Sie nicht zugegriffen haben. Nominell gehört das Pferd einem Mann in Mittelengland, einem Gasthausbesitzer ich glaube jedoch, der ist nur vorgeschoben. Ich kann mir schon denken, warum Goodie daran liegt, Ihnen das Pferd zu überlassen.«

 

»Dann sagen Sie es mir doch bitte.«

 

Aber Luke ging nicht darauf ein.

 

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, erinnerte sie sich daran, daß sie ihm nichts von der Erschießung des anderen Pferdes gesagt hatte. Aber dann vergaß sie die ganze Angelegenheit.

 

*

 

In den folgenden Tagen setzte sich Luke weder brieflich noch anderswie mit ihr in Verbindung, und sie ärgerte sich, daß er so unaufmerksam war. Ende der Woche erschien er dann plötzlich unangemeldet. Sie empfing ihn ziemlich kühl, und er hatte es nicht anders erwartet. Geradezu eisig wurde sie, als sie erfuhr, daß er nicht einmal ihretwegen gekommen war, sondern eigentlich Mr. Lane sprechen wollte. Er kam auch nicht ins Haus, bis sie ihn direkt dazu aufforderte.

 

»Diese geheimnisvollen Besuche sind mir unangenehm, Mr. Luke. Wäre ich nicht unten auf der Wiese gewesen, so hätte ich überhaupt nicht erfahren, daß Sie gekommen sind.«

 

»Bitte seien Sie mir nicht böse«, sagte er mit seiner üblichen Unbekümmertheit. »Ich mußte Lane in einer dringenden Angelegenheit sprechen, die nichts mit Ihnen zu tun hat.«

 

Sie wollte ihm schon eine entsprechende Antwort geben, aber schließlich faßte sie die Sache von der humoristischen Seite auf und lachte.

 

»Sie haben wirklich nicht die besten Manieren. Man hat immer wieder aufs neue Grund, sich über Sie zu ärgern. Sie hätten doch zuerst ins Haus kommen und mich begrüßen können. Bleiben Sie über Nacht hier? Dann werde ich dafür sorgen, daß –«

 

»Es ist hier ein sehr schönes Gasthaus in der Nähe – der ›Rote Löwe‹. Ich habe mein Gepäck schon dort hingebracht.«

 

»Aber Sie hätten doch hier im Haus wohnen können.«

 

»Ich ziehe den ›Roten Löwen‹ vor. Die Wirtin macht mir keine Vorwürfe, und außerdem werden Sie wahrscheinlich sehr böse auf mich sein, wenn Sie erfahren, daß ich Ihnen eine Freundin genommen habe.«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte sie bestürzt.

 

»Es handelt sich um Maggie Higgs. Sie ist eine drittklassige Schauspielerin; das ist das Beste, was man von ihr sagen kann. Blanter hat sie zu Ihnen geschickt, damit sie sich mit Ihnen anfreunden sollte.«

 

Plötzlich verstand sie.

 

»Ach, deshalb ist sie nicht wiedergekommen?«

 

Er nickte.

 

Merkwürdigerweise zürnte sie ihm nicht wegen dieser Einmischung und glaubte sofort, was er über die junge Dame sagte.

 

»Das ist aber sehr merkwürdig. Warum hat denn Doktor Blanter sie zu mir geschickt?«

 

Er antwortete nicht darauf, und es wäre ihm wahrscheinlich auch schwergefallen, ihr seine Theorie auseinanderzusetzen. Immerhin hatte er sich bereits eine Erklärung zurechtgelegt.

 

»Ich möchte gern einmal Ihre ganzen Ländereien kennenlernen. Es ist schon sehr lange her, seit ich mich das letztemal hier in der Gegend umgesehen habe.«

 

Er hatte eigentlich die Absicht, zu Fuß zu gehen, aber sie ließ die Pferde satteln und ritt mit ihm zusammen ins Gelände hinaus. Nachdem sie an dem Drahtzaun vorbeigekommen waren, den Mr. Goodie um sein Haus gezogen hatte, folgten sie einem unebenen Feldweg, der in die Hügel führte. Das Haus Mr. Goodies konnten sie im Augenblick nicht sehen, da es von den Nußbäumen verdeckt wurde. Desto besser waren die neuen Stallanlagen zu erkennen, die auf einem sanften Abhang errichtet waren. Im Augenblick war niemand in Sicht; gewöhnlich waren zum Wochenende Ausflügler in der Gegend. Im Sommer kamen sogar sehr viele Leute, die sich in den Tälern unter den schattigen Bäumen erholten.

 

Sie erwähnte beiläufig, daß sie die Überreste von einem Picknick bei dem Eingang zu den Perrywig-Höhlen gesehen habe, und war erstaunt, daß er sich lebhaft dafür interessierte.

 

»Dorthin sind Sie geritten? Sie liegen doch auf dem Land, das Goodie von Ihnen gepachtet hat.«

 

»Warum sind die Höhlen eigentlich verschlossen?« fragte sie.

 

»Sie meinen, warum ein Tor vor jedem Eingang ist? Das sieht etwas düster aus, finden Sie nicht auch? Aber die größte der Höhlen ist seit vielen Hunderten von Jahren schon immer als Lagerraum benutzt worden. Es gibt eine Straße, die direkt zu den Eingängen der Höhlen führt. Soviel ich weiß, benützt Goodie die große Höhle auch als Vorratsraum für Heu und Pferdefutter. Ich bin noch niemals im Innern gewesen, aber ich glaube, die Haupthöhle reicht sehr weit ins Innere des Berges.«

 

Er kannte die Gegend bedeutend besser als sie, und in einem großen Halbkreis kamen sie zu der Straße, die zu den Eingängen der Höhlen führte. Es waren zwei Öffnungen, und einen Kilometer entfernt lag noch eine dritte. Man glaubte, daß alle diese Eingänge nur zu einer Höhle führten, aber man wußte dies nicht genau. Luke und Edna stiegen aus dem Sattel, banden ihre Pferde an einen Baum und gingen den Rest des Weges zu Fuß.

 

Am ersten Eingang nahm Luke eine sorgfältige Untersuchung des Tores vor, das aus schweren Eisenstangen gefertigt war; die Angeln waren in die Felsen eingelassen. Er betrachtete das große Schloß genau. Das Tor war so stark, daß man nicht daran denken konnte, es mit Gewalt zu öffnen. Der Fußboden der Höhle bestand, soweit er sehen konnte, aus Erde und zeigte Spuren einer Harke.

 

»Das ist merkwürdig«, sagte Luke. Dann versuchte er, das dunkle Innere mit seinen Blicken zu durchdringen.

 

»Sehen Sie, da hinten steht auch die Harke.«

 

Er wandte sich ab und sah den steileren Teil des Abhangs hinunter zu der Stelle, wo sie abgestiegen waren.

 

»Wo haben Sie die Reste von dem Picknick gefunden?«

 

Sie sah sich vergeblich danach um. Inzwischen hatte es mehrmals heftig geregnet, und jetzt konnte sie nichts mehr entdecken. Damals hatte sie deutlich Knochen und Apfelsinenschalen gesehen. Vermutlich waren die Überreste von den Angestellten Goodies entfernt worden.

 

»Jemand hat hier Ordnung geschaffen«, sagte er gleichgültig.

 

Sie gingen zu ihren Pferden und ritten die Anhöhe hinab. Es wurde dunkel, und schwere Wolken zogen von Südwesten heran. Die beiden kamen gerade noch zur rechten Zeit nach Longhall zurück, bevor es in Strömen zu regnen begann.