19

 

Für Luke dauerte eine Fahrt niemals zu lange, er hatte immer sehr viel nachzudenken. Als er daher in Newmarket ankam, glaubte er, daß er eben erst in sein Auto gestiegen sei.

 

Obwohl das Wetter nicht sehr gut war, herrschte doch ein ziemlich lebhafter Verkehr auf den Straßen. Luke fuhr mit mehreren anderen Wagen zu gleicher Zeit beim Eingang zu den Tribünen vor, hielt vor einem kleinen Nebeneingang und schlüpfte unbemerkt hinein. Der Sattelplatz war schon stark belebt, obgleich die Nummern für das erste Rennen noch nicht aufgezogen waren.

 

In diesem Jahr interessierten sich die Leute sehr für das Cambridgeshire-Rennen. Es war ein halbes Dutzend bekannte Pferde genannt, die teilnehmen sollten, und die Wetten waren in diesem Jahr besonders hoch. Luke ging zu den Vertretern der Rennbehörde und hatte eine halbstündige Unterredung mit ihnen. Als er dann wieder auf den Rennplatz hinaustrat, hatte sich eine ungeheure Menge von Zuschauern eingefunden.

 

Das erste Rennen sah er nicht, aber er machte während der Zeit eine Runde bei all den Beamten, die er an den Ausgängen aufgestellt hatte. Goodie hatte er bereits gesehen, und während er zwischen den Posten umherging, fuhr Dr. Blanter in seinem großen Rolls-Royce vor, stieg aus und kam durch das Haupttor.

 

»Das ist der Wagen, auf den Sie aufpassen müssen«, sagte Luke zu den Beamten. »Wenn es notwendig ist, bringen Sie den Motor in Unordnung.«

 

Er wußte, daß er sich mit Blanter sehr in acht nehmen mußte. Der Doktor war ein genialer Mensch, der leider seine Begabung in einer falschen Richtung verwandte. Bisher war es ihm stets gelungen, seine Spuren zu verwischen, und als kluger Feldherr hatte er bestimmt für einen sicheren Rückzug gesorgt. Als er das erstemal in Verdacht geraten war, hatte er sich Luke gegenüber gerühmt: ›Ich sehe alles voraus, was Sie vorhaben; aber Sie wissen nicht, welche Schritte ich unternehmen werde. Deshalb werde ich Ihnen immer überlegen sein.‹

 

Bevor das Cambridgeshire-Rennen stattfand, war der Sattelplatz ungewöhnlich stark belebt, und es war unmöglich, in die Nähe der Pferde zu kommen. Als Luke wieder auf die Rennbahn kam, hörte er, daß ›Weiße Lilie‹ als starker Favorit angesehen wurde. Die Wetten standen fünf zu eins, aber man konnte bei keinem Buchmacher mehr eine Wette auf das Pferd abschließen. Verschiedentlich hörte er, wie die Buchmacher Leute aus dem Publikum abwiesen.

 

Bei diesem Rennen fand keine vorherige Parade der Pferde statt, aber als sie zum Start aufbrachen, sah Luke ein wunderbares Tier.

 

»Das ist der Gewinner – der sieht so aus, als ob er noch einen ganzen Omnibus mitschleppen und trotzdem als erster durchs Ziel gehen könnte«, sagte jemand neben ihm.

 

Keins der anderen Pferde konnte sich mit ›Weiße Lilie‹ vergleichen. Luke sah die aufgezogenen Zahlen und bemerkte, daß ›Weiße Lilie‹ Platz Nr. 1 hatte – den besten im ganzen Rennen.

 

Er stieg die Tribüne hinauf, um das Rennen zu beobachten. Beim Start gab es noch eine lange Verzögerung. Es war sehr schwer, die Pferde alle in eine Reihe zu bringen; zwei scheuten vor der Schnur, und ein drittes hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Rennen in umgekehrter Richtung zu beginnen. Die anderen mußten warten, bis es wieder eingefangen und zurückgebracht worden war.

 

»Sie sind gestartet!« erscholl es dann plötzlich wie ein weithin dröhnender Kanonenschuß aus Tausenden von Kehlen.

 

Es war ein herrlicher Anblick, als die Pferde in einer Geraden, wie mit der Schnur ausgerichtet, am Publikum vorbeijagten. ›Weiße Lilie‹ zeigte eine großartige Form. Es war Luke und tausend anderen Sachverständigen klar, daß dieses Pferd das Rennen gewinnen würde. Tatsächlich ging es auch mit drei Längen Vorsprung durchs Ziel.

 

Luke eilte auf den Sattelplatz und wartete dort. Er sah, wie Goodie langsam zu dem Platz ging, der für das siegreiche Tier reserviert war. Gleich darauf erschien auch der Jockei auf ›Weiße Lilie‹ über den Köpfen der Menge und ritt das Pferd in den abgegrenzten Raum. Goodie faßte es am Zügel und führte es, während der Jockei abstieg und den Sattel abschnallte. Dann gingen sie zusammen zur Waage.

 

Luke folgte ihnen auf den Fersen. Blanter konnte er nicht sehen, aber er zweifelte nicht daran, daß sich der Doktor irgendwo in der Nähe aufhielt.

 

Der Jockei setzte sich bereits auf die Waage, als Luke einem Beamten einen Zettel reichte, den dieser durchlas.

 

»Protestieren Sie gegen das Pferd, Mr. Luke?«

 

»Ja, und zwar, weil es nicht ›Weiße Lilie‹ ist, sondern aus Argentinien importiert wurde und den Namen ›Vendina‹ führt. Es wurde durch einen deutschen Stall von Señor Garcia angekauft.«

 

In Goodies Gesicht regte sich kein Muskel; der Mann blieb vollkommen ruhig.

 

»Das ist eine ganz blödsinnige Beschuldigung«, sagte er langsam. »Die Streitfrage wird ja von der Rennbehörde entschieden werden. Ich stehe zur Verfügung.«

 

Er ging von der Waage fort, und Inspektor Luke hielt sich dicht hinter ihm. Es wurden keine Anstalten getroffen, Goodie anzuhalten, bis er außerhalb der Umfriedung war. Dann traten verschiedene Beamte von Scotland Yard auf ihn zu.

 

Lukes Wachtposten bemerkten Blanter erst, als er aus dem Rennbüro herauskam und zu den geparkten Autos ging. Die Tatsache, daß der Chauffeur nicht auf dem Führersitz von Blanters Wagen saß, machte sie unachtsam. Ein großer französischer Wagen fuhr an dem Doktor vorbei; einen Augenblick kam dieser außer Sicht, und nachher war er verschwunden. Erst als das Auto die äußeren Tore passiert hatte, merkten die Beamten, was geschehen war. Blanter hatte vorsichtigerweise zwei Autos auffahren lassen und war in das zweite gesprungen. Nun hatte er bereits einen Kilometer Vorsprung.

 

Luke kam gleich darauf dazu und hörte, was geschehen war. Er verlor keine Zeit damit, den Leuten Vorwürfe zu machen, sondern sprang sofort auf das Trittbrett des Polizeiwagens, der sich bereits in voller Fahrt befand, um die Verfolgung aufzunehmen. Der Franzose war inzwischen außer Sicht gekommen. Sie konnten auch der Polizei von Cambridgeshire, die die Straßenkreuzungen bewachte, kein Signal geben. Der Wagen schlug die Richtung nach London ein. Die Entfernung zwischen beiden mochte etwa achthundert Meter betragen, und sie fuhren mit ungefähr gleicher Geschwindigkeit. Die Straßenkreuzung vor dem Ort hatten sie bereits passiert und rasten auf Six Mile Bottom zu. Und nun zeigte sich die Voraussicht Dr. Blanters, der mit größter Klugheit seinen Rückzug gedeckt hatte. Ein großes Lastauto, das vorher am Rand der Straße gestanden hatte, fuhr plötzlich quer über die Straße und sperrte den Verkehr. Die Sache war so gut inszeniert, daß Luke zunächst an einen Zufall glaubte. Das Lastauto bewegte sich erst, als der Wagen des Doktors vorbeigefahren war. Einer der Beamten sprang vom Polizeiwagen auf das Trittbrett des anderen Autos und schwang sich neben den Chauffeur.

 

»Sie sind verhaftet! Fahren Sie sofort aus dem Weg, oder ich schlage Ihnen mit dem Gummiknüppel eins über den Schädel!«

 

Als die Straße wieder frei war, konnten sie Blanters Wagen nicht mehr sehen. Gleich darauf hatten sie noch ein anderes Hindernis zu überwinden: Ein großer Pferdetransportwagen versperrte ihnen den Weg, fuhr jedoch ohne Eile gemächlich zur Seite und ließ sie passieren.

 

Blanter hatte allem Anschein nach eine Gefahr übersehen: Die Eisenbahnschranken in Six Mile Bottom konnten geschlossen sein!

 

Das war auch tatsächlich der Fall, als Luke näher kam. Sie wurden erst wieder geöffnet, als das Polizeiauto schon auf hundert Meter herangekommen war. Beide Wagen jagten nun in schnellstem Tempo die Straße entlang, und die Polizeibeamten holten dauernd auf. Bei der Kreuzung der Straßen nach Royston und Newport überholten sie schließlich den französischen Wagen und fuhren in scharfem Bogen vor. Luke kannte den Chauffeur nicht; der Mann war ihm fremd. Sofort sprang er ab, eilte zu dem anderen Auto und riß die Tür auf.

 

»Kommen Sie heraus, Doktor!«

 

Aber der Wagen war leer. Auf dem Boden lag eine Eintrittskarte zum Rennen. Luke hob sie auf und sah, daß ein paar Worte auf die Rückseite geschrieben waren. Der Doktor mußte sie während der Fahrt hingekritzelt haben, und allem Anschein nach war die Nachricht für Luke bestimmt.

 

Ich habe das alles vorausgesehen. Es tut mir leid, daß ich Sie so enttäuschen mußte.

 

Luke verhaftete den Chauffeur, fuhr dann nach Six Mile Bottom zurück und stellte dort Nachforschungen an. Es gab keine andere Möglichkeit: Nur an dieser Stelle konnte Dr. Blanter entkommen sein. Wahrscheinlich hatte er den Zug erreicht, für den die Schranken geschlossen worden waren.

 

Zu seinem Erstaunen hörte er jedoch, daß niemand aus dem Wagen gestiegen war und der Zug auf der Station überhaupt nicht gehalten hatte.

 

»Ich möchte auch einen Eid darauf leisten, daß das Auto leer war. Ich habe nämlich hineingesehen, während es vorüberfuhr«, sagte einer der Eisenbahnbeamten.

 

Wenn tatsächlich niemand im Wagen gesessen hatte, als dieser Six Mile Bottom erreichte, wo war es dann Dr. Blanter gelungen, zu entkommen? Luke dachte scharf nach. Es konnte nur bei einer Gelegenheit gewesen sein, und zwar, als das große Transportauto den Weg versperrte. Dr. Blanter hatte währenddessen Zeit genug gehabt, langsamer zu fahren oder gar anzuhalten. Aber wohin konnte er geflohen sein? In der Nähe war kein Haus zu sehen gewesen; es war eine völlig freie Gegend. Blanter war auch viel zu schlau, sich im Wald zu verstecken.

 

Als Luke zum Rennplatz zurückkam, war die Menschenmenge dort in einer furchtbaren Aufregung. Das Pferd war nicht disqualifiziert, sondern die Entscheidung der Obersten Rennbehörde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. Goodie hatte man zur Polizeistation der Stadt gebracht, ohne daß er Protest eingelegt hätte. Luke suchte Goodie in der Zelle auf, aber er konnte nichts von ihm erfahren. Goodie schwieg und schien sich überhaupt nicht für das Schicksal seines Partners zu interessieren. Er kümmerte sich auch wenig darum, was aus ihm selber werden würde. Luke nahm ihn mit nach London, nachdem ihm die Hände gefesselt worden waren, und brachte ihn zur Polizeistation in der Cannon Row.

 

Die Lage war durchaus noch nicht geklärt, und nach Meinung eines höheren Polizeibeamten war es nicht ausgeschlossen, daß Goodie vom Gericht freigesprochen werden würde. Die Rennbehörde hatte eine ungewöhnliche Haltung eingenommen, indem sie die Entscheidung vertagte. Allerdings handelte sie richtig, denn sie mußte warten, bis die Polizei unwiderlegliche Beweise vorbrachte. Die Verwirrung unter den Besuchern der Rennbahn war erklärlich. Niemand wußte, ob das erste oder das zweite Pferd gewonnen hatte.

 

»Seien Sie unbesorgt, ich werde einwandfreie Beweise bringen«, erklärte Luke seinem Vorgesetzten.

 

Am liebsten hätte er Goodies Haus versiegeln lassen, aber eine technische Schwierigkeit verhinderte das. Goodies Haus lag im Gebiet einer anderen Polizeistation, und schon früher hatte es Auseinandersetzungen zwischen Scotland Yard und den Provinzialbehörden gegeben, wenn sich die Londoner Polizei ungebeten einmischte. Deshalb entschloß man sich, diese Angelegenheit der örtlichen Behörde zu überlassen. Aber Luke setzte sich sofort mit der Kriminalpolizei von Berkshire in Verbindung; ihm war ein guter Gedanke gekommen. Eine Folge seiner Verständigung mit den dortigen Beamten war es, daß das Haus während der Nacht nicht einmal von der Polizei betreten wurde.

 

Mr. Trigger wurde nach Scotland Yard gerufen, um das Wesen der Transaktionen genau darzulegen. Wie Luke schon erwartet hatte, konnte der Mann nachweisen, daß er mit all den Schiebungen nichts zu tun hatte und nur den organisatorischen und verwaltungsmäßigen Teil des Geschäftes erledigte.

 

Das Haus Dr. Blanters wurde zum zweitenmal durchsucht und von der Polizei besetzt. Daß Blanter den Versuch machen würde, nach London zu kommen, erwartete Luke nicht. Er glaubte vielmehr, daß der Arzt einen Hafen erreichen wollte, um von dort aus mit dem Schiff nach dem Kontinent zu entkommen. Alle Polizeistationen in den großen Häfen wurden daher verständigt.

 

Luke war dankbar, daß er wenigstens so viel erreicht hatte. Goodie saß im Gefängnis, Blanter war auf der Flucht, und damit war seiner Meinung nach die Gefahr für Edna Gray beseitigt.

 

Rustem war nirgendwo aufgetaucht. Wahrscheinlich hatte er sich auf irgendeine Besitzung im Innern des Landes zurückgezogen. Luke nahm an, daß sie irgendwo in der Nähe von Edinburgh liegen müsse.

 

Pilcher antwortete auf die Fragen der Polizei, daß er nichts von dem Aufenthaltsort seines Herrn wisse. Rustem hatte seinem Angestellten an dem Tag, an dem er verschwand, nur gesagt, daß er nicht ins Büro kommen würde.

 

Später wurde in Rustems Wohnung festgestellt, daß Pilcher die Wahrheit gesprochen hatte. Wenn Rustem außer Landes geflohen wäre, hätte er sicherlich die zweitausend Pfund mitgenommen, die die Polizei in den Schubladen seines Schreibtisches fand.

 

Man machte der Polizei einen Vorwurf daraus, daß sie nicht sofort das Haus Mr. Goodies besetzt hatte. Es lag allerdings ziemlich einsam und in großer Entfernung von Scotland Yard, und Beamte hatten für diesen Zweck nicht gleich zur Verfügung gestanden. Man konnte auch nicht annehmen, daß Blanter so kühn sein würde, sich an einen Platz zu begeben, wo er sicher Polizeibeamte treffen mußte. Alle Beschuldigungen wären jedoch überflüssig gewesen, wenn die Unterredung bekanntgeworden wäre, die Inspektor Luke mit der Polizeibehörde in Berkshire gehabt hatte. Er hatte dabei die großen Tiere erwähnt, die auf Goodies Grundstück untergebracht waren.

 

Es war ungefähr acht Uhr abends, als Lane ein großes Auto sah, wie es zum Transport von Rennpferden verwendet wurde. Der Wagen fuhr aus dem Tor von Goodies Grundstück und verschwand in südlicher Richtung. Das war kein ungewöhnliches Vorkommnis am Abend eines Renntages. Lane dachte sich deshalb auch nichts dabei. Er sah außerdem auch nicht, daß die beiden Scheinwerfer ausgeschaltet wurden, als der große, schwere Wagen von der Straße abbog.

 

Er enthielt keine Pferde, vielmehr hatte Dr. Blanter den ganzen Weg in dem kleinen, abgesonderten Raum geschlafen, der im Wagen für den Stallknecht vorgesehen war. Der Chauffeur sprang vom Sitz und öffnete die hintere Tür des Wagens.

 

»Wir sind am Ziel«, rief er ins Innere.

 

Dr. Blanter erhob sich; er streckte sich, denn er hatte zusammengekauert gelegen. Der Wagen war durch Newmarket gefahren und hatte einen Umweg über Cambridge gemacht.

 

Hätte Luke genauere Nachforschungen angestellt, so würde er herausgebracht haben, daß dies der Wagen war, der zwischen Six Mile Bottom und dem Rennplatz auf der Chaussee gestanden hatte, ebenso wie das andere große Lastauto, das ihm den Weg versperrte. Aber nicht im Traum hätte er sich einfallen lassen, daß ein unschuldig aussehender Transportwagen in der Richtung auf den Rennplatz den Verfolgten aufgenommen hatte. Durch diesen einfachen Trick hatte sich Dr. Blanter der sofortigen Verhaftung entzogen. Er war nicht nach Goodies Haus gefahren, um sich hier zu verstecken, sondern weil er voraussah, daß Luke in der ersten Aufregung übereilt handeln und nicht auf Edna Gray aufpassen würde. Darin täuschte er sich auch nicht. Außerdem konnte er auf den weiten Wiesenflächen am besten mit dem Flugzeug starten, das in dem großen Transportwagen verstaut war. Kurz vor Morgengrauen wollte er zum Kontinent hinüberfliegen.

 

Goodies Haus war jetzt vermutlich von der Polizei besetzt worden. Aber bestimmt hatte man Rustem nicht gefunden und ihm keine Gelegenheit geben können, seine Geschichte zu erzählen. Blanter wußte, daß sein eigenes Schicksal besiegelt war, wenn es ihm nicht gelang, mit dem Flugzeug England zu verlassen. Er zweifelte nicht im mindesten daran, daß er Erfolg haben würde.

 

Die Polizei hatte wahrscheinlich auch schon die beiden großen Tiere entdeckt. Er lächelte bei dem Gedanken. Die Bestien würden den Polizisten von Berkshire einen hübschen Schrecken eingejagt haben! Wie mochten die Leute wohl mit ihnen fertig geworden sein?

 

Der große, leere Wagen auf den Wiesen würde wahrscheinlich erst gegen Morgen entdeckt werden, lange nach dem Start. Stoover hatte im Krieg bei den Fliegern gedient und sich auch später als Pilot betätigt. Er war es gewesen, der dem Doktor geraten hatte, mit dem Flugzeug das Land zu verlassen.

 

Die großen, ausgedehnten Wiesen waren wie geschaffen für diesen Zweck; es war von jeher Blanters Absicht gewesen, von hier aus zu starten. Trotz seiner Körperschwere konnte er sehr leise gehen. Der Pferdeknecht, der im Stall von Longhall House schlief, sah und hörte nichts von ihm, als er vorüberkam. Blanter suchte die Lage des Hauses auszukundschaften. Wie er wußte, hatte Edna Gray außer Lane zwei männliche Dienstboten. Es war auch zu seiner Kenntnis gelangt, daß es sich um frühere Polizeibeamte handelte, die Luke besonders ausgewählt hatte, um Edna zu beschützen.

 

Nach langem Suchen fand er endlich eine Leiter auf dem Hof und lehnte sie an die Wand, und zwar in der Nähe des offenen Fensters, das zu Ednas Schlafzimmer gehörte. Diese Zimmer hatte er selbst bewohnen wollen, wenn es ihm gelungen wäre, den Landsitz zu kaufen; es war Dr. Blanter gewesen, in dessen Auftrag Rustem Miss Gray das fabelhafte Angebot gemacht hatte.

 

Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er blieb ruhig stehen und rührte sich nicht. Erst nach einigen Augenblicken drückte er sich tiefer in den Schatten der Wand.

 

Von seinem Standpunkt aus konnte er die Ecke des Stalls überblicken. Das Licht, das im Innern brannte, fiel durch die offene Tür, und der Schein wurde von den glatten Steinen zurückgeworfen, mit denen der Hof belegt war.

 

Blanter hörte, daß Edna mit dem Pferdeknecht sprach. Allem Anschein nach war sie aus der Haustür herausgekommen und über den Rasen zum Stallgebäude gegangen. Sie gab dem Mann den Auftrag, ihr Pferd am nächsten Morgen frühzeitig zu satteln.

 

Er schlich sich an der Mauer entlang, bis er an die Hausecke kam. Nun konnte er ihren Rücken sehen; sie trug einen langen, dicken Mantel, aber keinen Hut.

 

Ein Pferd im Stall wurde unruhig, und der Knecht ging hinein, um nachzusehen. Edna Gray blieb noch eine Weile stehen und schaute nach dem Stall hinüber, dann ging sie zur Haustür. Aber im letzten Augenblick änderte sie ihre Absicht und wandte sich nach links, so daß sie direkt auf Blanter zukam. Ihn sah sie nicht, wohl aber die Leiter, die sich dunkel vom Abendhimmel abhob. Er hörte, daß sie einen leisen Ruf der Verwunderung ausstieß, dann faßte er einen kurzen Entschluß und sprang auf sie zu. Sie fühlte, daß sich eine große Hand auf ihren Mund preßte und daß ein Arm sie umfaßte.

 

»Wenn Sie Lärm machen, erwürge ich Sie«, flüsterte er ihr ins Ohr.

 

Sie machte die größten Anstrengungen, sich aus seinem Griff zu befreien, aber sie konnte nicht gegen ihn ankommen und brach wenige Sekunden später ohnmächtig zusammen. Er hörte, daß eine Tür zugeschlagen wurde, und schaute sich vorsichtig um. Schwere Tritte wurden auf dem Hof laut. Blanter trug Edna bis zur nächsten Hausecke und bemerkte, daß der Stallknecht auf das Haus zu verschwand.

 

Schnell entschlossen hob er Edna auf, eilte am Stall vorüber und ging durch eine Seitentür. Miss Gray war noch bewußtlos, als er das große Lastauto erreichte. Stoover, der eben einen Schluck aus einer Thermosflasche genommen hatte, sprang auf.

 

»Haben Sie das Mädel tatsächlich geschnappt?« fragte er. »Das war allerdings Glück, Doktor. Geben Sie her, ich werde es tragen.«

 

»Das ist nicht nötig«, entgegnete Blanter kurz.

 

Sie gingen in der Dunkelheit weiter und waren fast an der Stelle angekommen, von der sie starten wollten, als Edna zu stöhnen begann. Er fühlte auch, daß sie sich in seinen Armen bewegte. Einen Augenblick setzte er sie nieder, suchte in seinen Taschen und nahm dann einen kleinen Kasten heraus.

 

Er war es so gewohnt, anderen Leuten Morphiumspritzen zu geben, daß er kein Licht dazu brauchte. Der scharfe Stich in ihren Unterarm brachte Edna das Bewußtsein zurück. Dann beobachteten die beiden Männer, wie sie langsam die Besinnung wieder verlor.

 

»Im Haus ist niemand«, sagte Stoover leise. »Ich bin hineingegangen und habe mich überall umgesehen.

 

»Wie haben Sie denn das gemacht?« fragte der Doktor scharf.

 

»Ich habe das Schloß am Gittertor geöffnet. Das war ganz leicht.«

 

»Haben Sie die Tür offengelassen?«

 

»Nein, ich habe sie wieder zugeklinkt. Warum fragen Sie?«

 

Er hörte, wie der Doktor schnell atmete.

 

»Es ist nichts – kommen Sie mit.«

 

Er bückte sich, hob Edna auf, trug sie eine lange Strecke und legte sie erst wieder auf den Boden, als sie bei dem schweren, eisernen Gittertor angekommen waren, das den Zugang zu den Perrywig-Höhlen versperrte. Der Doktor schloß auf, und sie gingen zusammen hinein. Dann machten sie die Tür wieder leise hinter sich zu.

 

»Wenn Sie an der Wand entlangtasten, finden Sie eine Vertiefung. Darin steht eine Laterne. Zünden Sie die aber erst an, wenn ich es Ihnen sage.«

 

Die Höhle lief etwa fünfzig Meter gerade in den Felsen hinein und wandte sich dann in großem Bogen nach rechts. An dieser Stelle befand sich ein zweites Tor, das sie ebenfalls aufschlossen.

 

»Sie können jetzt die Laterne anzünden.«

 

Die Höhle, in der sie sich befanden, war doppelt so hoch wie ein gewöhnliches Zimmer. Hier stand ein großer, schneller Wagen, der mit Segeltuch zugedeckt war. Ringsum an den Wänden waren kleine Kammern in den Felsen eingehauen. Blanter setzte Edna ab, so daß sie mit dem Rücken an der Wand lehnte. Dann trat er an eine der Öffnungen im Felsen und leuchtete dem darin liegenden Mann mit der Laterne ins Gesicht.

 

»Wachen Sie auf, Arthur«, sagte er.

 

Rustem, der zusammengekauert auf einem Bund Stroh lag, fuhr auf und sah den Doktor verschlafen an. Von allen Menschen fürchtete er Blanter am meisten.

 

»Hallo, Doktor!« erwiderte er und nahm sich zusammen, um seine Furcht nicht zu zeigen. »Solche Methoden, wie Sie sie gegen mich anwenden, gehören aber nicht in die moderne Zeit, sondern ins Mittelalter. Was soll denn das eigentlich heißen?«

 

Als er seine Beine bewegte, schlugen Ketten aneinander, und beim Schein der Laterne war ein eiserner Ring an Rustems Fußgelenk zu sehen, an dem die Kette befestigt war.

 

»Sie müssen doch zugeben, Doktor, daß Sie keinen Grund haben, mich zu verdächtigen –«

 

»Halten Sie den Mund«, erwiderte Blanter ungerührt. »Ich will Ihnen nur mitteilen, was inzwischen passiert ist. Man hat Goodie verhaftet und ist hinter mir und Ihnen her.«

 

Rustem sah sehr angegriffen und elend aus. Unsicher erhob er sich. Die Kette war ziemlich lang, so daß er sich frei in der Höhle bewegen konnte.

 

»Was hat denn die Polizei gegen uns?«

 

»Ich weiß nicht, worum es sich handelt, aber ich kann mir denken, um was es geht. Sie werden uns wegen Mordes anklagen. Und wir sind alle daran beteiligt. Nur Sie nicht.«

 

»Nein, ich nicht«, entgegnete der Gefangene und machte nervöse Bewegungen mit den Händen. »Ich habe nichts von alledem gewußt, und ich habe ja auch damals darauf bestanden –«

 

»Ich sagte doch schon: nur Sie nicht. Sie würden an dem Prozeß nur als Kronzeuge teilnehmen, und das spricht natürlich nicht zu Ihren Gunsten«, erklärte Blanter mit sanfter Stimme. »Ich habe Ihnen hier eine kleine Freundin gebracht, aber sie soll Ihnen nicht Gesellschaft leisten – den Gedanken können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen.«

 

Rüstern sah sich um und entdeckte Edna.

 

»Das ist ja Miss Gray!« sagte er erschrocken:

 

»Nennen Sie sie ruhig Edna. Wenn Sie erst erledigt sind, werden wir uns ein wenig mit ihr amüsieren – ich meine, Stoover und ich.«

 

Blanter sah ihn belustigt an, dann grinste er.

 

Rustem war ein Feigling, aber weil er ohnehin in Todesgefahr schwebte, fühlte er plötzlich keine Furcht mehr. Ihm fiel auf, daß Miss Gray die Besinnung wiedererlangt hatte und alles hörte, was gesprochen wurde. Sie hatte den Kopf gesenkt und hielt sich ähnlich wie Goodie. Ein lächerlicher Vergleich! Rustem hätte lachen mögen, aber er fürchtete, daß seine Nerven dann versagten. Und wenn das geschah, war er verloren. Er kannte Blanter besser als irgendein anderer und wußte, daß dieser Mann ihn dann ohne Zögern ermorden würde.

 

Der Doktor nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und suchte einen Schlüssel aus.

 

»Wir wollen Sie ein paar Minuten von Ihren mittelalterlichen Qualen erlösen. Dafür will ich meine kleine Freundin anketten. Ich kann Ihnen ja auch verraten, daß es neue Eisen sind. Die letzten wurden von Ihrem Vorgänger hier zerbrochen.«

 

»Sie wollen mich erlösen? Sie meinen doch nicht etwa –«

 

»Doch, das meine ich. Sie sind zu gefährlich, Rustem, und außerdem können Sie sich nicht beherrschen. Es ist besser – für uns alle. – Natürlich tut es uns leid, daß wir Sie verlieren«, fügte er spöttisch hinzu. »Warten Sie einen Augenblick.«

 

Rustem sah, daß Blanter in seiner Westentasche herumsuchte, und unterbrach ihn. »Doktor, vor langer Zeit haben Sie mir einmal etwas von einem Gift erzählt – Kelacin. Sie sagten damals, wenn Sie sich jemals das Leben nehmen würden, wollten Sie dieses Mittel gebrauchen.«

 

Blanter lächelte.

 

»Ihr Gedächtnis ist geradezu wunderbar!«

 

Er nahm eine kleine Schachtel aus der Westentasche, öffnete sie und zog eine Glasröhre heraus.

 

»Ich freue mich, daß Sie vernünftig sind und keinen Spektakel machen. Ich muß sagen, daß ich Ihre Wünsche vorausgesehen habe. Kelacin ist tatsächlich die Medizin, die ich Ihnen verschreibe.«

 

Edna beobachtete alles, was sich vor ihren Augen abspielte. Sie war so starr vor Schrecken, daß sie keinen Laut hervorbringen konnte. Sie hatte Rustem erkannt, und die lange Kette, an die er gefesselt war, erklärte ihr den Zusammenhang.

 

Es standen einige Möbelstücke in der Höhle, offenbar befand sich auch eine Wasserleitung in der Nähe, denn der Doktor verschwand und kam bald darauf mit einem halbgefüllten Wasserglas zurück, von dem er etwas auf den Boden schüttete.

 

»Wie wirkt denn das Mittel?« fragte Rustem mit erzwungener Ruhe.

 

Der Doktor antwortete nicht, aber ein Tropfen nach dem anderen fiel aus dem Hals der kleinen Röhre in das Wasserglas.

 

»Ein Tropfen verursacht vollkommene Lähmung, bei zwei oder drei Tropfen sterben Sie – je nach der Stärke Ihrer Konstitution. Ich gebe Ihnen sechs – oder vielmehr, Sie nehmen aus freien Stücken sechs.«

 

»Geben Sie mir sechzig«, entgegnete Rustem gefaßt. »Wenn es schon sein muß, soll es schnell vorübergehen.«

 

Der Doktor lächelte.

 

»Das ist tapfer von Ihnen«, sagte er und leerte den ganzen Inhalt des Fläschchens ins Glas.

 

Stoover schaute fasziniert zu. Edna konnte sehen, wie Rustem das Glas mit zitternden Händen gegen das Licht hielt.

 

»Wollen Sie mir nicht vorher wenigstens die Fesseln abnehmen? Ich möchte nicht in Ketten sterben.«

 

Blanter warf ihm einen schnellen Blick zu, nahm dann einen Schlüssel vom Bund und erfüllte den Wunsch.

 

»Ich danke Ihnen.«

 

Rustem war sehr höflich, und hätte seine Hand nicht so sehr gezittert, würde man überhaupt nicht gemerkt haben, daß er aufgeregt war.

 

»Bevor ich sterbe, will ich Ihnen noch ein Geheimnis anvertrauen.« Bei diesen Worten beobachtete er den Doktor scharf. »Wäre ich diesem Schicksal entkommen, so wäre ich in ein Kloster gegangen.«

 

Blanter zog die Augenbrauen hoch und öffnete den großen Mund.

 

Es war eine Grimasse, die er immer schnitt, wenn er sich über etwas amüsierte. Gewöhnlich folgte darauf ein dröhnendes Lachen. Rüstern wußte das, und als Blanter den Mund öffnete, machte er eine scharfe Bewegung mit dem Handgelenk und goß ihm den Inhalt des Glases ins Gesicht. Blanter taumelte zurück, faßte mit der Hand nach der Tasche, stieß einen Schmerzensschrei aus und sank dann auf die Knie, während sich sein Gesicht unverzüglich blau färbte und er nach Luft zu ringen anfing.

 

Stoover sprang hinzu und packte ihn am Arm; Rustem eilte zu Edna und riß sie hoch.

 

»Laufen Sie!« schrie er ihr zu.

 

Das Tor stand auf, und er warf es zu, als sie draußen waren. Das äußere Tor war verschlossen, aber er hatte den Schlüssel vom Boden aufgenommen, den der Doktor hatte fallen lassen. Mit zitternden Händen bemühte er sich, es zu öffnen.

 

Endlich gelang es ihm.

 

Er hörte Schritte hinter sich und hatte nicht mehr den Mut, stehenzubleiben und wieder zuzuschließen. Er lief, so schnell er nur laufen konnte.

 

»Kennen Sie den Weg zu Ihrem Haus?« fragte Rustem atemlos.

 

Vor Furcht und Schwäche konnte sich Edna kaum aufrecht halten. Sie murmelte nur ein paar unverständliche Worte.

 

Jemand eilte hinter ihnen her – wahrscheinlich war es Stoover. Edna erschien es unmöglich, daß sie lange bei Kräften bleiben würde. Ihr Haus lag noch weit entfernt, und der Boden war so uneben, daß sie dauernd stolperte.

 

Rustem sah über die Schulter, und zu seinem größten Schrecken erkannte er den Doktor.

 

Als sie die Ecke des Drahtzauns erreicht hatten, taumelte Edna. Der Zaun gab nach, und nun sah sie, daß es eine Tür war. Rustem bemerkte die Zuflucht gleichfalls, eilte hinter ihr her und warf die Tür zu. Aber das Schloß schnappte nicht ein.

 

Sie eilte weiter und hörte, daß hinter ihr Leute aneinandergerieten. Plötzlich blieb sie starr vor Schrecken stehen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien; entsetzliche Furcht lähmte sie. Im Dunkel sah sie grüne, funkelnde Augen vor sich, dann hörte sie wildes Schreien, so daß ihr das Blut in den Adern gerann.

 

Die beiden großen schwarzen Tiere, die sie für Hunde gehalten hatte, waren Panther!

 

Bewußtlos brach Edna zusammen.

 

Aber nicht sie hatte die Aufmerksamkeit der beiden wilden Tiere erregt, sondern die zwei Männer, die am Boden miteinander rangen. Fauchend sprangen die Bestien auf die beiden los. Blanter hatte gerade noch Zeit, sich aufzurichten. Zweimal feuerte er, und der eine Panther heulte wild auf. Dann sprang der andere zu. Als er mit den Tatzen zuschlug, fielen in der Nähe zwei Schüsse, und das Raubtier sank, zu Tode getroffen, neben seinem Gefährten nieder.