Kapitel 11

 

11

 

Drei Leute saßen in einem Privatzimmer des Northern-Hospitals zusammen und verglichen ihre Aufzeichnungen und Notizen miteinander.

 

»Frank«, sagte Wilbur Smith und schüttelte den Kopf, »wir können dich nicht frei umherlaufen lassen. Du mußt versteckt bleiben.«

 

Der Schauspieler lachte.

 

»Da gibt es gar nichts zu lachen«, fuhr Wilbur Smith ernst fort. »Diese Verbrecherbande ist hinter dir her. Man hat nur deine Spur noch nicht gefunden, sonst wärst du in diesem Augenblick nicht mehr am Leben. Du weißt zuviel, und vielleicht bilden sich die Verbrecher ein, daß du eine noch größere Kenntnis hast, als es den Tatsachen entspricht.« Er wandte sich an Corelly. »Nun, Peter, haben Sie den Buchladen von Rhyburn aufgesucht?«

 

Corelly nickte.

 

»Die Geschichte klärt sich nach und nach auf, aber je mehr ich mich mit der Sache befasse, desto mehr wird Miss Bertram belastet. Sie erinnern sich noch an den Higgins-Mord, bei dem die Frau des Spielers erschossen wurde?«

 

Die beiden anderen nickten.

 

»Laste sagte doch damals aus, daß seine Frau die Dollarscheine in einem Buch fand, das sie am gleichen Nachmittag bei Rhyburn gekauft hatte. In der nächsten Nacht wurde in dem Laden eingebrochen. Die Frau las sehr viel, und sie bekam diesen Band besonders billig, weil der Umschlag einen Tintenfleck hatte. Aus diesem Grund konnte sich auch Mr. Rhyburn genau auf den Verkauf besinnen, und dadurch war es mir möglich, weitere Nachforschungen anzustellen. Sie entsinnen sich doch noch, daß Rhyburn für gewöhnlich Miss Bertram eine Auswahlsendung der neuesten Romane in die Wohnung schickte. Sie behielt die Bücher zurück, die ihr gefielen, und sandte die anderen wieder in den Laden. Und das Buch, das Mrs. Laste kaufte, gehörte zu diesen. Zweifellos hatte sie darin verschiedene Tausendollarscheine versteckt gefunden. Wahrscheinlich hat sie sogar eine viel größere Summe entdeckt, als sie ihrem Mann sagte, da sie doch wußte, daß er alles verspielen würde.«

 

»Wie erklären Sie sich das?« fragte Wilbur Smith. »Behaupten Sie, daß Miss Bertram die Scheine zwischen die Seiten des Buches legte und sie später vergaß? Oder meinen Sie, daß sie die Scheine absichtlich darin verbarg und das Buch zurückschickte?«

 

»Ich habe noch keine Theorie, die die Sache erklären könnte«, erwiderte Peter. »Ich führe nur Tatsachen an.«

 

Er schien etwas nervös zu sein, und das war ungewöhnlich an ihm. Wilbur merkte es sofort.

 

»Merkwürdig ist nur, daß sich diese Ereignisse innerhalb von vierundzwanzig Stunden zutrugen: die Rückgabe der Bücher durch Miss Bertram, der Verkauf an Mrs. Laste und schließlich der Einbruch in den Bücherladen. Und kaum zwölf Stunden darauf ist dann Mrs. Laste erschossen worden!«

 

»Wir müssen zwei Dinge herausbringen«, erklärte Wilbur nach einiger Überlegung. »Zunächst müssen wir den Tempel in dem Garten wiederfinden, und dann müssen wir entdecken, wer dieser Rosie ist.«

 

»Ich werde mich vor allem mit letzterem beschäftigen«, entgegnete Alwin. »Als ich während des Krieges in Washington war, kam ich mit Lazarus Manton in Berührung, der trotz seines sonderbaren Namens ein hervorragender Polizeibeamter ist. Ich weiß nicht, welchen Rang er jetzt in Scotland Yard einnimmt. Ich habe ihm telegrafiert.«

 

»Vor allem müssen wir den Philadelphia-Bahnhof beobachten. Die Worte, die Alwin hörte, als er gefangensaß, müssen eine besondere Bedeutung haben. Das können Sie ja leicht veranlassen, Corelly.«

 

Peter nickte.

 

»Eine ziemlich schwierige Aufgabe. Ich habe zwei Beamte dorthin beordert, aber ich würde meiner Sache doch erst sicher sein, wenn ich eine größere Anzahl von Beamten zu diesem Zweck zur Verfügung hätte.«

 

»Wo haben Sie die Leute postiert?« fragte Smith.

 

»In den Warteräumen. Ich bin auch der Ansicht, daß wir den nächsten Schritt der Verbrecher auf dem Philadelphia-Bahnhof erwarten können … Ein paar Stunden meiner Zeit verwende ich an jedem Nachmittag auf die Lösung dieser Aufgabe. Aber worauf sollen wir denn achten? Alwin kann uns nicht helfen, die beiden Leute wiederzuerkennen, und da wir nicht genau wissen, was sie unternehmen werden, erscheint mir von vornherein die ganze Sache hoffnungslos.«

 

Aber trotz dieser pessimistischen Äußerung war Corelly am nächsten Tag doch auf der Station. Er hatte sich auf eine Bank gesetzt, so daß er die Menschenmenge beobachten konnte, die in ununterbrochenem Strom vorüberflutete.

 

Peter hatte dabei einen sechsten Sinn. Rein gefühlsmäßig wandte er seine Aufmerksamkeit einem Mann in mittleren Jahren zu, der eine Anzahl Pakete unter dem Arm trug. Er war müde, ließ sich auf einem freien Sitz nieder und legte die Päckchen neben sich auf die Bank. Es war nichts Auffallendes an dem Mann, und Peter sah wieder die Treppe hinauf, auf der die vielen Menschen herunterkamen. Als er den Blick dann wieder in die alte Richtung wandte, bemerkte er, daß sich ein anderer neben dem Mann niedergelassen hatte, jedoch nur eine Minute blieb, dann erhob er sich schon wieder und ging fort. Peter konnte die beiden nur von hinten sehen; der zweite kam ihm bekannt vor, wenn er ihn auch im Augenblick nicht identifizieren konnte. Der Mann mit den Paketen schaute auf die Uhr und erhob sich dann unentschlossen, nachdem er sich hilflos umgesehen hatte.

 

Peter beobachtete genau, wie sich der Mann einem der vielen Ausgänge zuwandte, die zu den Bahnsteigen führten. Bis jetzt hatte er noch keinen besonderen Grund, ihn zu verdächtigen, auch dann noch nicht, als in der Nähe des Ausgangs ein Mädchen auf ihn zutrat. Sie sprachen eine Weile miteinander, und er entnahm aus der Haltung des Mannes, daß das Mädchen ihm fremd sein mußte. Nach einiger Zeit gingen sie beide zu einer anderen Bank. Der Mann legte die Pakete darauf und zählte sie, während das Mädchen danebenstand. Dann nahm er eines der Pakete und reicht es ihr mit einem Lächeln.

 

Peter sah immer noch nichts Außergewöhnliches an diesen Vorgängen.

 

Er wird Einkäufe gemacht und dabei zufällig ein falsches Paket mitgenommen haben, dachte er. Das junge Mädchen hat Glück, daß sie ihr Eigentum zurückerhält, bevor es zu spät ist!

 

Sie trennten sich; der Mann nahm den Hut ab und wandte sich zu einem Ausgang; das Mädchen ging zur Treppe. Sie hatte gerade die Hälfte der Stufen zurückgelegt, als Peter sich entschloß, ihr zu folgen. Er verlor sie aber aus den Augen, und erst auf der Siebenten Avenue traf er sie wieder. Sie ging schnell und sah weder nach rechts noch nach links. Er überlegte gerade, ob er ihr weiter nachgehen sollte, als plötzlich ein Auto direkt vor ihr hielt. Sie öffnete die Tür und stieg ein, worauf sich der Wagen sofort wieder in Bewegung setzte. In diesem Augenblick kam Peter ein guter Gedanke. Er war ein vorzüglicher Läufer, und noch bevor das Auto zwanzig Meter weit gefahren war, sprang er auf das Trittbrett.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe«, sagte er kühl, »aber ich …«

 

Plötzlich brach er ab, denn die junge Dame war niemand anders als Jose Bertram.

 

Ein kleines Paket lag auf ihrem Schoß, von dem sie bereits das Papier entfernt hatte. Es war ein dicker Stoß von Banknoten. Ohne noch ein Wort zu verlieren, öffnete Peter die Tür der Limousine und setzte sich neben sie. Er nahm die Banknoten, ohne daß sie Widerstand leistete, drehte die oberste um und erkannte sofort den Stempel des goldenen Hades.

 

Auch jetzt wurde kein Wort zwischen ihnen gesprochen; Peter schien die Sprache verloren zu haben; Jose schaute geradeaus auf den Rücken des Chauffeurs. Erst als der Wagen an einer Kreuzung von dem Verkehrsschutzmann angehalten wurde, bewegte sie sich und gab dem Chauffeur eine Anweisung. Dieser änderte die Richtung und fuhr jetzt die Fünfte Avenue entlang, bis sie an die Glasscheibe klopfte. Vorher hatte sie die Banknoten in eine der tiefen Seitentaschen im Innern des Autos gelegt, und allem Anschein nach interessierte sie sich nicht weiter dafür, was damit geschah.

 

»Wir wollen in den Park gehen«, sagte sie.

 

Schweigend wanderten sie nebeneinander her.

 

Peter wußte kaum, wie er die Unterhaltung beginnen sollte, und sie befand sich offenbar in der gleichen Lage.

 

»Mr. Corelly«, sagte sie schließlich, »wieviel wissen Sie von der ganzen Angelegenheit?«

 

»Sie meinen von dem goldenen Hades? – Ziemlich viel, Miss Bertram. Aber ich hoffe, daß ich von Ihnen noch mehr erfahren werde.«

 

Sie preßte die Lippen zusammen, als ob sie fürchtete, sie könnte ihm ihr Geheimnis enthüllen.

 

»Ich bin nicht imstande, Ihnen etwas zu sagen. Welchen Zweck hätte es auch? Dieses Geld gehört mir. Es ist doch keine Übertretung des Gesetzes, wenn man eine große Summe bei sich trägt, nicht einmal in New York.«

 

»Aber es ist schon etwas Besonderes, wenn man Banknoten im Besitz hat, die den Stempel des goldenen Hades auf der Rückseite zeigen«, erwiderte Peter streng, »denn Banknoten mit diesem goldenen Stempel stehen im Zusammenhang mit einem furchtbaren Mord.«

 

Sie sah ihn erschreckt an.

 

»Mord!« wiederholte sie mit stockender Stimme. »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst!«

 

»Ja, mit Mord und mit vielen schlimmen Dingen. Diese Banknoten haben Beziehung zu dem berüchtigten Higgins-Mord, und sie spielen auch eine Rolle bei der Entführung Mr. Alwins .. «

 

»Aber das verstehe ich alles nicht«, erwiderte sie bestürzt. »Ich wußte wohl, daß das Ganze eine furchtbare Torheit und nicht recht ist, aber daß es sich um einen Mord handelte – nein, davon hatte ich keine Ahnung. Bitte sagen Sie mir doch, daß das nicht wahr ist!«

 

Jose war stehengeblieben und sah ihn verzweifelt an. Er legte die Hand auf ihren Arm, aber sie schrak zurück.

 

»Miss Bertram, warum lassen Sie mich Ihnen nicht helfen? Das ist mein größter Wunsch. Ich helfe gern einem Menschen, aber bei Ihnen ist es noch etwas Besonderes. Ich kann mit Ihnen sprechen wie ein Bruder – warum trauen Sie mir nicht?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das können Sie nicht – Sie können mir nicht helfen«, entgegnete sie hoffnungslos. »Ich bin es auch nicht so sehr, die Hilfe braucht.«

 

»Wer denn?«

 

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen. Ich wünschte, es wäre mir möglich – ach, es ist zu schrecklich!«

 

Er faßte sie am Arm und führte sie einen einsamen Seitenweg entlang.

 

»Sagen Sie mir wenigstens, seit wann Sie etwas von dem goldenen Hades wissen.«

 

»Seit zwei Tagen.«

 

Er nickte.

 

»Da haben Sie also während des Essens, das Ihr Vater in dem Klub gab, davon erfahren?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Beantworten Sie bitte meine Frage. War es tatsächlich bei dem Essen?«

 

»Ich wußte es vorher nicht genau, ich hatte nur eine Ahnung – an dem Abend wurde es mir zur Gewißheit.«

 

»Haben Sie damals erfahren, daß Sie heiraten sollen?« fragte er nach kurzem Zögern.

 

Sie nickte. Aber die Frage ihrer Verheiratung schien unwesentlich zu sein im Vergleich mit einer viel ernsteren und größeren Sache.

 

»Ich muß jetzt aber zurückgehen«, sagte sie plötzlich. »Bitte begleiten Sie mich nicht, wir werden beobachtet.«

 

Sie reichte ihm die Hand und wandte sich zum Gehen.

 

»Wenn ich Ihre Hilfe nötig habe, Mr. Corelly, dann telefoniere ich Ihnen – ich habe Ihre Nummer, sie steht auf der Karte.«

 

Ohne ein weiteres Wort ging sie fort, und Peter folgte ihr langsam. Er sah gerade noch, wie ihr Wagen abfuhr, dann kehrte er zu seinem Büro zurück. Ein Brief lag auf seinem Schreibtisch, aber er machte sich nicht die Mühe, ihn zu öffnen. Bequem setzte er sich in seinen Stuhl, legte die Füße auf den Tisch und dachte lange nach. Und je mehr er überlegte, desto mehr wunderte er sich, und schließlich merkte er, daß er sich selbst eine Theorie bildete, obgleich er doch Theorien haßte.

 

Schließlich nahm er den Brief und öffnete ihn.

 

Es war nur eine kurze Mitteilung von Frank Alwin. Er hatte nicht auf die Handschrift geachtet, sonst hätte er den Briefumschlag natürlich sofort geöffnet.

 

Mein lieber Corelly,

 

Eben habe ich dieses Telegramm auf meine Anfrage bekommen. Was halten Sie davon?

 

Mit verbindlichem Gruß

Frank Alwin.

 

Peter entfaltete das Telegramm und las:

 

Der einzige uns bekannte Mann mit dem Spitznamen ›Rosie‹ ist John Cavanagh, gewöhnlich Rosie Cavanagh genannt. Er wurde vor vier Jahren aus dem Zuchthaus entlassen, nachdem er wegen schweren Betruges eine Strafe von zehn Jahren in Portland abgesessen hatte. Das Verbrechen hat er durch spiritistische Sitzungen vorbereitet. Cavanagh hat eine gute Erziehung genossen; er muß jetzt im Alter von etwa fünfundsechzig Jahren stehen. Gestalt klein. Besitzt umfassende Kenntnisse in der griechischen Mythologie, hält sich, soweit hier bekannt, in Spanien auf. Weitere Nachforschungen sind bereits in die Wege geleitet.

 

Peter sah von dem Telegramm zur Decke, dann wieder auf das gelbe Formular. Ein ironisches Lächeln spielte um seinen Mund.

 

Kapitel 12

 

12

 

Professor Cavan putzte prachtvolle Silberlöffel. Er war in Hemdsärmeln, und auch die hatte er aufgerollt, so daß seine sehnigen Arme sichtbar waren. Außerdem hatte er eine große, weiße Schürze umgebunden; während der Arbeit zitierte er griechische Verse aus Sophokles. Der stattliche englische Butler saß auf der Tischkante und rauchte eine große Zigarre; der Diener hatte sich eine Shagpfeife angesteckt und war am Tisch damit beschäftigt, einen Gummistempel zu reparieren.

 

»Rosie«, sagte der Butler, »wenn du diesen dummen Singsang nicht läßt, schlage ich dir auf den Kopf, daß du Backzähne spuckst!«

 

»Laß ihn doch ruhig singen«, meinte der Diener. »Laß ihn tanzen und sonst tun, was er will, wenn er nur nicht redet.«

 

Der Professor lächelte.

 

»Na, ihr könntet doch nichts anfangen und würdet bald auf dem trockenen sitzen, wenn ich nicht reden könnte. Ich bezweifle überhaupt sehr stark, ob es noch einen Mann in dieser Stadt gibt, der so unterhaltend sein kann wie ich.«

 

»Rosie«, sagte der Butler, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, »du hast eine verdammt hohe Meinung von dir. Wenn du so klug wärst, wie du annimmst, wärst du doch niemals ins Gefängnis gekommen.«

 

»Wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wäre«, entgegnete Cavan oder Cavanagh, »dann hätte ich dich nicht getroffen, mein Junge. Und hätten wir nicht zusammen auf derselben Bank gesessen und Postsäcke genäht, dann hättest du weiter Geldschränke geknackt, um jedesmal hundert Pfund oder noch weniger zu erbeuten, und bei drei Einbrüchen wärst du zweimal gefaßt worden.«

 

»Das ist wohl möglich«, entgegnete der Butler gleichgültig. »Und was hätte Sam gemacht?«

 

Sam sah von seiner Arbeit auf.

 

»Ich hätte alte Meister gefälscht und die Bilder verkauft. Das ist eine angenehme, ruhige Art, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich wünschte nur, ich wäre nie auf andere Gedanken gekommen.«

 

»Ja, jetzt könnt ihr euch beschweren und den Mund aufreißen, aber ich habe euch immer gesagt, daß ihr auch ein großes Risiko auf euch nehmen müßt, wenn ihr viel Geld verdienen wollt.«

 

»Aber nicht die Art Risiko, die du auf dich nimmst, Tommy«, meinte Sam und schauerte zusammen. »Ich werde diese Frau niemals vergessen, diese Laste.«

 

Der Butler runzelte die Stirn.

 

»Es war ihre eigene Schuld«, erwiderte er. »Wenn sie mir das Taschentuch vom Gesicht gerissen hätte, dann hätte sie mich erkannt. Es ging um mich oder um sie. Was sagst du dazu, Rosie?«

 

Der Professor betrachtete einen glänzenden Löffel mit kritischen Blicken.

 

»Nun, ich bin schon so ein alter Herr«, entgegnete er bedächtig, »daß es mir wirklich gleichgültig ist, was passiert. Ich würde ebensoleicht zum elektrischen Stuhl gehen – man findet dort ein schmerzloses Ende, soviel ich bis jetzt erfahren konnte –, wie ich den Rest meines Lebens in einem amerikanischen Gefängnis zubringen würde. Du bist etwas voreilig, Tom«, fügte er entschuldigend hinzu.

 

»Die ganze Sache war dein Fehler«, unterbrach ihn der Butler heftig. »Hast du nicht diesem verrückten Bankier gesagt, er solle sein Geld verstecken, damit es die Götter nehmen und den Armen geben könnten?«

 

Rosie nickte.

 

»Ich sagte ihm aber nicht, daß er es zwischen die Seiten der Bücher legen sollte, die seine Tochter liest«, widersprach er. »Habe ich wissen können, daß sie die Bücher zu dem Laden zurückschickt? Ihr hättet es dabei lassen sollen – es wäre ja noch viel mehr gekommen.«

 

»Wir haben alle etwas Schuld«, meinte Sam düster. »Nicht Rosie hat vorgeschlagen, daß das Geld mit einem Bogen über die Mauer geschossen wird – sondern du, Tom.«

 

»Ich habe aber auch vorgeschlagen, daß du auf der andern Seite stehen sollst, um es in Empfang zu nehmen«, erwiderte Tom grimmig.

 

»Ich wäre auch dort gewesen, wenn ich gewußt hätte, wo es hinfallen würde«, erklärte Sammy, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen. »Und ich war auch bei dem Mann, sobald ich ihn wegrennen sah.«

 

Der Professor lachte.

 

»Ein ausgezeichneter Witz. Entzückend! Ein Mann, der mit gefälschten Banknoten handelt! Höchst tadelnswert!«

 

Plötzlich legte er den Löffel nieder und sah den Butler an. Dabei drehte er den Kopf wie eine neugierige Henne.

 

»Weißt du, daß ich beinahe in ernstliche Schwierigkeiten gekommen wäre? Ich habe es erst gestern entdeckt.«

 

»Was für Schwierigkeiten waren das denn?« fragte Tom und unterdrückte ein Gähnen.

 

»Miss Bertram bat mich, eine Tausenddollarnote zu wechseln. Das tat ich auch und gab ihr …«

 

»Doch nicht gefälschtes Geld?« sagte der Butler scharf.

 

»Du alter Narr, hast du das getan?«

 

»Es war ein reiner Zufall, mein Junge«, erwiderte der Professor leichthin und putzte wieder an den Löffeln weiter. »Ich habe eine zufriedenstellende Erklärung abgegeben.«

 

Dann erhob er sich.

 

»Ihr müßt jetzt eines begreifen, was noch nicht zu eurem Verstand durchgedrungen zu sein scheint. Es heißt jetzt Schluß machen und verschwinden. Einige der Besten haben daran glauben müssen, weil sie sich etwas zu spät davongemacht haben.«

 

Tom Scatwell sah zu ihm hinüber und kniff die Augen zusammen.

 

»Ich habe noch nicht alles, was ich brauche«, sagte er ruhig. »Und ich gehe nicht eher, als bis ich es habe. Wir haben Geld – schön. Es hat eine Menge gekostet, aber das Geld war gut angewandt. Wir haben Tausende ausgegeben, um Rosie zu finanzieren und ihm die Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen, die er jetzt einnimmt. Allein die Limousine kostete fünftausend und seine Wohnungseinrichtung zwölftausend – aber das ist im Augenblick nebensächlich. Wir haben das Geld – aber wir wollen noch mehr. Der Alte wird nervös, was, Rosie?«

 

Der Professor nickte.

 

»Skeptisch ist ein besserer Ausdruck«, erwiderte er traurig. »Er fühlt sich unbehaglich und bedrückt. Gestern abend fragte er mich, ob die Götter an weiter nichts Interesse hätten als daran, Geld zu verteilen. Das war schlimm.«

 

»Eines Tages wird er den Schnabel aufreißen und uns verpfeifen«, sagte Tom Scatwell. »Und dann ist Schluß, mein Lieber, Schluß mit uns allen. Wir müssen ihm den Mund schließen, wenn wir nicht alle zum elektrischen Stuhl marschieren wollen. Ach, du brauchst gar kein Gesicht zu ziehen, wir stecken alle in der Tinte.«

 

»Mein lieber Thomas«, erwiderte der Professor, »ich nicht, wenn du von dem vorsätzlichen Mord sprichst. Anwendung von Gewalt steht im Gegensatz zu all meinen Prinzipien und Methoden. Jeder Polizist wird dir sagen, daß ich mich niemals an einem Vertreter des Gesetzes vergangen habe, daß ich niemals auch nur ein Kind verletzt habe, wenn ich eine Sache verfolgte, die mich interessierte. Ich bin ein Betrüger«, erklärte er mit bescheidenem Stolz, »das gebe ich zu. Ich schlage Geld aus den Geheimlehren, weil ich für die technische Seite des Okkulten ein besonderes Fingerspitzengefühl habe. Als ich vor zwei Jahren mit George Bertram über die Möglichkeit sprach, daß die alten Götter auf die moderne Welt Einfluß ausüben könnten, hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, daß noch einmal eine so große Sache daraus entstehen würde.«

 

»Ist er eigentlich verrückt?« fragte Tom.

 

Der Professor strich seinen Bart.

 

»Das glaube ich nicht; er ist nur sehr sensibel und beeinflußbar – außerhalb der Geschäftsstunden.«

 

Tom Scatwell lachte.

 

»Ist ein Mann, der in Monte Carlo nach einem System spielt, vielleicht verrückt?« fragte er. »Oder haltet ihr Leute für wahnsinnig, weil sie abergläubisch sind und zum Beispiel nicht zu dreizehn an einem Tisch sitzen oder nicht unter einer Leiter durchgehen wollen? Oder weil sie sich bekreuzigen, wenn sie ein scheckiges Pferd sehen? Vielleicht ist das tatsächlich eine Art Wahnsinn. Aber Bertram ist nicht geisteskrank, er hat nur eine schwache Seite …«

 

Es klingelte. Tom erhob sich, schlüpfte in seinen Livreerock und ging hinaus. Nach wenigen Minuten kam er zurück.

 

»Der Portier hat den Glaser heraufgebracht«, meldete er.

 

Rosie begann eilig seine Schürze abzunehmen.

 

»Nur keine Hast«, sagte Tom. »Der Mann hat weiter keine Bedeutung.«

 

»Wie sind denn eigentlich die Fensterscheiben zerbrochen, Rosie?« fragte Scatwell, der in Wirklichkeit der Vorstand des Haushalts war.

 

»Es ist nicht zu glauben!« erwiderte Rosie. »Drei an einem Nachmittag – es ist schrecklich. Und doch sagt man, daß New York die beste Polizei der Welt hätte.«

 

»Es gehört schon allerhand dazu, ein Fenster im dritten Stock einzuschlagen«, brummte Scatwell. »Die jungen Kerle müssen Schleudern benützt haben.«

 

»Es war ein außergewöhnlicher Zwischenfall«, erklärte Rosie. »Ich saß an meinem Tisch und las zum drittenmal den entzückenden Band von Gibbon – du müßtest ihn unbedingt auch lesen, Tom, der Stil ist flüssig und klar, der Aufbau tadellos –, da kracht plötzlich die Scheibe. Ich sprang sofort auf die Füße …«

 

»Ach, mach es doch kurz!« fuhr ihn Tom an. »Niemand erwartet, daß du auf den Kopf gesprungen bist. Hast du einen der Jungen gesehen, die es getan haben?«

 

»Nein«, entgegnete Rosie gekränkt.

 

Scatwell glitt vom Tisch herunter und ging in das große Wohnzimmer. Ein schlanker Mann mit dunkler Hautfarbe und dichtem, schwarzem Haar arbeitete an dem zerbrochenen Fenster. Er schien sich mindestens eine Woche lang nicht rasiert zu haben.

 

Scatwell, der nur selten die Fassung verlor, blieb sprachlos und verwirrt stehen, als er ihn sah, denn dieser Handwerker sah dem Mann täuschend ähnlich, den er als seinen größten und gefährlichsten Feind betrachtete.

 

»Hallo, Wopsy!« begann er schließlich. »Wie lang werden Sie zu tun haben?«

 

Der Mann grinste und schüttelte den Kopf. Dann zog er eine befleckte und beschmutzte Karte aus seiner Bluse und reichte sie Scatwell.

 

»Dieser Mann spricht nicht Englisch«, las der Butler.

 

»Kommen Sie aus Italien?« fragte er in der Sprache dieses Landes.

 

Er hatte sich einmal vier Jahre lang in Neapel versteckt gehalten und diese Zeit benützt, um seine Sprachkenntnisse zu erweitern.

 

»Ja«, erwiderte der Mann sofort. »Ich bin erst seit einem Monat in den Vereinigten Staaten. Kam direkt von Strezza zu meinem Bruder, der hier ein gutes Geschäft hat. Es ist herrlich, daß ich einmal wieder meine Muttersprache höre. Mein Bruder spricht nämlich meistens Amerikanisch, ebenso alle seine Freunde.«

 

»Würden Sie gern viel Geld verdienen?« fragte Scatwell, dem plötzlich ein Gedanke gekommen war.

 

»Natürlich würde ich gern viel Geld verdienen und dann in meine Heimat nach Strezza zurückgehen. Meine Frau ist nicht mitgekommen, und ich habe ihr versprochen, daß ich in drei Jahren wieder bei ihr bin. Ja, ich würde alles tun für Geld, wenn es sich um eine anständige, ehrliche Beschäftigung handelt. Ich stamme aus einer sehr achtbaren Familie, müssen Sie wissen.«

 

»Deshalb brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich möchte nur einem Freund gern einen kleinen Streich spielen – verstehen Sie. Und dabei könnten Sie mir vielleicht helfen.«

 

Er verließ den Mann und ging schnell zu dem Anrichteraum zurück, wo er seine beiden Gefährten traf.

 

»Habt Ihr den Mann gesehen«, fragte er eifrig. »Habt ihr ihn euch gut angeschaut?«

 

Die zwei anderen wunderten sich über seine Aufregung.

 

»Ja, ich habe ihn gesehen«, sagte Tom.

 

»Hast du nicht etwas Besonderes an ihm bemerkt?«

 

Tom zögerte.

 

»Nein.«

 

»Dann betrachte du ihn dir einmal, Rosie.«

 

Der Professor nahm sich nicht die Mühe, seine Schürze abzustreifen. Er ging aus dem Zimmer und kam sofort wieder zurück.

 

»Nun?« fragte Scatwell eifrig.

 

»Ich sehe auch nichts Besonderes an ihm. Wirklich nicht, mein Junge.«

 

»Dann beobachte ihn noch einmal, wenn du so blind bist. Der Mann könnte doch der Doppelgänger Corellys sein!«

 

»Corelly? Glaubst du, daß es am Ende Corelly selbst ist?« erwiderte Rosie bestürzt. »Vielleicht ist er in Verkleidung hergekommen?«

 

»Sei doch nicht so albern; ich sagte, er könnte der Doppelgänger Corellys sein.«

 

»Aber warum bist du denn so aufgeregt darüber?« meinte Sam.

 

»Er kann sehr nützlich für uns sein, besonders für mich«, entgegnete Scatwell. »Nehmen wir einmal an, wir schneiden ihm das Haar und stutzen ihn auch sonst zurecht … Dann könnte er selbst im Polizeipräsidium als Corelly auftreten!«

 

Mr. Samuel Featherstone legte den Gummistempel nieder und ging in das Arbeitszimmer des Professors, um von dort aus den Glaser zu beobachten. Als er zurückkam, zuckte er die Schultern.

 

»Ich will nicht sagen, daß dieser Junge Corelly gleicht«, meinte er, »weil ich den noch nicht nah genug gesehen habe, um ihn genau zu kennen. Aber was hast du eigentlich vor?« wandte er sich an Scatwell.

 

»Ja, das möchte ich auch wissen«, erkundigte sich der Professor. »Welcher Einfall ist dir gekommen? Ein neues Risiko dürfen wir nicht mehr eingehen – wir stecken schon tief genug in dieser verrückten Geschichte, und ich bin derselben Ansicht wie Sam. Je eher wir verschwinden, desto besser für uns.«

 

»Ihr verschwindet erst, wenn ich es will«, erwiderte Scatwell. »Ich sage euch, ich führe jetzt einen großen Schlag, und ich habe schon halb gewonnen.«

 

»Es wird aber Schwierigkeiten mit dem jungen Mädchen geben«, meinte der Professor. »Sie wird nicht ohne weiteres den Befehl der – der Götter annehmen.«

 

»Aber sie wird dem Befehl ihres Vaters gehorchen. Und wenn ich diesen Burschen da draußen für mich gewinnen kann, ist die Sache so gut wie erledigt. Nehmt doch nur einmal an, sie erfährt, daß ihr Vater an dem Schwindel mit dem goldenen Hades beteiligt ist und daß wir ihn als Mittäter bei einem Mord ins Zuchthaus bringen können. Glaubt ihr nicht, daß sie dann alles tun wird, um uns zum Schweigen zu veranlassen?«

 

»Und welche Rolle soll Corelly dabei spielen?« fragte der ›Diener‹.

 

»Das werdet ihr schon noch rechtzeitig erfahren«, wich Scatwell aus. »Es handelt sich jetzt nur darum, ob der Italiener den Auftrag annimmt und ob ihr mir helft, wenn er das tut!«

 

»Wozu hast du es nötig, eine solche Frage zu stellen? brummte Featherstone. »Wir müssen dir doch wohl helfen, nicht wahr? Geh zu ihm und erkläre ihm die Geschichte.«

 

Der Glaser äußerte Zweifel und sogar Unbehagen.

 

»Es mag ja ein Scherz sein, aber in meiner Heimat kommt man durch so etwas mit der Polizei in Konflikt. Und ich liebe solche Scherze auch nicht. Ich bin fremd in diesem Land, aber ich weiß sehr wohl, daß die Polizei sehr scharf ist.«

 

»Sie sollen doch gar nichts Ungesetzliches tun, sondern sich nur gut anziehen und sich da und dort sehen lassen. Wenn Sie jemand anspricht, geben Sie keine Antwort. Und für diese Kleinigkeit können Sie tausend Dollar verdienen.«

 

Aber der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Nein, das gefällt mir nicht. Vielleicht ist es besser, Sie suchen sich jemand, der wenigstens die Sprache beherrscht.«

 

Bei fünfzehnhundert Dollar wurde er jedoch schwankend, und bei zweitausend änderte er seine Meinung. Er besaß eine gute Auffassungsgabe und verstand sofort, als Scatwell ihm die Einzelheiten auseinandersetzte. Er hörte gut zu und stellte verständnisvolle Fragen, aber auf den Vorschlag, unter demselben Dach mit den drei anderen zu wohnen, ging er nicht ein.

 

»Ich sehe natürlich ein, daß ich nicht in das Haus meines Bruders zurückgehen kann. Das würde Aufsehen erregen, und die Leute würden sicher darüber sprechen. Vielleicht können Sie mir eine kleine Schlafstelle verschaffen. Hier möchte ich nicht bleiben, das wäre nicht klug. Ihr Scherz würde kein Scherz mehr sein, wenn man mich aus diesem Haus kommen sähe.«

 

»Er hat recht«, sagte Rosie. »Vollkommen recht. Wir haben doch noch das Zimmer, das wir seinerzeit für Sam gemietet haben, als er den Chauffeur für Wilbur Smith spielte. Dort kann er schlafen.«

 

Giuseppe Gatti – diesen Namen nannte der Mann – wurde dorthin gebracht. Der Professor schnitt aus einer Zeitschrift des vergangenen Jahres ein Photo von Peter aus, nahm eigenhändig die Maße des Mannes und besorgte die Kleider. Giuseppe bestand aber darauf, seinen eigenen Friseur zu nehmen, einen Landsmann, dem er trauen konnte.

 

Als es gegen zehn Uhr abends klopfte, öffnete Featherstone die Tür und prallte entsetzt zurück.

 

»Aber – aber – Mr. Corelly!« stammelte er.

 

Der Besucher antwortete jedoch in Italienisch. Verwirrt und betroffen führte Featherstone ihn zu Scatwells Zimmer.

 

»Schaut ihn an«, sagte er. »Wer ist das?«

 

Scatwell sprang auf.

 

»Ich wußte; daß ich recht hatte. Die Polizei und sogar selbst Smith werden getäuscht werden. Sie müssen nur noch etwas gebückter gehen, Giuseppe – so. Lassen Sie die Schultern ein wenig hängen.« Er machte es ihm vor. »Und wenn Sie gehen, müssen Sie die Füße etwas nachziehen.«

 

Zwei Stunden lang unterrichteten sie ihn über die Gewohnheiten Corellys und am Ende der Unterweisung erklärte Scatwell, daß Giuseppe nicht mehr von Peter zu unterscheiden wäre.

 

»Wenn mich nun aber jemand anspricht?« fragte der Mann. »Was soll ich dann sagen?«

 

»Niemand wird Sie ansprechen«, erwiderte Scatwell. »Und wenn es doch geschehen sollte, antworten Sie eben nicht. Ich werde Sie sehr bald zu einer jungen Dame bringen. Dann müssen Sie auf jede Frage, die ich an Sie stelle, mit ›Ja‹ antworten.«

 

»Gewiß, das werde ich tun.«

 

»Noch ein wenig mehr Übung und Praxis«, sagte Scatwell begeistert, »dann habe ich Bertrams halbes Vermögen in der Tasche.«

 

Kapitel 13

 

13

 

Am nächsten Nachmittag begegnete Peter Corelly Jose Bertram und Professor Cavan. Sie hatte wieder ihr altes Selbstbewußtsein, war strahlend und vergnügt. In ihrem Gesicht zeigte sich nichts mehr von der Depression, die sie am vergangenen Tag gequält hatte. Peter wunderte sich nicht wenig.

 

»Wie geht es Ihnen, Mr. Corelly? Ich sah Sie heute morgen schon einmal am Broadway, aber Sie nahmen keine Notiz von mir.«

 

»Am Broadway?« wiederholte er. »Ich war diesen Morgen aber gar nicht am Broadway. Ich habe mein Büro seit gestern abend kaum verlassen.«

 

Er bemerkte, daß ihn Cavan ungewöhnlich interessiert betrachtete.

 

»Was haben Sie denn, Professor?«

 

Peter lächelte und legte seine Hand ans Kinn, das mit einem schmalen Streifen Heftpflaster beklebt war.

 

»Ich habe mich heute morgen geschnitten – ist daran etwas Besonderes?«

 

»Nein, nein, Mr. … Ich habe Ihren Namen schon wieder vergessen. Nein, nein, Mr. Corelly. Ich habe Sie zwar betrachtet, in Wirklichkeit aber an etwas ganz anderes gedacht.«

 

»Sie sind vermutlich sehr beschäftigt, Mr. Corelly«, meinte Jose. »Hoffentlich nicht zu beschäftigt.« Ihre Worte hatten einen eigenartigen Unterton, sie klangen fast bittend.

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nicht so beschäftigt, daß ich mich nicht für die Angelegenheiten meiner Freunde interessieren könnte«, erwiderte er. »Sie erinnern sich …«

 

»Ja, ich erinnere mich«, entgegnete sie hastig. Sie glaubte, er wollte seine Telefonnummer nennen.

 

Es gab im Augenblick nichts weiter zu besprechen, und es schien ihm, daß sie diese Unterhaltung möglichst bald beenden wollte. Trotzdem hatte ihr die Begegnung mit ihm Kraft gegeben und sie mit Mut erfüllt.

 

Sie verabschiedeten sich von Peter und kamen zu dem Portal der Inter-State-Bank. Hier hielt sie an.

 

»Ich werde meinen Vater besuchen«, sagte sie zu ihrem Begleiter. »Und ich hoffe, daß Sie mir beistehen, Professor. Sie können doch nicht an solche abscheulichen Dinge glauben – es ist unmöglich, daß ein intelligenter Mann wie Sie das fertigbringt!«

 

Der kleine Herr streckte hilflos die Arme aus.

 

»Ich kann nur glauben, was ich als wahr erkannt habe. Es gibt gewisse Geheimnisse, die dem normalen menschlichen Auge verborgen, den Empfänglichen und Begabten aber sichtbar sind.«

 

»Sind solche Leute von den Göttern begabt?«

 

»Von den Göttern«, wiederholte er feierlich.

 

Sie preßte die Lippen zusammen.

 

»Dann wollen Sie mir also nicht helfen, Vater von diesen Halluzinationen zu befreien?«

 

»Doch, wenn es Halluzinationen sind. Aber, meine Liebe, es sind eben keine. Ihr Vater ist wirklich besonders begabt, das versichere ich Ihnen. Ich selbst« – er sprach mit großer Überzeugung – »hörte Pluto sprechen. In klaren, verständlichen Worten hat er zu Ihren Vater gesprochen.«

 

Sie sah ihn ungläubig an, aber er begegnete ihrem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

 

»Sie machen doch nur einen Scherz. Sie haben ein Götzenbild – eine Statue – sprechen hören?«

 

Er neigte den Kopf.

 

»Wann hat Pluto denn Englisch gelernt?«

 

»Die Götter sind mit allen Sprachen vertraut«, erwiderte er sachlich.

 

Sie zuckte die Schultern und wandte sich ab.

 

Der Professor ging lächelnd zu seiner Wohnung zurück.

 

Er hatte viel zu berichten, und Scatwell lauschte mit Genugtuung, als Rosie von dem Zusammentreffen mit Corelly erzählte.

 

»Ihr müßt aber trotzdem vorsichtig sein, Jungens«, sagte Cavan, als er seine kurze Pfeife ansteckte. »Wenn ihr Corelly argwöhnisch macht, und wenn sein Doppelgänger zu häufig gesehen wird, gibt es Nachforschungen, und Giuseppe wird eingebuchtet. Wo ist er denn jetzt?«

 

»Er ist in seine Wohnung zurückgegangen«, erwiderte Scatwell. »Ungefähr vor einer Stunde.«

 

»Übrigens muß ich dir noch eins sagen. Corelly hat sich am Kinn geschnitten, am linken Mundwinkel. Er hat einen kleinen Streifen Heftpflaster darübergeklebt. Den mußt du bei Giuseppe auch anbringen, wenn du ihn wiedersiehst. Außerdem ist der Junge viel zu gut gekleidet. Der wirkliche Corelly sieht wie ein Vagabund aus. Du mußt also vorsichtig sein – wenn der Mann zu gut angezogen ist, fällt er auf.«

 

Scatwell nickte.

 

»Sam, geh hin und sage ihm, daß er vor dem Abend nicht ausgehen soll. Das Heftpflaster kannst du ihm auch gleich ankleben. Zeige Sam noch einmal die Stelle, Rosie.«

 

Rosie beschrieb die genaue Stelle, die Größe und Form des Heftpflasters.

 

Sam erledigte seinen Auftrag und traf Signor Giuseppe Gatti dabei an, wie er vor Langerweile mit sich selbst würfelte.

 

Kapitel 14

 

14

 

Den ganzen Tag über hatte Jose Bertram Kraft gesammelt, um sich für den Kampf zu rüsten. Unerträglich langsam war der Nachmittag vergangen, und vergeblich hatte sie versucht, sich die Zeit durch Lesen zu verkürzen. Endlich hörte sie, daß der Wagen ihres Vaters ankam. Gleich darauf vernahm sie seinen leichten Schritt in der Halle. Er ging zu seinem Zimmer hinauf.

 

Wie sollte sie beginnen? Wieviel sollte sie sagen? Und war er wirklich in diese grauenvolle Geschichte verwickelt? George Bertram war ihr immer ein guter Vater gewesen. In seiner freundlichen, liebenswürdigen, wenn auch etwas unbestimmten Art hatte er alles für sie getan, was ein Vater nur tun konnte, und sie liebte ihn aufrichtig. Er war ein reicher Mann und konnte sich manche Torheit gestatten, nur diese eine nicht. Ob er geisteskrank war? Schon der Gedanke daran ließ sie erzittern. Aber es gab andere Leute, die die merkwürdigsten Ideen hatten und doch vollständig vernünftig waren.

 

Sie klingelte, und Jenkins, ein Engländer, der schon zwanzig Jahre in den Diensten der Familie stand, kam herein.

 

»Schließen Sie die Tür, Jenkins«, sagte sie. »Ich möchte Sie etwas über meinen Vater fragen.«

 

»Ja«, erwiderte der Diener.

 

»Sie wissen, daß ich niemals Fragen über das Leben meines Vaters gestellt habe, und es wäre auch nicht recht gewesen, wenn ich es getan hätte. Aber jetzt hat sich etwas sehr Ernstes ereignet, Jenkins, und ich bitte Sie, mir zu helfen, so gut Sie nur können. Was ist in dem abgegrenzten Teil des Parks verborgen?«

 

Der Diener schüttelte den Kopf.

 

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen darüber keine Auskunft geben kann, weil ich es selbst nicht weiß. Es ist auch sonst niemand im Haus, der jemals den Fuß in den inneren Park gesetzt hätte. Als Mr. Bertram dieses Anwesen vor neun Jahren kaufte, gehörte der innere Park zu dem Grundstück. Man konnte dort umhergehen – und ich bin auch tatsächlich oft dort spazierengegangen. Aber als wir vor zwei Jahren von Florida zurückkamen, wo wir den Winter verbracht hatten, war eine hohe Mauer darum gebaut worden. Erst dann wurde der innere Park als ein besonderes Stück abgetrennt. Sie waren damals noch auf der Schule.«

 

Sie nickte.

 

»Mr. Bertram ließ das Tor einsetzen, und seit jener Zeit hat meines Wissens niemand den Park betreten. Ich glaube, er hat sich dort ein Sommerhaus oder etwas Ähnliches gebaut. Gesehen habe ich es allerdings nicht, ebensowenig einer der Leute, die ich kenne.«

 

»Hat Vater verboten, in den inneren Park zu gehen?«

 

»Ja. Jedem Diener im Haus wurde bei Übertretung, des Verbots mit Entlassung gedroht. Und dabei ist Mr. Bertram ein so guter Herr. Es hätte genügt, zu sagen, daß er es nicht wünschte, und alle hätten ihm gehorcht.«

 

»Kommt auch kein Gärtner hin?«

 

»Nein. Ungefähr sechzig Hektar liegen dort brach.«

 

Sie stützte das Kinn in die Hand.

 

»Und was sagen denn die Diener dazu?«

 

»Ach, sie sagen allerhand«, entgegnete Jenkins zögernd. »Einige meinen, daß Mr. Bertram noch …« Verwirrt hielt er inne, und Jose lachte leise.

 

»Daß er noch einen anderen Haushalt hat?« fragte sie. »Das wäre nicht ungewöhnlich für einen reichen Mann, aber ich glaube, das ist es nicht …«

 

Sie erfuhr wenig, was sie nicht schon gewußt hatte, und ging schließlich nach oben, um sich zum Abendessen umzukleiden. Nur selten speiste sie allein mit ihrem Vater; meistens waren der Professor oder Geschäftsfreunde eingeladen.

 

Während des Essens war Bertram einsilbig und nervös. Einmal bemerkte er, daß seine Tochter ihn ernst betrachtete, und senkte den Blick, als ob er bei einer Handlung ertappt worden wäre, deren er sich schämen müßte. Es kam kaum ein Gespräch zustande, und nach Beendigung der Mahlzeit erhob er sich, um wie gewöhnlich den Rest des Abends in seinem Arbeitszimmer zu verbringen.

 

Aber Jose hielt ihn zurück.

 

»Vater, ich hätte gern noch ein wenig mit dir gesprochen, bevor du dich zurückziehst.«

 

»Mit mir, Liebling?« fragte er leicht überrascht. »Brauchst du etwas? Ich dachte, dein Bankkonto …«

 

»Es handelt sich nicht um Geld oder Kleider – es handelt sich um dich.«

 

»Um mich?«

 

Er errötete wie ein kleiner Junge. Dieser große, erwachsene Mann hatte überhaupt etwas Kindliches in seinem Wesen. Jose war darüber schon oft verwirrt und erstaunt gewesen.

 

»Ich möchte mit dir über den goldenen Hades sprechen«, erklärte sie ruhig und selbstsicher.

 

»Den – goldenen – Hades?« erwiderte er mit stockender Stimme. »Aber Liebling, das ist eine Sache, die etwas außerhalb deines Bereiches liegt.«

 

»Ich glaube, daß sie ebenso auch etwas außerhalb deines Bereiches liegt«, sagte sie freundlich.

 

Er wurde im allgemeinen niemals wütend oder zornig, wenn er mit ihr sprach, aber jetzt geriet er doch in Aufregung und wandte sich scharf an sie.

 

»Du achtest nicht auf meine Wünsche, Jose«, sagte er und machte einen kühnen, aber eindruckslosen Versuch, bestimmt und energisch aufzutreten. »Wirklich, du nimmst keine Rücksicht darauf. Neulich abends dachte ich noch, die Götter hätten zu dir gesprochen wie zu mir.«

 

Es zeigte sich plötzlich ein Ausdruck in seinem Gesicht, der seine Züge fast verklärte. Jose beobachtete ihn und sah ihn verwirrt an.

 

»Es ist schwer für dich, zu glauben, daß die Götter einen Gatten für dich erwählt haben und daß du in deinem Glück die Belohnung für meine Gaben an die Armen Plutos finden wirst, aber …«

 

»Warte, warte!« unterbrach sie ihn. »Die Götter haben zu dir gesprochen? Vater, weißt du denn, was du sagst? Du hast mich furchtbar erschreckt, als du mir neulich ganz nebenbei erzähltest, daß die Götter einen Gatten für mich erwählt hätten. Als ich dich dann am nächsten Morgen fragte und du so ernst und sachlich über die ungeheuren Summen sprachst, die du verschleudert hast …«

 

»Durch das Walten des gütigen Pluto kommt dieses Geld in die Hände derjenigen, die die Götter bevorzugen und die es am nötigsten brauchen«, erklärte er mit wachsender Begeisterung. »Manchmal wird es den Ärmsten der Armen zugeteilt; manchmal kommt eine Botschaft, daß ich es dem zehnten Mann übergeben muß, den ich treffe, nachdem die Uhr eine gewisse Stunde geschlagen hat; manchmal wird es mit einem Bogen zum Himmel geschossen und fällt dort nieder, wo es niederfallen soll.«

 

Sie stand auf, ging um den Tisch und legte den Arm um seinen Hals.

 

»Ja, ja, Vater, du hast mir etwas Ähnliches erzählt und auch gesagt, daß dir der Gott befohlen hat, eine große Summe am Philadelphia-Bahnhof zu hinterlassen.«

 

»Nein, nein – nicht so. Der Gott sprach von der siebten Straße –«

 

Sie hätte zu gleicher Zeit lachen und weinen mögen.

 

»Es war auf der siebten Straße«, fuhr er feierlich fort, »im Tempel des Merkur, dem Palast des Erfolges, wo die Menschen von feurigen Pferden zum Ende der Erde getragen werden …«

 

»Ja, der Philadelphia-Bahnhof stimmt mehr oder weniger mit dieser Beschreibung überein, und ich weiß, daß dort Geld zurückgelassen werden sollte. Welches Wunder sollte denn dieses Geld vollbringen?«

 

Er sah sie sonderbar an, als ob er sie nicht mehr für ganz normal hielte.

 

»Es sollte in die Hände eines Menschen gelangen, der es sehr notwendig brauchte«, erwiderte er kurz. »Bitte, mische dich nicht in diese Dinge ein, Jose.«

 

»Und doch ist es in meine Hände gekommen«, unterbrach sie ihn gelassen. »Und dabei brauche ich es gar nicht notwendig – wenigstens jetzt nicht.«

 

»In deine Hände?«

 

Bestürzt schaute er sie an.

 

Sie nickte.

 

»Ich beobachtete deinen Boten, und ich nahm das Päckchen von dem Mann, dem es übergeben wurde.«

 

»Aber – aber – ich verstehe nicht…«

 

»Es fiel in meine Hände, und bis jetzt bin ich mit dem Leben davongekommen. Sieh her!«

 

Sie ging zu dem Büfett und öffnete einen kleinen Kasten, den sie mitgebracht hatte, als sie aus ihrem Zimmer herunterkam. Das dicke Bündel Banknoten, das sie daraus hervorzog, legte sie vor ihn auf den Tisch.

 

»Sicherlich machen die Götter doch keine Fehler?« sagte sie. »Ich hätte die Scheine doch nicht erhalten können, wenn sie nicht für mich bestimmt gewesen wären?«

 

Er ärgerte sich über ihren ironischen Ton.

 

»Warum hast du das Geld genommen?« fuhr er sie an.

 

»Um das Leben des Mannes zu retten, für den es bestimmt war.«

 

»Um das Leben –«

 

»Ja, um das Leben des Mannes zu retten, für den es bestimmt war«, wiederholte sie nachdrücklich.

 

George Bertram sah sie verwirrt an. Seine Bestürzung war so groß, daß er sogar seinen Ärger darüber vergaß.

 

»Willst du mir das bitte näher erklären, Jose?«

 

»Vater, ich möchte nicht vorlaut sein, aber man sagt, daß die Menschen, die die Götter lieben, jung sterben. Sicher ist es jedenfalls, daß sie schnell sterben. Hast du einmal von dem Higgins-Mord gehört?«

 

Er runzelte die Stirn.

 

»Ja, ich erinnere mich an den Fall. Aber was hat das mit dieser Sache zu tun?«

 

»Ich will dir den Zusammenhang erklären. Die Frau wurde ermordet, weil sich gewisse Leute das Geld verschaffen wollten, das deiner Meinung nach den Armen zugute kommen sollte.«

 

»Unmöglich!« rief er atemlos. »Ich …«

 

»Ein Detektiv, der ein anderes Bündel deiner Banknoten erhielt, wurde beraubt und halbtot geschlagen. Das Geld, das du unter dem Einfluß Professor Cavans ausgibst, zieht eine Spur gemeiner Verbrechen nach sich. Männer und Frauen sind ermordet, geschlagen, entführt worden – Diebstahle sind begangen worden –, und das alles im Namen der Götter!«

 

Er sprang auf.

 

»Ich glaube kein Wort davon«, sagte er hitzig. »Du kannst meinen Glauben nicht erschüttern, Jose. Diese Dinge gehen über dein Verständnis hinaus.«

 

»Ich …«

 

»Kein Wort mehr! Ich sagte dir doch, du wirst meinen Glauben nicht erschüttern!«

 

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

 

Kapitel 15

 

15

 

Jose folgte ihrem Vater langsam, aber als sie in die Halle kam, war er bereits verschwunden. Sie ging zu ihrem Zimmer hinauf, verschloß die Tür und zog ein einfaches Kleid an. Nun war sie endgültig entschlossen, das Geheimnis des inneren Parks zu lösen. Aus einer Schublade ihres Frisiertisches nahm sie einen kleinen Revolver und lud ihn.

 

Nachdem sie ihn in die Tasche gesteckt hatte, drehte sie das Licht aus, öffnete die Fenstertür ihres Schlafzimmers und trat auf den Balkon hinaus. Es bestand die Möglichkeit, daß ihr Vater zu Hause blieb; gedämpftes Licht drang aus seinem Arbeitszimmer, als sie ihre Wache begann. Nach einer Stunde wurde es dunkel, und wenige Minuten später sah sie ihn auf dem Pfad, der zu dem inneren Park führte. Rasch ging sie durch ihr Schlafzimmer, eilte die Treppe hinunter und lief aus dem Haus. Sie hielt sich auf dem Rasen, der ihre Schritte fast unhörbar machte. Gleichzeitig fand sie auch Deckung in dem nahen Gebüsch.

 

Sie verlor ihn aus dem Auge, als er in dem Laubwerk untertauchte, das die Mauer verbarg. Aber sie hörte, wie er den Schlüssel in die Tür steckte. Gleich darauf schlug die Tür zu, und nun konnte Jose es wagen, vorzudringen. Sie hatte diese Tür schon oft besichtigt, aber noch nie daran gedacht, die Anordnungen ihres Vaters nicht zu befolgen.

 

Die Mauer war mindestens dreieinhalb Meter hoch. Jose hatte jedoch ihre Vorbereitungen getroffen. Fünfzig Schritte rechts von der Tür befand sich ein dichtes Gebüsch. Aus diesem Gesträuch zog sie eine leichte Leiter heraus, stellte sie gegen die Mauer und erreichte ohne Schwierigkeiten die Krone. Dann zog sie die Leiter nach oben und ließ sie auf die andere Seite hinunter.

 

Als sie unten angelangt war, ging sie zu der inneren Seite der Tür. Von dort führte ein Pfad zu dem unbekannten Tempel. Es war unbedingt notwendig, daß sie wieder den Rückzug zu ihrer Leiter fand, und nachdem sie sich die Umgebung genau eingeprägt hatte, machte sie sich furchtlos an die Durchführung ihrer Expedition.

 

Der Weg war gut zu erkennen, und der Mond schien hell genug, um ihr das Anknipsen der Taschenlampe zu ersparen, die sie mitgenommen hatte.

 

Bald erreichte sie den Tempel und blieb bei dem seltsamen Anblick stehen. Es war ein kleines, schönes Gebäude, das sich im Stil an den Tempel der Athene anlehnte.

 

Armer Pluto! dachte sie und lächelte. Obwohl es sich um eine grauenvolle Geschichte handelte, hatte sie von Anfang an die humorvolle Seite der Sache gesehen. »Ausgerechnet in dem Tempel der Athene mußt du verehrt werden!«

 

Es war niemand zu sehen, und nirgends zeigte sich Licht in dem Gebäude. Offenbar hielt man es nicht für notwendig, eine Wache auszustellen. Geräuschlos ging sie über den Rasen und stieg die Stufen zu der Säulenvorhalle hinauf.

 

Die verhältnismäßig große Holztür stand offen, und Jose schlich auf Zehenspitzen hinein. Gleich darauf stand sie einem schweren Samtvorhang gegenüber. Durch eine Ritze drang Licht nach außen. Sie trat dicht heran und lugte hindurch.

 

Durch eine Reihe von Säulen sah sie einen Altar, auf dem eine goldene Statue leuchtete; aber ihre Aufmerksamkeit richtete sich weniger darauf als auf die beiden Männer, die in ehrfurchtsvoller Haltung davorstanden. Ohne Mühe erkannte sie den kleinen Mann an der Seite ihres Vaters, obwohl die beiden seltsame Gewänder trugen. Seine Stimme hatte einen schönen, vollen Klang.

 

»O Hades, du Spender des Reichtums!« rief er und breitete flehend die Arme aus. »Gib diesem Zauderer ein Zeichen! Sprich, o Pluto, du Herr der Unterwelt, du Gott des Reichtums!«

 

Jose lauschte angestrengt, aber sie hörte keine Antwort. Das Schweigen wurde schon bedrückend, als plötzlich eine Stimme ertönte – eine hohle, laut schallende Stimme, die aus der Statue selbst zu kommen schien.

 

»Fremdling, erinnere dich an dein Versprechen! Du hast mir gelobt, daß du deine Tochter dem von mir erwählten Mann geben würdest. Die Stunde ist nun gekommen. Wohlfahrt und Glück umgeben dich, und es soll ein Platz an der Tafel der Götter für dich bereitet sein, mein Diener.«

 

Joses Herz schlug wild. Sie fühlte, daß sie ersticken mußte, wenn sie nicht ins Freie kam. Ihre Gedanken jagten wild durcheinander; sie taumelte die Stufen hinunter und stürzte zu Boden.

 

Das war also die Lösung des Geheimnisses – auf solche Weise erhielt ihr Vater seine Inspirationen! Jose richtete sich wieder auf, und obwohl ihre Knie zitterten, eilte sie zu dem anderen Ende des Tempels. Sie erwartete, dort den Mann zu sehen, der eben für den goldenen Hades geantwortet hatte, aber sie konnte niemand entdecken. Verwirrt blieb sie stehen und vergaß über diesem Problem sogar den Schrecken, der sie gepackt hatte.

 

Wenn sie gewußt hätte, daß sich in der einen Ecke des Gebäudes hinter den Karyatiden ein Ventilationsschacht befand, durch den Frank Alwin geklettert war, hätte sie vielleicht das Vorhandensein dieses Raums als eine Erklärung aufgefaßt. Aber in Wirklichkeit hatte der Schacht nichts damit zu tun.

 

Sie dachte schnell nach. Die Stimme Plutos war ihr irgendwie bekannt erschienen. Sie hatte geklungen, als ob … als ob … Plötzlich kam ihr die Erkenntnis. Der Betreffende mußte ein Sprachrohr benützt haben! Wenn ein solches Instrument von außerhalb nach innen ins Gebäude führte, mußte man es in gerader Linie zu der Statue führen. Sie maß die ungefähre Entfernung und begann zu suchen, konnte aber nichts entdecken.

 

Schließlich kniete sie nieder, preßte das Ohr auf die Erde und hörte auch gleich darauf ein schwaches Geräusch. Sie sah sich nach einem brauchbaren Werkzeug um, mußte sich aber mit einem Stück abgestorbenen Holzes begnügen. Damit wühlte sie den Boden auf.

 

Ihre Mühe wurde bald belohnt. Ungefähr zwanzig Zentimeter unter der Oberfläche fand sie eine Röhre, die vom Tempel in ein kleines Gebüsch führte. Wie sie bald darauf entdeckte, war es etwa fünfzig Meter entfernt.

 

Vorsichtig ging sie darauf zu und hütete sich, irgendein Geräusch zu machen. Sie kam an dem Saum des Gebüschs an und schlich dann behutsam von Baum zu Baum weiter. Ab und zu hielt sie an und lauschte, konnte jedoch nichts hören. Aber als sie gerade wieder den Fuß hob, um einen Schritt weiter vorzudringen, vernahm sie plötzlich ein kurzes, lautes Summen. Sie erschrak so sehr, daß sie beinahe einen Schrei ausgestoßen hätte.

 

Das Geräusch konnte nur ein Signal gewesen sein. Sie hielt den Atem an, als sie diese einfache Erklärung fand. Natürlich, der Mann im Tempel mußte seinem Komplicen doch ein Signal geben, damit dieser wußte, wann er sprechen sollte. Und als Beweis für ihre Theorie ertönte jetzt auch dicht in ihrer Nähe seine Stimme:

 

»Dieses sagt der Herr der Unterwelt…«

 

Jose hatte ihre kleine Taschenlampe herausgezogen und leuchtete nun in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein Mann lag dort mit dem Gesicht nach unten auf der Erde und hielt einen Metalltrichter an den Mund. Sie konnte die schmale Zementeinfassung sehen, in der wahrscheinlich das Sprachrohr mit der Signalanlage verborgen war. Der Mann ließ das Mundstück fallen und stand fluchend auf.

 

»Habe ich das Vergnügen, Pluto oder einen seiner Anhänger vor mir zu sehen?« fragte Jose ironisch.

 

»Miss Bertram!« rief der Mann.

 

Sie erkannte ihn an der Stimme.

 

»Sie sind doch der Butler des Professors?«

 

Sie richtete den Lichtstrahl immer noch auf ihn, während er den Staub von seinen Knien wischte. Die auffallende Gelassenheit dieses Mannes beunruhigte sie.

 

»Nun ja, es hat keinen Zweck, noch viel zu reden«, sagte er. »Sie haben mich geschnappt. Miss Bertram, ich glaube, Sie wissen jetzt alles, was über den goldenen Hades zu wissen ist.«

 

»Und ich weiß auch alles über Sie. Und morgen, wenn es noch ein Gesetz in diesem Land gibt…«

 

»Ach, wir wollen nicht über das Gesetz sprechen«, entgegnete er kühl. »Das würde keinem von uns helfen, am allerwenigsten Ihrem Vater.«

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Also, seien Sie vernünftig und nehmen Sie an, Sie hätten das alles nur geträumt. Tun Sie, als ob Sie niemals hinter die Kulissen gesehen hätten, und führen Sie den Befehl des Gottes aus.«

 

»Ich soll den Erwählten heiraten?« fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.

 

»Jawohl, Sie sollen den Erwählten heiraten«, wiederholte er und nickte. »Und der Erwählte bin ich.«

 

Sprachlos sah sie ihn an.

 

»Sie ersparen sich dadurch selbst viel Mühe und bewahren Ihren Vater vor schlimmen Dingen«, fuhr er fort. »Nehmen Sie Vernunft an, Miss Bertram. Sie müssen das unbedingt tun, weil Sie die einzige sind, die Ihren Vater aus der Geschichte heraushalten und uns vor Schwierigkeiten schützen kann.«

 

»Selbst wenn ich könnte, würde ich Ihnen nicht helfen! Keinem von Ihnen. Mein Vater ist unschuldig an den Verbrechen, die Sie begangen haben.«

 

»Das werden Sie beweisen müssen. Und leicht wird Ihnen das sicher nicht fallen!«

 

»Selbst dann könnte ich Sie nicht retten. Es ist ein Mann auf Ihrer Spur, der Sie verfolgen wird, bis er Sie gefaßt und dorthin gebracht hat, wohin Sie gehören.«

 

»Es ist ein Mann auf Ihrer Spur«, erwiderte Tom Scatwell feindselig, »der nicht nachlassen wird, bis er Sie gefaßt hat. Ich denke an den gleichen wie Sie – an Peter Corelly.«

 

Sie versuchte, die Dunkelheit mit ihrem Blick zu durchdringen; schon lange hatte sie ihre Taschenlampe ausgeschaltet.

 

»Ich verstehe Sie nicht.«

 

»Nicht? Ach, Rosie ist nicht so dumm, wie Sie glauben.«

 

»Rosie?« fragte sie verwirrt.

 

»Ich spreche von dem Professor. Er ist klug, und wenn er auch ein Verbrecher ist, versteht er es doch, in den Herzen der Menschen zu lesen. Sie finden kaum einen größeren Psychologen als ihn. Rosie hat gesehen, mit welchen Blicken Corelly Sie betrachtete, und danach hat er den Fall beurteilt.«

 

Sie errötete und war dankbar, daß man in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht sehen konnte.

 

»Sie sind wahnsinnig«, sagte sie. »Sie wollen mich nur beleidigen – ich gehe zu meinem Vater zurück.«

 

»Noch einen Augenblick, Miss Bertram.« Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ob Peter Corelly in Sie verliebt ist oder nicht, macht gar keinen Unterschied. Das geht nur ihn an, und ich glaube, ich kann schon mit ihm fertig werden – nachdem wir verheiratet sind. Sie werden und Sie müssen mich heiraten, ob Sie wollen oder nicht, wenn Sie nicht Ihren Vater unter Anklage des Mordes vor Gericht sehen wollen. Es wird einen Run auf die Bank geben, wenn herauskommt, daß er nahezu eine Million Dollar auf diese Weise verschleudert hat – verstehen Sie mich?«

 

»Ja, ich verstehe«, erwiderte sie leise und drehte sich um.

 

Scatwell machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

 

Kapitel 1

 

1

 

Frank Alwin hob mühsam die Hände, die mit Handschellen aneinandergefesselt waren, und riß sich den angeklebten Schnurrbart ab. Durch den schweren Vorhang drangen schwach die Klänge des letzten Orchesterstückes, während das Publikum das Theater verließ. Der Requisitenverwalter erschien auf der Bühne.

 

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »ich habe nicht gewußt, daß der Vorhang schon heruntergegangen ist. Heute abend ist die Vorstellung eher zu Ende als sonst.«

 

Frank nickte und sah zu, wie der Mann mit einem besonderen Schlüssel die Handschellen aufschloß und in Verwahrung nahm. Noch vor fünf Minuten hatte Frank Alwin die Rolle des verruchten und bösen Grafen Larska gespielt, der bei einem Einbruch in die Bank von Brasilien ertappt und dann von dem tapferen, unbesiegbaren Detektiv verhaftet wird.

 

In Gedanken versunken blieb er stehen, während die Lampen im Bühnenhaus nach und nach ausgedreht wurden und die Arbeiter die Versatzstücke forträumten. Dann ging er zu dem weißgetünchten Vorraum, der zu den einzelnen Garderoberäumen der Schauspieler führte.

 

Ein junges Mädchen im Straßenkleid wartete dort auf ihn. Sie hatte ihre kleine Nebenrolle schon vor einer Stunde beendet. Frank dachte im Augenblick an ganz andere Dinge; immerhin fiel ihm ein, daß er eine gewisse Verpflichtung ihr gegenüber hatte. Im Unterbewußtsein erinnerte er sich daran, daß er den großen Stoß Papiergeld, den er sich im letzten Akt aus dem Geldschrank der Bank angeeignet hatte, dem Requisitenverwalter noch nicht zurückgegeben hatte. Im Gegenteil, er hatte die Scheine in die Tasche gesteckt und mitgenommen. Er lächelte das ängstliche junge Mädchen an, als er auf sie zuging, und drückte ihr etwa sechs Banknoten in die Hand, die er aus der Tasche zog. Er faltete sie noch besonders sorgfältig, bevor er sie ihr übergab.

 

»Das ist für Sie, Marguerite«, sagte er mit einem gewissen Pathos.

 

Er bemerkte, daß sie ihn erstaunt, fast bestürzt ansah, lachte aber nur still vor sich hin und stieg die Treppe zu seinem Ankleideraum hinauf, immer zwei Stufen mit einem Schritt.

 

Als er fast oben angelangt war, fiel ihm etwas ein. Er hatte sich geirrt, fluchte und eilte wieder nach unten, aber die junge Dame war inzwischen fortgegangen.

 

Wilbur Smith, der früher als Offizier beim Militär gedient hatte und jetzt als Detektiv beim Polizeipräsidium in New York tätig war, machte es sich in einem der großen Armsessel bequem. Er saß in der Garderobe des Schauspielers Frank Alwin, und während er auf seinen Freund wartete, rauchte er dauernd und füllte die Luft mit Tabaksqualm. Als Frank Alwin hereinkam, schaute Smith auf.

 

»Hallo, Frank!« rief er. »Was ist denn los? Hat die Vorstellung heute nicht geklappt?«

 

»Ich bin ein dummer Kerl«, erwiderte Alwin und sank in den bequemen Stuhl vor seinem Ankleidetisch.

 

»In mancher Beziehung gebe ich dir vollkommen recht, aber andererseits bist du auch ein sehr tüchtiger Schauspieler. Welche besondere Dummheit hast du denn begangen?«

 

»Es handelt sich um ein Mädchen«, begann Frank.

 

Smith nickte mitleidig.

 

»Verzeihung, ich wollte mich nicht in deine persönlichen Verhältnisse einmischen. Wenn du in der Beziehung Dummheiten gemacht hast, dann spricht das noch nicht besonders gegen dich.«

 

»Ach, rede doch keinen Unsinn«, entgegnete Alwin gereizt. »Um dergleichen handelt es sich doch überhaupt nicht. Es ist ein nettes kleines Mädchen, das zu unserem Ensemble gehört …«

 

Er zögerte einen Augenblick.

 

»Nun gut, ich kann es dir ja auch sagen. Sie heißt Maisie Bishop und hat eine kleine Rolle in dem Stück, das wir jetzt spielen.«

 

Wilbur nickte.

 

»Ich habe sie schon auf der Bühne gesehen. Sie ist wirklich sehr hübsch. Aber was hast du mit ihr?«

 

Frank antwortete nicht gleich und sah den anderen nachdenklich an.

 

»Als ich heute abend auf die Bühne gehen wollte, kam sie zu mir«, erklärte er etwas betreten. »Sie schien sehr besorgt zu sein und sagte mir, daß sie große Schwierigkeiten hätte. Ihre Familie leide bittere Not, und sie bat mich, ihr etwas Geld zu leihen. Ich hatte im Augenblick natürlich keine Zeit, mich mit ihr zu beschäftigen, da jeden Augenblick mein Stichwort fallen mußte. Ich versprach ihr aber, daß ich ihr helfen wollte, und dann habe ich es ganz vergessen.«

 

»Nun, du kannst sie ja noch aufsuchen, sie ist doch sicherlich nicht schwer zu finden.«

 

»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf. Aber sieh einmal her!« Er steckte die Hand in die Tasche, holte einen Stoß Banknoten heraus und legte sie auf den Tisch. »Das ist natürlich falsches Geld, wie wir es auf der Bühne brauchen. Ich sah, daß sie wieder unten im Vorraum auf mich wartete, aber durch das Theaterspiel hatte ich tatsächlich vergessen, was wir vorher miteinander besprochen hatten. Ich wollte einen Scherz machen und gab ihr ein halbes Dutzend dieser Scheine. Es sollte wirklich nur ein Scherz sein.«

 

Wilbur lachte.

 

»Aber darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen. Wenn sie verhaftet werden sollte, weil sie Falschgeld unter die Leute bringt, werde ich sie und auch dich schon durchbringen. Das verspreche ich dir. Der Schaden ist also nicht so groß.«

 

Er erhob sich, ging zu dem Ankleidetisch hinüber und nahm den Stoß Banknoten in die Hand. Es war ein dickes Bündel und der aufgedruckte Wert der Scheine ziemlich hoch.

 

»Ich wundere mich, daß ihr auf der Bühne derartig gut gedrucktes Geld benützt.«

 

Alwin war gerade dabei, sein Gesicht mit Creme einzureiben und sich abzuschminken. Plötzlich hielt er jetzt mitten in der Bewegung inne.

 

»Das ist mir auch schon aufgefallen. Es ist jedenfalls nicht das übliche Geld, das wir sonst immer auf der Bühne benützen. Man könnte fast annehmen, daß es sich um echte Scheine handelte.« Er wischte seine Hand an dem Tuch ab, nahm eine der Banknoten und betrachtete sie genau. »Das Wasserzeichen sieht genauso aus, als ob es echt wäre. Ich möchte bloß wissen, wo diese Banknoten herkommen. Noch nie habe ich derartig fabelhaft imitierte Scheine gesehen. Ich fürchte nur, daß die Leute Maisie das Geld als echt abnehmen und daß der Irrtum erst später herauskommt. Wilbur, willst du mir nicht den Gefallen tun, zu ihrer Wohnung zu gehen und mit ihr zu sprechen? Sie wohnt irgendwo im Osten, der Portier am Bühnenausgang wird dir sofort ihre Adresse geben.«

 

»Wirklich merkwürdig«, erwiderte Smith nachdenklich, während er einen der Scheine zwischen den Fingern rieb. »Ich habe auch noch nie so gut gedrucktes Falschgeld gesehen. Aber – um Himmels willen, was ist denn das?«

 

Er hatte die Banknote umgedreht und starrte entsetzt auf die Rückseite.

 

»Was hast du denn?« fragte Alwin erstaunt.

 

Der Detektiv deutete auf ein gelbes Zeichen, das auf die Rückseite des Scheines aufgedruckt war.

 

»Was ist denn das?«

 

»Was glaubst du wohl, daß es sein könnte?« fragte Wilbur. Seine Stimme klang seltsam.

 

»Es sieht fast aus, als ob es die Darstellung eines Götzenbildes wäre.«

 

»Da hast du tatsächlich recht. Es ist das Bild des goldenen Hades.«

 

»Ich habe nicht verstanden. Was soll das sein?«

 

»Der goldene Hades. Hast du niemals von ihm gehört?«

 

»Doch«, erwiderte Frank lächelnd. »Das ist ein Platz, zu dem man die Leute hinbefördert, die einem im Weg stehen!«

 

»Ja, mit anderen Worten – die Unterwelt. Hades kann aber auch der Gott der Unterwelt sein«, erklärte Wilbur Smith grimmig. »Die Römer nannten den alten Herrn Pluto.«

 

»Aber warum nennst du ihn golden? Hat er etwa eine derartige Farbe gehabt?«

 

Sein Freund schüttelte den Kopf.

 

»Das ist das dritte Mal, daß ich Gelegenheit habe, einen derartigen Aufdruck zu sehen. Die anderen Stempel, die ich bisher kennengelernt habe, waren allerdings mehr goldfarben.«

 

Wilbur Smith nahm den Stoß Banknoten vom Tisch auf und zählte ihn sorgfältig durch.

 

»Das sind zusammen sechsundneunzigtausend Dollar!«

 

»Glaubst du tatsächlich, daß es echtes Geld ist?« fragte Frank erstaunt und atemlos.

 

»Daran ist nicht zu zweifeln, es sind echte Scheine«, entgegnete der Detektiv und nickte. »Wo hast du die denn herbekommen?«

 

»Auf die gewöhnliche Weise – vom Requisitenverwalter.«

 

»Den Knaben muß ich sprechen. Kannst du ihn nicht rufen lassen?«

 

»Wenn er noch nicht nach Hause gegangen ist«, erwiderte Frank, ging zur Tür, öffnete sie einen Spalt und rief nach seinem Diener.

 

»Schicken Sie doch bitte Hainz zu mir.«

 

Glücklicherweise konnte der Requisitenverwalter noch angehalten werden, als er gerade das Theater verlassen wollte. Er kam in den Ankleideraum, und zufällig fiel sein Blick sofort auf das Geld, das auf dem Tisch lag. Ungeduldig trat er zu Alwin.

 

»Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte, als ich Ihnen die Handschellen abnahm, Mr. Alwin. Ich werde das Geld noch verwahren …«

 

»Warten Sie einen Augenblick«, entgegnete Wilbur Smith. »Sie kennen mich doch, Mr. Hainz?«

 

»Jawohl«, sagte der Mann und grinste über das ganze Gesicht. »Ich habe Sie zwar noch nicht in Ihrer amtlichen Eigenschaft kennengelernt, aber trotzdem weiß ich sehr gut, wer Sie sind.«

 

»Woher haben Sie das Geld?«

 

»Das Geld? Meinen Sie etwa diese Papiere hier?« Er zeigte auf die Scheine, die auf dem Tisch lagen.

 

»Ja.«

 

»Woher ich die habe?« wiederholte Hainz. »Nun, die habe ich in dem Requisitengeschäft gekauft, von dem wir alle Utensilien beziehen. Ich hatte nicht mehr genügend Papiergeld für die Bühne, und so besorgte ich mir wieder einen Stoß. Gleichzeitig wurde bei der Firma übrigens ein Plakat für den Film ›Der verführerische Reichtum‹ zusammengestellt, und ich sah, wie man es mit solchen Scheinen einrahmte. Sie wurden auf den Rand eines großen Bogens geklebt.«

 

»Woher hat sie denn der Händler, von dem Sie sie gekauft haben?«

 

»Ich weiß es nicht – sicher von einer anderen Firma.«

 

»Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

 

Hainz nahm ein großes Notizbuch aus der Tasche und schlug die Adresse auf.

 

»Ein glücklicher Zufall, daß ich seine Adresse habe. Ich beschäftige ihn nämlich auch hier auf der Bühne.«

 

Als der Mann gegangen war, sah Wilbur Smith seinen Freund nachdenklich an.

 

»Schminke dich endlich ab, Frank, damit man sich mit dir auf der Straße zeigen kann«, sagte er dann gutmütig. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich das Geld an mich nehmen. Dann gehen wir in die Stadt und essen zu Abend.«

 

»Zum Teufel, was hat das nur alles zu bedeuten?« »Das erzähle ich dir während des Essens«, entgegnete Wilbur Smith ausweichend.

 

Kapitel 2

 

2

 

Selbst Wilbur Smith wußte nicht sehr viel von den Scheinen mit dem gelben Stempel auf der Rückseite, aber alles, war es wußte, erzählte er, als sie sich nach einer halben Stunde in einem Restaurant gegenübersaßen.

 

»Als ich das erste Mal einen solchen Stempel sah, hatte er tatsächlich Goldfarbe. Er war auf die Rückseite einer Tausenddollarnote gedruckt und mit Goldbronze eingepudert worden. Außerdem stand noch mit grüner Farbe das Wort ›Hades‹ darunter. Übrigens kannst du im Lexikon nachlesen, was dort unter ›Hades‹ steht. Diese Tausenddollarnote kam auf seltsame Weise in meine Hand. Im Osten wohnte eine arme Frau, die als Dienstmädchen in einem der Brooklyn-Hotels arbeitete. Sie erzählte mir eine sonderbare Geschichte. Als sie eines Abends nach Hause zurückkehrte, kam ein Mann hinter ihr her, steckte ihr einen Stoß Banknoten in die Hand und ging weiter. Verblüfft lief sie in ihre Wohnung und machte Licht. Als sie dann die Scheine genauer betrachtete und zählte, stellte sich heraus, daß er ihr die Summe von hunderttausend Dollar in die Hand gedrückt hatte. Sie traute ihren Augen nicht und nahm an, daß sich jemand einen Scherz mit ihr gemacht hätte. Sie glaubte wie du, daß es sich um falsches Geld handelte, legte es unter ihr Kissen und nahm sich vor, am nächsten Morgen jemand danach zu fragen, ob es sich um echte Banknoten handelte. In der Nacht wachte sie aber plötzlich auf, denn sie hörte, daß sich jemand in ihrem Schlafzimmer befand. Sie wollte gerade um Hilfe schreien, als ihr jemand sagte, sie solle sich ruhig verhalten. Dann wurde eine Taschenlampe angeknipst, und die Frau sah, daß nicht nur einer, sondern drei Leute mit schwarzen Masken vor ihrem Bett standen.«

 

Frank sah den Detektiv erstaunt an.

 

»Sag mal, willst du mich zum besten halten?«

 

Wilbur Smith schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich spreche vollkommen ernst. Die Leute fragten, wo sie das Geld hätte. Sie war sprachlos vor Schrecken, als sie die Revolver sah, die auf sie gerichtet waren, und zeigte unter das Kissen. Dann fiel sie in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, war das Geld verschwunden bis auf eine Banknote, die die drei Räuber in der Eile übersehen haben mußten. Sie brachte den Schein am nächsten Tag zum Polizeipräsidium und erzählte dort ihre seltsame Geschichte. Mein Chef glaubte, daß sie die Geschichte erfunden und die Banknote aus dem Hotel gestohlen hätte, in dem sie arbeitete. Er nahm an, daß sie später Gewissensbisse bekam und sich dann diese Geschichte ausdachte, um sich herauszureden.«

 

»Und hatte er recht?«

 

»Nein. Ich nahm die Aufklärung des Falles in die Hand und erkundigte mich in dem Hotel. Es fehlte kein Geld, und die Leitung stellte der Frau das beste Zeugnis aus. Sie war absolut ehrlich trotz ihrer Armut. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihr die Tausenddollarnote zurückzugeben. Damals bekam ich zum erstenmal den Stempel mit dem goldenen Hades zu sehen.

 

Das zweite Mal geschah es unter ähnlich sonderbaren Umständen. Die Banknoten befanden sich im Besitz eines gewissen Henry Laste, eines gewerbsmäßigen Spielers. Einer unserer uniformierten Polizisten hatte ihn in betrunkenem Zustand auf der Straße aufgelesen und zur Polizeistation gebracht. Zufällig kam ich gerade dazu. Als die Taschen des Mannes durchsucht wurden, fand man acht solcher Banknoten zu je tausend Dollar. Wir sorgten dafür, daß er wieder nüchtern wurde, und dann erzählte er uns eine geradezu unglaubliche Geschichte. Seine Frau hätte diese Banknoten zwischen den Blättern eines Buches in einer öffentlichen Bibliothek gefunden. Er machte diese Aussage etwa um acht Uhr morgens, und ich selbst war dabei, als das Protokoll ausgefertigt wurde. Ich ging sofort zu seiner Wohnung, um seine Frau auszufragen. Er wohnte in einem Mietshaus; als wir aber an die Tür klopften, erhielten wir keine Antwort. Ich ahnte, daß etwas Besonderes hinter all diesen merkwürdigen Vorgängen stecken mußte, ging zu dem Verwalter des Hauses und bat ihn, die Tür mit dem Hauptschlüssel zu öffnen.«

 

»War die Frau ausgegangen?«

 

Wilbur schüttelte den Kopf.

 

»Wir fanden sie in der Wohnung, aber sie war tot. Eine Kugel aus einer automatischen Pistole hatte sie mitten ins Herz getroffen. Alle Räume waren durchsucht, die Schubladen umgekehrt, die Kleiderschränke aufgerissen. Die einzelnen Jacken und Hosen lagen auf dem Boden verstreut …«

 

»Ach, das ist der berüchtigte Higgins-Mord«, erwiderte Alwin atemlos.

 

Wilbur nickte ernst.

 

»Ja, der berüchtigte Higgins-Mord.«

 

»Und hast du weitere Banknoten in der Wohnung entdeckt?«

 

»Nein. Wir wollten den Mann unter Anklage stellen, diesen Mord verübt zu haben, aber es fiel ihm nicht schwer, ein Alibi beizubringen. Er war in einer Spielhölle gewesen und hatte dort zuviel getrunken. Um ein Uhr hatte ihn der Polizist auf der Straße gefunden; zehn Minuten nach zwei wurde der Mord verübt. Ausnahmsweise war es möglich, diesen Zeitpunkt so genau festzustellen. Der Schuß, mit dem die arme Frau niedergestreckt wurde, war aus nächster Nähe abgegeben worden und hatte solche Durchschlagskraft gehabt, daß er noch einen Wecker auf dem Nachttisch traf und dadurch zum Stehen brachte. Die Zeiger standen auf zehn Minuten nach zwei.«

 

Die beiden saßen sich eine Weile schweigend gegenüber und sahen sich an. Die Unterhaltung der Gäste und das Klappern von Geschirr klang Frank Alwin in den Ohren, und plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, daß auch er in Gefahr schwebte.

 

»Ich verstehe«, sagte er langsam. »Alle Leute, die mit diesen gestempelten Banknoten in Berührung kommen, wurden …«

 

»Überfallen«, versetzte der Detektiv. »Und aus diesem Grund werde ich dich heute abend auch nicht aus den Augen lassen, Frank.«

 

Die beiden waren seit vielen Jahren miteinander befreundet. Frank Alwin war Schauspieler im Coliseum-Majestic-Theater, und dem Detektiv Wilbur Smith war es gelungen, mehr Verbrecher zu fassen als irgendein anderer Angestellter des Polizeipräsidiums.

 

Frank Alwin hatte während des Krieges drei Jahre lang im Geheimen Nachrichtendienst gedient, und wenn er nicht ein so glänzender Schauspieler gewesen wäre und ein so großes Vermögen besessen hätte, würde er sich bei der Polizei mindestens ebenso ausgezeichnet haben wie sein Freund.

 

»Mir ist die ganze Sache unheimlich«, sagte Alwin nach einer Weile. »Wer war denn eigentlich dieser Pluto?«

 

»Der Gott der Unterwelt. Ich habe herausgebracht, daß es tatsächlich auch heutzutage noch überspannte Leute gibt, die ihn verehren. Man müßte einmal in einem Lexikon genau nachsehen, welche Rolle er in der antiken Mythologie gespielt hat.«

 

In diesem Augenblick trat ein Kellner an den Tisch.

 

»Mr. Alwin, Sie werden am Telefon verlangt.«

 

Frank erhob sich, und der Detektiv wollte ihm folgen.

 

»Mach dir nur keine unnötigen Sorgen«, lachte Frank. »Die werden mich durchs Telefon nicht erschießen können. Und auf keinen Fall bekommen sie das Geld, da du es ja selbst in der Tasche hast.«

 

Zwei Minuten vergingen, und Frank Alwin kehrte nicht zurück.

 

Nach fünf Minuten wurde Wilbur unruhig und winkte einem Kellner.

 

»Gehen Sie einmal in die Vorhalle und sehen Sie nach, ob Mr. Alwin noch in der Telefonzelle ist.«

 

Der Mann kam kurz darauf wieder zurück.

 

»Mr. Alwin ist nicht dort.«

 

»Zum Teufel, was soll denn das heißen? Er ist nicht dort?«

 

Wilbur Smith sprang auf, stieß hastig den Stuhl zur Seite und lief in die große Halle. Der Portier an der Tür sagte, er hätte nicht beobachtet, daß Mr. Alwin hinausgegangen wäre. In den letzten fünf Minuten war er allerdings nicht auf seinem Posten gewesen. Dagegen hatte er draußen ein Auto gesehen, das vor dem Hoteleingang wartete. Bei seiner Rückkehr war es verschwunden.

 

Wilbur Smith eilte auf die verlassene Straße hinaus, aber obwohl er sich nach allen Seiten umschaute, konnte er doch niemand sehen. Der Hoteleingang wurde von zwei großen Bogenlampen hell erleuchtet. Am Rand des Gehsteigs sah Wilbur etwas liegen, ging darauf zu, bückte sich und hob es auf. Es war Franks Hut, zusammengeballt und feucht. Der Detektiv trug ihn näher ans Licht – ein Blick genügte ihm. Mit einer Hand hatte er das Innere berührt, und als er sie herauszog, war sie rot von Blut.