X. Die Reise nach Öland

Sonntag, den 3. April.

Am nächsten Morgen flogen die wilden Gänse auf eine Schäreninsel hinaus, um zu weiden. Dort trafen sie mit einigen grauen Gänsen zusammen, die erstaunt waren, sie zu sehen, denn sie wußten sehr wohl, daß ihre Verwandten, die wilden Gänse, es vorziehen, über das Innere des Landes dahinzufliegen. Als sie schwiegen, sagte eine graue Gans, die so aussah, als wenn sie ebenso alt und ebenso klug sei wie Akka selber: »Es war ein großes Unglück für euch, daß der Fuchs in seinem eigenen Lande für friedlos erklärt wurde. Er hält sicher Wort und verfolgt euch bis ganz nach Lappland hinauf. Wäre ich an eurer Stelle, würde ich nicht nordwärts über Smaaland reisen, sondern lieber den Seeweg über Öland nehmen, damit er die Spur ganz verliert. Um ihn so recht auf falsche Fährte zu bringen, solltet ihr ein paar Tage auf der Südspitze von Öland bleiben. Da ist Weide genug und Gesellschaft genug. Ich glaube, ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr dahinüber reist.«

Das war nun wirklich ein kluger Rat, und die wilden Gänse beschlossen, ihn zu befolgen. Sobald sie sich gehörig satt gefressen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Öland. Keine von ihnen war jemals dort gewesen, aber die graue Gans hatte ihnen Anweisung auf gute Wegweiser gegeben. Sie sollten nur in gerader südlicher Richtung weiter fliegen, bis sie dem großen Vogelzug begegneten, der an der Küste von Bleking entlang flog. Alle Vögel, die ihre Wohnung an der Nordsee hatten und sich nun auf dem Wege nach Finnland und Rußland befanden, flogen den Weg, und sie pflegten sich alle im Vorüberfahren auf Öland niederzulassen, um auszuruhen. Den wilden Gänsen würde es nicht an Wegweisern fehlen.

An diesem Tage war es ganz warm und still wie an einem Sommertage, das beste Wetter für eine Seereise, das man sich denken konnte. Das einzige Bedenkliche war, daß es nicht ganz klar war, denn der Himmel war grau und bedeckt. Hier und da standen mächtige Wolkenmassen, die ganz bis zur Meeresfläche herabhingen und die Aussicht verdeckten.

Als die Reisenden über die Schären hinausgekommen waren, lag das Meer so glatt und spiegelklar ausgebreitet da, daß der Junge, der zufällig hinabsah, glaubte, das Wasser sei verschwunden. Es war keine Erde mehr unter ihm. Er hatte nichts als Wolken und Himmel um sich. Es schwindelte ihn, und er klammerte sich ängstlicher an den Gänserücken an, als da er zum erstenmal dort saß. Es war, als könne er unmöglich dort sitzen bleiben, als müsse er nach der einen oder der andern Seite herunterfallen.

Noch schlimmer wurde es, als sie die großen Vogelzüge trafen, von denen die graue Gans geredet hatte. Es kam wirklich eine Schar nach der andern ganz in derselben Richtung. Sie folgten gleichsam einem abgesteckten Weg. Da waren wilde Enten und graue Gänse, Sammetenten und Lummen, Eisenten, Fischenten und Krickenten, Haubentaucher und Strandläufer. Als sich nun aber der Junge vornüberbeugte und nach der Richtung hinsah, wo das Meer liegen sollte, sah er den ganzen Vogelzug sich im Wasser widerspiegeln. Aber er war so umnebelt, daß er nicht begreifen konnte, wie das zuging; es schien ihm, als fliege die ganze Vogelschar mit dem Bauch nach oben. Er wunderte sich jedoch nicht so sehr hierüber, denn er wußte selber nicht, was oben und was unten war.

Die Vögel waren ermattet und ungeduldig, über das Wasser zu gelangen. Keiner von ihnen schrie oder sagte ein vergnügliches Wort, und das bewirkte, daß alles gleichsam so sonderbar unwirklich war.

»Wenn wir nun von der Erde weggeflogen sind!« sagte er zu sich selbst. »Wenn wir uns nun auf dem Wege nach dem Himmel hinauf befinden!«

Er sah nichts als Wolken und Vögel nach allen Seiten und allmählich fand er es ganz natürlich, daß sie nach dem Himmel hinaufflogen. Er freute sich und beschäftigte sich mit dem Gedanken, was er wohl da oben zu sehen bekommen würde. Der Schwindel war auf einmal wie weggeblasen. Er war so froh bei dem Gedanken, daß er zum Himmel hinauffuhr und der Erde entrann.

Im selben Augenblick hörte er ein paar Schüsse knallen und sah ein paar kleine, weiße Rauchsäulen aufsteigen.

Bewegung und Angst breitete sich unter den Vögeln aus: »Jäger! Jäger! Jäger in Booten!« riefen sie. »Fliegt hoch! Fliegt fort von ihnen!«

Da sah denn der Junge endlich, daß sie noch immer über der Meeresfläche flogen und keineswegs im Himmel waren. Auf dem Wasser lag eine lange Reihe kleiner Boote voll von Jägern, die einen Schuß nach dem andern abfeuerten. Die ersten Vogelscharen hatten sie nicht rechtzeitig bemerkt. Sie waren zu niedrig geflogen. Mehrere dunkle Vogelkörper sanken auf das Meer hinab, und für jeden, der fiel, stießen die Überlebenden laute Klagerufe aus.

Es war wunderlich für jemand, der eben noch geglaubt hatte, daß er im Himmel sei, zu einer solchen Not und Angst zu erwachen. Akka schoß in die Höhe, so schnell sie konnte, und dann flog die Schar mit der größtmöglichen Geschwindigkeit dahin. Die wilden Gänse entkamen auch unbeschädigt, aber der Junge konnte sich nicht von seiner Verwunderung erholen. Daß die Menschen es übers Herz bringen konnten, auf Wesen wie Akka und Yksi und Katsi und den Gänserich und die andern zu schießen! Die Menschen wußten wirklich nicht, was sie taten!

Und dann zogen sie wieder weiter in der stillen Luft und alles war stumm wie zuvor, nur daß einige ermattete Vögel hin und wieder riefen: »Sind wir noch nicht bald da? Seid ihr auch sicher, daß wir den richtigen Kurs innehalten?« Hierauf antworteten diejenigen, die an der Spitze flogen: »Wir steuern gerade auf Öland zu, gerade auf Öland zu!«

Die Stockenten waren müde, und die Lummen flogen an ihnen vorüber. »Beeilt euch nicht zu sehr!« riefen dann die Enten. »Ihr freßt uns alles Essen weg.« – »Da ist genug für euch und für uns,« antworteten die Lummen. Ehe sie noch so weit gekommen waren, daß sie Öland sehen konnten, bekamen sie ganz schwachen widrigen Wind. Der führte etwas mit sich, das gewaltigen Massen weißen Rauches glich, ganz so, als wenn irgendwo eine große Feuersbrunst sei.

Als die Vögel die ersten weißen Rauchwirbel angetrieben kommen sahen, wurden sie ängstlich und mäßigten ihre Eile. Aber das, was Rauch glich, wurde dichter und schließlich hüllte es sie ganz ein. Es war kein Geruch zu spüren, und der Rauch war nicht dunkel und trocken, sondern weiß und feucht. Bald wurde es dem Jungen klar, daß es nichts weiter war als Nebel.

Als der Nebel so dicht wurde, daß man nicht eine Gänselänge vor sich sehen konnte, benahmen sich die Vögel wie wilde, ausgelassene Buben. Sie, die bisher in der schönsten Ordnung geflogen waren, fingen an, Haschen zu spielen. Sie flogen die Kreuz und die Quer, um sich irre zu leiten. »Hütet euch!« riefen sie. »Ihr fliegt ja nur im Kreise! So kehrt doch um! Glaubt nicht, daß ihr auf diese Weise nach Öland kommt!«

Sie wußten alle recht gut, wo die Insel lag, aber sie taten ihr Bestes, um einander irre zu leiten. »Seht doch die Eisenten!« ertönte es aus dem Nebel. »Die fliegen nach der Nordsee zurück.« – »Nehmt euch in acht, ihr grauen Gänse!« wurde von einer andern Seite gerufen. »Wenn ihr so weiter fliegt, kommt ihr ganz nach Rügen hin!«

Es herrschte, wie gesagt, keine Gefahr, daß die Vögel, die gewohnt waren, diesen Weg zu ziehen, sich anderwärts hinlocken lassen sollten. Schwer aber war es für die wilden Gänse. Die Spektakelmacher merkten, daß sie des Weges nicht sicher waren, und taten alles, was sie konnten, um sie zu verwirren.

»Wo wollt ihr hin, ihr guten Leute?« rief ein Schwan. Er flog dicht an Akka heran und sah ernsthaft und teilnehmend aus.

»Wir wollen nach Öland, aber wir sind nie zuvor da gewesen,« sagte Akka. Sie meinte, er sei ein Vogel, dem sie trauen dürfe.

»Das ist schlimm!« sagte der Schwan. »Sie haben euch ja irre geleitet. Ihr seid auf dem Wege nach Bleking. Kommt jetzt mit mir, ich will euch den Weg zeigen.«

Und dann fuhr er mit ihnen von dannen, und als er sie so weit von der großen Heerstraße weggelockt hatte, daß sie keinen Ruf mehr hörten, verschwand er im Nebel.

Jetzt flogen sie eine Weile aufs Geratewohl umher. Kaum war es ihnen geglückt, wieder zu den Vögeln zurückzufinden, als eine wilde Ente auf sie zu kam. »Ihr tut am besten, wenn ihr euch auf das Wasser niederlegt, bis sich der Nebel verzogen hat,« sagte die Ente. »Man kann gleich merken, daß ihr nicht daran gewöhnt seid, euch auf Reisen zu behelfen!«

Fast wäre es den Spaßmachern gelungen, Akka ganz verwirrt zu machen. Soweit der Junge es beurteilen konnte, flogen die wilden Gänse eine lange Zeit im Kreise herum.

»Nehmt euch in acht! Seht ihr denn nicht, daß ihr auf und nieder fliegt?« rief eine Lumme, indem sie vorüberbrauste. Der Junge umfaßte unwillkürlich den Hals des Gänserichs fester. Davor war er schon lange bange gewesen.

Es ist unmöglich, zu sagen, wann sie Öland erreicht haben würden, wenn nicht in weiter Ferne ein dumpfer, dröhnender Schuß ertönt wäre.

Da streckte Akka den Hals aus, schlug hart mit den Flügeln und setzte sich in volle Fahrt, Jetzt hatte sie etwas, wonach sie sich richten konnte. Die graue Gans hatte ihr nämlich gesagt, sie solle sich nicht auf der äußersten Südspitze von Öland niederlassen, denn dort stünde eine Kanone, mit der die Menschen auf den Nebel zu schießen pflegten. Jetzt kannte sie die Richtung, und jetzt sollte niemand in der Welt sie mehr irreführen.

XI. Die Südspitze von Öland

Den 3. bis 6. April.

Auf dem südlichen Teil von Öland liegt ein altes Krongut, das Ottenby heißt. Es ist ein ziemlich großes Gut, das sich quer über die Insel erstreckt, von einer Küste zur andern, und es zeichnet sich dadurch aus, daß es immer der Aufenthaltsort von großen Tierscharen gewesen ist. Im siebzehnten Jahrhundert, als die Könige nach Öland zogen, um zu jagen, war das ganze Besitztum nur ein einziger großer Tiergarten. Im achtzehnten Jahrhundert war hier ein Gestüt, in dem edle Rassepferde gezüchtet wurden, und eine Schäferei von mehreren Hundert Schafen. Heutzutage gibt es weder Vollblutpferde noch Schafe bei Ottenby. Statt dessen sind dort große Scharen von jungen Pferden, die in den schwedischen Kavallerieregimentern benutzt werden.

Es gibt wohl kein Gut im ganzen Lande, das ein besserer Aufenthaltsort für Tiere wäre. An der Ostküste entlang liegt die alte Schäferwiese, die über eine Viertelmeile lang ist, die größte Wiese auf ganz Öland, wo die Tiere grasen und sich so frei tummeln können wie in der Wildnis. Und da ist der berühmte Ottenbyer Hain mit den hundertjährigen Eichen, die Schatten gegen die Sonne spenden und Schutz gegen den scharfen Ostwind. Und dann darf man nicht die lange Ottenbyer Mauer vergessen, die von einer Küste zur andern geht und Ottenby von dem übrigen Teil der Insel trennt, so daß die Tiere wissen können, wie weit das alte Königsbesitztum sich erstreckt, und sich hüten, andern Boden zu betreten, wo sie nicht so geschützt sind.

Aber nicht nur an zahmen Tieren herrscht Überfluß auf Ottenby. Man sollte fast glauben, daß auch die wilden Tiere ein Gefühl davon hätten, daß auf einem alten Krongut sowohl wilde als zahme Tiere Frieden und gute Tage gewärtigen dürfen, und daß sie sich deswegen in so großen Scharen dahin wagen. Nicht nur findet man dort noch Hirsche von dem alten Stamm, und nicht nur lieben Hasen und graue Enten und Rebhühner es, dort zu leben, sondern im Frühling und im Herbst ist es auch ein Ruheplatz für viele Tausende von Zugvögeln. Namentlich lassen sich die Zugvögel gern auf dem sumpfigen Oststrand unterhalb der Schäferwiese nieder, um dort zu weiden und zu ruhen.

Als die wilden Gänse und Niels Holgersen endlich den Weg nach Öland gefunden hatten, flogen sie wie alle die andern auf den Strand unterhalb der Schäferwiese nieder. Der Nebel lag dicht über der Insel wie vorher über dem Meere. Und doch staunte der Junge über alle die Vögel, die er nur auf dem kleinen Stück des Strandes, das er übersehen konnte, entdeckte.

Es war ein flaches Sandufer mit Steinen und Wasserlachen und einer Menge angespültem Tang. Hätte der Junge wählen können, wäre es ihm wohl kaum eingefallen, sich dort niederzulassen, aber die Vögel hielten es offenbar für ein wahres Paradies. Enten und graue Gänse gingen dort auf der Wiese und weideten, näher dem Wasser liefen Schnepfen und andere Strandvögel. Die Lummen lagen im Wasser und fischten, aber am meisten Leben und Bewegung herrschte auf den langen Tangbänken draußen im Wasser. Dort standen die Vögel dicht nebeneinander und pickten Würmer auf; deren gab es hier offenbar eine zahllose Menge, denn es schien nicht, als ertöne jemals Klage über Mangel an Nahrung.

Die allermeisten Vögel wollten weiter und hatten sich nur niedergelassen, um auszuruhen, und sobald der Anführer einer Schar der Ansicht war, daß er und seine Kameraden sich hinreichend erquickt hatten, sagte er: »Seid ihr jetzt fertig, so daß wir weiterkommen können?«

»Nein, warte, warte! Wir sind lange noch nicht satt!« sagten seine Begleiter.

»Bildet ihr euch ein, daß ich euch so viel fressen lassen will, bis ihr euch nicht mehr rühren könnt?« sagte der Anführer, schlug mit den Flügeln und machte sich davon. Aber es geschah mehr als einmal, daß er umkehren mußte, weil er die andern nicht mitbekommen konnte.

Vor den äußersten Tangbrücken lag eine Schar von Schwänen. Die machten sich nichts daraus, an Land zu gehen, sondern ruhten sich aus, indem sie auf dem Wasser lagen und sich wiegten. Hin und wieder tauchten sie mit dem Halse unter und holten sich Nahrung vom Meeresgrunde herauf. Wenn sie etwas richtig Gutes ergattert hatten, stießen sie einen lauten Ruf aus, der fast wie ein Trompetenstoß klang.

Als der Junge hörte, daß am Meeressaum Schwäne lagen, eilte er auf die Tangbrücke hinaus. Er hatte nie zuvor wilde Schwäne aus einer solchen Nähe gesehen. Das Glück war ihm hold, so daß er ganz zu ihnen herankam.

Der Junge war nicht der einzige, der die Schwäne gehört hatte. Sowohl die wilden Gänse als auch die grauen Gänse und die Enten und die Lummen schwammen zwischen die Bänke hinaus, legten sich rund im Kreis um die Schwäne und starrten sie an. Die Schwäne brausten mit den Federn, schlugen die Flügel auseinander wie Segel und streckten die Hälse hoch in die Luft empor. Hin und wieder schwamm einer von ihnen zu einer Gans oder einer Lumme oder einer Tauchente hin und sagte ein paar Worte. Und da war es, als fühle sich die Angeredete so beehrt, daß sie kaum wagte, den Schnabel zu einer Antwort zu öffnen.

Aber dann war da eine kleine Lumme, so ein richtiger kleiner, boshafter Galgenstrick, der alle diese Feierlichkeit nicht aushalten konnte. Sie tauchte plötzlich unter und verschwand unter der Meeresfläche, nach einer Weile stieß einer der Schwäne einen Schrei aus und schwamm so schnell von dannen, daß das Wasser schäumte. Dann hielt er inne und begann wieder majestätisch auszusehen. Aber gleich darauf schrie ein anderer und gebärdete sich genau auf dieselbe Weise, und dann schrie noch ein dritter ebenso.

Jetzt konnte die kleine Lumme sich nicht länger unter Wasser halten; sie tauchte auf und lag nun da auf den Wellen, klein und schwarz und boshaft. Die Schwäne stürzten sich auf sie, als sie aber sahen, was für ein kleines, jammervolles Ding es war, kehrten sie plötzlich um, als hielten sie sich zu gut, mit so einer zu zanken. Aber die kleine Lumme tauchte wieder nieder und schnappte nach ihren Füßen. Das tat ihnen schrecklich weh, aber das schlimmste war, daß es ihrer Würde Abbruch tat. Plötzlich aber machten sie dem Spiel ein Ende. Sie begannen, die Luft mit den Flügeln zu peitschen, so daß ein Getöse entstand, fuhren eine weite Strecke über das Wasser hin, gleichsam springend, bekamen endlich Luft unter die Flügel und schwangen sich hoch empor.

Es wurde so sonderbar leer, als sie weg waren, und diejenigen, die sich am allermeisten über den Einfall der kleinen Lumme belustigt hatten, schalten sie jetzt wegen ihrer Unverschämtheit aus.

Der Junge ging nun wieder an Land. Dort stellte er sich hin und sah dem Spiel der Schnepfen zu. Sie glichen winzig kleinen Kranichen, hatten wie diese einen kleinen Körper, hohe Beine, einen langen Hals und leichte, schwebende Bewegungen, nur waren sie nicht grau, sondern braun. Sie standen in einer langen Reihe am Strande, gerade da, wo die Wellen heraufspülten. Sobald eine Welle gerollt kam, lief die ganze Reihe rückwärts. Sobald sie wieder hinausgesogen wurde, folgten sie ihr. Und das setzten sie stundenlang fort.

Die hübschesten von allen Vögeln waren aber doch die Brandenten. Sie waren gewiß mit den zahmen Enten verwandt, denn sie hatten wie diese einen schwerfälligen, breiten Körper, einen flachen Schnabel und Schwimmfüße, aber sie waren viel prachtvoller ausgestattet. Das Federkleid selbst war weiß, aber um den Hals hatten sie ein breites, gelbes Band und an den Flügeln einen Spiegel, der in Grün, Rot und Schwarz schimmerte, die Flügelspitzen waren schwarz, und der Kopf war schwarzgrün und metallschimmernd.

Sobald einige von ihnen sich am Strande blicken ließen, sagten die andern Vögel: »Nein, seht die doch an! Die verstehen es weiß Gott, sich zu putzen!« – »Wären sie nicht so ausstaffiert, brauchten sie sich wohl nicht in die Erde hineinzugraben, sondern könnten unter offenem Himmel wohnen, wie unsereins,« sagte eine braune Grasente. – »Sie können sich anstrengen, so viel sie wollen, mit der Nase, die sie haben, werden sie doch niemals Staat machen,« sagte eine graue Gans. Und das verhielt sich wirklich so. Die Brandenten hatten einen großen Buckel auf der Nase, der ihr ganzes Gesicht entstellte.

Am Uferrande entlang fuhren Möwen und Seeschwalben über dem Wasser hin und her und fischten. – »Was für Fische fangt ihr denn da?« fragte eine wilde Gans. – »Das sind Stichlinge. Das sind öländische Stichlinge. Das ist der beste Fisch in der ganzen Welt!« sagte eine Möwe. »Willst du einmal kosten?« Und sie flog auf die Gans zu, den ganzen Mund voll von den kleinen Fischen und wollte sie ihr geben. – »Pfui! Huh! Glaubst du, daß ich solch Jux essen mag?« sagte die wilde Gans.

Am nächsten Morgen war es noch immer ebenso nebelig. Die wilden Gänse gingen auf der Wiese und weideten, aber der Junge war an den Strand hinab gegangen, um Muscheln zu sammeln. Es waren genug davon da, und da ihm einfiel, daß er vielleicht morgen irgendwo hinkommen würde, wo er gar kein Essen bekommen konnte, beschloß er, sich einen kleinen Beutel zu machen, den er mit Muscheln füllen konnte. Am Ufer stand eine ganze Menge welken Röhrichts, das steif und zäh war, und nun machte er sich daran, einen Ranzen daraus zu flechten. Die Arbeit nahm mehrere Stunden in Anspruch, aber er war auch sehr zufrieden damit, als sie beendet war.

Um die Mittagszeit kamen alle wilden Gänse zu ihm gelaufen und fragten, ob er nichts von dem weißen Gänserich gesehen habe. »Nein, er ist nicht hier bei mir gewesen,« sagte der Junge. – »Er ist noch ganz kürzlich mit uns zusammen gewesen,« sagte Akka, »aber jetzt wissen wir nicht, wo er geblieben ist.«

Der Junge erschrak heftig. Er fragte, ob sich ein Fuchs oder ein Adler habe blicken lassen, oder ob irgendein Mensch in der Nähe gewesen sei. Aber niemand hatte etwas Gefährliches bemerkt. Der Gänserich hatte sich nur im Nebel verirrt.

Aber für den Jungen war das Unglück gleichgroß, auf welche Weise er auch weggekommen sein mochte, und er machte sich sofort auf den Weg, um nach ihm zu suchen. Der Nebel beschützte ihn, so daß er laufen konnte, wohin er wollte, ohne gesehen zu werden, aber er hinderte ihn auch, selbst zu sehen. Er lief in südlicher Richtung an der Küste entlang, ganz hinab bis an den Leuchtturm und die Nebelkanone auf der Südspitze der Insel. Überall war ein Gewimmel von Vögeln, aber kein Gänserich. Er wagte sich ganz hinab bis zum Ottenbyer Schloß, und er durchsuchte jede einzelne von den alten, hohlen Eichen, fand aber keine Spur von dem Gänserich.

Er suchte, bis es anfing dunkel zu werden. Da mußte er sich an den östlichen Strand zurückbegeben. Er ging mit schweren Schritten und fühlte sich sehr bedrückt. Er begriff nicht, was aus ihm werden sollte, wenn er den Gänserich nicht fand. Niemand in der Welt konnte er schlechter entbehren als ihn.

Aber als er über die Schäferwiese wanderte, was war wohl das große Weiße, was ihm da entgegen kam? Niemand anderes als der Gänserich. Er war ganz unbeschädigt und sehr froh, sich zu den anderen zurückgefunden zu haben. Der Nebel habe ihn so wirr im Kopf gemacht, sagte er, daß er den ganzen Tag auf der großen Wiese rund herumgegangen sei. Der Junge schlang in seiner Freude beide Arme um den Hals des Gänserichs und bat ihn so herzlich, acht zu geben, und sich nicht von den andern zu entfernen. Er versprach denn auch ganz fest, daß er das nie wieder tun wolle. Nein, nie wieder!

Aber am nächsten Morgen, als der Junge an den Strand hinabging, um Muscheln zu suchen, kamen die Gänse gelaufen und fragten, ob er den Gänserich nicht gesehen habe.

Nein, er habe ihn nicht gesehen. Ja, jetzt sei der Gänserich wieder weg. Er habe sich wohl wieder im Nebel verlaufen, wie am Tage vorher.

Der Junge lief in großer Angst davon und begann zu suchen. Er fand eine Stelle, wo die Ottenbyer Mauer eingestürzt war, so daß er hinüberklettern konnte. Dann ging er unten an den Strand hinab, der sich allmählich erweiterte und so groß wurde, daß da Platz für Felder und Wiesen und Bauernhöfe war. Auch auf das flache Hochland oben auf der Insel ging er, wo keine anderen Gebäude waren als Windmühlen, und wo der Graswuchs so dünne war, daß der weiße Kalkfelsen hindurchschien.

Aber den Gänserich fand er nicht, und als es anfing, dunkel zu werden, so daß er ohne Ergebnis an den Strand zurückkehren mußte, war er fest überzeugt, daß sein Reisekamerad verschwunden sei. Er war so mutlos, daß er nicht wußte, wozu er greifen solle.

Er war eben über die Mauer geklettert, als er dicht neben sich einen Stein herunterrasseln hörte. Als er sich umwandte, um zu sehen, was es sei, war es ihm, als könne er etwas sehen, das sich in einem Steinhaufen hart an der Mauer bewegte. Er schlich sich näher heran und sah, wie der Weiße Gänserich mit großer Mühe den Steinhaufen hinaufkletterte; er hatte den Schnabel voller Wurzelfasern. Der Gänserich sah den Jungen nicht, und dieser rief ihn nicht an; er fand, daß es das vernünftigste war, sich erst klar darüber zu werden, warum der Gänserich so einmal über das andere verschwand.

Bald entdeckte er auch den Grund. Oben im Steinhaufen lag eine junge graue Gans, die vor Freude schrie, als der Gänserich kam. Der Junge schlich noch näher heran, um zu hören, was sie sagten, und so erfuhr er denn, daß die graue Gans ihren einen Flügel beschädigt hatte, so daß sie nicht fliegen konnte, und daß ihre Gefährten ihr weggeflogen waren, so daß sie einsam und verlassen dalag. Sie war dem Verhungern nahe gewesen, als der weiße Gänserich am vorhergehenden Tage ihr Schreien gehört und sie aufgesucht hatte. Seitdem hatte er ihr beständig Futter gebracht. Sie hatten beide gehofft, daß sie gesund werden könne, bis er die Insel verlassen mußte, aber noch konnte sie weder gehen noch fliegen. Sie war sehr betrübt darüber, aber er tröstete sie, daß er fürs erste nicht abreisen würde. Schließlich sagte er ihr Gutenacht und versprach, am nächsten Tage wiederzukommen.

Der Junge ließ den Gänserich gehen, aber kaum war er fort, als er auf den Steinhaufen hinaufschlich. Er war erzürnt darüber, daß der Gänserich ihn hinters Licht geführt hatte, und nun wollte er der grauen Gans wissen lassen, daß der Gänserich ihm gehörte. Er sollte ihn nach Lappland hinauftragen, und es sei keine Rede davon, daß er um ihretwillen zurückbleiben könne. Aber als er die junge Gans näher ansah, verstand er, warum der Gänserich ihr zwei Tage Futter gebracht hatte, und warum er nicht hatte erzählen wollen, daß er ihr behilflich war. Sie hatte das feinste kleine Köpfchen, das man sich denken konnte, das Federkleid war wie die weichste Seide, und die Augen waren sanft und flehend.

Als sie den Jungen erblickte, wollte sie davonlaufen. Aber der linke Flügel war aus dem Gelenk und schleppte an der Erde hin, so daß er sie in allen ihren Bewegungen hinderte.

»Du brauchst nicht bange vor mir zu sein,« sagte der Junge und sah gar nicht so böse aus, wie es seine Absicht gewesen war. »Ich bin Däumling, der Reisekamerad des Gänserichs Martin.« Und dann blieb er stehen und wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

Es kann zuweilen in dem Ausdruck von Tieren etwas sein, das einen zu der Frage veranlaßt, was für Wesen sind sie eigentlich. Man hat ein Gefühl, daß sie verwandelte Menschen sein könnten. So etwas war da an der kleinen grauen Gans. Sobald Däumling sagte, wer er sei, verneigte sie sich mit dem Halse auf das niedlichste und sagte mit einer so schönen Stimme, daß der Junge unmöglich glauben konnte, daß es eine Gans war, die sprach: »Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist, um mir zu helfen. Der weiße Gänserich hat mir erzählt, daß niemand in der Welt so klug und gut ist wie du.«

Sie sagte das mit einer solchen Anmut und Würde, daß der Junge ganz verlegen wurde. »Das kann nie und nimmer eine richtige Gans sein,« dachte er. »Das ist sicher eine verzauberte Prinzessin.«

Er bekam große Lust, ihr zu helfen und schob die eine Hand unter die Federn und befühlte den Flügelknochen. Der war nicht gebrochen, aber er mußte aus dem Gelenk geraten sein, denn sein Finger geriet in eine leere Gelenkhöhle. »Gib jetzt acht!« sagte er, umfaßte den Knochen fest und preßte ihn da hinein, wo er sitzen sollte. Er machte das außerordentlich schnell und geschickt, wenn man bedenkt, daß es das erstemal war, daß er sich damit abgab, Doktor zu sein, aber es mußte sehr weh getan haben, denn die arme kleine Gans stieß einen einzigen wilden Schrei aus und sank zwischen den Steinen nieder, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Der Junge erschrak sehr. Er hatte ihr helfen wollen, und nun war sie tot. Er eilte schleunigst von dem Steinhaufen herunter und machte sich, so schnell er konnte, aus dem Staube. Er hatte ein Gefühl, als habe er einen Menschen getötet.

Am nächsten Morgen hatte sich der Nebel verzogen, und Akka sagte, daß sie jetzt ihre Reise fortsetzen wollten. Alle die andern waren gleich bereit, nur der weiße Gänserich erhob Einwendungen. Der Junge verstand sehr wohl, daß er seine Freundin, die graue Gans, nicht verlassen wollte. Aber Akka wollte nicht auf ihn hören, und die Schar begab sich von dannen.

Der Junge sprang auf den Rücken des Gänserichs, und dieser folgte der Schar, wenn auch langsam und unwillig. Der Junge dahingegen war froh, von der Insel fortzukommen. Er hatte Gewissensbisse wegen der grauen Gans und hatte nicht gewagt, dem Gänserich zu erzählen, wie es zugegangen war, als er sie hatte kurieren wollen. Es war am besten, daß der Gänserich Martin nie etwas davon erfuhr, dachte er. Trotzdem wunderte er sich, daß der Gänserich es übers Herz bringen konnte, von ihr fortzureisen.

Aber plötzlich machte er kehrt. Er konnte seine kleine Freundin nicht vergessen. Mit der Reise nach Lappland mußte es gehen, wie es wollte, er aber konnte nicht von dannen fliegen, wenn er wußte, daß sie krank und verlassen dalag und verhungern mußte.

Mit ein paar Flügelschlägen war er bei dem Steinhaufen. Aber da lag keine graue Gans zwischen den Steinen. »Daunenfein! Daunenfein! Wo bist du?« schrie der Gänserich.

»Der Fuchs hat sie wohl gefunden und aufgefressen,« dachte der Junge. Im selben Augenblick aber hörte er eine weiche Stimme antworten: »Ich bin hier, Martin! ich bin hier! Ich war nur hinunter, um ein Morgenbad zu nehmen!« Und aus dem Wasser heraus kam die schöne, kleine Gans frisch und gesund und erzählte, wie Däumling ihren Flügel wieder eingerenkt habe, und daß sie nun ganz gesund sei und bereit, die Reise mit anzutreten.

Die Wassertropfen lagen gleich Perlen auf ihren seidenweichen Federn und Däumling dachte abermals, daß sie doch sicher eine richtige Prinzessin sei.

XII. Die kleine Karlsinsel


Der Sturm.

Freitag, den 8. April.

Die wilden Gänse hatten auf der Nordspitze von Öland übernachtet und waren nun auf dem Wege nach dem Festland. Über den Sund von Kalmar blies ein ziemlich starker Ostwind, so daß sie nach Norden zu getrieben waren. Trotzdem arbeiteten sie sich mit guter Geschwindigkeit nach dem Land hinüber. Als sie sich aber den ersten Schären näherten, hörten sie ein mächtiges Dröhnen, als wenn eine Menge flügelstarker Vögel dahergebraust käme, und das Wasser unter ihnen wurde auf einmal ganz schwarz. Akka hemmte ihren Flügelschlag so plötzlich, daß sie fast in der Luft still stehen blieb. Dann schwebte sie nieder, um auf die Meeresfläche hinabzukommen. Aber ehe die Gänse noch das Wasser erreicht hatten, holte der Weststurm sie ein. Schon jagte er Staubwolken, Salzschaum und kleine Vögel vor sich her; jetzt riß er auch die wilden Gänse mit fort, kehrte sie um und um und trieb sie nach dem Meer hinaus.

Es wurde ein unheimlicher Sturm. Wieder und wieder versuchten die wilden Gänse umzukehren, aber sie hatten keine Kraft dazu, sie wurden nach der Ostsee hinaus getrieben. Der Sturm hatte sie schon über Öland hingejagt, und nun lag das große, leere Meer vor ihnen. Da war nichts Weiteres zu tun als vor dem Wind zu lenzen, so gut sie konnten.

Als Akka merkte, daß sie nicht imstande waren, umzukehren, hielt sie es für notwendig, sich von dem Sturm über die ganze Ostsee treiben zu lassen. Sie schwebte deswegen auf das Wasser hinab. Der Seegang war schon sehr heftig, und er nahm mit jedem Augenblick zu. Dunkelgrün, mit siedendem Schaum auf dem Kamm kamen die Wellen dahergerollt. Eine erhob sich noch höher als die andere, es war, als wetteiferten sie, wer am höchsten komme, wer am wildesten schäumen konnte. Aber vor dem Wellengang waren die wilden Gänse nicht bange. Der war ihnen im Gegenteil ein großes Vergnügen. Sie strengten sich nicht mit Schwimmen an, sondern ließen sich auf den Wellenrücken hinauf und in das Wellental hinabspülen und belustigten sich dabei so gut wie Kinder in einer Schaukel. Ihre einzige Furcht war, daß die Schar zersplittert werden könne. Die armen Landvögel, die oben im Sturm vorbeitrieben, riefen neidisch: »Ja, ihr könnt wohl lachen, ihr könnt ja schwimmen!«

Aber deswegen waren die wilden Gänse wahrlich nicht aller Gefahr überhoben. Erstens machte dies Schaukeln sie so unwiderstehlich schläfrig. Jeden Augenblick überkam sie das Verlangen, den Kopf nach hinten zu legen und den Schnabel unter den Flügel zu stecken und zu schlafen. Es ist aber nichts so gefährlich, als unter solchen Umständen einzuschlafen, und Akka rief unaufhörlich: »Schlaft nicht ein, ihr wilden Gänse! Wer einschläft, wird von der Schar getrennt. Wer von der Schar getrennt wird, ist verloren!«

Trotz allen Bemühens zu widerstehen, schlief eine nach der andern ein, und selbst Mutter Akka war nicht weit davon entfernt, zu entschlummern, als sie plötzlich einen dunklen, runden Gegenstand sich aus dem Wasser emporheben sah. »Seehunde! Seehunde! Seehunde!« rief Mutter Akka mit starker und gellender Stimme und schwang sich mit klatschendem Flügelschlag in die Luft empor. Es war die höchste Zeit. Ehe die letzte wilde Gans dem Wasser entflohen war, hatten die Seehunde sich so weit genähert, daß sie nach ihren Füßen schnappten.

Dann waren die wilden Gänse wieder oben im Sturm, der sie vor sich her auf das Meer hinaustrieb. Er gönnte weder sich noch ihnen Ruhe. Und kein Land sahen sie, nur, nur Meer.

Sobald sie es wagen durften, ließen sie sich wieder auf das Wasser nieder. Aber als sie eine Weile auf den Wellen geschaukelt hatten, wurden sie wieder schläfrig. Und sobald sie einschliefen, kamen die Seehunde geschwommen. Wäre nicht die alte Akka so wachsam gewesen, so würde wohl kaum eine einzige von ihnen entkommen sein.

Der Sturm tobte den ganzen Tag, und er hauste entsetzlich zwischen den Scharen von Möwen und Zugvögeln, die um diese Zeit des Jahres auf der Wanderschaft begriffen sind. Einige wurden aus ihrem Kurs nach fernen Ländern verschlagen, wo sie verhungern mußten, andere waren schließlich so ermattet, daß sie ins Meer sanken und ertranken. Viele zerschellten an den Felswänden, und viele wurden ein Raub der Seehunde.

Den ganzen Tag währte der Sturm, und schließlich befiel Akka ein Zweifel, ob sie und ihre Schar wohl lebendig davonkommen würden. Sie waren todmüde, und nirgends erblickte sie einen Fleck, wo sie ruhen konnten. Gegen Abend wagte sie nicht mehr, sich auf dem Meer niederzulegen, weil dies jetzt auf einmal mit Eisschollen angefüllt war, die gegeneinander anprallten, und sie fürchtete, daß sie zwischen ihnen erdrückt werden könnten. Ein paarmal versuchten die wilden Gänse, sich auf die Eisschollen zu stellen. Aber einmal fegte der wilde Sturm sie in das Wasser hinein. Ein anderes Mal kamen die unbarmherzigen Seehunde auf das Eis gekrochen.

Bei Sonnenuntergang waren die Gänse noch einmal oben in der Luft. Sie flogen vorwärts, ängstlich vor der Nacht. Es war ihnen, als komme die Dunkelheit an diesem Abend, der so voller Gefahren war, allzu schnell über sie.

Es war entsetzlich, daß sie noch kein Land sahen. Wie sollte es ihnen ergehen, wenn sie gezwungen waren, die ganze Nacht draußen auf dem Meer zu verbringen. Entweder würden sie von den Eisschollen zermalmt, oder von den Seehunden gefressen, oder vom Sturm zerstreut werden.

Der Himmel war von Wolken verhüllt, der Mond versteckte sich dahinter, und die Dunkelheit brach früh herein. Als sie eintrat, war die ganze Natur von einem Grauen und einer Unheimlichkeit erfüllt, die selbst die mutigsten Herzen erbeben machten. Den ganzen Tag hatte man Schreie von Zugvögeln in Not über das Meer hinschallen hören, aber jetzt, wo man nicht mehr sehen konnte, woher die Schreie kamen, klangen sie unheimlich und furchteinflößend. Unten auf dem Meer stießen die Eisschollen mit mächtigem Krachen zusammen. Die Seehunde stimmten ihre wilden Jagdgesänge an. Es war, als sollten Himmel und Erde zusammenstürzen.

Die Schafe.

Der Junge hatte eine Weile dagesessen und in das Meer hinabgesehen. Plötzlich war es ihm, als werde das Brausen stärker als bisher. Er sah auf. Gerade vor ihm, nur drei oder vier Ellen entfernt, ragte eine kahle und rauhe Bergwand auf. An ihrem Fuß zerschellten die Wellen zu dem wildesten Schaumgischt. Die wilden Gänse flogen gerade auf die Klippe zu und der Junge konnte es sich nicht anders denken, als daß sie dagegen zerschmettert werden müßten.

Aber als er sich eben noch verwunderte, daß Akka diese Gefahr nicht beizeiten gesehen hatte, erreichten sie den Berg. Da entdeckte er auch gerade vor ihnen die halbrunde Öffnung zu einer Grotte. Dort hinein steuerten die Gänse, und im nächsten Augenblick befanden sie sich in Sicherheit.

Das erste, woran die Reisenden dachten, ehe sie sich Zeit ließen, sich ihrer Rettung zu freuen, war, daß sie nachsahen, ob auch alle ihre Kameraden in Sicherheit waren. Da waren Akka, Yksi, Kolme, Neljä, Biisi, Kuusi und alle sechs Gössel, der Gänserich, Daunenfein und Däumling, aber Kaksi aus Nuolja, die erste Gans auf dem linken Flügel, war verschwunden, und niemand wußte etwas über ihr Schicksal.

Als die Wildgänse entdeckten, daß keine andere als Kaksi von der Schar getrennt war, beruhigten sie sich. Kaksi war alt und klug. Sie kannte alle ihre Wege und Gewohnheiten, und sie würde schon zu ihnen zurückfinden.

Dann begannen die wilden Gänse, sich in der Höhle umzusehen. Es kam noch so viel Licht in die Öffnung hinein, daß sie sehen konnten, wie tief und breit die Grotte war. Sie freuten sich, ein so prächtiges Nachtquartier gefunden zu haben, als eine von ihnen plötzlich ein paar schimmernde, grüne Punkte entdeckte, die ihnen aus einem dunklen Winkel entgegenleuchteten. »Das sind Augen!« rief Akka; »hier drinnen sind große Tiere!« Sie stürzten auf den Ausgang zu, aber Däumling, der in der Dunkelheit besser sah als die wilden Gänse, rief ihnen zu: »Da ist kein Grund, bange zu sein. Es sind nur einige Schafe, die dort an der Wand der Grotte entlang liegen.«

Als sich die wilden Gänse an das Halbdunkel der Grotte gewöhnt hatten, konnten auch sie die Schafe deutlich erkennen. Die ausgewachsenen Schafe mochten ihnen wohl an Zahl gleich sein, aber außerdem waren noch einige kleine Lämmer da. Ein großer Widder mit langen, gewundenen Hörnern schien der vornehmste in der Schar zu sein. Die wilden Gänse traten vor ihn hin und verneigten sich tief. »Willkommen in der Wildnis!« grüßten sie, der Widder aber lag still und sagte kein Wort zur Bewillkommnung.

Die wilden Gänse glaubten nun, daß die Schafe ungehalten darüber seien, daß sie in ihre Grotte eingekehrt waren. »Es ist vielleicht nicht ganz angebracht, daß wir hier in der Grotte Unterkunft genommen haben?« fragte Akka. »Aber wir können nichts dazu tun, der Wind ist schuld daran. Der Sturm hat uns den ganzen Tag herumgepeitscht, und wir würden sehr dankbar sein, wenn wir die Nacht hierbleiben dürften.« Es währte sehr lange, bis eins der Schafe ein Wort erwiderte, aber man konnte deutlich hören, daß einige von ihnen tief seufzten. Akka wußte sehr wohl, daß Schafe immer sonderbare, scheue Tiere sind, aber es schien wirklich, als wenn diese nicht den geringsten Begriff von einem gebildeten Benehmen hätten. Endlich antwortete ein altes Mutterschaf mit langem und betrübtem Gesicht in klagendem Ton: Von uns wird euch niemand verbieten, hier zu bleiben, aber das Haus, in das ihr hineingekommen seid, ist ein Haus der Trauer, und wir können Gäste nicht wie in alten Zeiten empfangen.« – »Deswegen sollt ihr euch nicht grämen,« erwiderte Akka. »Wüßtet ihr, was wir im Laufe des Tages haben durchmachen müssen, so würdet ihr verstehen, daß wir zufrieden sind, wenn wir nur einen sicheren Fleck haben, wo wir schlafen können.«

Als Akka das gesagt hatte, erhob sich das alte Schaf. »Ich glaube, es würde besser für euch sein, in dem ärgsten Sturm zu fliegen, als hier zu bleiben. Aber jetzt sollt ihr doch nicht von hier fortgehen, ehe wir euch die Bewirtung geboten haben, die das Haus zu geben vermag.«

Dann führte sie sie an ein Loch in der Erde, das voll Wasser war. Daneben lag ein Haufen Streu und altes Stroh, und damit bat sie sie, fürlieb zu nehmen. »Wir haben in diesem Jahr einen strengen Schneewinter hier auf der Insel gehabt,« sagte sie. »Die Bauern, denen wir gehören, kamen mit Heu und Stroh hier hinaus zu uns, damit wir nicht tothungern sollten. Und das ist alles, was wir noch übrig haben.«

Die Gänse stürzten sich sofort über das Fressen. Sie fanden, daß sie großes Glück gehabt hatten und gerieten in beste Laune. Sie bemerkten wohl, daß die Schafe bedrückt waren, aber sie wußten ja, daß Schafe gar leicht bange werden, und sie glaubten nicht, daß irgendwelche Gefahr vorliege. Sobald sie gegessen hatten, wollten sie sich wie gewöhnlich zum Schlafen hinsetzen. Aber da erhob sich der große Widder und kam zu ihnen hin. Die Gänse meinten, sie hätten nie im Leben einen Widder mit so langen und dicken Hörnern gesehen. Auch in anderer Beziehung war er merkwürdig. Er hatte eine große, knorrige Stirn, kluge Augen und hielt sich so aufrecht, als sei er ein stolzes und mutiges Tier.

»Ich kann es nicht verantworten, euch hier schlafen zu lassen, ohne euch zu erzählen, wie unsicher es hier ist,« sagte er. »Wir können in jetziger Zeit keine Nachtgäste aufnehmen.« Erst jetzt wurde es Akka klar, daß es Ernst war. »Wir werden schon wieder abreisen, wenn ihr es so bestimmt wünschet,« sagte sie. »Wollt ihr uns nicht aber erst erzählen, was euch quält? Wir wissen nichts, und wir wissen nicht einmal, wie dieser Ort heißt.« – »Er heißt die kleine Karlsinsel,« entgegnete der Widder. »Die Insel liegt in der Nähe von Gulland, und hier wohnen nur Schafe und Wasservögel.« – »Ihr seid vielleicht wilde Schafe?« fragte Akka. – »Davon sind wir gar nicht weit entfernt,« erwiderte der Widder. »Wir haben nicht viel mit Menschen zu schaffen. Es ist eine alte Übereinkunft zwischen uns und den Bauern auf einem Gehöft drüben auf Gulland, daß sie uns mit Futter versorgen sollen, wenn ein Schneewinter eintritt, und dafür haben sie die Erlaubnis, diejenigen von uns zu nehmen, die überzählig sind. Die Insel ist klein, so daß sie nicht viele Schafe ernähren kann. Im übrigen aber sorgen wir das ganze Jahr allein für uns, und wir wohnen nicht in Häusern mit Türen und Schlössern, sondern wir haben unsern Unterschlupf in Grotten wie diese hier.«

»Bleibt ihr auch im Winter hier draußen?« fragte Akka erstaunt. – »Freilich tun wir das,« antwortete der Widder. »Wir haben das ganze Jahr hindurch gute Weide hier oben auf dem Berge.« – »Ich sollte meinen, ihr habt es besser als andere Schafe,« sagte Akka. »Aber was für ein Unglück ist denn nur über euch gekommen?« – »In diesem Winter herrschte eine schreckliche Kälte. Das Meer fror zu, und da kamen drei Füchse hierher über das Eis gewandert, und die sind seither hier geblieben. Sonst gibt es auf der ganzen Insel kein lebensgefährliches Tier.« – »Ach, macht sich denn der Fuchs auch an so jemand wie ihr heran?« – »Nein, nicht am Tage, da kann ich mich und die Meinen schon verteidigen,« sagte der Widder und schüttelte die Hörner. »Aber sie schleichen sich des Nachts, wenn wir drinnen in der Grotte schlafen, an uns heran. Wir tun, was wir können, um uns wach zu halten, aber hin und wieder muß man ja schlafen, und dann überfallen sie uns. Sie haben schon die sämtlichen Schafe in den anderen Grotten getötet, und da waren Herden, die ebenso groß waren wie die meine.«

»Es ist nicht angenehm zu erzählen, wie hilflos wir sind,« sagte das alte Mutterschaf. »Wir sind nicht besser gestellt, als wenn wir zahme Schafe wären.« – »Glaubt ihr, daß die Füchse auch über Nacht kommen werden?« fragte Akka. – »Es ist wohl anzunehmen,« erwiderte das alte Schaf. »Vorige Nacht waren sie hier und stahlen uns ein Lamm. Sie kommen sicher wieder, so lange noch eins von uns am Leben ist. Das haben sie in den andern Grotten getan.« – »Aber wenn es so weiter geht, werdet ihr ja ganz vernichtet,« sagte Akka. – »Ja, es währt wohl nicht mehr lange, bis es mit allen Schafen auf der kleinen Karlsinsel vorbei ist,« sagte das Schaf.

Akka ging sehr mit sich zu Rat. Es war nicht erfreulich, wieder in den Sturm hinaus zu müssen, aber es war auch nicht gut, in einem Haus zu bleiben, wo solche Gäste zu erwarten waren. Als sie eine Weile über die Sache nachgedacht hatte, wandte sie sich an Däumling. »Ob du, der du uns schon so oft geholfen hast, uns nicht auch jetzt helfen willst?« fragte sie. Ja, das wollte der Junge gern. »Es tut mir ja sehr leid für dich, daß du nicht schlafen kannst,« sagte die wilde Gans. »Glaubst du aber nicht, daß du dich wach halten könntest, bis der Fuchs kommt, um uns dann zu wecken, so daß wir fortfliegen können?« Der Knabe war ja nicht sonderlich erfreut über diesen Vorschlag, aber alles war noch besser als wieder in den Sturm hinaus zu müssen, so versprach er denn, sich wach zu halten.

Als er eine Weile dort gesessen hatte, war es, als flaue der Sturm ab. Der Himmel wurde klar, und der Mondschein spielte auf den Wellen. Der Junge ging dicht an die Öffnung, um hinauszusehen. Die Grotte lag hoch oben auf dem Berge. Ein schmaler, steiler Pfad führte da hinauf, auf dem würde er die Füchse wohl erwarten können.

Lange sah er nichts weiter als das Meer und die Klippen, die Kobolden und Wassermännern glichen, so daß man bange vor ihnen werden mußte. Aber plötzlich hörte er eine Kralle gegen einen Stein kratzen, und da vergaß er die Furcht vor den Kobolden. Es fiel ihm ein, daß es unrecht sei, die Gänse zu wecken und die Schafe ihrem Schicksal zu überlassen; ob er nicht etwas Besseres ersinnen konnte?

Schnell lief er in die Grotte hinein, packte den Widder bei den Hörnern und rüttelte ihn wach, und dann setzte er sich auf seinen Rücken. »Steht auf, Vater!« sagte der Junge, »dann wollen wir versuchen, ob wir den Füchsen nicht einen kleinen Schrecken einjagen können.«

Er hatte sich Mühe gegeben, so still wie möglich zu sein, aber die Füchse mußten doch etwas gehört haben. Als sie an den Eingang der Grotte kamen, blieben sie stehen und besannen sich. »Da hat sich ganz gewiß einer von ihnen da drinnen gerührt,« sagte der eine. »Ob sie wach sein sollten?« – »Ach, geh du nur hinein!« sagte der andere; »sie können uns ja doch nichts tun.«

Als sie weiter in die Grotte hineingekommen waren, blieben sie stehen und schnüffelten. »Wen sollen wir heute abend nehmen?« flüsterte der Fuchs, der voranging. – »Heut abend wollen wir den großen Widder nehmen,« sagte der hinterste, »dann haben wir leichtes Spiel mit den anderen.«

Der Junge saß auf dem Rücken des alten Widders und sah sie heranschleichen. »Stoß jetzt nur zu, geradeaus!« flüsterte der Junge. Der Widder stieß zu, und der vorderste von den Füchsen bekam einen Stoß, daß er einen Purzelbaum hintenüber schlug und auf den Ausgang zu rollte. »Stoß jetzt nach links zu!« sagte der Junge und drehte den Kopf des Widders in der Richtung herum. Der Widder stieß aus Leibeskräften und traf den zweiten Fuchs in die Seite. Der rollte mehrmals rund herum, ehe er wieder auf die Beine kam und entfliehen konnte. Der Junge wünschte nur, daß auch der dritte Fuchs einen Stoß bekommen hätte, aber der hatte sich schon aus dem Staube gemacht.

»Jetzt, denke ich, haben sie genug für über Nacht bekommen,« sagte der Junge. – »Das denke ich auch,« sagte der große Widder. »Leg dich jetzt auf meinen Rücken und krieche in die Wolle hinein! Du hast es wohl verdient, gut und warm zu liegen nach all dem Sturm, in dem du draußen warst.«

Das Höllenloch.

Sonnabend, den 9. April.

Am nächsten Tage ging der alte Widder mit dem Jungen auf dem Rücken umher und zeigte ihm die Insel. Sie bestand aus einem einzigen mächtigen Klippenblock. Sie war wie ein schwarzes Haus mit lotrechten Wänden und flachem Dach. Der Widder ging erst auf das flache Dach hinauf und zeigte dem Jungen die guten Grasweiden dort, und der Junge mußte einräumen, daß die Insel wie für Schafe geschaffen war. Dort oben wuchs nicht viel weiter als Schafschwingel und solche kleine, trockene, würzige Kräuter, wie sie die Schafe lieben.

Aber da war wahrlich anderes zu sehen als Schaffutter für den, der ein klein wenig höher hinauf gekommen war. Da sah man erstens das ganze Meer, das jetzt blau und sonnenbeschienen dalag und in blanken Dünungen rollte; nur hier und da an einer Klippenspitze spritzte der Schaum in die Luft hinauf. Gerade gegenüber lag Gulland mit seiner langen und geraden Küste, und im Südwesten lag die große Karlsinsel, die ganz so gebaut war wie die kleine Karlsinsel. Als der Widder hart an den Rand des Klippendaches ging, so daß der Junge an den Felswänden herabsehen konnte, entdeckte er, daß sie ganz voll von Vogelnestern waren, und in dem blauen Meer unter ihm lagen Krickenten und Sammetenten und Eidervögel und Lummen und Alken still und friedlich und belustigten sich damit, Heringe zu fischen.

»Das ist doch ein herrliches Land hier,« sagte der Junge. »Ihr wohnt wirklich hübsch, ihr Schafe.« – »Ja, schön ist es hier,« sagte der alte Widder. Es war, als hätte er noch mehr sagen wollen, aber er seufzte nur. »Wenn du hier aber alleine gehst, mußt du dich vor allen den Spalten in acht nehmen, die durch den Berg gehen,« fügte er nach einer Weile hinzu. Die Warnung kam gerade zur rechten Zeit, denn da waren an mehreren Stellen tiefe und breite Spalte. Der größte davon hieß das Höllenloch. Es war viele Klafter tief und fast einen Klafter breit. »Fällt man da hinab, so ist es gleich mit einem aus,« sagte der Widder. Dem Jungen wollte es scheinen, als bezwecke er etwas mit den Worten.

Dann führte er den Jungen an den Strand hinab. Nun bekam er die Kobolde, vor denen er in der Nacht so bange gewesen war, aus nächster Nähe zu sehen; sie waren nichts weiter als große Klippenblöcke. Der Junge konnte sich nicht satt daran sehen; er dachte, wenn es jemals Kobolde gegeben hatte, die in Stein verwandelt worden waren, so müßten sie so ausgesehen haben.

Aber da unten am Strande war noch etwas anderes, was noch unheimlicher war. Überall lagen dort tote Schafe. Es schien so, als wenn die Füchse hier ihre Mahlzeit abgehalten hätten. Er sah Skelette, die ganz abgeschält waren, aber auch Schafleiber, die nur halb verzehrt waren und andere, von denen sie kaum gekostet, und die sie dann hatten liegen lassen. Es war geradezu herzzerreißend, zu sehen, wie sich die Raubtiere nur der Belustigung halber, nur um zu jagen und zu zerreißen, über die Lämmer gestürzt hatten.

Der Widder ging still an toten Schafen vorüber, der Junge aber konnte nicht umhin, all das Traurige zu sehen.

Jetzt klomm der Widder wieder die Felsenhöhe hinan, als er aber ganz hinaufgekommen war, blieb er stehen und sagte: »Wenn jemand, der klug und tapfer ist, all das Elend sehen könnte, das hier herrscht, würde er sicher keine Ruhe finden, bis die Füchse ihre verdiente Strafe erhalten hatten.« – »Die Füchse müssen wohl auch leben,« sagte der Junge. – »Ja,« erwiderte der Widder, »alle, die nicht mehr Tiere töten, als sie zu ihrem Unterhalt gebrauchen, dürften am Leben bleiben. Aber solche Missetäter!« – »Könnten die Bauern, denen die Insel gehört, denn nicht herüberkommen und euch helfen?« fragte der Junge. – »Sie sind mehrmals hier gewesen,« antwortete der Widder, »aber die Füchse verstecken sich in Höhlen und Spalten, so daß sie nicht dazu kommen können, sie zu erschießen.« – »Du denkst doch wohl nicht, daß so ein armer kleiner Wicht wie ich, den Tieren den Garaus machen kann, mit denen weder ihr noch die Bauern fertig werden könnt?« – »Ein kleiner und verwegener Kerl ist besser als ein großer und träger,« sagte der alte Widder.

Dann sprachen sie nicht mehr über die Sache, aber der Junge lief hin und setzte sich zu den wilden Gänsen, die dort weideten. Obwohl er es den Widder nicht sehen lassen wollte, war er doch sehr betrübt um der armen Schafe willen und wünschte von Herzen, daß er ihnen helfen könne. »Ich will mit Akka und dem Gänserich Martin darüber reden,« dachte er, »vielleicht können die einen guten Rat ersinnen.«

Nach einer Weile nahm der weiße Gänserich den Jungen auf den Rücken und ging über die Ebene auf das Höllenloch zu.

Er ging ganz sorglos über die offene Hochebene dahin, und es schien gar nicht, als denke er daran, wie weit und wie groß sie war. Er versteckte sich nicht hinter Erdhügeln oder Steinen, sondern ging geradeaus. Es war merkwürdig, daß er nicht vorsichtiger war. denn offenbar war er doch in dem Sturm am Tage zuvor zu Schaden gekommen; er hinkte auf dem rechten Bein und schleppte den linken Flügel hinter sich her, als sei er geknickt.

Er ging, als herrsche Friede und keine Gefahr, biß hier einen Grashalm ab und dort einen andern, und sah weder nach rechts noch nach links. Der Junge lag bequem hingegossen auf seinem Rücken und sah in den blauen Himmel hinauf. Er war nun so daran gewöhnt, zu reiten, daß er auf dem Gänserücken sowohl stehen als auch liegen konnte.

Da der Junge und der Gänserich beide so unbekümmert waren, merkten sie gar nicht, daß die drei Füchse aus dem Felsenspalt hervorgekommen waren.

Und die Füchse, die wußten, daß es fast unmöglich war, einer Gans auf offenem Felde zu Leibe zu kommen, dachten im Anfang gar nicht daran, hinter dem Gänserich drein zu jagen. Da sie aber nichts weiter zu tun hatten, versteckten sie sich doch schließlich bald in den einen, bald in den anderen Felsenspalt, um dem Gänserich aufzulauern, der sie offenbar gar nicht bemerkt hatte.

Als der Gänserich ziemlich nahe an den Spalt herangekommen war, in dem sie saßen, machte er einen Versuch, sich in die Luft emporzuschwingen. Er schlug mit den Flügeln, aber er konnte nicht in die Höhe gelangen. Nun konnten die Füchse sehen, daß er nicht imstande war, zu fliegen und deswegen schlichen sie jetzt mit noch größerem Eifer an ihn heran. Sie hielten sich nicht länger in den Felsspalten versteckt, sondern kamen auf die offene Hochebene hinaus. Sie verbargen sich, so gut sie konnten, hinter Erderhöhungen und Steinen und kamen dem Gänserich immer näher, ohne daß der jedoch zu bemerken schien, daß jemand hinter ihm drein war. Schließlich waren die Füchse so nahe gekommen, daß sie den Sprung wagen konnten. Sie warfen sich alle auf einmal mit einem mächtigen Satz über den Gänserich.

Im letzten Augenblick mußte der jedoch bemerkt haben, daß da irgend etwas vor sich ging, denn er sprang zur Seite, so daß die Füchse ihren Sprung verfehlten. Dem Gänserich half das nun freilich nicht viel, denn er hatte ja nur einen kleinen Vorsprung vor ihnen, und außerdem hinkte er ja auch. Der Ärmste stürzte davon, so gut er konnte. Und Gänse können ja schrecklich schnell laufen, so daß es sogar einem Fuchs schwer werden kann, sie einzuholen.

Der Junge ritt rücklings auf dem Gänserücken und schrie den Füchsen zu: »Ihr habt euch viel zu dick am Hammelfleisch gefressen! Ihr könnt nicht einmal eine Gans mehr einholen!« Er neckte sie, so daß sie ganz rasend vor Wut wurden und an nichts weiter dachten, als ihm nachzustürzen.

Der weiße Gänserich lief gerade auf die große Schlucht zu. Als er dahin gelangt war, machte er einen Schlag mit den Flügeln, so daß er auf die andere Seite hinübergelangte. Da waren ihm die Füchse dicht auf den Fersen.

Der Gänserich rannte in unverminderter Hast weiter, auch nachdem er auf der anderen Seite der Höllenschlucht angelangt war. Als er aber ungefähr zehn Ellen gelaufen war, klopfte der Junge ihn auf den Hals und sagte: »Jetzt kannst du gern stehen bleiben, Martin.«

Im selben Augenblick hörten sie hinter sich ein wildes Geheul, ein heftiges Kratzen von Krallen und einige schwere, aufklatschende Laute. Von den Füchsen aber sahen sie nichts.

Am nächsten Morgen fand der Leuchtturmwärter auf der großen Karlsinsel ein Stück Baumrinde, das unter die Tür geschoben und worauf mit schiefen, unbeholfenen Buchstaben gekratzt war: »Die Füchse auf der kleinen Karlsinsel sind in das Teufelsloch gefallen. Sieh dich nach ihnen um!«

Und das tat der Leuchtturmwärter.

XIII. Zwei Städte


Auf Meeresgrund.

Sonnabend, den 9. April.

Es wurde eine stille, klare Nacht. Die wilden Gänse machten sich nichts daraus, Unterschlupf in einer der Grotten zu suchen, sie standen und schliefen oben auf der Klippenfläche, und der Junge hatte sich in das kurze, trockene Gras neben die Gänse gelegt.

Es war heller Mondschein in jener Nacht, so hell, daß es dem Jungen schwer wurde, einzuschlafen. Er lag da und dachte darüber nach, wie lange er von Hause fort gewesen war, und er rechnete aus, daß drei Wochen verflossen waren, seit die Reise begann. Gleichzeitig fiel ihm ein, daß heute der Abend vor Ostern war.

»Über Nacht kommen also die Hexen von Blaakulla heim,« dachte er und lachte im stillen. Denn vor Kobolden und Nixen war er ein wenig bange, aber an Hexen und Zauberer glaubte er gar nicht.

Wären an jenem Abend Hexen in der Luft gewesen, hätte er sie sicher sehen müssen. Der Himmel war so hell und klar, daß auch nicht der kleinste schwarze Punkt sich in der Luft bewegen konnte, ohne daß er ihn entdeckte.

Während er so dalag, die Nase in die Luft, und über das alles nachdachte, gewahrte er etwas Hübsches. Die Mondscheibe stand ganz und rund hoch oben, und davor kam ein großer Vogel geflogen. Er flog nicht an dem Mond vorbei, aber es sah so aus, als ob er aus ihm herausgeflogen käme. Gegen den hellen Himmel nahm sich der Vogel kohlschwarz aus, und die Flügel reichten von dem einen Rande der Mondscheibe bis zu der andern. Er hielt die Richtung so genau inne, daß es für den Jungen so aussah, als sei er auf die Mondscheibe gezeichnet. Der Körper war klein, der Hals lang und dünn, und ein Paar lange, dünne Beine hatte er nach hinten ausgestreckt. Der Junge sah sofort, daß es ein Storch sein müsse.

Einen Augenblick später ließ sich Herr Langbein, der Storch, neben ihm nieder. Er beugte sich über den Jungen und stieß ihn mit dem Schnabel, um ihn wach zu bekommen.

Der Junge richtete sich sofort auf. »Ich schlafe nicht, Herr Langbein,« sagte er. »Wie kommt es, daß Sie mitten in der Nacht ausgeflogen sind? Und wie sieht es auf Glimminghaus aus? Wollen Sie mit Mutter Akka sprechen?«

»Es ist zu hell, um über Nacht zu schlafen,« antwortete Herr Langbein, »Deswegen beschloß ich, hierher nach der Karlsinsel hinüber zu reisen und dich, mein Freund Däumling, aufzusuchen. Von einer Fischmöwe erfuhr ich, daß du über Nacht hier seiest. Ich bin noch nicht nach Glimminghaus gezogen; ich wohne noch in Pommern.«

Der Junge freute sich ungeheuer, daß Herr Langbein gekommen war, um ihn zu sehen. Sie redeten über alles mögliche miteinander wie alte Freunde. Schließlich fragte der Storch, ob der Junge nicht Lust habe, einen kleinen Ritt in dem schönen Mondschein zu machen.

Ja, das wollte der Junge für sein Leben gern, wenn der Storch nur dafür sorgen wollte, daß er vor Sonnenaufgang zu den wilden Gänsen zurückkam. Das versprach der Storch, und dann ging es von dannen.

Herr Langbein flog wieder gerade nach dem Mond hinauf. Sie stiegen und stiegen, das Meer sank tief hinab, aber der Flug ging so wunderbar leicht, es war fast, als lägen sie still in der Luft.

Der Junge fand, die Reise habe eine unnatürlich kurze Zeit gewährt, als sie sich wieder zu der Erde hinabsenkten.

Sie landeten an einem einsamen Strande, der mit feinem, weißem Sand bedeckt war. An der Küste entlang lief eine Reihe von Flugsanddünen mit Riedgras auf dem Gipfel. Sonderlich hoch waren sie nicht, aber sie hinderten doch den Jungen, das Land zu übersehen.

Herr Langbein stellte sich auf eine Sandbank, zog das eine Bein unter sich in die Höhe und bog den Hals zurück, um den Kopf unter den Schnabel zu stecken. »Jetzt kannst du hier am Strande ein wenig umherspazieren,« sagte er zu Däumling, »während ich mich ausruhe. Gehe aber nicht weiter weg, als daß du dich zu mir zurückfinden kannst.«

Der Junge wollte nun erst auf eine der Dünen hinaufklettern, um zu sehen, wie es dahinter aussah. Als er aber ein paar Schritte gegangen war, hörte er etwas gegen seinen Holzschuh klirren. Er beugte sich hinab und sah, daß im Sande eine kleine Kupfermünze lag, die so von Grünspan verzehrt war, daß sie fast durchsichtig erschien. Sie war so klein und schlecht, daß er nicht einmal Lust hatte, sie aufzunehmen, sondern sie mit dem Fuße wegstieß.

Als er sich aber wieder aufrichtete, erschrak er, denn kaum zwei Schritt von ihm ragte eine hohe Mauer mit einem Torweg mit Türmen darüber auf.

Eben noch, als sich der Junge niederbeugte, hatte das Meer dortgelegen, blank und glitzernd, und jetzt war es durch eine lange Mauer mit Zinnen und Türmen seinen Blicken entzogen. Und gerade vor ihm, wo eben noch ein Haufen Tang gelegen, gähnte nun das große Tor.

Der Junge begriff, daß dies eine Art Spuk sein müsse. Aber davor brauchte er ja nicht bange zu werden, fand er. Da waren keine Kobolde oder anderer Teufelskram von der Art, dem in der Nacht zu begegnen er sich immer scheute. Die Mauern wie auch der Torweg waren so prächtig, daß er große Lust empfand, zu sehen, was dahinter sein könne. »Ich muß wirklich untersuchen, wie dies hier zusammenhängt,« dachte er und begab sich in das Tor hinein.

In der tiefen Torwölbung saß die Wachtmannschaft in bunten Gewändern mit großen Puffärmeln und mit langschaftigen Hellebarden an der Seite; sie spielten Würfel und dachten nur an das Spiel und beachteten den Jungen nicht, der an ihnen vorübereilte.

Jenseits des Tors kam er auf einen freien, mit großen, glatten steinernen Fliesen belegten Platz. Ringsum standen hohe, prächtige Häuser, und lange, schmale Straßen gingen von dort aus.

Auf diesem Platz wimmelte es von Menschen. Die Männer trugen lange, pelzgefütterte Mäntel über kostbaren Unterkleidern aus Seide, Baretts mit Straußenfedern saßen ihnen schief auf dem Kopf und über der Brust hingen breite goldene Ketten. Sie waren alle so prachtvoll gekleidet, als könnten sie Könige sein.

Die Frauen hatten hohe, spitze Hauben auf dem Kopfe und lange Kleider mit engen Ärmeln. Auch sie waren prächtig gekleidet, jedoch längst nicht so kostbar wie die Männer.

Es war ja ganz so wie in dem alten Märchenbuch, das seine Mutter zuweilen aus der Truhe nahm und ihm zeigte. Der Junge wollte seinen Augen nicht trauen.

Aber noch merkwürdiger als die Männer und die Frauen, war die Stadt selber. Jedes einzelne Haus war so gebaut, daß es den Giebel nach der Straße kehrte, und diese Giebel waren so verziert, daß man glauben sollte, sie wollten miteinander wetteifern, welcher von ihnen der feinste sei.

Wer auf einmal so viel Neues zu sehen hat, kann es nicht alles in seinem Gedächtnis bewahren. Aber der Junge konnte sich trotzdem später erinnern, daß er zackige Giebel gesehen hatte, wo auf jedem Absatz Bilder von Christus und seinen Aposteln standen, Giebel, wo eine Nische neben der andern lag, bis zur Spitze hinauf, alle mit geschnitzten Figuren darin, Giebel, die mit bunten Glasstücken eingelegt waren, und Giebel aus weißem und schwarzem Marmor, gestreift und gewürfelt.

Während der Junge umherging und dies alles bewunderte, befiel ihn auf einmal eine fürchterliche Eile. »So was hab‘ ich mein Lebtag nicht gesehen, und so was bekomme ich auch nie wieder zu sehen,« sagte er zu sich selber. Und dann begann er, die ganze Stadt zu durchlaufen, Straße auf und Straße ab.

Die Straßen waren eng, aber nicht dunkel und leer wie in den Städten, durch die er auf seiner Reise gekommen war. Überall wimmelte es von Menschen. Alte Frauen saßen vor ihren Türen und spannen, ohne Spinnrocken, nur mit einer Spindel. Die Läden der Kaufleute waren wie Marktbuden nach der Straße zu offen. Alle Handwerker standen mit ihrer Arbeit unter offenem Himmel. An einer Stelle wurde Tran gekocht, an einer andern Stelle wurden Häute gegerbt, an einer dritten Stelle befand sich eine lange Reiferbahn.

Hätte der Junge nur Zeit gehabt, so hätte er alle möglichen Handwerke erlernen können. Hier sah er, wie der Maschinenschmied es machte, wenn er einen Brustharnisch aushämmerte, wie der Goldschmied edle Steine in Ringe und Armbänder faßte, wie der Drechsler seine Eisen führte, wie der Schuhmacher seine feinen, roten Schuhe versohlte, wie der Goldzieher güldene Fäden zwirnte, wie die Weber Einschläge von Gold und Silber in ihr Gewebe webten.

Aber der Junge hatte keine Zeit, stillzustehen. Er stürzte dahin, um soviel wie möglich zu sehen, ehe es alles wieder verschwand.

Die hohe Mauer lief rings um die ganze Stadt und schloß sie ab, wie ein Zaun ein Feld abschließt. Am Ende jeder Straße sah er sie mit ihren Türmen und Zinnen. Oben auf der Mauer gingen Kriegsknechte mit blitzenden Helmen und Harnischen.

Als er quer durch die ganze Stadt gelaufen war, kam er an ein anderes Tor in der Mauer. Davor lagen das Meer und der Hafen. Der Junge sah altmodische Schiffe mit Ruderbänken quer darüber und mit hohen Überbauten vorne und achtern. Einige lagen da und nahmen Lasten ein, andere warfen gerade die Anker aus. Lastträger und Kaufleute bewegten sich durcheinander. Überall herrschte Leben und Geschäftigkeit.

Aber auch hier, fand er, habe er keine Zeit zum Verweilen. Er eilte wieder in die Stadt zurück und kam nun zu dem großen Marktplatz. Da lag der Dom mit drei hohen Türmen und einem tiefen, gewölbten Toreingang. Die Wände waren so mit Bildhauerarbeit geschmückt, daß da auch nicht ein Stein war, der nicht seinen Zierat gehabt hätte. Und welche Pracht sah man nicht durch das offene Portal schimmern: goldene Kreuze und goldbeschlagene Altäre und Priester in goldenem Ornat! Der Kirche gerade gegenüber lag ein Haus mit Zinnen und einem einzigen wolkenragenden Turm. Das war wohl das Rathaus.

Und zwischen der Kirche und dem Rathaus, um den ganzen Marktplatz herum, standen die schönen Giebelhäuser mit den mannigfaltigsten Ausschmückungen.

Der Junge hatte sich warm und müde gelaufen. Er meinte, daß er nun das Bemerkenswerteste gesehen hatte, und begann deswegen, langsamer zu gehen. Die Straße, in die er jetzt eingebogen war, mußte wohl die sein, in der die Stadtbewohner ihre prächtigen Kleider kauften. Überall vor den kleinen Buden wimmelte es von Leuten, während die Verkäufer steife, geblümte Seidenstoffe, dicken Goldbrokat, bunten Sammet, leichte Florschals und Spitzen wie Spinnengewebe über den Ladentisch ausbreiteten.

Vorhin, während der Junge durch die Straßen lief, hatte ihn niemand beachtet. Die Menschen hatten gewiß geglaubt, daß es nur eine kleine, graue Maus sei, die an ihnen vorüberhuschte. Aber jetzt, wo er langsam die Straße hinaufging, erblickte ihn einer der Kaufleute und winkte ihm zu.

Der Junge wurde anfänglich bange und wollte vorüberlaufen, aber der Kaufmann winkte und lächelte und breitete ein herrliches Stück Seidendamast auf dem Ladentisch aus, um ihn zu locken.

Der Junge schüttelte den Kopf: »Ich werde nie so reich, daß ich auch nur eine Elle von dem Stoff kaufen kann,« dachte er.

Aber nun hatten sie ihn in jeder einzelnen Bude die ganze Straße entlang erblickt. Wohin er auch den Kopf wendete, stand da ein Krämer und winkte ihm zu. Sie ließen ihre reichen Kunden stehen und dachten nur an ihn. Er sah, wie sie in die fernsten Winkel der Läden liefen, um das Beste hervorzuholen, was sie zu verkaufen hatten, und daß ihre Hände förmlich vor Eifer zitterten, während sie es auf dem Ladentisch auslegten.

Als der Junge immer weiter ging, sprang einer von den Kaufleuten über den Ladentisch, lief ihm nach und breitete ein Stück Silberbrokat und eine gewebte Tapete, die von Farben strahlte, vor ihm aus. Der Junge konnte es nicht lassen, über ihn zu lachen; der Krämer mußte doch begreifen, daß so ein armer Wicht wie er nicht solche Sachen kaufen konnte. Er stand still und streckte seine beiden leeren Hände aus, damit sie sehen sollten, daß er nichts besaß, und ihn dann in Ruhe ließen.

Aber der Kaufmann hob einen Finger in die Höhe, nickte und schob ihm den ganzen Haufen von schönen Waren hin.

»Ob es wohl seine Absicht ist, das alles für ein Goldstück zu verkaufen?« dachte der Junge.

Der Kaufmann holte eine kleine, abgegriffene und schlechte Münze hervor, die elendeste, die man sehen konnte, und zeigte sie ihm. Und er war so darauf erpicht, zu verkaufen, daß er noch ein paar schwere silberne Becher auf den Haufen legte.

Da fing der Junge an, in seinen Taschen zu wühlen. Er wußte ja freilich, daß er nicht einen roten Heller besaß, aber er konnte es doch nicht lassen, nachzufühlen.

Alle die anderen Kaufleute standen rings um ihn her, um zu sehen, was aus dem Handel wurde, und als sie sahen, daß der Junge in seinen Taschen wühlte, liefen sie sämtlich an ihre Ladentische, nahmen die Hände voll von silbernen und goldenen Geschmeiden und boten sie ihm an. Und alle machten sie ihm begreiflich, daß sie keine andere Bezahlung verlangten, als einen einzigen kleinen Schilling.

Aber der Junge wendete sowohl seine Jackentaschen wie auch seine Hosentaschen um, damit sie sehen sollten, daß er nichts besaß. Da füllten sich die Augen aller dieser vornehmen Kaufleute, die so viel reicher waren als er, mit Tränen. Er war schließlich ganz gerührt, als er sie so bekümmert sah, und er grübelte darüber nach, ob er ihnen nicht auf irgendeine Weise helfen könne. Da fiel ihm die kleine grünspanige Münze ein, die er vorhin am Strande hatte liegen sehen.

Er kehrte um und lief aus Leibeskräften die Straße hinab, und das Glück war ihm hold, denn er kam zu demselben Tor hinaus, in das er hineingekommen war. Er stürzte hindurch und machte sich daran, nach der kleinen grünspanigen Kupfermünze zu suchen, die vor einer halben Stunde am Strande gelegen hatte.

Er fand sie auch wirklich, aber als er sie aufgenommen hatte und nach der Stadt zurücklaufen wollte, sah er nichts als das Meer vor sich. Keine Mauer, keinen Torweg, keine Wächter, keine Straßen, keine Häuser, nichts weiter als das bloße Meer.

Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. Zuerst hatte er geglaubt, daß das, was er sah, nichts als Augenverblendung sei, aber das hatte er wieder vergessen. Er hatte nur daran gedacht, wie schön das alles war. Er trauerte förmlich darüber, daß die Stadt verschwunden war.

Im selben Augenblick erwachte Herr Langbein und kam zu ihm hin. Aber er hörte ihn nicht. Der Storch mußte ihn mit dem Schnabel puffen, um sich bemerkbar zu machen. »Du stehst hier auch wohl und schläfst,« sagte Herr Langbein.

»Lieber Herr Langbein!« sagte der Junge. »Was für eine Stadt war denn das, die eben noch hier lag?«

»Hast du eine Stadt gesehen?« sagte der Storch. »Du hast geschlafen und geträumt, glaub‘ mir nur!«

»Nein, ich habe nicht geträumt,« sagte Däumling, und er erzählte dem Storch alles, was er erlebt hatte.

Da sagte Herr Langbein: »Ich glaube nun doch, daß du hier am Strande eingeschlafen bist, Däumling. und das alles geträumt hast. Aber ich will dir doch nicht verhehlen, daß Bataki, der Rabe, der der gelehrteste Vogel der Welt ist, mir einmal erzählt hat, daß hier an der Küste in alten Zeiten eine Stadt gelegen hat, die Vineta hieß. Sie war so reich und glücklich, daß es niemals eine prächtigere Stadt gegeben hat, aber ihre Einwohner frönten leider dem Stolz und der Prunksucht. Zur Strafe dafür, sagt Bataki, wurde die Stadt Vineta von einer Sturmflut überschwemmt und versank ins Meer. Aber die Einwohner können nicht sterben, und ihre Stadt geht auch nicht zugrunde. Und in einer Nacht alle hundert Jahre steigt sie in aller ihrer Herrlichkeit aus dem Meere auf und liegt genau eine Stunde auf der Oberfläche der Erde.«

»Ja, das muß richtig sein,« sagte Däumling, »denn das hab‘ ich gesehen.«

»Ist aber die Stunde vergangen, so versinkt sie wieder ins Meer, wenn nicht ein Kaufmann in Vineta während dieser Zeit etwas an ein lebendes Wesen verkauft hat. Hättest du, Däumling, nur die allergeringste Kupfermünze gehabt, um sie dem Kaufmann zu geben, so läge Vineta noch hier an der Küste, und die Menschen könnten dort leben und sterben wie andere Menschen.«

»Herr Langbein,« sagte der Junge, »jetzt kann ich verstehen, warum Sie in der Nacht kamen und mich holten. Das taten Sie, weil Sie glaubten, daß ich die alte Stadt erlösen könnte. Ich bin so betrübt, daß es nicht so ging, wie Sie wollten, Herr Langbein!«

Er hielt sich die Hände vor die Augen und weinte.

Es war nicht leicht zu entscheiden, wer trauriger aussah, der Junge oder Herr Langbein.

Die lebende Stadt.

Montag, den 11. April.

Den zweiten Ostertag am Nachmittag waren die wilden Gänse und Däumling wieder auf der Reise. Sie flogen über Gulland hin.

Die große Insel lag eben und flach unter ihnen. Die Erde war gewürfelt, genau so wie in Schonen, überall lagen Kirchen und Gehöfte. Der Unterschied aber war, daß zwischen den Feldern hier mehrere Haine standen, und dann waren die Gehöfte nicht zusammengebaut. Und da waren keine großen Schlösser mit Türmen und mit weitgedehnten Parks.

Die wilden Gänse hatten Däumlings wegen den Weg über Gulland eingeschlagen. Zwei Tage war er jetzt ganz wie verwandelt gewesen und hatte kaum den Mund aufgetan. Das kam daher, weil er an nichts weiter denken konnte als an die Stadt, die sich ihm auf eine so wunderbare Weise gezeigt hatte. Er hatte nie etwas so Schönes und Prächtiges gesehen, und er konnte sich nicht darüber beruhigen, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, sie zu erretten. Er war sonst gar nicht sentimental veranlagt, aber er trauerte geradezu über die schönen Gebäude und die großen, stolzen Menschen.

Sowohl Akka wie auch der Gänserich hatten Däumling zu überzeugen gesucht, daß es ein Traum oder Augenverblendung gewesen war, der Junge wollte aber nicht mit sich reden lassen. Er war überzeugt, was er gesehen hatte, das hatte er gesehen, und diese Überzeugung konnte niemand erschüttern. Er ging so betrübt umher, daß seine Reisekameraden seinetwegen besorgt wurden.

Gerade als der Junge am allerniedergeschlagensten war, kehrte die alte Kaksi zu der Schar zurück. Der Sturm hatte sie nach Gulland verschlagen, und sie war um die ganze Insel rund herum gewesen, ehe sie von einigen Krähen gehört hatte, daß sich ihre Reisegefährten auf der kleinen Karlsinsel befanden. Als Kaksi hörte, was sich mit Däumling zugetragen hatte, sagte sie plötzlich:

»Wenn es eine alte Stadt ist, über die Däumling trauert, so wollen wir ihn gar bald trösten. Kommt nur mit, dann will ich euch an einen Ort führen, den ich gestern gesehen habe! Er soll bald wieder ganz fröhlich werden!«

Dann nahmen die Gänse Abschied von den Schafen, und nun befanden sie sich auf dem Wege nach dem Ort, den Kaksi Däumling zeigen wollte. So betrübt er auch war, konnte er es doch nicht lassen, wie gewöhnlich auf das Land hinabzusehen, über das er dahinflog.

Vor seinen Augen sah es so aus, als wenn die ganze Insel von Anfang an eine hohe, steile Klippe gewesen war, so wie die Karlsinsel, nur natürlich viel größer. Aber dann war sie auf irgendeine Weise flach gemacht. Jemand hatte eine große Kuchenrolle genommen und damit darüber hingerollt, als sei sie ein Stück Teig. Nicht so zu verstehen, daß sie eben geworden wäre wie ein Stück Flachbrot, das war sie nicht. Als sie an der Küste entlang flogen, hatte er an mehreren Stellen hohe, weiße Kalkwände mit Grotten und Felssäulen gesehen, aber an den meisten Stellen waren sie mit der Erde gleich gemacht, und die Küste fiel leise abschrägend nach dem Meere zu ab.

Auf Gulland hatten sie einen schönen und friedlichen Sonntagnachmittag. Es war mildes Frühlingswetter, die Bäume hatten große Knospen, Frühlingsblumen bedeckten die Wiesen, die langen, dünnen, herabhängenden Zweige der Pappeln wehten, und in den kleinen Gärten, die vor jedem einzelnen Hause lagen, standen die Stachelbeerbüsche ganz grün.

Die Wärme und das fruchtbare Wetter hatten die Leute auf die Wege und die Hofplätze hinausgelockt, und wo mehrere versammelt waren, wurde gespielt. Und nicht nur die Kinder spielten, sondern auch die Erwachsenen. Sie warfen mit Steinen nach einem Ziel und schickten ihre Bälle mit einem gewaltigen Schwung in die Luft hinauf, daß sie nahe daran waren, die wilden Gänse zu treffen. Es sah lustig und munter aus, daß die Erwachsenen also spielten, und der Junge würde sich auch darüber gefreut haben, wenn er seinen Kummer darüber, daß er die Stadt nicht hatte erretten können, hätte vergessen können.

Aber er mußte ja zugeben, daß es eine schöne Fahrt war. Es lag so ein Sang und Klang in der Luft. Die kleinen Kinder spielten Ringelreihen und sangen dazu. Und die Heilsarmee war auch unterwegs. Er sah eine Menge Menschen in schwarzen und roten Anzügen auf einem Waldhügel sitzen und Gitarre und Messinginstrumente spielen. Auf einem der Wege kam eine große Schar Menschen daher. Es waren Good-Templer, die einen Ausflug gemacht hatten. Er konnte sie an den großen Fahnen mit den goldenen Inschriften erkennen, die über ihnen wehten. Und sie sangen ein Lied nach dem andern, so lange er sie hören konnte.

Der Junge konnte später niemals den Namen Gulland hören, ohne sofort an Spiel und Gesang zu denken.

Lange hatte er so gesessen und hinabgesehen, aber nun erhob er zufällig die Augen. Es ist nicht zu sagen, wie sehr er staunte. Ohne daß er es bemerkt, hatten die Gänse das Innere der Insel verlassen und waren westwärts nach der Küste zugeflogen. Jetzt lag das offene, blaue Meer vor ihm. Doch nicht das Meer war so merkwürdig, sondern eine Stadt, die an der Küste aufragte.

Der Junge kam von Osten, und die Sonne stand schon niedrig im Westen. Als er sich der Stadt näherte, hoben sich ihre Mauern und Türme und die hohen Giebelhäuser und Kirchen ganz schwarz von dem hellen Abendhimmel ab. Daher konnte er nicht sehen, wie es eigentlich mit ihnen zusammenhing, und einige Augenblicke glaubte er, daß die Stadt ebenso prächtig sei wie die, die er in der Osternacht gesehen hatte.

Als er ganz nahe herankam, sah er, daß sie der Stadt auf dem Grunde des Meeres glich und doch wieder nicht glich. Es war derselbe Unterschied, als wenn man den einen Tag einen Mann in Purpur und köstlichem Leinen gekleidet sieht, und den andern Tag in Lumpen.

Aber die Stadt hatte wohl einmal so ausgesehen wie die, an die er denken mußte. Sie war ebenfalls von einer Mauer mit Türmen und Toren umgeben. Aber die Türme in dieser Stadt, die über der Erde stehen geblieben war, standen ohne Dach, hohl und leer da. Die Tore waren ohne Türflügel, Wächter und Kriegsknechte waren verschwunden. All die strahlende Pracht war dahin. Nur das nackte, graue Steinskelett war übrig geblieben.

Als der Junge weiter über die Stadt hinflog, sah er, daß sie zum größten Teil aus kleinen, niedrigen Häusern bestand, aber hier und da waren einige hohe Giebelhäuser und einige Kirchen aus der alten Zeit erhalten. Die Mauern der Giebelhäuser waren weiß getüncht und ohne den geringsten Schmuck, da aber der Junge erst so kürzlich die versunkene Stadt gesehen hatte, konnte er sich denken, wie sie ausgeschmückt gewesen waren: einige mit Bildsäulen und andere mit schwarzem und weißem Marmor. Und ebenso war es mit den alten Kirchen. Die meisten von ihnen waren ohne Dach, und ihr Inneres war kahl und leer. Die Fensteröffnungen waren ohne Scheiben, die Fußböden waren mit Gras bewachsen, und an den Wänden kletterte der Efeu hinauf. Aber nun wußte er, wie sie einstmals ausgesehen hatten, daß sie mit Bildsäulen und Gemälden bedeckt gewesen waren, daß sich im Chor ein reichgeschmückter Altar und goldene Kreuze erhoben hatten, und daß Priester in goldenem Ornat darin umhergewandelt waren.

Der Junge sah auch die schmalen Gassen, die an so einem Sonntagnachmittag fast leer waren. Aber er wußte, was für ein Strom von schönen, stolzen Menschen dort einstmals hin und her gewogt war. Er wußte, daß die Straßen wie große Werkstätten mit allerhand Arbeitern ganz angefüllt gewesen waren.

Niels Holgersen sah aber nicht, daß die Stadt noch heutigen Tages sowohl merkwürdig als auch schön war. Er sah weder die traulichen Häuschen in den Hinterstraßen mit den schwarzen Mauern, weißgemalten Balkenenden und roten Pelargonien hinter den blanken Fensterscheiben, noch die vielen schönen Gärten und Alleen oder die Schönheit der efeubekleideten Ruinen. Seine Augen waren so voll von der Herrlichkeit des Entschwundenen, daß er nichts Gutes in dem erblicken konnte, was war.

Die wilden Gänse flogen ein paarmal über der Stadt hin und her, damit Däumling alles richtig sehen sollte. Schließlich ließen sie sich auf dem grasüberwucherten Boden einer Ruinenkirche nieder, um dort die Nacht zu bleiben.

Sie hatten sich schon zum Schlafen gesetzt, aber Däumling war noch wach und sah durch die zertrümmerten Gewölbe zu dem blaßroten Abendhimmel empor. Als er eine Weile so gesessen hatte, dachte er, nun wollte er ein Ende machen mit seiner Trauer darüber, daß er die versunkene Stadt nicht hatte erretten können.

Ja, das wollte er tun, seit er nun diese Stadt gesehen hatte. Wäre die Stadt, die er gesehen hatte, nicht auf den Grund des Meeres gesunken, so wäre sie vielleicht binnen kurzem ebenso verfallen wie diese. Sie hätte am Ende der Zeit und der Vergänglichkeit nicht widerstehen können, sondern hätte bald mit Kirchen ohne Dach und Häusern ohne Schmuck und öden, leeren Straßen dagestanden, so wie diese. Dann war es doch besser, daß sie in all ihrer Herrlichkeit unten im Verborgenen bewahrt worden war.

»Es ist gut, daß es kam, wie es kam,« dachte er. »Hätte ich die Macht, die Stadt zu erlösen, ich glaube, ich würde es nicht tun.« Und dann trauerte er nicht mehr darüber.

Und da sind gewiß viele unter den jungen Leuten, die so denken. Aber wenn man alt wird und sich hat gewöhnen müssen, mit wenigem zufrieden zu sein, da freut man sich mehr über das Visby, das da ist, als über ein schönes Vineta auf dem Grunde des Meeres.