III. Wildvogelleben


Im Bauernhofe.

Donnerstag, den 24. März.

Gerade in jenen Tagen trug sich in Schonen eine Begebenheit zu, die sehr viel beredet wurde, ja sogar in die Zeitung kam. Von vielen wurde sie freilich für Erdichtung gehalten, weil sie nicht imstande waren, sie zu erklären.

In einem Nußholz am Ufer des Bombsees war nämlich ein Eichhörnchenweibchen gefangen und nach einem Bauernhof in der Nähe gebracht. Alle im Bauernhöfe, jung wie alt, freuten sich über das schöne kleine Tier mit dem großen Schwanz, den klugen, neugierigen Augen und den niedlichen, kleinen Beinchen. Sie dachten, sie wollten sich den ganzen Sommer an seinen flinken Bewegungen, seiner drolligen Art, Nüsse zu knacken und seinem munteren Spiel ergötzen. Sie setzten sofort einen alten Eichhörnchenkäfig in Ordnung; der bestand aus einem kleinen, grünangemalten Haus und einem Stahldrahtrad. Das kleine Haus, das sowohl eine Tür als auch Fenster hatte, sollte das Eichhörnchen als Eß- und Schlafzimmer haben; deswegen machten sie ein Bett aus welkem Laub für das Tierchen zurecht und setzten eine Schale mit Milch und einige Nüsse dahinein. Aber das Stahldrahtrad sollte es als Spielstube haben, in der es laufen und klettern und die es herumdrehen konnte.

Die Leute meinten, daß sie es sehr schön für das Eichhörnchen eingerichtet hätten und wunderten sich, daß es nicht gedeihen wollte. Es saß im Gegenteil niedergeschlagen und unwirsch in einer Ecke seiner Stube, und von Zeit zu Zeit stieß es einen lauten Klageschrei aus. Es rührte das Essen nicht an und drehte das Rad nicht ein einziges Mal herum. »Es ist gewiß bange,« sagten die Leute auf dem Bauernhof. »Morgen, wenn es sich erst heimischer fühlt, wird es schon essen und spielen.«

Nun traf es sich so, daß die Frauen im Bauernhof Anstalten zu einem Festschmaus trafen, und gerade an dem Tage, als das Eichhörnchen gefangen wurde, fand großes Backen statt. Und entweder hatten sie Unglück mit dem Teig gehabt, so daß er nicht aufgehen wollte, oder auch sie waren langsam bei der Arbeit gewesen, denn sie waren noch lange nach Hereinbruch der Dunkelheit damit beschäftigt.

Es herrschte natürlich großer Eifer und Geschäftigkeit in der Küche, und niemand ließ sich Zeit, daran zu denken, wie es dem Eichhörnchen ergehen mochte. In dem Hause war aber eine alte Frau, die war zu alt, um noch an dem Backen teilzunehmen. Das begriff sie selbst sehr wohl, aber sie mochte doch nicht gern so außerhalb des Ganzen stehen. Sie war betrübt, und deswegen ging sie nicht zu Bett, sondern setzte sich an das Fenster in der Stube und sah hinaus. In der Küche hatten sie der Hitze halber die Tür aufgemacht, so daß der klare Lichtschein auf den Hof hinausströmte. Es war ein Hofplatz mit Gebäuden nach allen Seiten, und es wurde so hell dort, daß die alte Frau die Risse und Löcher im Kalkputz an der Mauer gegenüber erkennen konnte. Sie sah auch den Eichhörnchenkäfig, der gerade an der Stelle hing, auf die der Lichtschein am allerstärksten fiel, und sie beobachtete, wie das Eichhörnchen die ganze Nacht aus seiner Stube in das Rad hinein und aus dem Rad wieder in die Stube sprang, ohne auch nur einen Augenblick zu ruhen. Sie fand, daß das Tier von einer wunderlichen Rastlosigkeit befallen sei, aber sie glaubte natürlich, daß der grelle Lichtschein es wach halte.

Zwischen dem Kuhstall und dem Pferdestall befand sich auf dem Hofe eine große Einfahrt, und die lag so, daß sie ebenfalls beleuchtet wurde. Und als die Nacht bereits ein wenig vorgeschritten war, sah die alte Frau einen kleinen Knirps, der nicht größer war als eine Handbreit, aber Holzschuhe und Lederhosen trug wie ein Arbeitsmann, leise und vorsichtig aus der Einfahrt auf den Hof schleichen. Die alte Frau begriff sofort, daß es der Kobold sei, und sie wurde nicht im geringsten bange. Sie hatte immer gehört, daß er sich dort auf dem Hofe aufhielt, obgleich sie ihn noch nie gesehen hatte, und ein Kobold hatte ja Glück im Gefolge, wo er sich zeigte.

Sobald der Kobold auf den gepflasterten Hof gekommen war, lief er geradeswegs auf den Eichhörnchenkäfig zu, und da der so hoch hing, daß er ihn nicht erreichen konnte, holte er sich eine Stange aus dem Gerätschaftsschuppen, stellte sie an den Käfig und kletterte daran in die Höhe, wie ein Seemann ein Tau entert. Als er an den Käfig hinaufkam, rüttelte er an der Tür des kleinen grünen Hauses, als wolle er sie öffnen, aber die alte Frau war ganz ruhig, denn sie wußte, daß die Kinder ein Hängeschloß vor die Tür gehängt hatten, aus Furcht, daß die Nachbarjungen versuchen könnten, das Eichhörnchen zu stehlen. Die alte Frau sah, daß, als der Kobold die Tür nicht aufbekommen konnte, das Eichhörnchen in das Stahldrahtrad hinausging. Dort hielt es eine lange Beratung mit dem Kobold ab. Und als der Kobold alles gehört hatte, was das gefangene Tierchen zu erzählen hatte, rutschte er an der Stange herunter und lief zum Tore hinaus.

Die alte Frau dachte, sie würde in dieser Nacht nichts mehr von dem Kobold sehen, aber sie blieb trotzdem am Fenster sitzen. Als eine kleine Weile vergangen war, kam er zurück. Er lief so schnell, daß sie kaum sehen konnte, wie seine Füße den Erdboden berührten, und er eilte auf den Käfig zu. Die alte Frau mit ihren weitsichtigen Augen konnte ihn deutlich sehen, und sie konnte auch sehen, daß er etwas in den Händen trug, aber was es war, konnte sie nicht begreifen. Das, was er in der linken Hand hatte, legte er auf das Steinpflaster, aber das, was er in der rechten hatte, nahm er mit nach dem Käfig hinauf. Hier stieß er mit seinem Holzschuh gegen das kleine Fenster, so daß die Scheibe zerbrach, und dann steckte er das, was er in der Hand hatte, durch das Loch dem Eichhörnchen zu. Darauf ließ er sich wieder hinabgleiten, nahm das, was er an die Erde gelegt hatte, und kletterte auch damit nach dem Käfig hinauf. Und als das getan war, eilte er wieder so hastig von dannen, daß die alte Frau ihm kaum mit den Augen folgen konnte.

Nun aber war an dem Mütterchen die Reihe, nicht mehr still in der Stube sitzen zu können. Ganz leise ging sie auf den Hof hinaus und stellte sich in den Schatten der Pumpe, um auf den Kobold zu warten. Und da war noch eine, die ihn entdeckt hatte und neugierig geworden war, nämlich die Hauskatze. Die kam leise geschlichen und stellte sich an der Mauer auf, gerade ein paar Schritte außerhalb des hellsten Lichtstreifs.

Sie standen beide da und warteten eine ganze Ewigkeit in der kalten Märznacht, und die alte Frau dachte schon daran, wieder hineinzugehen, als sie etwas auf dem Steinpflaster klappern hörte und den kleinen Knirps noch einmal dahergetrabt kommen sah. Ebenso wie vorhin trug er etwas in jeder Hand, und das, was er trug, piepste und zappelte. Und nun ging dem Mütterchen ein Licht auf. Sie begriff, daß der Kobold im Nutzholz gewesen war und die jungen Eichhörnchen geholt hatte, und daß er sie zu der Mutter bracht, damit sie nicht verhungern sollten.

Das Mütterchen stand ganz still, um nicht zu stören, und es schien auch nicht, als wenn der Kobold sie bemerkt hatte. Er wollte gerade das eine Junge an die Erde legen, um mit dem andern nach dem Käfig hinaufzuklettern, als er die grünen Augen der Katze dicht neben sich sah. Ganz ratlos blieb er stehen, ein Junges in jeder Hand.

Er wandte sich um, sah nach allen Seiten aus und gewahrte nun das Mütterchen. Da bedachte er sich nicht lange, sondern ging hin und reichte ihr eins der jungen Eichhörnchen hin.

Und das Mütterchen wollte sich seines Vertrauens nicht unwürdig zeigen, sie beugte sich hinab und nahm das Eichhörnchen entgegen und stand da und hielt es, bis der Kobold mit dem andern nach dem Käfig hinaufgeklettert war und nun kam, um das zu holen, das er ihr anvertraut hatte.

Am nächsten Morgen, als sich die Leute im Bauernhofe um den Morgenimbiß sammelten, konnte die alte Frau ja nicht an sich halten, sie mußte erzählen, was sie in der Nacht gesehen hatte. Und sie lachten natürlich alle zusammen und sagten, das habe sie geträumt. So früh im Jahre gebe es noch gar keine jungen Eichhörnchen.

Sie aber war ihrer Sache sicher und bat sie, im Eichhörnchenkäfig nachzusehen, und das taten sie. Und da lagen auf dem Laubbett in der Stube vier kleine halbnackte und halbblinde Junge, die mindestens ein paar Tage alt waren.

Als der Hausvater die Jungen sah, sagte er: »Es mag nun hiermit sein wie es will, das aber ist gewiß, wir haben uns hier auf dem Hofe so benommen, daß wir uns vor Tieren und Menschen schämen müssen.« Und dann nahm er das Eichhörnchen und alle die Jungen aus dem Käfig heraus und legte sie dem Mütterchen in die Schürze: »Geh du nun mit ihnen in das Nußholz hinaus,« sagte er, »und gib ihnen ihre Freiheit wieder!«

Über diese Begebenheit wurde soviel geredet, und sie kam sogar in die Zeitung. Aber die meisten wollten nicht daran glauben, weil sie sich nicht erklären konnten, wie so etwas geschehen könne.

Vittskövle.

Sonntag, den 26. März.

Ein paar Tage später trug sich ein ebenso sonderbares Ereignis zu. Eine Schar wilder Gänse kamen eines Morgens und ließen sich auf einem Felde drüben in dem östlichen Schonen, nicht weit von dem großen Gut Vittskövle nieder. In der Schar befanden sich dreizehn Gänse von der gewöhnlichen grauen Farbe und ein weißer Gänserich, der einen kleinen Knirps auf dem Rücken trug. Der hatte eine gelbe Lederhose, und eine grüne Weste an und auf dem Kopfe eine weiße Zipfelmütze.

Sie waren nun ziemlich nahe an der Ostsee, und auf dem Felde, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war der Boden sandig, wie er es an der Küste zu sein pflegt. In der Gegend war allem Anschein nach früher Flugsand gewesen, denn an mehreren Stellen standen große Tannenanpflanzungen, offenbar um den Sand zu halten.

Als die wilden Gänse eine Weile gegrast hatten, kamen ein paar Kinder in der Ackerfurche entlang. Die Gans, die Wache hielt, schwang sich schnell mit klatschendem Flügelschlag in die Luft empor, damit die ganze Schar hören könne, daß Gefahr im Anzuge sei. Alle wilden Gänse flogen auf, aber der weiße Gänserich blieb ganz ruhig grasend auf dem Felde. Als er die andern fliegen sah, hob er den Kopf empor und rief ihnen nach: »Ihr braucht wirklich vor denen da nicht zu entfliehen. Es sind ja nur ein paar Kinder!«

Der kleine Knirps, den der weiße Gänserich auf dem Rücken gehabt hatte, saß auf einem Erdhügel am Waldesrande und zerzupfte einen Tannenapfel, um die Samenkörner herauszubekommen. Die Kinder waren so dicht in seiner Nähe, daß er nicht über das Feld hinüber zu dem weißen Gänserich zu laufen wagte. Er versteckte sich schnell unter einem großen, welken Distelblatt und stieß dabei einen warnenden Ruf aus.

Der Gänserich aber hatte offenbar beschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Er graste ruhig weiter auf dem Felde und achtete nicht einmal darauf, wohin die Kinder gingen.

Die bogen indessen vom Wege ab, gingen über das Feld und näherten sich dem Gänserich. Als der endlich aufsah, waren sie ganz in seiner Nähe, und nun erschrak er so und war so verwirrt, daß er ganz sein Fliegen vergaß und zu laufen anfing, um ihnen zu entkommen. Die Kinder folgten hinterdrein, jagten ihn in einen Graben und fingen ihn. Das größere von den beiden steckte ihn unter den Arm und ging mit ihm davon.

Als der Knirps, der unter dem Distelblatt saß, das sah, fuhr er in die Höhe, als wolle er den Kindern den Gänserich entreißen. Aber dann fiel ihm ein, wie klein und machtlos er war, und er warf sich statt dessen auf den Erdhügel nieder und schlug mit geballten Fäusten in die Erde hinein, ganz außer sich.

Der Gänserich schrie aus Leibeskräften um Hilfe: »Däumling, komm und hilf mir! Däumling, komm und hilf mir!« Aber da mußte der Junge doch mitten in all seinem Kummer lachen. »Ja, ich bin wohl der Rechte, jemand zu helfen!« sagte er.

Die Kinder hatten einen großen Vorsprung, aber dem Jungen wurde es nicht schwer, sie im Auge zu behalten, bis er an eine Vertiefung im Boden gelangte, wo ein Bach dahergebraust kam. Der war weder breit noch tief, aber er war trotzdem gezwungen, am Ufer entlang zu laufen, bis er eine Stelle fand, wo er hinüberspringen konnte.

Als er aus der kleinen Schlucht herauskam, waren die Kinder verschwunden. Aber er konnte ihre Spuren auf einem schmalen Steig sehen, der in den Wald führte, und er fuhr fort, sie zu verfolgen.

Bald kam er jedoch an einen Fahrweg, und hier mußten die Kinder sich getrennt haben, denn da waren Spuren nach zwei Richtungen hin. Nun war der Knirps nahe daran, den Mut zu verlieren.

Im selben Augenblick aber sah er auf einem Heidehügel eine kleine weiße Daune. Er verstand nun, daß der Gänserich die am Wegesrande hatte fallen lassen, um ihm zu zeigen, nach welcher Seite er gebracht war, und er setzte deswegen seinen Weg fort. Und dann folgte er den Kindern durch den ganzen Wald. Von dem Gänserich sah er nichts, aber überall, wo er unsicher in bezug auf den Weg sein konnte, lag eine kleine, weiße Daune und zeigte ihn zurecht.

Der Knirps folgte getreulich den Daunen. Sie führten ihn zum Walde hinaus, über ein paar Felder, einen Weg entlang und schließlich eine Allee hinauf bis an ein Schloß. Am Ende der Allee konnte man einen Schimmer von Giebeln und Türmen und roten Steinen sehen, die mit hellen Streifen und Ornamenten geschmückt waren. Als der Knirps sah, daß da ein Schloß lag, konnte er sich wohl denken, was aus dem Gänserich geworden war. »Die Kinder sind gewiß mit dem Gänserich nach dem Schloß gegangen und haben ihn verkauft, und dann wird er wohl schon geschlachtet sein,« sagte er zu sich selbst. Aber er wollte sich nicht beruhigen, ehe er richtigen Bescheid hatte, und lief noch eifriger weiter. Er begegnete niemand in der Allee, und das war ja gut. Denn alle, die von seiner Art sind, pflegen sich davor zu fürchten, von Menschen gesehen zu werden.

Das Schloß, zu dem er kam, war ein prächtiges, altes Gebäude. Es bestand aus vier Flügeln mit einem Burghof in der Mitte. An der Ostseite befand sich eine tiefe Torwölbung, die auf den Burghof führte. Soweit lief der Knirps, ohne sich zu bedenken, als er aber dahin gekommen war, blieb er stehen. Er wagte nicht, sich weiter zu begeben, sondern stand still und dachte darüber nach, was er nun tun sollte.

Er stand noch mit dem Finger an der Nase da, als er Schritte hinter sich hörte, und als er sich umwandte, sah er eine ganze Schar Menschen die Allee hinaufkommen. Schnell schlüpfte er hinter eine Wassertonne, die zufällig dicht neben dem Tor stand, und verbarg sich dort.

Was ihn so erschreckt hatte, waren ungefähr zwei Dutzend junger Leute von einer Hochschule; sie befanden sich in Begleitung eines Lehrers auf einer Fußwanderung, und als sie das Tor erreicht hatten, hieß er sie dort warten, während er hineinging und fragte, ob sie die alte Burg Vittskövle besehen könnten.

Die Neuangekommenen waren erhitzt und müde, als wenn sie weit gegangen wären. Einer von ihnen war so durstig, daß er an die Wassertonne trat und sich hinabbeugte, um zu trinken. Er hatte eine Botanisiertrommel auf dem Rücken und meinte offenbar, daß sie ihm hinderlich sei, denn er warf sie ab. Dadurch tat sich der Deckel auf, und man konnte sehen, daß einige Frühlingsblumen darin lagen.

Die Botanisiertrommel fiel dem Knirps gerade vor die Füße, und er fand, daß dies eine vorzügliche Gelegenheit sei, ins Schloß hinein zu gelangen und zu entdecken, wo der Gänserich geblieben war. Schnell schlüpfte er in die Botanisiertrommel und versteckte sich, so gut er konnte, unter Anemonen und Huflattich.

Kaum war es ihm gelungen, sich zu verbergen, als der junge Mann die Botanisierkapsel aufnahm, sie sich auf den Rücken hängte und den Deckel zuklappte.

Der Lehrer kam jetzt zurück und sagte, sie hätten die Erlaubnis erhalten, das Schloß zu besichtigen. Vorerst führte er sie jedoch nur auf den Burghof. Dort blieb er stehen und erzählte ihnen von dem alten Gebäude.

Schließlich ging die ganze Gesellschaft in das Schloß, aber wenn der Knirps gehofft hatte, daß er Gelegenheit haben würde, aus der Botanisiertrommel herauszuschlüpfen, so sah er sich getäuscht, denn der Schüler behielt die Botanisiertrommel auf dem Rücken, und der Knirps mußte alle Stuben mit durchwandern.

Es war eine langweilige Wanderung. Jeden Augenblick blieb der Lehrer stehen, um zu erklären und zu erzählen. Er beeilte sich wahrlich nicht. Aber er wußte ja auch nicht, daß ein armes kleines Wurm in einer Botanisierkapsel verborgen lag und sich nur danach sehnte, daß er aufhören sollte.

Schließlich ging der Lehrer wieder in den Burghof hinaus und blieb abermals stehen und sprach zu den Schülern.

Aber die Rede brauchte der Knirps nicht mit anzuhören, denn der Schüler, der ihn trug, war wieder durstig geworden und schlich in die Küche hinaus, um einen Trunk Wasser zu erbitten. Als sie da hinein kamen, fiel dem Knirps ein, daß der Gänserich hier gewiß sein mußte. Er fing an, sich zu rühren, und dabei drückte er unversehens zu stark gegen den Deckel, so daß der aufsprang. Aber die Deckel von Botanisiertrommeln springen ja immer auf, und der Schüler dachte nicht weiter daran, und drückte ihn nur wieder zu; die Köchin fragte jedoch, ob er eine Schlange darin habe. »Nein, ich habe nur einige Pflanzen,« antwortete der Schüler. »Aber es rührte sich doch etwas darin,« behauptete die Köchin. Der Schüler öffnete den Deckel ganz weit, um ihr zu zeigen, daß sie irre. »Da können Sie selbst sehen, daß …«

Aber weiter kam er nicht, denn nun wagte der Knirps nicht länger, in der Botanisiertrommel zu bleiben, mit einem Satz war er an der Erde und stürzte zur Küche hinaus. Die Mägde hatten kaum gesehen, was es war, das da lief, aber sie rannten hinterdrein.

Der Lehrer stand noch da und redete, als er durch laute Rufe unterbrochen wurde: »Fangt ihn! Fangt ihn!« riefen alle, die aus der Küche kamen, und die sämtlichen jungen Leute jagten hinter dem Knirps drein, der schneller lief als eine Maus. Sie versuchten, ihn zu fangen, indem sie von der andern Seite in das Tor hineinliefen, aber es war nicht so leicht, jemand zu erwischen, der so klein war, und er gelangte glücklich ins Freie hinaus.

Der Knirps wagte nicht, die offene Allee hinabzulaufen, sondern bog nach einer andern Seite ab. Er stürzte durch den Garten in den Hinterhof. Die ganze Zeit jagten sie unter Lachen und Rufen hinter ihm drein. Der arme Kleine rannte, so schnell er konnte, aber es sah trotzdem so aus, als wenn sie ihn einholen würden.

Gerade als er an einer kleinen Tagelöhnerwohnung vorüber kam, hörte er eine Gans gackern und sah eine kleine weiße Daune auf der Treppe liegen. Da war er, da war der Gänserich! Er war auf falscher Spur gewesen. Er dachte nicht mehr an Mägde und Knechte, die hinter ihm selber dreinjagten, sondern krabbelte die Treppe hinauf und lief auf den Flur. Weiter konnte er nicht kommen, denn die Tür war geschlossen. Er konnte den Gänserich da drinnen schreien und jammern hören, aber es war ihm nicht möglich, die Tür aufzubekommen. Die wilde Jagd, die hinter ihm her war, kam immer näher, und da drinnen in der Stube schrie der Gänserich immer jammervoller. In dieser höchsten Not faßte der Knirps schließlich Mut und donnerte aus Leibeskräften gegen die Tür.

Ein Kind kam und öffnete, und der Knirps sah sich in der Stube um. Mitten darin saß eine Frau, die den Gänserich festhielt, um ihm die Schwungfedern abzuschneiden. Ihre Kinder hatten den Gänserich gefunden, und sie wollte ihm kein Leides tun.

Sie wollte ihn nur zu ihren eigenen Gänsen hinauslassen, sobald sie ihm die Flügel gestutzt hatte, damit er nicht davonfliegen konnte. Aber es konnte dem Gänserich ja kein größeres Unglück widerfahren, und er schrie und jammerte aus Leibeskräften.

Ein Glück war es, daß die Frau nicht früher angefangen hatte zu schneiden. Jetzt waren nur zwei Federn vor der Schere gefallen, als die Tür aufging und der kleine Knirps auf der Schwelle stand. Aber so einen hatte die Frau noch nie im Leben gesehen. Sie konnte sich nichts anderes denken, als daß es der Koboldenvater in eigener Person sei, und vor Schrecken ließ sie die Schere fallen, schlug die Hände zusammen und vergaß, den Gänserich festzuhalten.

Sobald der sich frei fühlte, lief er nach der Tür. Er ließ sich keine Zeit, still zu stehen, packte aber in der Eile den Knirps beim Hemdbund und nahm ihn mit. Und auf der Treppe breitete er die Flügel aus und hub sich in die Luft empor. Gleichzeitig machte er eine flotte Bewegung mit dem Halse und setzte den Knirps auf seinen glatten Rücken hinauf.

So ging es mit ihnen dahin, in die Luft hinauf, und ganz Vittskövle stand da und starrte ihnen nach.

Im Park von Övedkloster.

Den ganzen Tag, während die Gänse mit dem Fuchs spielten, lag der Junge in einem leeren Eichhörnchennest und schlief. Als er gegen Abend erwachte, war er sehr bekümmert: »Jetzt werde ich bald nach Hause geschickt, und dann läßt es sich ja nicht vermeiden, daß ich mich vor Vater und Mutter sehen lassen muß,« dachte er.

Aber als er die wilden Gänse fand, die auf dem Vombsee lagen und schwammen, sagte keine von ihnen ein Wort davon, daß er fort solle. »Sie finden am Ende, daß der Weiße zu müde ist, um heute abend mit mir nach Hause zu fliegen,« dachte der Junge.

Am nächsten Morgen erwachten die Gänse beim ersten Tagesgrauen, lange vor Sonnenaufgang. Jetzt war der Junge fest überzeugt, daß die Heimreise vor sich gehen müsse, aber sonderbarerweise erhielten der weiße Gänserich und er Erlaubnis, die wilden Gänse auf ihrem Morgenausflug zu begleiten. Der Junge konnte gar nicht begreifen, was der Grund zu dem Aufschub war, aber dann fiel ihm ein, daß die wilden Gänse den Gänserich wohl nicht auf eine weite Reise schicken wollten, ehe er sich ordentlich satt gegessen hatte. Was nun der Grund auch sein mochte, er freute sich über jede Stunde, die verging, ehe er gezwungen war, seine Eltern wiederzusehen.

Die wilden Gänse flogen über das Schloß Övedkloster, das in einem herrlichen Park östlich vom See lag und sich prächtig ausnahm mit seinem schönen, gepflasterten Burghof, umgeben von niedrigen Mauern und Pavillons und seinem feinen, altmodischen Garten mit beschnittenen Hecken, geschlossenen Alleen, Teichen, Springbrunnen, schönen Bäumen und geradlinigen Rasenflächen, die mit bunten Frühlingsblumen eingefaßt waren.

Als die wilden Gänse in der frühen Morgenstunde über das Schloß flogen, war noch kein Mensch auf den Beinen. Nachdem sie sich hierüber sorgfältig vergewissert hatten, ließen sie sich über das Hundehaus herniederschweben und riefen: »Was ist das für eine kleine Hütte? Was ist das für eine kleine Hütte?«

Augenblicklich kam der Kettenhund aus seinem Haus, wütend und zornig, und bellte in die Luft hinauf.

»Nennt ihr das eine Hütte, ihr Landstreicher? Seht ihr denn nicht, daß es ein hohes Schloß aus Steinen ist? Seht ihr denn nicht, was für schöne Mauern es hat, seht ihr nicht, wie viele Fenster es hat, und große Tore und eine prachtvolle Terrasse? Wau, wau, wau! Also das nennt ihr eine Hütte? Seht ihr nicht den Hof? Seht ihr nicht den Garten, seht ihr nicht die Treibhäuser, seht ihr nicht die Marmorsäulen? Nennt ihr das eine Hütte? Pflegen die Hütten einen Park zu haben, in dem Buchenwälder sind und Nußhaine und Waldwiesen und Eichenhaine und Tannenschonungen und ein Tiergarten voll von Rehen, wau, wau, wau? Nennt ihr das eine Hütte? Habt ihr jemals Hütten gesehen, die so viele Wirtschaftsgebäude rings umher haben, daß es aussieht wie ein ganzes Dorf? Kennt ihr viele Hütten, die eine eigene Kirche haben und einen Pfarrhof, und die über Rittergüter und Bauernhöfe und Pachterhöfe und Häuslereien gebieten? Wau, wau, wau! Nennt ihr das eine Hütte? Zu dieser Hütte gehört das größte Gut in Schonen, ihr Lumpengesindel. Da, wo ihr in den Wolken hängt, könnt ihr kein Fleckchen Erde sehen, das nicht unter dieser Hütte steht. Wau, wau, wau!«

Dies alles rief der Hund in einem Atemzug, und die Gänse flogen über dem Schloß hin und her und hörten ihm zu, bis er gezwungen war, Atem zu schöpfen. Dann aber schrien sie: »Warum ereiferst du dich so? Wir fragten ja gar nicht nach dem Schloß, wir fragten nur nach deinem Hundehaus.«

Als der Junge diese Späße hörte, lachte er anfänglich, dann aber ergriff ihn ein Gedanke, der ihn plötzlich ernsthaft machte: »Denk doch, wieviel Kurzweiliges würdest du zu hören bekommen, wenn du mit den Gänsen durch das ganze Land fliegen dürftest, bis hinauf nach Lappland,« sagte er zu sich selbst. »Wenn du doch in das Unglück geraten bist, so wäre eine solche Reise das beste, was dir widerfahren könnte.«

Die wilden Gänse flogen auf eins der großen Felder östlich von dem Schloß, um Graswurzeln zu fressen, und damit beschäftigten sie sich stundenlang. Währenddessen ging der Junge in den großen Park hinein, der an das Feld stieß und guckte in die Büsche hinauf, um zu sehen, ob da nicht ein paar Nüsse vom Herbst her hängengeblieben sein sollten. Aber wie er da so im Park umherging, kehrte immer wieder derselbe Gedanke zu ihm zurück. Er malte sich aus, wie lustig es sein würde, wenn er mit den wilden Gänsen fliegen könnte. Hungern und frieren würde er wohl manch liebes Mal, aber dafür brauchte er dann ja auch nicht zu arbeiten und zu lernen.

Als er dort ging, kam die alte, graue Führergans auf ihn zu und fragte, ob er genug zu essen gefunden habe. Nein, sagte er, er hätte nichts gefunden. Da suchte sie ihm zu helfen. Nüsse konnte sie auch nicht finden, aber sie entdeckte ein paar Hagebutten, die an einem wilden Rosenbusch hingen. Der Junge verzehrte sie mit gutem Appetit, konnte aber nicht umhin, zu denken, was seine Mutter sagen würde, wenn sie wüßte, daß er jetzt von rohem Fisch und von alten überjährigen Hagebutten lebte.

Als sich die wilden Gänse endlich satt gegessen hatten, zogen sie wieder an den See hinab und belustigten sich bis gegen Mittag mit Spielen. Sie forderten den weißen Gänserich auf allen möglichen Sportgebieten zum Wettstreit auf. Sie schwammen um die Wette, liefen um die Wette und flogen um die Wette mit ihm. Der große Zahme tat sein Bestes, wurde aber stets von den flinken wilden Gänsen geschlagen.

Der Junge saß während der ganzen Zeit auf dem Rücken des Gänserichs und ermunterte ihn und amüsierte sich ebensogut wie die andern. Das war ein Schreien und ein Gackern und ein Lachen, und es war wirklich unbegreiflich, daß die Leute im Schloß es nicht hörten.

Als die wilden Gänse des Spielens überdrüssig waren, flogen sie auf das Eis hinaus, um ein paar Stunden zu ruhen. Den Nachmittag verbrachten sie ungefähr auf dieselbe Weise wie den Vormittag. Zuerst ein paar Stunden Grasen, dann Baden und Spielen im Wasser am Rande des Eises bis Sonnenuntergang, worauf sie sich gleich zum Schlafen hinsetzten.

»Das wäre gerade so ein Leben, wie es mir passen würde,« dachte der Junge, als er unter den Flügel der Gans kroch. »Aber morgen werde ich gewiß nach Hause geschickt.«

Ehe er einschlief, lag er da und dachte darüber nach, daß, wenn er Erlaubnis erhielt, mit den Wildgänsen zu reisen, er um die Schelte hinwegkam, weil er so faul war. Dann konnte er sich den ganzen Tag umhertreiben und hatte keine andern Sorgen, als, wie er sich etwas zu essen beschaffte. Aber er hatte für den Augenblick ja nur so wenig nötig, damit würde er schon fertig werden.

Und dann malte er sich alles aus, was er zu sehen bekommen würde, und die vielen Abenteuer, die er erleben sollte. Ja, das war etwas anderes, als all die Arbeit und Mühe daheim. »Dürfte ich nur die wilden Gänse auf ihrer Reise begleiten, so wollte ich mich nicht darum quälen, daß ich verhext bin,« dachte der Junge.

Das einzige, wovor er sich fürchtete, war, daß er nach Hause geschickt werden würde, aber auch am Mittwoch sagten die Gänse nichts davon, daß er reisen solle. Dieser Tag verging in gleicher Weise wie der Dienstag, und das Leben in der Wildnis gefiel dem Jungen immer besser. Er meinte, er habe den einsamen Park von Övedkloster, der so groß war wie ein Wald, ganz für sich allein, und er sehnte sich nicht zurück nach dem engen Haus und den kleinen Feldern daheim.

Am Mittwoch glaubte er, daß die wilden Gänse die Absicht hatten, ihn bei sich zu behalten, aber am Donnerstag gab er die Hoffnung wieder auf.

Der Donnerstag begann in derselben Weise wie die andern Tage. Die Gänse weideten auf den großen Feldern, und der Junge suchte sich Nahrung im Park. Als er dort eine Weile gewesen war, kam Akka zu ihm hin und fragte, ob er etwas Eßbares gefunden habe. Nein, er hatte nichts gefunden, und da suchte sie ihm eine welke Kümmelpflanze, die alle ihre kleinen Früchte noch unversehrt bei sich trug.

Nachdem der Junge gegessen hatte, sagte Akka, sie fände, er laufe zu kühn im Park herum. Ob er wohl wisse, vor wie vielen Feinden er sich in acht nehmen müsse, er, der so klein sei. Nein, das wußte er nicht, und dann begann Akka, sie ihm aufzuzählen.

Wenn er in den Wald ging, sagte sie, müsse er sich vor dem Fuchs und dem Marder in acht nehmen, wenn er an den See hinabkam, müsse er an die Ottern denken, saß er auf dem Steinwall, dürfe er das Wiesel nicht vergessen, das durch die kleinsten Löcher schlüpfen könne, und wenn er sich in einem Haufen welker Blätter zur Ruhe legen wollte, müsse er erst nachsehen, ob nicht die Natter ihren Winterschlaf in demselben Blätterhaufen halte. Sobald er auf das offene Feld hinauskam, müsse er auf Habicht und Bussard, auf Adler und Falken achten, die alle oben in den Wolken schwebten. Im Nußholz könne er von dem Sperber gefangen werden; Elstern und Krähen gab es überall, und denen sollte er nicht zu sehr trauen, und sobald die Dämmerung hereinbrach, müsse er die Ohren gut aufmachen und nach den großen Eulen horchen, die mit so lautlosem Flügelschlag geflogen kommen, daß sie ihm ganz nahe kommen konnten, ehe er sie bemerkte.

Als der Junge hörte, daß es so viele gab, die ihm nach dem Leben trachteten, konnte er wohl einsehen, daß er es ganz unmöglich behalten durfte. Er fürchtete sich nicht so schrecklich davor, zu sterben, aber er hatte keine Lust, aufgefressen zu werden, und deswegen fragte er Akka, was er tun könne, um sich gegen die Raubmörder zu schützen.

Akka antwortete sogleich, der Junge müsse sehen, gut Freund zu werden mit dem kleinen Tiervolk in Feld und Wald, mit dem Eichhörnchenvolk und dem Hasenvolk, mit Finken und Meisen und Spechten und Lerchen. Hätte er die zu Freunden, so konnten sie ihn vor Gefahren warnen, ihm Schlupfwinkel verschaffen und bei drohender Gefahr konnten sie sich zusammenrotten und ihn verteidigen.

Aber als der Junge späterhin am Tage den Rat befolgen wollte und sich an Sirle, das Eichhörnchen, wandte, um seine Hilfe zu erbitten, stellte es sich heraus, daß das Eichhörnchen ihm nicht helfen wollte. »Nein, weiß Gott, du hast nichts Gutes von mir oder den andern kleinen Tieren zu erwarten,« sagte Sirle. »Meinst du, wir wissen nicht, daß du der Gänsejunge Niels bist, der im vorigen Jahr Schwalbennester herunterholte, Stareneier zerschlug, junge Krähen in die Mergelgrube warf, Drosseln und Dohlen fing und Eichkätzchen in ein Bauer steckte. Du mußt dir selbst helfen, so gut du kannst, und du mußt dich freuen, daß wir uns nicht gegen dich zusammenrotten und dich zu deinesgleichen nach Hause jagen!«

Diese Antwort war gerade von der Art, wie sie der Junge, als er noch der Gänsejunge Niels gewesen, nie ungestraft gelassen hätte, aber nun war er bange, daß auch die wilden Gänse erfahren könnten, wie schlimm er gewesen war. Er hatte sich davor gefürchtet, nicht bei den wilden Gänsen bleiben zu dürfen, daß er es gar nicht gewagt hätte, dumme Streiche zu machen, nachdem er in ihre Gesellschaft geraten war. Er konnte ja freilich nicht viel Schaden anrichten, so klein, wie er war, aber er hätte ja doch viele Vogelnester zerstören und viele Eier zerschlagen können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Aber nun war er so brav gewesen, er hatte nicht eine einzige Feder aus einem Gänseflügel gezupft, hatte keinem eine unhöfliche Antwort gegeben, und jeden Morgen, wenn er Akka guten Tag sagte, hatte er die Mütze abgenommen und einen Diener gemacht.

Den ganzen Donnerstag dachte er darüber nach, daß ihn die wilden Gänse sicher wegen seiner Boshaftigkeit nicht mit nach Lappland hinaufnehmen wollten. Und als er am Abend hörte, daß Sirle, Eichhörnchens Frau, geraubt war und seine Kinder dem Hungertode nahe waren, beschloß er, ihnen zu helfen, und wie gut ihm das gelang, ist bereits erzählt worden.

Als der Junge am Freitag in den Park hineinkam, hörte er in einem jeden Gebüsch die Buchfinken davon singen, wie Sirle, Eichhörnchens Frau, von bösen Räubern ihren neugeborenen Jungen entführt war, und wie sich der Gänsejunge Niels unter die Menschen gewagt und ihr die kleinen Eichhörnchenkinder gebracht hatte.

»Wer ist nun im Park von Övedkloster so angesehen,« sangen die Buchfinken, »wie Däumling, er, vor dem alle so bange waren, damals, als er noch der Gänsejunge Niels war? Das Eichhörnchen will ihm Nüsse geben, die Hasen wollen mit ihm spielen, die Rehe wollen ihn auf den Rücken nehmen und mit ihm davonlaufen, wenn Reineke Fuchs sich naht, die Meisen wollen ihn vor dem Sperber warnen, und die Finken und Lerchen wollen von seiner Heldentat singen!«

Der Junge war ganz sicher, daß sowohl Akka als auch die wilden Gänse dies alles hörten, aber trotzdem verging der ganze Freitag, ohne daß sie sagten, er könne bei ihnen bleiben.

Bis zum Sonnabend weideten die Gänse auf den Feldern um Öved herum, ungestört durch Reineke Fuchs. Aber am Sonnabendmorgen, als sie auf den Acker hinauskamen, lag er auf der Lauer und folgte ihnen von einem Felde zum andern, so daß sie keine Ruhe zum Fressen finden konnten. Als es Akka klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, sie in Frieden zu lassen, faßte sie schnell ihren Entschluß, schwang sich in die Luft empor und flog mit der ganzen Schar mehrere Meilen weit. Erst in der Nähe von Vittskövle ließ sie sich nieder.

Aber hier bei Vittskövle ereignete es sich, wie bereits erzählt ist, daß der weiße Gänserich gestohlen wurde. Hätte nicht der Junge alle seine Kräfte eingesetzt, um ihm zu helfen, so wäre er nie wieder zum Vorschein gekommen.

Als der Junge am Sonnabendabend mit dem Gänserich wieder an den Bombsee zurückkam, fand er, daß er ein gutes Tagewerk getan hatte, und war sehr neugierig, was Akka und die wilden Gänse sagen würden. Und die wilden Gänse kargten keineswegs mit Lob, aber das, was zu hören er sich sehnte, sagten sie nicht.

Dann wurde es wieder Sonntag. Eine ganze Woche war vergangen, seit der Junge verhext wurde, und er war noch immer ebenso klein.

Aber er schien sich die Sache nicht zu Herzen zu nehmen. Am Sonntagnachmittag saß er tief drinnen in einem großen Weidenbusch unten am See und blies auf einer Rohrflöte. Rings um ihn herum saßen so viele Meisen und Buchfinken und Stare, wie der Busch nur fassen konnte, und zwitscherten Lieder, die er nachzuspielen bemüht war. Aber der Junge war nicht sonderlich bewandert in der Kunst und blies so falsch, daß sich allen den kleinen Singemeistern die Federn sträubten, und sie schrien und schlugen verzweifelt mit den Flügeln. Der Junge lachte so herzlich über ihren Eifer, daß er die Flöte fallen ließ.

Er fing wieder von vorne an, es ging aber so schlecht, daß die kleinen Vögel jammerten: »Heute spielst du noch schlechter als sonst, Däumling. Du bläst keinen richtigen Ton. Wo hast du nur deine Gedanken, Däumling?«

»Die sind anderswo,« sagte der Junge, und so war es auch. Er saß da und dachte daran, wie lange er wohl noch Erlaubnis erhielt, bei den wilden Gänsen zu bleiben, – ob er am Ende noch am heutigen Tage nach Hause geschickt werden würde.

Plötzlich warf der Junge die Flöte hin und sprang von dem Busch herunter. Er hatte Akka und alle Gänse in einer langen Reihe auf sich zukommen sehen. Sie gingen so ungewöhnlich langsam und feierlich, daß der Junge sofort dachte, jetzt würde er wohl erfahren, was sie mit ihm zu tun gedächten.

Als sie endlich still standen, sagte Akka: »Du kannst allen möglichen Grund haben, dich über mich zu wundern, Däumling, weil ich dir nicht gedankt habe, als du mich von Reineke Fuchs errettetest. Aber ich gehöre zu denen, die lieber durch die Tat als mit Worten danken. Und nun, glaube ich, ist es mir gelungen, dir einen großen Dienst zu leisten, Däumling! Ich habe zu dem Kobold geschickt, der dich verhext hat. Anfangs wollte er nichts davon hören, dir zu helfen, aber ich habe ihm einen Boten nach dem andern geschickt und ihn wissen lassen, wie gut du dich bei uns aufgeführt hast. Er läßt dich jetzt grüßen und dir sagen, daß du, sobald du nach Hause zurückkehrst, wieder ein Mensch werden wirst.«

Aber so sehr sich der Junge gefreut hatte, als die wilde Gans zu reden anhub, so betrübt war er, als sie geendet hatte. Er sagte kein Wort, sondern wandte sich ab und weinte.

»Was in aller Welt ist denn das?« sagte Akka. »Es scheint ja, als hättest du dir mehr gewünscht, als ich dir eben angeboten habe.«

Aber der Junge dachte an sorgenfreie Tage und muntere Kurzweil, an Abenteuer und Freiheit und Reisen hoch oben über der Erde; das alles sollte ihm jetzt entgehen! Er weinte geradezu vor Kummer. »Ich mache mir nichts daraus, Mensch zu werden.« sagte er. »Ich will mit euch hinauf nach Lappland.« – »Jetzt will ich dir etwas sagen,« entgegnete Akka: »Der Kobold ist leicht beleidigt, und ich fürchte, wenn du sein Anerbieten jetzt nicht annimmst, wird es dir nicht leicht werden, ein zweites Mal Zutritt zu ihm zu erlangen.«

Es war sonderbar mit dem Jungen – sein ganzes Leben lang hatte er sich niemals etwas aus jemand gemacht. Er hatte sich nichts aus Vater und Mutter gemacht, nichts aus seinem Lehrer, nichts aus seinen Schulkameraden, nichts aus den Jungen auf den Nachbarhöfen. Und alles, wozu sie ihn veranlassen wollten, sei es Spiel oder Arbeit, hatte er langweilig gefunden. Deswegen entbehrte er jetzt niemand, sehnte sich nach niemand.

Die einzigen, mit denen er sich jemals hatte vertragen können, waren das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, ein paar Kinder, die Gänse auf dem Felde hüteten, so wie er. Aber auch sie hatte er nicht von Herzen lieb. Nein, eigentlich gar nicht.

»Ich will kein Mensch sein!« heulte der Junge. »Ich will mit euch nach Lappland. Darum bin ich eine ganze Woche artig gewesen.« – »Ich will dir nicht verweigern, mit uns zu kommen, so weit du willst,« sagte Akka. »Bedenke aber doch erst, ob du nicht lieber wieder nach Hause zurückkehren willst! Es könnte doch ein Tag kommen, an dem du es bereuen würdest.«

»Nein,« sagte der Junge, »da ist nichts zu bereuen. Ich habe mich nie so wohl gefühlt wie bei euch.«

»Ja, dann mag es so sein, wie du willst,« sagte Akka.

»Hab‘ Dank!« entgegnete der Junge und fühlte sich so glücklich, daß er vor Freuden weinen mußte, so wie er vorhin vor Kummer geweint hatte.

IV. Glimminghaus


Schwarze Ratten und graue Ratten.

Im südöstlichen Schonen, nicht weit vom Meer, liegt eine alte Burg, die Glimminghaus heißt. Sie besteht aus einem einzigen hohen, großen und starken Sandsteingebäude, das meilenweit über die Ebene hin sichtbar ist. Sie ist nicht mehr als vier Stockwerk hoch, aber doch so gewaltig, daß ein gewöhnliches Haus, das daneben liegt, sich wie ein Puppenhaus ausnimmt.

Das große Gebäude hat so dicke Außenmauern und Zwischenwände und Wölbungen, daß in seinem Innern kaum Platz für etwas anderes ist als für die dicken Mauern. Die Treppen sind eng, die Gänge schmal und die Zimmer wenig an Zahl. Um die Mauern nicht ihrer Stärke zu berauben, sind in den oberen Stockwerken nur sehr wenig Fenster angebracht, und in dem untersten überhaupt keine. In den alten kriegerischen Zeiten waren die Leute ebenso froh, wenn sie sich in so ein starkes und mächtiges Haus einschließen konnten, wie wir es jetzt sind, wenn wir bei beißendem Frost in einen warmen Pelz kriechen können; als aber die gute Friedenszeit kam, wollten sie nicht mehr in den dunklen und kalten Steinsälen der alten Burg wohnen. Sie haben längst das große Glimminghaus verlassen und sind in Wohnungen gezogen, die so eingerichtet sind, daß Licht und Luft hineindringen können.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen herumreiste, wohnten also keine Menschen in Glimminghaus, aber deswegen fehlte es doch nicht an Bewohnern. Auf dem Dach wohnte jeden Sommer ein Storchenpaar in einem großen Nest, auf dem Boden lebten ein paar Horneulen, in den geheimen Gängen hingen Fledermäuse, auf dem Herd in der Küche hatte sich eine alte Katze häuslich niedergelassen, und unten im Keller hielten sich einige Hunderte von den alten schwarzen Ratten auf.

Ratten sind ja sonst nicht gerade sehr angesehen bei den andern Tieren, aber die schwarzen Ratten in Glimminghaus bildeten eine Ausnahme. Von ihnen wurde immer mit Achtung gesprochen, weil sie im Streit mit ihren Feinden unter großen Heimsuchungen, die ihr Volk betroffen, große Tapferkeit und viel Ausdauer an den Tag gelegt hatten. Sie gehörten nämlich einem Rattenvolk an, das einstmals sehr zahlreich und mächtig gewesen war, jetzt aber im Begriff stand, auszusterben. Gar viele Jahre hatten die schwarzen Ratten Schonen und das ganze Land besessen. Sie hausten in jedem Keller, auf jedem Boden, in Scheunen und Schuppen, in Speisekammern und Backstuben, auf Vorwerken und in Ställen, in Kirchen und Burgen, in Brennereien und Mühlen, in jedem Gebäude, das von Menschen errichtet war. Aber nun waren sie von allen diesen Stätten vertrieben und fast ausgerottet. Nur hier und da in einem alten einsamen Gehöft konnte man noch einige von ihnen finden, und nirgends waren sie in so großer Menge vorhanden wie in Glimminghaus.

Wenn ein Tiervolk ausstirbt, pflegen die Menschen in der Regel schuld daran zu sein, aber das war diesmal nicht der Fall. Die Menschen hatten freilich die schwarzen Ratten bekämpft, aber sie hatten nicht vermocht, ihnen nennenswerten Schaden zuzufügen. Überwunden waren sie von einem Tiervolk ihres eigenen Stammes, von den grauen Ratten.

Diese grauen Ratten hatten nicht von Olyms Zeiten her im Lande gewohnt, so wie die schwarzen Ratten. Sie stammten von ein paar armen Einwanderern ab, die vor ungefähr hundert Jahren von einer lybschen Schute aus in Malmö an Land gingen. Es waren zwei heimatlose, verhungerte arme Tiere, die ihr Leben im Hafen selber fristeten, zwischen den Pfählen unter dem Bollwerk herumschwammen und den Abfall fraßen, der ins Wasser geworfen wurde. Sie wagten sich nie in die Stadt hinauf, die im Besitz der schwarzen Ratten war.

Aber nach und nach, als die grauen Ratten an Zahl gewachsen waren, wurden sie dreister. Zu Anfang zogen sie in einige alte verödete Häuser, die heruntergerissen werden sollten und die von den schwarzen Ratten bereits verlassen waren. Sie fanden ihre Nahrung in den Rinnsteinen und Abfallhaufen und nahmen mit all dem Unrat fürlieb, den die schwarzen Ratten verschmähten. Sie waren abgehärtet, genügsam und unerschrocken, und im Laufe von wenigen Jahren waren sie so mächtig geworden, daß sie sich daran machten, die schwarzen Ratten aus Malmö zu verjagen. Sie entrissen ihnen Bodenräume, Keller und Speicher, hungerten sie aus oder bissen sie tot, denn sie waren keineswegs bange vor Krieg.

Und als Malmö genommen war, zogen sie in großen und kleinen Scharen von dannen, um das ganze Land zu erobern. Es ist gar nicht zu verstehen, warum sich die schwarzen Ratten nicht zu einem großen, gemeinsamen Zuge zusammenrotteten und den grauen Ratten den Garaus machten, so lange diese noch in der Minderzahl waren. Aber die schwarzen waren wohl ihrer Macht so sicher, daß sie sich nicht die Möglichkeit denken konnten, sie zu verlieren. Sie saßen still auf ihren Gütern, und währenddessen nahmen die grauen Ratten ihnen ein großes Gehöft nach dem andern, ein Dorf nach dem andern weg. Sie wurden ausgehungert, herausgejagt, ausgerottet. In Schonen hatten sie sich nicht an einem einzigen Ort zu behaupten vermocht, ausgenommen gerade in Glimminghaus.

Das alte steinerne Gebäude hatte so feste Mauern, und es führten so wenige Rattengänge da hindurch, daß es den schwarzen Ratten gelungen war, es zu bewahren und die grauen Ratten am Eindringen zu hindern. Jahr für Jahr, Nacht für Nacht hatte der Streit zwischen Angreifern und Verteidigern gerast, aber die schwarzen Ratten hatten treulich Wache gehalten und mit der größten Todesverachtung gekämpft, und dank dem prächtigen alten Bau hatten sie beständig den Sieg davongetragen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die schwarzen Ratten, so lange sie die Macht besahen, von allen andern lebenden Wesen ebenso verabscheut wurden, wie es heutzutage die grauen Ratten sind. Und mit vollem Recht. Sie warfen sich über arme, gefesselte Gefangene und peinigten sie, sie schwelgten in Leichen, sie stahlen die letzten Rüben in dem Keller des Armen, sie bissen schlafenden Gänsen die Füße ab, stahlen den Hühnern Eier und Küchlein und taten nichts als Böses. Aber nachdem sie ins Unglück geraten, war das alles vergessen, und niemand konnte umhin, die letzten eines Geschlechts zu bewundern, das so lange in seinem Widerstand gegen die Feinde ausgeharrt hatte.

Die grauen Ratten, die in Glimminghaus und seiner nächsten Umgebung wohnten, setzten beständig den Kampf fort und suchten jede passende Gelegenheit zu benutzen, um sich der Burg zu bemächtigen. Man hätte meinen sollen, sie hätten der kleinen Schar schwarzer Ratten Glimminghaus gern friedlich überlassen können, da sie ja nun selber das ganze übrige Land erobert hatten. Aber das fiel ihnen nicht ein. Sie pflegten zu sagen, es sei eine Ehrensache für sie, die schwarzen Ratten endlich zu besiegen. Wer aber die grauen Ratten kannte, wußte sehr wohl, daß es einen andern Grund hatte: Sie fanden nur darum keine Ruhe, ehe sie Glimminghaus erobert hatten, weil die alte Burg von den Menschen als Kornspeicher benutzt wurde.

Der Storch.

Montag, den 28. März.

Eines Morgens, ganz in der Frühe, erwachten die wilden Gänse, die draußen auf dem Bombsee auf dem Eise standen und schliefen, durch laute Rufe oben aus der Luft herab. »Triap! Triap!« klang es. »Triamut, der Kranich, läßt Akka, die wilde Gans, und ihre Schar grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt.«

Akka machte einen langen Hals und antwortete: »Gruß und Dank! Gruß und Dank!«

Dann zogen die Kraniche weiter, die wilden Gänse aber konnten noch lange hören, wie sie flogen und ihre Botschaft über jedes Feld und jeden Waldhügel hinausriefen: »Triamut läßt grüßen. Morgen findet der große Kranichtanz auf Kullaberg statt!«

Die wilden Gänse waren sehr erfreut über diese Nachricht. »Das ist wirklich ein Glück,« sagten sie zu dem weißen Gänserich, »daß du mit zu dem großen Kranichtanz kommst!« – »Ist es denn etwas so Merkwürdiges, Kraniche tanzen zu sehen?« fragte der Gänserich. – »Das ist etwas, wovon du dir nie hast träumen lassen,« erwiderten die wilden Gänse.

»Nun müssen wir überlegen, was wir morgen mit Däumling anfangen, damit ihm nichts zustößt, während wir nach Kullaberg reisen,« sagte Akka. – »Däumling darf nicht allein bleiben,« entgegnete der Gänserich. Wenn die Kraniche nicht erlauben, daß er dem Tanz zusieht, bleibe ich bei ihm.« – »Noch nie zuvor hat ein Mensch der Tierversammlung auf Kullaberg beigewohnt,« sagte Akka, »und ich wage nicht, Däumling dahin mitzunehmen. Aber darüber müssen wir späterhin reden. Jetzt wollen wir vor allen Dingen daran denken, daß wir etwas in den Leib bekommen.«

Damit gab Akka das Zeichen zum Aufbruch. Auch an diesem Tage suchte sie ihre Weide weit ferne, aus Angst vor Reineke Fuchs, und ließ sich nicht nieder, bis sie die tiefgelegenen Wiesen eine Strecke südlich von Glimminghaus erreicht hatten.

Den ganzen Tag saß der Junge am Ufer eines kleinen Teiches und blies auf der Rohrflöte. Er war schlechter Laune, weil er nicht mit nach dem Kranichtanz kommen sollte, und er konnte sich nicht entschließen, ein Wort zu dem Gänserich oder zu einer der andern Gänse zu sagen.

Es war so bitter, daß Akka und die andern Mißtrauen gegen ihn hegten. Wenn ein Junge darauf verzichtet hat, Mensch zu sein, um mit einigen armen wilden Gänsen umherzureisen, so mußten sie doch einsehen, daß er nicht die Absicht hatte, sie zu verraten. Und sie mußten doch auch einsehen können, daß, wenn er so viel geopfert hatte, um sie zu begleiten, es ihre Pflicht war, dafür zu sorgen, daß er all das Merkwürdige zu sehen bekam, was sie ihm zeigen konnten.

»Ich werde ihnen wohl meine Meinung sagen müssen,« dachte er. Aber Stunde auf Stunde verging, ohne daß er seinen Vorsatz ausführte. Es mag sonderbar klingen, aber der Junge hatte wirklich eine Art Respekt vor der alten Führergans bekommen. Es war gar nicht so leicht, sich gegen ihren Willen aufzulehnen, das merkte er sehr wohl.

An der einen Seite des sumpfigen Wiesengrundes, wo die Gänse weideten, befand sich ein breiter Steinwall. Und jetzt geschah es, daß, als der Junge gegen Abend den Kopf erhob, um endlich mit Akka zu reden, sein Blick auf die Umzäunung fiel. Er stieß einen kleinen Ruf des Erstaunens aus, und alle Gänse sahen sofort in die Höhe und starrten nach derselben Richtung wie er. Im ersten Augenblick sah es für sie wie auch für den Jungen so aus, als wenn alle die grauen Rollsteine, aus denen der Wall bestand, Beine bekommen hätten und zu laufen begannen.

Aber sie sahen bald, daß es eine Schar Ratten war, die darüber hin liefen. Sie bewegten sich sehr schnell und liefen so dicht nebeneinander, Reihe auf Reihe, und es waren ihrer so viele, daß sie eine lange Weile die ganze steinerne Mauer verdeckten.

Der Junge war schon bange vor Ratten gewesen, als er noch ein großer, starker Mensch war. Wieviel mehr jetzt, wo er so klein war, daß ein paar von ihnen ihm den Garaus machen konnten. Es lief ihm einmal über das andere kalt den Rücken hinab, während er dastand und sie ansah.

Das Wunderliche aber war, daß die Gänse denselben Abscheu vor den Ratten zu empfinden schienen wie er. Sie sprachen nicht mit ihnen, und als sie wieder fort waren, schüttelten sie sich, als hätten sie Schlamm zwischen die Federn bekommen.

»So viele graue Ratten unterwegs!« sagte Yksi von Bassijaure, »das ist kein gutes Zeichen!«

Jetzt wollte der Junge die Gelegenheit benutzen und zu Akka sagen, sie solle ihn mit nach Kullaberg nehmen, aber er wurde abermals daran verhindert, indem sich ein großer Vogel plötzlich zwischen den Gänsen niederließ.

Wenn man diesen Vogel sah, konnte man glauben, er habe Leib, Hals und Kopf von einer kleinen, weißen Gans geliehen. Dazu hatte er sich aber große, schwarze Flügel, lange, rote Beine und einen langen, dicken Schnabel angeschafft, der viel zu groß für den kleinen Kopf war und ihn niederzog, so daß sein Aussehen etwas Bedrücktes und Kummervolles bekam.

Akka ordnete schnell ihre Deckfedern und machte viele Male eine Verbeugung mit dem Hals, während sie sich dem Storch näherte. Sie war nicht sonderlich überrascht, ihn so früh im Lenz in Schonen zu sehen, denn sie wußte, daß die Storchenmännchen zu rechter Zeit da hinüber zu fliegen pflegen, und nachsehen, ob das Nest im Laufe des Winters Schaden gelitten hat, ehe sich die Storchenweibchen die Mühe machen, über die Ostsee zu fliegen. Aber sie konnte nicht begreifen, warum er sie aufsuchte, da die Störche am liebsten mit Leuten ihrer eigenen Art verkehren.

»Ich hoffe, es ist doch nichts mit Ihrem Nest geschehen, Herr Langbein,« sagte Akka.

Jetzt zeigte es sich, daß es wahr ist, was man zu sagen pflegt, daß nämlich ein Storch selten den Schnabel aufmacht, ohne zu klagen. Und der Umstand, daß es dem Storch schwer wurde, die Worte hervorzubringen, bewirkte, daß das, was er sagte, noch kläglicher klang. Er stand lange da und tat nichts als mit dem Schnabel klappern, und dann begann er mit heiserer, schwacher Stimme zu sprechen. Er klagte über alles mögliche: das Nest, das ganz oben auf dem Dachrücken von Glimminghaus lag, war von den Winterstürmen ganz zerstört worden, und Nahrung war bald nicht mehr zu finden. Die Bewohner von Schonen waren im Begriff, sich seines ganzen Besitzes zu bemächtigen. Sie entwässerten die Wiesen und machten seine Sümpfe urbar. Es sei seine Absicht, dies Land zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.

Während der Storch so jammerte, konnte Akka, die wilde Gans, die selber nicht die Stätte hatte, wohin sie ihr Haupt legen konnte, nicht umhin, im stillen zu denken: »Hätte ich es so gut wie Herr Langbein, da würde ich mich zu gut halten, zu klagen. Er ist noch heutigen Tages ein freier und wilder Vogel, und trotzdem ist er bei den Menschen so gut angeschrieben, daß niemand einen Schuß auf ihn abschießt oder ihm auch nur ein Ei aus seinem Neste stehlen würde.« Das alles aber behielt sie für sich. Zu dem Storch sagte sie nur, sie könne sich nicht denken, daß er von einem Hause fortfliegen wolle, auf dem, seit es erbaut war, Störche Wohnung gehabt hätten.

Da fragte der Storch plötzlich, ob die Gänse die grauen Ratten gesehen hätten, die nach Glimminghaus gezogen waren. Und als Akka antwortete, sie habe das Ungeziefer gesehen, begann er, ihr von den tapferen schwarzen Ratten zu erzählen, die seit vielen Jahren die Burg verteidigt hatten. »Aber in dieser Nacht wird Glimminghaus in die Gewalt der grauen Ratten gelangen,« sagte der Storch seufzend.

»Warum gerade in dieser Nacht, Herr Langbein?« fragte Akka.

»Weil fast alle Ratten gestern abend nach Kullaberg gezogen sind,« sagte der Storch, »im Vertrauen darauf, daß auch alle andern Tiere dahin wollten. Aber Sie sehen, daß die grauen Ratten zu Hause geblieben sind, und nun rotten sie sich zusammen, um über Nacht, wenn Glimminghaus nur von einigen alten gebrechlichen Ratten verteidigt wird, die keine Kräfte mehr haben, mit nach Kullaberg zu wandern, in die Burg einzudringen. Sie werden ihr Ziel schon erreichen, aber nun habe ich seit so vielen Jahren in guter Nachbarschaft mit den schwarzen Ratten gelebt, daß ich keine Lust habe, auf demselben Hause zu wohnen, in dem ihre Feinde sich eingenistet haben.«

Akka begriff nun, daß der Storch so erbittert über die Handlungsweise der grauen Ratten war, daß er sie aufgesucht hatte, um sich über sie zu beklagen. Aber nach gewohnter Storchenart hatte er nichts getan, um dem Unglück vorzubeugen. »Haben Sie den schwarzen Ratten einen Boten geschickt, Herr Langbein?« fragte sie. – »Nein,« erwiderte der Storch, »was hätte das auch nützen können? Ehe sie nach Hause kommen, ist die Burg ja schon genommen.« – »Das dürfen Sie nicht so unbedingt glauben, Herr Langbein,« sagte Akka. »Ich kenne eine alte wilde Gans, die so eine Schandtat gern verhindern würde.«

Als Akka das sagte, erhob der Storch den Kopf und machte große Augen. Und das war nicht zu verwundern, denn die alte Akka hatte weder Schnabel noch Krallen, die zum Kampfe taugten. Außerdem war sie ein Tagvogel, und sobald es dunkel wurde, fiel sie unfehlbar in Schlaf, wahrend die Ratten gerade des Nachts kämpften.

Aber Akka hatte sich offenbar entschlossen, den schwarzen Ratten zu helfen. Sie rief Yksi von Bassijaure zu sich heran und befahl ihm, die Gänse nach dem Vombsee hinaufzuführen, und als die Gänse Einwände erhoben, sagte sie sehr bestimmt:

»Ich glaube, es ist das beste, wenn ihr mir alle gehorcht. Ich muß nach dem großen steinernen Haus hinfliegen, und wenn ihr mich begleitet, läßt es sich nicht vermeiden, daß die Leute auf dem Hofe uns sehen und uns niederschießen. Der einzige, den ich mit auf die Reise nehmen will, ist Däumling. Er kann mir von großem Nutzen sein, weil er gute Augen hat und sich des Nachts wach halten kann.«

Der Junge hatte gerade seinen eigensinnigen Tag, und als er hörte, was Akka sagte, streckte er sich, um so groß wie möglich zu sein und ging, die Hände auf dem Rücken und die Nase in der Luft, auf sie zu, um zu sagen, daß er wahrhaftig nicht behilflich sein wolle, die grauen Ratten zu schlagen. Sie möge sich anderweitig nach Hilfe umsehen.

Aber in demselben Augenblick, als sich der Junge blicken ließ, kam Leben in den Storch. Er hatte die ganze Zeit dagestanden, wie Störche zu stehen pflegen, mit gesenktem Kopf, den Schnabel gegen den Hals gepreßt. Aber nun konnte man es tief drinnen in seiner Kehle förmlich glucksen hören, als lache er. Blitzschnell senkte er den Schnabel, ergriff den Jungen und warf ihn vier, fünf Ellen hoch in die Luft empor. Dies Kunststück machte er siebenmal hintereinander, während der Junge schrie und die Gänse riefen: »Was tun Sie denn da, Herr Langbein, das ist doch kein Frosch! Es ist ein Mensch, Herr Langbein!«

Schließlich jedoch setzte der Storch den Jungen ganz unbeschädigt wieder hin. Dann sagte er: »Nun fliege ich wieder nach Glimminghaus zurück, Mutter Akka. Alle, die da wohnen, waren sehr bekümmert, als ich von dannen zog. Die werden sich freuen, wenn ich nun komme und ihnen erzähle, daß die wilde Gans Akka und der Menschenknirps Däumling unterwegs sind, um sie zu erretten.«

Bei diesen Worten streckte der Storch den Hals lang aus, schlug mit den Flügeln und sauste davon wie ein Pfeil, der von einem stramm gespannten Bogen fliegt. Akka begriff sehr wohl, daß er sich lustig über sie machte, aber davon ließ sie sich nicht anfechten. Sie wartete, bis der Junge seine Holzschuhe gefunden, die ihm der Storch abgeschüttelt hatte; dann setzte sie ihn auf ihren Rücken und flog hinter dem Storch drein. Und der Junge leistete keinen Widerstand und sagte kein Wort davon, daß er nicht mitwolle. Er war so wütend auf den Storch daß er förmlich dasaß und schnob. Der rotbeinige Bursche glaubte, daß er zu nichts zu gebrauchen sei, weil er klein war, aber er wollte ihm schon zeigen, was für ein Kerl Niels Holgersen aus Vemmenhög war.

Wenige Augenblicke später stand Akka in dem Storchennest auf Glimminghaus. Das war ein großes und schönes Nest. Als Unterlage diente ihm ein Rad, und darauf lagen mehrere Schichten aus Zweigen und Grassoden. Das Nest war alt, und viele Büsche und Kräuter hatten dort oben Wurzel geschlagen, und wenn die Storchenmutter in der runden Vertiefung mitten im Nest auf ihren Eiern saß, konnte sie sich nicht nur an der schönen Aussicht über einen großen Teil von Schonen erfreuen, sondern auch noch an den wilden Rosen und dem Huflattich, die in ihrem Nest blühten.

Der Junge wie auch Akka sahen sofort, daß hier etwas vor sich ging, was die gewöhnliche Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte. Auf dem Rande des Storchennestes saßen nämlich zwei Horneulen, ein alter, graugestreifter Kater und ein Dutzend uralter Ratten mit schiefen Zähnen und rinnenden Augen. Es waren nicht gerade solche Tiere, wie man sie gewöhnlich friedlich beieinander sitzen sieht.

Keins von ihnen wandte sich um und sah Akka an oder hieß sie willkommen. Die hatten keinen andern Gedanken als auf einige lange, graue Streifen hinabzustarren, die hier und da auf den winterkahlen Feldern sichtbar wurden.

Alle schwarzen Ratten verhielten sich still. Man konnte ihnen ansehen, daß sie in tiefe Verzweiflung versunken waren und sehr wohl wußten, daß sie weder ihr eigenes Leben noch die Burg zu verteidigen vermochten. Die beiden Eulen saßen da und rollten mit ihren großen Augen, drehten ihre Augenkränze und sprachen mit unheimlicher, heiserer Stimme von der großen Grausamkeit der grauen Ratten, um deretwillen sie nun aus ihrem Nest fliehen mußten, denn sie hatten gehört, daß sie weder Eier noch Junge schonten. Der alte gestreifte Kater war überzeugt, daß die grauen Ratten ihn totbeißen würden, und er schalt ununterbrochen auf die schwarzen Ratten: »Wie konntet ihr nur so dumm sein, eure besten Streitkräfte von dannen ziehen zu lassen!« sagte er. »Ihr müßt doch wissen, daß auf die grauen Ratten kein Verlaß ist! Das ist ganz unverzeihlich.«

Die zwölf schwarzen Ratten erwiderten kein Wort, aber der Storch konnte es trotz seiner Betrübnis nicht lassen, Kurzweil mit dem Kater zu treiben: »Du brauchst nicht bange zu sein, Kater Murr!« sagte er. »Siehst du denn nicht, daß Mutter Akka und Däumling gekommen sind, um die Burg zu retten? Du kannst sicher sein, daß es ihnen gelingt. Ich muß mich jetzt hinstellen und schlafen, und das tue ich mit der größten Ruhe. Wenn ich morgen aufwache, ist, weiß Gott, nicht eine einzige Ratte mehr in Glimminghaus.«

Der Junge blinzelte Akka zu und machte ein Zeichen, daß er den Storch vom Dach herunterstoßen wollte, wenn er sich nun zum Schlafen auf ein Bein am äußersten Rande des Nestes aufstellte, aber Akka hielt ihn davon zurück: »Es sähe schlimm aus, wenn jemand, der so alt ist wie ich, nicht größere Schwierigkeiten wie diese überwinden könnte. Wenn nur der Eulenvater und die Eulenmutter, die sich die ganze Nacht wach halten können, mit einer Botschaft von mir ausfliegen wollten, so denke ich, kann noch alles gut gehen.«

Die beiden Horneulen waren bereit, und dann bat Akka den Eulenvater, die von dannen gezogenen schwarzen Ratten aufzusuchen und ihnen den Rat zu erteilen, so schnell wie möglich heimzukehren. Die Eulenmutter sandte sie zu Flammea, der Turmeule, die im Dom zu Lund wohnte, mit einem Auftrag, der so geheimnisvoll war, daß Akka ihn ihr nur mit flüsternder Stimme anzuvertrauen wagte.

Der Rattenfänger.

Es ging schon stark auf Mitternacht, als die grauen Ratten nach vielem Suchen endlich eine Kellerluke fanden, die offen stand. Sie saß ziemlich hoch in der Mauer, aber die Ratten krochen eine auf die Schultern der andern, und es währte nicht lange, bis die mutigste von ihnen in der Luke saß, bereit, in Glimminghaus einzudringen, vor dessen Mauern so viele ihrer Vorfahren hatten ins Gras beißen müssen.

Die graue Ratte blieb eine Weile ganz still in der offenen Luke sitzen und wartete, daß sie angegriffen wurde. Freilich war das Hauptheer der Verteidiger fort, aber sie dachte sich, daß die schwarzen Ratten, die noch in der Burg waren, sich nicht ohne Kampf ergeben würden. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf das geringste Geräusch, aber alles war still. Da faßte der Anführer der grauen Ratten Mut und sprang in den stockdunklen Keller hinab.

Eine graue Ratte nach der andern folgte dem Anführer. Sie waren alle ganz still, und sie waren alle darauf vorbereitet, daß die schwarzen Ratten irgendwo im Hinterhalt lagen. Erst als so viele von ihnen in den Keller eingedrungen waren, daß der Fußboden nicht mehr aufnehmen konnte, wagten sie sich weiter.

Obwohl sie nie zuvor in dem Gebäude gewesen waren, machte es ihnen keine Schwierigkeit, den Weg zu finden. Sie entdeckten sehr bald die Gänge in den Mauern, die die schwarzen Ratten benutzt hatten, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Ehe sie anfingen, diese schmalen und steilen Steige hinaufzuklettern, lauschten sie abermals gespannt, es war ihnen viel unheimlicher, daß sich die schwarzen Ratten so zurückhielten, als wenn sie ihnen in offenem Kampf begegnet wären. Sie wollten kaum ihrem Glück trauen, als sie so ohne Kampf in das erste Stockwerk hinaufgelangten.

Gleich bei ihrem Eindringen schlug den grauen Ratten der Geruch des Kornes entgegen, das in großen Haufen auf dem Estrich lag. Aber die Zeit, ihren Sieg zu genießen, war noch nicht für sie gekommen. Mit der größten Sorgfalt untersuchten sie erst die dunklen, leeren Säle. Sie sprangen auf den Herd, der mitten in der alten Burgküche stand und waren nahe daran, in dem innersten Raum in den Brunnen zu stürzen. Sie ließen nicht eine einzige der schmalen Lichtöffnungen unbesehen, fanden aber noch immer keine schwarzen Ratten. Als dies Stockwerk ganz und gar in ihrer Macht war, begannen sie, sich in derselben vorsichtigen Weise in Besitz des nächsten zu setzen. Wieder erfolgte ein mühseliges und gefährliches Klettern durch die Mauern, während sie in atemloser Spannung darauf warteten, daß sich der Feind über sie stürzen würde. Und obwohl sie der herrlichste Geruch der Kornhaufen lockte, zwangen sie sich, mit der größten Genauigkeit die gewölbte Gesindestube der alten Kriegsknechte mit ihrem steinernen Tisch und dem Herd und den tiefen Fensternischen und der Luke im Fußboden zu untersuchen, die man in vergangenen Zeiten benutzt hatte, um dahindurch kochendes Pech auf einen eindringenden Feind hinabzugießen.

Aber die schwarzen Ratten ließen sich noch immer nicht sehen. Die grauen tasteten sich hinauf nach dem dritten Stockwerk mit dem großen Festsaal des Burgherrn, der ebenso leer und kahl war wie alle die andern Räume in dem alten Haus, und sie fanden sogar den Weg zu dem obersten Stockwerk, das aus einem einzigen großen, leeren Raum bestand. Der einzige Ort, den zu untersuchen ihnen nicht in den Sinn kam, war das große Storchennest oben auf dem Dach, wo die Eulenmutter gerade in dieser Zeit Akka weckte und ihr mitteilte, daß Flammea, die Turmeule, ihr Begehren erfüllt und ihr das Gewünschte gesandt habe.

Als nun die grauen Ratten so gewissenhaft die ganze Burg durchsucht hatten, fühlten sie sich beruhigt. Sie begriffen, daß die schwarzen Ratten geflüchtet waren und nicht daran dachten, sich zur Gegenwehr zu setzen, und leichten Herzens liefen sie in die Kornhaufen hinauf.

Kaum aber hatten sie die ersten Weizenkörner heruntergeschluckt, als sie unten vom Burghof her gellende Töne aus einer kleinen, schrillen Flöte vernahmen. Sie erhoben ihre Köpfe vom Korn, lauschten unruhig, liefen einige Schritte, als wollten sie den Futterhaufen verlassen, wandten sich aber wieder um und begannen von neuem zu fressen.

Abermals erschallte die Flöte laut und gellend, und nun geschah etwas Merkwürdiges. Eine Ratte, zwei Ratten, ja eine Menge Ratten sprangen von den Haufen herunter, ließen das Korn liegen und eilten auf dem kürzesten Wege in den Keller hinab, um aus dem Hause zu gelangen. Es waren aber noch viele graue Ratten zurückgeblieben. Sie dachten daran, welch eine große Mühe es sie gekostet hatte, Glimminghaus zu erobern, und sie wollten es nicht verlassen. Aber noch einmal drangen die Töne der Flöte bis zu ihnen, und sie mußten folgen. In wilder Hast stürzten sie von den Haufen herunter, ließen sich durch die engen Kanäle in den Mauern gleiten und taumelten übereinander in ihrem Eifer, hinauszugelangen.

Mitten auf dem Burghof stand ein kleiner Knirps und blies auf der Flöte. Er hatte schon einen ganzen Kreis von Ratten um sich gesammelt, die erstaunt und verzaubert seinen Tönen lauschten, und jeden Augenblick kamen mehr hinzu. Einmal nahm er nur eine Sekunde die Flöte vom Munde, um den Ratten eine lange Nase machen zu können, und da sah es aus, als hätten sie Lust, sich über ihn zu stürzen und ihn totzubeißen. Aber sobald er blies, waren sie seiner Macht untertan.

Als der Knirps alle Ratten aus Glimminghaus herausgespielt hatte, begab er sich langsam vom Hofplatz auf die Landstraße hinaus, und alle grauen Ratten folgten ihm, weil die Töne seiner Flöte so süß in ihren Ohren klangen, daß sie ihnen nicht zu widerstehen vermochten.

Der Knirps ging voran und lockte sie den Weg nach Valby entlang. In allen möglichen Kreisen und Windungen und auf allen möglichen Umwegen führte er sie durch Hecken und in Gräben hinab, und wo er ging, mußten sie ihm folgen. Er blies unaufhörlich auf seiner Flöte, die aus einem Tierhorn gemacht zu sein schien. Aber das Horn war so klein, daß es heutigentags kein Tier gibt, dessen Stirn es entrissen sein könnte. Es wußte auch niemand, wer es verfertigt hatte. Flammea, die Turmeule, hatte es in einer Nische in dem Turm des Domes von Lund gefunden. Sie hatte es Bataki, dem Raben, gezeigt, und die beiden hatten ergründet, daß es so ein Horn war, wie es in alten Zeiten von denen gemacht wurde, die sich Gewalt über Ratten und Mäuse verschaffen wollten. Der Rabe aber war Akkas Freund, und von ihm hatte sie erfahren, daß Flammea im Besitze eines solchen Schatzes war.

Und es verhielt sich wirklich so, daß die Ratten der Flöte nicht widerstehen konnten. Der Junge ging voran und spielte, solange die Sterne schimmerten, und sie folgten ihm die ganze Zeit. Er spielte bei Tagesgrauen, er spielte bei Sonnenaufgang, und immer folgte ihm die ganze Schar der grauen Ratten und wurde immer weiter von den großen Kornböden in Glimminghaus fortgelockt.

V. Der große Kranichtanz auf dem Kullaberge

Dienstag, den 29. März.

Man muß einräumen, daß, obwohl viele prachtvolle Gebäude in Schonen errichtet sind, doch keines von ihnen allen so schöne Mauern hat wie der alte Kullaberg.

Der Kullaberg ist niedrig und langgestreckt. Er ist keineswegs ein großer oder gewaltiger Berg. Auf dem breiten Bergrücken liegen Wälder und Felder und hin und wieder eine Heide. Hier und da ragen runde Heidehügel und nackte Bergkuppen auf. Es ist nicht sonderlich schön dort oben, es sieht dort so aus wie an allen andern hochgelegenen Orten in Schonen.

Wer die Landstraße entlang geht, die mitten über den Berg führt, kann nicht umhin, sich ein klein wenig enttäuscht zu fühlen.

Aber dann biegt er am Ende zufällig vom Wege ab und geht an die Seiten des Berges hinaus und sieht an dem Abhang hinab, und dann entdeckt er plötzlich so viel, was des Sehens wert ist, daß er kaum weiß, woher er die Zeit nehmen soll, es alles zu sehen. Denn die Sache ist die, daß der Kullaberg nicht im Lande liegt mit Ebenen und Tälern rings umher wie andere Berge, sondern er hat sich ins Meer hinausgestürzt, so weit er kommen konnte. Nicht der geringste Streifen Landes liegt am Fuße des Berges und beschützt ihn gegen die Wellen des Meeres, nein, sie gelangen bis ganz an die Bergwände hinan und können sie nach ihrem Gutdünken abschleißen und formen.

Deswegen stehen die Bergwände dort so reichgeschmückt, wie es das Meer und sein Gehilfe, der Wind, nur zu tun vermochten. Da sind steile Schluchten, die tief in die Seiten des Berges eingeschnitten sind, und schwarze Felsklippen, die blank geschliffen sind von dem ständigen Peitschenschlag des Windes. Da sind einsame Steinsäulen, die sich kerzengerade aus dem Wasser erheben, und dunkle Grotten mit engem Eingang. Da sind lotrechte, nackte Felswände und Abhänge mit freundlichen Laubwäldern. Da sind kleine Landzungen und kleine Buchten mit kleinen Rollsteinen, die mit jedem Wellenschlag rasselnd auf und nieder gespült werden. Da sind stattliche Klippentore, die sich über dem Wasser wölben; da sind spitze Steine, die unaufhörlich von weißem Schaum überspritzt werden, und andere, die sich in schwarzgrünem, unveränderlich stillem Wasser spiegeln. Da sind Riesenkessel, die in die Felsklippen hineingegraben sind, und mächtige Spalte, die den Wandersmann locken, sich in die Tiefe des Berges bis in Kullamanns Höhle hineinzuwagen.

Auf und ab an allen diesen Schluchten und Klippen klettern und kriechen Ranken und Schlingpflanzen. Bäume wachsen dort auch, aber die Macht des Windes ist so groß, daß sich selbst die Bäume in Schlingpflanzen verwandeln müssen, um sich an den Abhängen festhalten zu können. Die Eichen liegen und kriechen an der Erde, während das Laub über ihnen steht wie eine gedrängte Wölbung, und niedrigstämmige Buchen stehen in den Schluchten gleich großen Laubzelten.

Diese eigentümlichen Bergwände im Verein mit dem breiten, blauen Meer da draußen und der sonnenzitternden, starken Luft darüber machen den Kullaberg den Menschen so lieb, daß große Scharen von ihnen jeden Tag, so lange der Sommer währt, dahinaufziehen. Schwieriger ist es wohl, zu sagen, was den Berg so anziehend für die Tiere macht, daß sie sich jedes Jahr dort zu einer großen Spielversammlung scharen. Aber das ist eine Sitte, der sie seit Olyms Zeiten gefolgt sind, und man hätte schon mit dabei sein müssen, als die erste Welle an dem Kullaberg zu Schaum zerschellte, um erklären zu können, warum gerade er vor allen andern Orten zum Stelldichein gewählt wurde.

Wenn die Zeit zur Versammlung da ist, legen die Kronhirsche, die Rehe, die Hasen, die Füchse und die andern wilden, vierfüßigen Tiere schon in der Nacht die Reise nach Kullaberg zurück, um nicht von den Menschen gesehen zu werden. Kurz ehe die Sonne aufgeht, ziehen sie alle auf den Spielplatz, eine Heide links vom Wege, nicht weit von der äußersten Landzunge des Berges.

Der Spielplatz ist auf allen Seiten von runden Felshöhlen umgeben, die ihn vor jedem verbergen, der nicht zufällig ganz hineingelangt. Und im März ist es nicht wahrscheinlich, daß sich ein Wandersmann dahin verirrt. Alle die Fremden, die sonst auf den Hügeln umherstreifen und an den Bergwänden in die Höhe klettern, sind schon vor vielen Monaten in die Flucht gejagt worden. Und der Leuchtturmwärter draußen auf der Landzunge, die alte Frau in Kullahof und der Kullabauer und seine Leute gehen ihre gewohnten Wege und laufen nicht auf den einsamen Heideflächen umher.

Wenn die Tiere auf den Spielplatz gekommen sind, lassen sie sich auf den runden Bergkuppen nieder. Jede Tierart hält sich für sich, obwohl naturgemäß an einem solchen Tage allgemeiner Friede herrscht, so daß niemand einen Überfall zu befürchten braucht. An diesem Tage könnte ein kleines junges Häslein über den Hügel der Füchse laufen, ohne auch nur eines seiner langen Ohren einzubüßen. Aber trotzdem stellen sich die Tiere in verschiedenen Scharen auf. Das ist eine alte Sitte.

Haben sie alle ihre Plätze eingenommen, so fangen sie an, sich nach den Vögeln umzusehen. An dem Tage pflegt immer gutes Wetter zu sein. Die Kraniche sind vorzügliche Wetterpropheten und würden die Tiere nicht zusammenrufen, falls Regen zu erwarten wäre. Aber obwohl die Luft klar ist, und nichts die Aussicht behindert, sehen die vierfüßigen Tiere doch keine Vögel. Das ist sehr sonderbar. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Vögel müßten bereits unterwegs sein.

Die Tiere auf dem Kullaberge bemerken aber hier und da eine kleine Wolke, die langsam über die Ebene hingleitet. Und siehe! Eine von diesen Wolken steuert jetzt plötzlich an der Küste des Öresunds entlang, nach dem Kullaberge hinauf. Als die Wolke gerade über dem Spielplatz angelangt ist, bleibt sie stehen, und im selben Augenblick fängt die ganze Wolke an zu klingen und zu zwitschern, als bestünde sie nur aus Tönen. Sie steigt und sinkt, steigt und sinkt, aber während der ganzen Zeit klingt und zwitschert sie. Schließlich fällt die ganze Wolke auf eine Bergkuppe nieder, die ganze Wolke auf einmal, und einen Augenblick später ist die Bergkuppe ganz verdeckt von grauen Lerchen, hübschen rot-grau-weißen Buchfinken, metallglänzenden Staren und gelbgrünen Meisen.

Gleich darauf kommt noch eine Wolke über die Ebene hingetrieben. Sie macht halt über jedem Gehöft, über den Häuslereien und den Herrensitzen, über kleinen Städten und großen Städten, über Bauernhöfen und Eisenbahnstationen, über Fischerdörfern und Zuckerfabriken. Jedesmal, wenn sie halt macht, saugt sie von den Gebäuden unten auf der Erde eine kleine, in die Höhe wirbelnde Wolke aus kleinen, grauen Staubkörnchen auf. Auf diese Weise wächst und wächst sie, und als sie endlich gesammelt ist und auf den Kullaberg zusteuert, ist sie keine einzelne Wolke mehr, sondern eine ganze Wolkendecke, die so groß ist, daß sie einen Schatten auf die Erde wirft, der von Höganäs bis Mölle reicht. Als sie über dem Spielplatz halt macht, verbirgt sie die Sonne, und lange müssen Spatzen auf eine der Bergkuppen herabregnen, ehe diejenigen, die sich im Innersten der Wolkendecke befinden, wieder einen Schimmer des Tageslichts zu sehen bekommen.

Aber die größte von diesen Vogelwolken ist doch die, die jetzt sichtbar wird. Sie ist aus Scharen gebildet, die von überall her geflogen kommen und sich ihr angeschlossen haben. Sie ist schwer blaugrau, und nicht ein Sonnenstrahl kann sie durchdringen. Sie nahet finster und schreckeinjagend wie eine Gewitterwolke. Sie ist angefüllt mit dem scheußlichsten Lärm, dem unglückverheißendsten Hohnlachen. Alle unten auf dem Spielplatz freuen sich, als sie sich endlich in einen Regen von flügelschlagenden und krächzenden Krähen und Raben und Dohlen und Saatkrähen auflöst.

Dann erscheinen am Himmel nicht nur Wolken allein, sondern eine Menge verschiedener Striche und Zeichen, gerade punktierte Linien im Osten und Nordosten. Das sind Waldvögel aus den Göinger Harden: Birkhähne und Auerhähne, die in langen Reihen in einem drei Ellen weiten Abstand voneinander geflogen kommen. Und die Schwimmvögel, die auf Maakläppen vor Falsterbo nisten, kommen jetzt in vielen wunderlichen Flugordnungen über den Öresund dahergeschwebt: in Dreiecken und in langen Winkeln, in schiefen Haken und in Halbkreisen.

Zu der großen Versammlung, die in dem Jahr stattfand, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen umherflog, kamen Akka und ihre Schar später als alle die andern, und darüber konnte man sich nicht verwundern, denn Akka war über ganz Schonen geflogen, um nach dem Kullaberg zu gelangen. Außerdem hatte sie, sobald sie am Morgen erwachte, ausfliegen müssen, um nach Däumling zu suchen; der war viele Stunden lang gewandert und hatte den grauen Ratten auf der Flöte vorgespielt, um sie weit von Glimminghaus wegzulocken. Der Eulenvater war mit der Nachricht heimgekehrt, daß die schwarzen Ratten gleich nach Sonnenaufgang wieder daheim sein würden, und so war denn keine Gefahr mehr, wenn man die Flöte der Turmeule verstummen und die grauen Ratten laufen ließ, wohin es ihnen beliebte.

Aber nicht Akka entdeckte den Jungen, wie er da mit seinem großen Gefolge ging, nicht sie ließ sich schnell zu ihm herab, packte ihn mit dem Schnabel und schwebte mit ihm in die Luft empor, nein, das alles tat Herr Langbein, der Storch. Denn Herr Langbein hatte sich ebenfalls aufgemacht, um nach ihm zu suchen, und hinterher, als er ihn in das Storchennest hinaufgebracht hatte, bat er ihn um Verzeihung, weil er ihn am Abend zuvor mit Geringschätzung behandelt hatte.

Darüber freute sich der Junge sehr, und der Storch und er wurden gute Freunde. Akka war auch sehr freundlich gegen ihn, scheuerte ihren alten Kopf mehrmals an seinem Arm und lobte ihn, weil er denen geholfen hatte, die in Not waren.

Aber das muß man zur Ehre des Jungen sagen: er nahm kein Lob an, das er nicht verdient hatte. »Nein, Mutter Akka,« sagte er, »Sie müssen nicht glauben, daß ich die Grauen weglockte, um den Schwarzen zu helfen. Ich wollte nur Herrn Langbein zeigen, wozu ich zu gebrauchen war.«

Kaum hatte er diese Worte gesagt, als sich Akka an den Storch wandte und fragte, ob er glaube, daß es angehe, Däumling mit nach dem Kullaberge zu nehmen. »Ich finde, wir können uns auf ihn verlassen wie auf uns selbst,« sagte sie. Der Storch riet sofort sehr eifrig zu, Däumling mitzunehmen. »Natürlich müssen Sie Däumling mit nach dem Kullaberg nehmen, Mutter Akka,« sagte er. »Es ist ein großes Glück für uns, daß wir ihn für alles belohnen können, was er über Nacht für uns ausgestanden hat. Und da es mich noch quält, daß ich mich gestern abend nicht hübsch gegen ihn aufgeführt habe, will ich ihn auf meinem Rücken ganz bis an den Versammlungsort tragen.«

Es gibt nicht viel, was besser schmeckt, als Lob von denen zu empfangen, die selbst klug und tüchtig sind, und der Junge war nie so glücklich gewesen, wie jetzt, wo die wilde Gans und der Storch so von ihm sprachen.

Der Junge legte also die Reise nach dem Kullaberge auf einem Storchenrücken sitzend zurück. Obwohl er wußte, daß dies eine große Ehre war, verursachte es ihm doch viel Angst. Denn Herr Langbein war ein Meister im Fliegen und sauste mit einer ganz andern Geschwindigkeit dahin als die wilden Gänse. Während Akka den geraden Weg mit gleichmäßigen Flügelschlägen flog, belustigte sich der Storch damit, eine Menge Fliegekunststücke zu machen. Bald lag er in einer unermeßlichen Höhe ganz still und schwamm auf der Luft, ohne die Flügel zu bewegen, bald warf er sich mit so starker Geschwindigkeit herab, daß man ein Gefühl hatte, als falle man auf die Erde wie ein Stein, bald trieb er Kurzweil, indem er sich in großen und kleinen Kreisen rund um Akka herumschwang wie ein Wirbelwind. Der Junge hatte noch nie etwas Ähnliches mitgemacht, und obwohl er sich in steter Angst befand, mußte er sich doch gestehen, daß er nie zuvor gewußt hatte, was ordentliches Fliegen war.

Sie machten nur eine einzige Unterbrechung in der Reise, nämlich als sich Akka auf dem Bombsee den Reisegefährten anschloß und ihnen zurief, daß die grauen Ratten überwunden seien. Dann flogen sie alle geraden Weges nach dem Kullaberge.

Dort ließen sie sich auf dem obersten Teil der Bergkuppe nieder, die den wilden Gänsen vorbehalten war, und als nun der Junge den Blick von einer Kuppe zur andern wandern ließ, sah er, daß sich über der einen das vielzackige Gehörn des Kronhirsches erhob, und über einer der andern die grauweißen Nackenfedern des Reihers. Eine Bergkuppe war rot von Füchsen, eine war schwarz und weiß von Strandvögeln, eine war grau von Ratten. Eine war mit schwarzen Raben bedeckt, die unaufhörlich schrien, eine mit Lerchen, die nicht imstande waren, sich still zu verhalten, sondern sich unablässig in die Luft emporschwangen und vor Freude sangen.

Wie es stets auf dem Kullaberge herzugehen pflegt, eröffneten die Krähen die Spiele und die Kurzweil des Tages mit ihrem Flugtanz. Sie teilten sich in zwei Scharen, die gegeneinander flogen, sich begegneten, umkehrten und wieder von vorne anfingen. Dieser Tanz hatte viele Touren und erschien den Zuschauern, die nicht in die Regeln des Tanzes eingeweiht waren, zu einförmig. Die Krähen waren sehr stolz auf ihren Tanz, und alle andern waren froh, als er beendet war. Die Tiere fanden ihn ebenso trübselig und sinnlos wie das Spiel der Winterstürme mit den Schneeflocken. Sie wurden schlechter Laune von dem Ansehen und warteten gespannt auf etwas, das sie ein wenig belustigen konnte.

Sie sollten auch nicht vergebens warten, denn sobald die Krähen ihren Tanz beendet hatten, kamen die Hasen gelaufen. Ohne sonderliche Ordnung wimmelten sie in einer langen Reihe hervor. In einigen Reihen ging nur einer, in andern liefen drei oder vier nebeneinander. Alle hatten sie sich auf zwei Beine erhoben und kamen in einer solchen Fahrt dahergesaust, daß die langen Ohren nach allen Seiten flogen. Während sie liefen, drehten sie sich rund herum, machten hohe Sprünge und schlugen die Vorderpfoten gegen die Rippen, so daß es klatschte. Einige schossen eine lange Reihe Purzelbäume, andere duckten sich zusammen und rollten wie Räder auf der Erde dahin, einer stand auf einem Bein und drehte sich rund herum, einer ging auf den Vorderpfoten. Da war gar keine Ordnung, aber es lag gute Laune über dem Spiel der Hasen, und die vielen Tiere, die dastanden und ihnen zusahen, fingen an, schneller zu atmen. Jetzt war Frühling, Lust und Freude waren in Anmarsch. Der Winter war zu Ende. Der Sommer nahte. Bald war das Leben nur noch ein Spiel.

Als die Hasen sich ausgetollt hatten, kam die Reihe aufzutreten an die großen Waldvögel, hunderte von Auerhähnen in glänzend schwarzem Federkleid und mit schimmernd roten Augenbrauen schwangen sich in eine große Eiche hinauf, die mitten auf dem Spielplatz stand. Derjenige, der auf dem obersten Zweige sah, blies die Federn auf, senkte die Flügel und schlug den Schweif auseinander, so daß die weißen Deckfedern sichtbar wurden. Dann streckte er den Hals vor und entsandte ein paar tiefe Halstöne aus seiner schwellenden Kehle. »Tjäk, tjäk, tjäk,« klang es. Mehr konnte er nicht hervorbringen, es gluckste nur ein paarmal tief unten in der Kehle. Dann schloß er die Augen und flüsterte: »Sis, sis, sis. Hört, wie schön es ist! Sis, sis, sis.« Und im selben Augenblick verfiel er in eine solche Verzückung, daß er nicht mehr wußte, was um ihn her vor sich ging.

Während der erste Auerhahn noch »Sis, sis, sis« flüsterte, begannen die drei, die zunächst unter ihm saßen, zu singen, und ehe sie das Lied beendet hatten, begannen die zehn, die unter ihnen saßen, und so weiter von Zweig zu Zweig, bis alle die Hunderte von Auerhähnen sangen und glucksten und zischelten. Sie gerieten alle in dieselbe Verzückung während ihres Gesanges, und gerade dies wirkte auf die andern Tiere wie ein ansteckender Rausch. Noch vor kurzem floß das Blut lustig und leicht, jetzt fing es an, schwer und heiß zu strömen. »Ja, wahrlich ist es Frühling,« dachten die vielen Tiervölker. »Die Kälte des Winters ist entschwunden. Das Feuer des Lenzes brennt über der Erde.«

Als die Birkhähne merkten, daß die Auerhähne einen solchen Erfolg hatten, konnten sie sich nicht langer ruhig verhalten. Da dort kein Baum war, auf den sie sich setzen konnten, sausten sie auf den Spielplatz hinab, wo das Heidekraut so hoch stand, daß man nichts weiter sehen konnte als ihre schönen, wehenden Schwanzfedern und ihre dicken Schnäbel, und dann begannen sie zu singen: »Orr, orr, orr«.

Gerade als die Birkhähne anfingen, um die Wette mit den Auerhähnen zu singen, geschah etwas, was noch nie geschehen war. Während alle Tiere ganz in Anspruch genommen waren von dem Spiel der Auerhähne, schlich sich ein Fuchs ganz leise an die Bergkuppen der wilden Gänse heran. Er ging sehr vorsichtig und kam ein Stück des Hügels hinauf, ehe ihn jemand entdeckte. Plötzlich ward jedoch eine Gans seiner ansichtig, und da sie sich nicht denken konnte, daß sich ein Fuchs in guter Absicht zwischen die Gänse schlich, begann sie zu rufen: »Nehmt euch in acht, ihr wilden Gänse! Nehmt euch in acht!« Der Fuchs schnappte nach ihr, vielleicht hauptsächlich damit sie schweigen solle, aber die wilden Gänse hatten den Ruf bereits vernommen und hoben sich alle in die Luft empor. Und als sie davongeflogen waren, sahen die Tiere Reineke Fuchs auf der Bergkuppe der wilden Gänse stehen, die tote Gans im Rachen.

Aber weil Reineke so den Frieden des Spieltages gebrochen hatte, erhielt er eine so harte Strafe, daß er zeitlebens bereute, seiner Rachgier keinen Zwang angetan zu haben, daß er versucht hatte, doch einmal Akka und ihrer Schar Schaden zuzufügen. Er wurde sofort von einer Schar von Füchsen umringt und nach dem alten Gesetz verurteilt, das also lautet: Wer an dem großen Spieltage den Frieden stört, soll zu Landflüchtigkeit verdammt sein. Auch nicht ein Fuchs wollte das Urteil mildern, denn sie wußten alle, daß sie im selben Augenblick, wo sie das versuchten, vom Spielplatz verjagt werden würden und nie mehr ihren Fuß dorthin setzen durften. Also wurde Landesverweisung über Reineke ausgesprochen, ohne daß jemand Einspruch dagegen erhob. Es wurde ihm verboten, sich in Schonen aufzuhalten. Er wurde von Frau und Sippe verbannt, von Jagdgründen und Wohnung, von den Ruhestätten und Schlupfwinkeln, die bisher die seinen gewesen waren, und mußte sein Glück im fremden Lande suchen. Und auf daß alle Füchse in ganz Schonen wußten, daß Reineke dortzulande friedlos war, biß ihm der älteste der Füchse den rechten Ohrzipfel ab. Sobald das geschehen war, fingen alle die jungen Füchse an, vor Blutdurst zu heulen und stürzten sich über Reineke. Es blieb ihm nichts weiter übrig als zu fliehen, und mit allen den jungen Füchsen auf den Fersen eilte er fort vom Kullaberge.

Dies alles trug sich zu, während die Birkhähne und Auerhähne ihren Sängerkampf abhielten. Aber diese Vögel gehen in dem Maße in ihrem Gesang auf, daß sie weder sehen noch hören. Sie hatten sich auch gar nicht stören lassen.

Kaum war der Wettstreit der Waldvögel beendet, als die Kronhirsche vom Häckeberge vortraten, um ihr Kampfspiel zu zeigen. Es waren mehrere Paar Kronhirsche, die gleichzeitig kämpften. Sie stürzten sich mit großer Kraft aufeinander, schlugen die Geweihe dröhnend gegeneinander, so daß sie sich ineinanderflochten, und suchten sich gegenseitig hintenüber zu zwingen. Sie rissen Heidehügel mit ihren Hufen aus, ihr Atem stand wie eine Rauchwolke um sie, aus ihren Kehlen tönte ein fürchterliches Brüllen, und an ihrem Bug floß Schaum herab.

Ringsumher auf den Hügeln herrschte atemlose Stille, während die streitgewohnten Hirsche kämpften. Und bei allen Tieren wurden neue Gefühle wachgerufen. Alle fühlten sie sich mutig und stark, belebt von wiederkehrender Kraft, neugeboren vom Frühling, frisch und aufgelegt zu allerhand Abenteuern. Sie empfanden keinen Zorn gegeneinander, aber doch hoben sich alle Flügel, die Nackenfedern sträubten sich, die Krallen wurden gewetzt. Hätten die Häckeberger noch einen Augenblick weitergestritten, würde auf den Hügeln ein wilder Kampf entstanden sein, denn sie waren alle von einem brennenden Verlangen erfaßt, zu zeigen, daß auch sie voller Leben waren, daß die Ohnmacht des Winters vorbei war, daß ihre Leiber von Kraft glühten.

Aber die Kronhirsche beendeten ihren Kampf im rechten Augenblick, und sofort lief ein Flüstern von einem Hügel zum andern: »Jetzt kommen die Kraniche.«

Und dann kamen die Vögel im grauen Dämmerungsgewande, mit Federbüschen auf den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die großen Vögel mit ihren hohen Beinen, ihren schlanken Hälsen und ihren kleinen Köpfen kamen in mystischer Verzückung die Hügel hinab. Während sie vorwärtsglitten, drehten sie sich herum, halb fliegend, halb tanzend. Die Flügel anmutig erhoben, bewegten sie sich mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Es lag etwas Seltsames und Fremdes über ihrem Tanz. Es war, als spielten graue Schatten ein Spiel, dem die Augen kaum zu folgen vermochten. Es war, als hätten sie es von den Nebeln gelernt, die über den einsamen Mooren schweben. Es lag Zauberei darin. Alle, die noch nie auf dem Kullaberge gewesen waren, begriffen, warum die ganze Zusammenkunft ihren Namen nach dem Tanz der Kraniche hatte. Es lag Wildheit darüber, aber das Gefühl, das es wachrief, war trotzdem eine sanfte Sehnsucht. Niemand dachte jetzt mehr daran, zu kämpfen. Aber statt dessen empfanden alle, die Beschwingten und die, so da keine Schwingen hatten, ein Sehnen, unendlich hoch emporzusteigen, sich über die Wolken zu erheben, das zu suchen, was dahinter war, den beschwerenden Körper abzuwerfen, der zur Erde niederzog, und zu dem Überirdischen emporzuschweben.

Eine solche Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem, was sich hinter dem Leben verbirgt, empfanden die Tiere nur einmal im Jahre, nämlich an dem Tage, wo sie den großen Kranichtanz sahen.

VI. Im Regenwetter

Mittwoch, den 30. März.

Es war der erste Regentag auf der Reise. Während der ganzen Zeit, die sich die wilden Gänse in der Gegend des Bombsees aufgehalten, hatten sie gutes Wetter gehabt, aber an demselben Tage, als sie die Reise gen Norden antraten, fing es an zu regnen, und der Junge mußte mehrere Stunden ganz durchnäßt und zähneklappernd vor Kälte auf dem Gänserücken sitzen. Am Morgen, als sie von dannen zogen, war es still und klar. Die wilden Gänse flogen hoch oben in der Luft, gleichmäßig und ohne Hast, in strenger Ordnung, mit Akka an der Spitze, und die übrigen in zwei schrägen Reihen hinter ihr drein. Sie ließen sich keine Zeit, die Tiere auf dem Felde zu necken, da sie aber nicht imstande waren, sich ganz ruhig zu verhalten, sangen sie die ganze Zeit im Takt mit den Flügelschlägen ihren gewöhnlichen Lockruf: »Wo bist du? Hier bin ich. Wo bist du? Hier bin ich.«

Sie riefen alle gleich eifrig, und sie hielten nur hin und wieder inne, um den weißen Gänserich auf die Wegezeichen aufmerksam zu machen, nach denen sie ihren Kurs nahmen. Auf dieser Reise bestanden die Zeichen aus den kahlen Hügeln des Linderoder Abhanges, dem Schloß Ovesholm, dem Kristianstädter Kirchturm, der Königsburg Backaskog auf der schmalen Landzunge zwischen dem Omannasee und dem Ivösee und aus dem steilen Abhang des Ryßberges.

Es war eine einförmige Reise, und als die Regenwolken sich zusammenzogen, schien es dem Jungen geradezu, als sei dies eine Abwechslung. In alten Zeiten, als er die Regenwolken nur von unten gesehen hatte, fand er, daß sie grau und langweilig waren, aber es war etwas ganz anderes, oben zwischen ihnen zu sein. Jetzt konnte er deutlich sehen, daß die Wolken mächtige Frachtwagen waren, die mit wolkenhohen Fudern am Himmel entlang fuhren: einige von ihnen waren mit großen grauen Säcken beladen, andere mit Tonnen, die so groß waren, daß sie einen ganzen See fassen konnten, und wieder andere mit großen Kübeln und Flaschen, die zu einer gewaltigen Höhe aufgestapelt waren. Und als so viele Wagen dahergefahren waren, daß sie den ganzen Himmelsraum füllten, war es, als gäbe einer ein Zeichen, denn auf einmal fing es an, aus Kübeln, Tonnen, Flaschen und Säcken Wasser auf die Erde hinab zu strömen.

In demselben Augenblick, als die ersten Frühlingsschauer auf die Erde niederschlugen, stimmten alle Vögel in Hainen und Buschwerken ein solches Freudengeschrei an, daß die ganze Luft davon widerhallte, so daß der Junge zusammenzuckte. »Jetzt bekommen wir Regen, der Regen bringt uns den Frühling, der Frühling bringt uns Blumen und grüne Blätter, und Blumen bringen uns Larven und Insekten, Larven und Insekten bringen uns Essen, und gutes Essen ist das beste, was es gibt,« sangen die kleinen Vögel.

Auch die wilden Gänse freuten sich über den Regen, der kam, um die Pflanzen aus ihrem Schlaf zu erwecken und Löcher in die Eisdecke auf den Seen zu schlagen. Sie konnten nicht auf die Dauer so ernsthaft sein wie bisher, sondern ließen lustige Rufe über die Gegend unter ihnen erschallen.

Als sie über die großen Kartoffelfelder flogen, von denen es so viele in der Umgegend von Kristianstad gibt, und die noch kahl und schwarz dalagen, riefen sie: »Wacht auf und schafft Nutzen! Jetzt kommt jemand, der euch weckt! Jetzt habt ihr lange genug gefaulenzt.«

Wenn sie Leute sahen, die sich beeilten, ins Haus zu kommen, tadelten sie sie und sagten: »Weshalb habt ihr es so eilig? Seht ihr denn nicht, daß es Feinbrot und Spießkuchen regnet, Feinbrot und Spießkuchen!«

Da war eine große, dichte Wolke, die sich schnell nach Norden zu bewegte und dicht hinter den Gänsen her segelte. Fast glaubten sie, daß sie die Wolke mit sich zögen, und da sie gerade jetzt große Gärten unter sich gewahrten, riefen sie ganz stolz: »Hier kommen wir mit Anemonen, hier kommen wir mit Rosen, hier kommen wir mit Apfelblüten und Kirschenknospen, hier kommen wir mit Erbsen und Bohnen, hier kommen wir mit Rüben und Kohl. Nehme es entgegen, wer da will! Nehme es entgegen, wer da will!«

Nach dieser Melodie ging es, während die ersten Schauer fielen, als alle noch froh über den Regen waren. Aber als er den ganzen Nachmittag anhielt, wurden die Gänse ungeduldig und riefen den durstigen Wäldern um den Ivösee zu: »habt ihr noch nicht bald genug? Habt ihr noch nicht bald genug?«

Der Himmel wurde mehr und mehr grau überzogen, und die Sonne verkroch sich so gut, daß niemand begreifen konnte, wo sie geblieben war. Der Regen fiel dichter, peitschte hart gegen die Flügel und bahnte sich einen Weg zwischen den tranigen Außenfedern hindurch, bis ganz auf den Leib hinein. Die Erde war von einem Regennebel verhüllt; Seen, Berge und Wälder flossen zusammen in einem undeutlichen Wirrwarr, und man konnte die Wegezeichen nicht erkennen. Der Flug wurde langsamer und langsamer, die munteren Rufe verstummten, und der Junge fühlte die Kälte immer bitterer.

Aber er hielt trotzdem den Mut aufrecht, so lange er durch die Luft dahinritt. Und am Nachmittage, als sich die Gänse unter einer kleinen verkrüppelten Fichte mitten in einem großen Moor niedergelassen hatten, wo alles naß und alles kalt war, wo einige von den Erderhöhungen mit Schnee bedeckt waren und andere kahl aus einer Lache halbgeschmolzenen Eiswassers aufragten, da fühlte er sich auch keineswegs verzagt, sondern lief in fröhlicher Laune umher und suchte nach Moosbeeren und gefrorenen Kronsbeeren.

Aber dann kam der Abend, und die Dunkelheit senkte sich so dicht herab, daß nicht einmal Augen wie die des Jungen sie durchdringen konnten und die Einöde wurde so sonderbar häßlich und unheimlich. Der Junge lag unter den Flügel des Gänserichs eingebettet, aber er konnte nicht schlafen, kalt und naß, wie er war. Und er hörte so ein Pusseln und Rascheln und schleichende Schritte und drohende Stimmen, ihm wurde so bange, er wußte nicht, was er anfangen sollte. Er mußte dahin, wo Feuer und Licht war, wenn er nicht vor Angst umkommen sollte.

»Ob ich mich für diese eine Nacht zu den Menschen hinwagen soll?« dachte der Junge. »Wenn ich nur ein wenig beim Feuer sitzen und etwas zu essen bekommen könnte. Ich könnte ja vor Sonnenaufgang zu den wilden Gänsen zurückkehren.«

Er kroch unter dem Flügel hervor und ließ sich auf die Erde niedergleiten. Er weckte weder den Gänserich noch eine der anderen Gänse, sondern schlich still und unbemerkt über das Moor.

Er ahnte nicht, wo in aller Welt er war, ob in Schonen, in Smaaland oder in Bleking. Aber kurz bevor sie in das Moor heruntergeflogen waren, hatte er einen Schimmer von einem Dorf gesehen, und dahin wandte er nun seine Schritte. Es währte auch nicht lange, bis er einen Weg entdeckte, und bald befand er sich auf der Dorfstraße, die lang und mit Bäumen bepflanzt war, und zu deren beiden Seiten Häuser lagen.

Der Junge war in eins der großen Kirchdörfer gekommen, deren es oben im Lande so viele gibt, während man unten in der Ebene keine davon antrifft.

Die Häuser waren aus Holz und sehr zierlich gebaut. Die meisten hatten Giebel und Frontespize mit einem Rande aus geschnitzten Holzleisten, und Glasveranden mit einer bunten Fensterscheibe hier und da. Sie waren mit heller Ölfarbe gestrichen, Türen und Fensterpfosten schimmerten grün und blau, ja, sogar rot. Während der Junge so dahinging und die Häuser betrachtete, konnte er draußen auf dem Wege hören, wie die Leute, die in den warmen Stuben saßen, schwatzten und lachten. Die Worte konnte er nicht unterscheiden, aber er fand, es war schön, Menschenstimmen zu hören: »Ich möchte wohl wissen, was sie sagen würden, wenn ich anklopfte und um Einlaß bäte,« dachte er.

Das hatte er ja tun wollen, aber jetzt, wo er die erhellten Fenster sah, war die Angst vor der Dunkelheit überwunden. Dahingegen empfand er von neuem die Scheu, die ihn immer in der Nähe der Menschen befiel. »Ich will mich ein wenig mehr im Dorf umsehen,« dachte er, »ehe ich jemand um Einlaß bitte.«

An einem der Häuser war ein Balkon. Und gerade als der Junge vorüberging, wurden die Balkontüren geöffnet und gelber Lichtschimmer drang durch feine, leichte Gardinen. Und dann trat eine hübsche junge Frau auf den Balkon hinaus und lehnte sich über das Geländer: »Es regnet, jetzt bekommen wir Frühling,« sagte sie. Als der Junge sie sah, wurde ihm so sonderbar beklommen ums Herz. Er war nahe daran, zu weinen. Zum erstenmal überkam ihn ein unheimliches Gefühl, weil er sich von den Menschen ausgeschlossen hatte.

Bald darauf kam er an einem Kaufmannsgeschäft vorüber. Draußen vor dem Laden stand eine rote Säemaschine. Er blieb stehen und betrachtete sie, und kroch schließlich auf den Kutschersitz, auf den er sich niedersetzte. Als er dahinauf gekommen war, schnalzte er mit der Zunge und tat so, als säße er dort und führe. Er dachte daran, wie amüsant es sein würde, auf so einer feinen Maschine über ein Feld zu fahren. Einen Augenblick hatte er vergessen, wie er nun war, aber dann fiel es ihm wieder ein, und er sprang schnell von der Maschine herunter. Er wurde immer unruhiger. Da war doch gar mancherlei, worauf derjenige verzichten mußte, der immer unter den Tieren leben wollte. Die Menschen waren sowohl eigentümlich als auch tüchtig.

Er kam an der Post vorüber, und da dachte er an alle die Zeitungen, die jeden Tag mit Neuigkeiten aus allen Ecken der Welt anlangten. Er sah die Apotheke und die Doktorwohnung, und er dachte daran, wie groß die Macht der Menschen war, daß sie Krankheit und Tod bekämpfen konnten. Er kam an die Kirche und dachte daran, daß sie von Menschen erbaut sei, damit sie dort Reden hören konnten über eine Welt außer der, in der sie lebten, und über Gott und Auferstehung und das ewige Leben. Und je länger er dort ging, um so lieber wurden ihm die Menschen.

Kinder sind nun einmal so, daß sie nicht weiter denken als von der Nase bis zum Mund. Was gerade vor ihren Augen liegt, wollen sie sogleich haben, ohne sich daran zu kehren, was es ihnen kosten kann. Niels Holgersen hatte keinen Verstand davon gehabt, was er verlor, als er es vorzog, Kobold zu bleiben, jetzt überkam ihn jedoch eine furchtbare Angst, daß er vielleicht nie wieder seine wahre Gestalt erlangen würde.

Wie in aller Welt sollte er es anfangen, wieder Mensch zu werden? Das hätte er wirklich gern gewußt.

Er kletterte auf eine Treppe hinauf und setzte sich hin, um mitten in dem strömenden Regen nachzudenken. Dort saß er eine Stunde, zwei Stunden, und er sann und dachte, so daß er Runzeln auf der Stirn davon bekam. Aber er wurde deswegen nicht klüger. Es war, als wenn die Gedanken ihm nur rund im Kopf herumliefen. Je länger er dasaß, um so unmöglicher erschien es ihm, eine Lösung zu finden.

»Dies hier ist gewiß zu schwer für jemand, der so wenig gelernt hat wie ich,« dachte er schließlich. »Ich muß am Ende doch wohl zu den Menschen zurückgehen. Ich werde wohl den Pfarrer und den Doktor und den Schullehrer und andere gelehrte Leute fragen müssen, die wissen, was gegen so etwas hilft.«

So beschloß er denn, dies sogleich zu tun, und er erhob sich und schüttelte sich, denn er war so naß wie eine ertrunkene Maus.

Im selben Augenblick sah er eine große Eule daherfliegen und sich auf einen der Bäume setzen, die an der Straße entlang standen. Gleich darauf begann eine Horneule, die unter dem Dachfirst saß, sich zu rühren und zu rufen: »Quiwitt, quiwitt! Bist du wieder da, Sumpfeule? Wie ist es dir denn im Ausland ergangen?«

»Hab‘ Dank, Horneule! Mir ist es gut gegangen,« sagte die Sumpfeule, »Hat sich hier in der Heimat etwas Besonderes zugetragen, seit ich fort war?«

»Nicht hier in Bleking, Sumpfeule, aber in Schonen geschah es, daß ein Junge von einem Kobold verhext wurde und so klein gemacht worden ist wie ein Eichhörnchen, und dann ist er mit einer zahmen Gans nach Lappland gereist.«

»Das ist doch eine merkwürdige Nachricht, eine merkwürdige Nachricht. Kann er denn nie wieder ein Mensch werden, Horneule? Kann er nie wieder ein Mensch werden?«

»Das ist ein Geheimnis, Sumpfeule, aber ich will es dir trotzdem anvertrauen. Der Kobold hat gesagt, wenn der Junge gut acht gibt auf den zahmen Gänserich, so daß der wohlbehalten wieder heimgelangt, so …«

»Was weiter, Horneule? Was weiter? Was weiter?«

»Fliege mit nach dem Kirchturm hinauf, Sumpfeule, dann will ich es dir alles erzählen! Ich fürchte, es könnte mitten auf der Straße jemand sein, der lauscht.«

Damit flogen die Eulen von dannen, der Junge aber warf seine Mütze hoch in die Luft hinauf. »Wenn ich nur gut acht auf den Gänserich gebe, so komme ich wohlbehalten wieder nach Hause, dann werde ich wieder ein Mensch. Hurra! Hurra! Dann werde ich wieder ein Mensch!«

Er rief ganz laut Hurra, und es war merkwürdig, daß sie ihn nicht drinnen in den Häusern hörten. Aber das taten sie nicht, und er eilte, so schnell seine Füße ihn nur tragen wollten, wieder zu den wilden Gänsen in das nasse Moor hinaus.

VII. Die Treppe mit den drei Stufen

Donnerstag, den 31. März.

Am nächsten Tage wollten die wilden Gänse nordwärts durch die Allboer Harde in Smaaland ziehen. Sie sandten Yksi und Kaksi als Späher voraus, aber als diese zurückkamen, sagten sie, alles Wasser sei gefroren und die ganze Erde mit Schnee bedeckt. »Bleiben wir doch lieber, wo wir sind,« sagten die wilden Gänse. »Wir können nicht über ein Land hinfliegen, wo weder Wasser noch Gras ist.« – »Wenn wir bleiben, wo wir sind, müssen wir noch einen ganzen Mondwechsel warten,« sagte Akka. »Es ist besser ostwärts durch Blekinge zu fliegen und zu versuchen, ob wir dann über Smaaland durch die Mörer Harde kommen können, die an der Küste liegt, und wohin der Lenz früh gelangt.«

So flog denn der Junge am nächsten Tage über Bleking hin. Es war ziemlich schlechtes Wetter, aber es war hell. Er war wieder in seiner richtigen Laune und konnte nicht begreifen, was am gestrigen Abend mit ihm vorgegangen war. Jetzt wollte er wahrlich die Reise und das Leben in der Wildnis nicht aufgeben.

Über Bleking lag ein dichter Regennebel. Der Junge konnte nicht sehen, wie es hier aussah. »Ich möchte wohl wissen, ob es ein gutes oder ein schlechtes Land ist, über das ich hinwegreite,« dachte er und versuchte aus seinem Gedächtnis herauszugraben, was er in der Schule über Bleking gelernt hatte. Aber er wußte eigentlich sehr wohl, daß das nichts nützen konnte, denn er hatte ja in der Regel seine Schulaufgaben nicht gelernt.

Im selben Augenblick sah der Junge die ganze Schule vor sich. Die Kinder saßen an den kleinen Pulten und hoben die Hände in die Höhe, der Lehrer saß auf dem Katheder und sah mißvergnügt aus, und er selber stand oben vor der Karte und sollte eine Frage über Bleking beantworten, aber er konnte kein Wort. Das Gesicht des Lehrers wurde mit jeder Sekunde, die verging, finsterer, und der Junge dachte daran, daß der Lehrer strenger darauf gehalten hatte, daß sie ihre Geographie wußten als irgend etwas anderes. Jetzt stieg er auch vom Katheder herunter, nahm dem Jungen den Zeigestecken weg und schickte ihn auf seinen Platz zurück. »Dies nimmt noch ein Ende mit Schrecken,« dachte der Junge.

Aber der Lehrer trat an eins der Fenster, blieb dort eine Weile stehen und sah hinaus, und dann fing er an zu pfeifen. Jetzt stieg er wieder auf den Katheder hinauf und sagte, er wolle ihnen etwas von Bleking erzählen. Und was er erzählte, war so amüsant, daß der Junge zuhörte. Sobald er nachdachte, konnte er sich jedes Wortes entsinnen.

»Smaaland ist ein hohes Haus mit Tannenbäumen auf dem Dach,« sagte der Lehrer. »Und davor liegt eine breite Treppe mit drei großen Stufen, und die Treppe heißt Bleking.

Es ist eine Treppe, die sich sehen lassen kann. Sie erstreckt sich acht Meilen an der Vorderseite des Smaaländer Hauses entlang, und wer die Treppe ganz hinabgehen will, bis an die Ostsee, der hat vier Meilen zu gehen.

Es ist auch ein tüchtiges Stück Zeit her, seit die Treppe erbaut wurde. Es sind Tage und Jahre vergangen, seit die ersten Stufen aus dem Granit gehauen und eben und glatt gelegt wurden als bequemer Verkehrsweg zwischen Smaaland und der Ostsee.

Da die Treppe so alt ist, kann man wohl begreifen, daß sie jetzt nicht mehr so aussieht wie damals, als sie noch neu war. Ich weiß nicht, wieviel sie sich in jenen Zeiten aus der Reinlichkeit machten, aber sie war zu groß, als daß irgendein Besen auf der Welt sie hätte rein halten können. Nach Verlauf von ein paar Jahren fing eine Menge Moos und Flechten an darauf zu wachsen; welkes Gras und welke Blätter wehten im Herbst darauf herunter und im Frühling stürzten Steine und Kies darauf nieder. Und da das alles liegen blieb, sammelte sich schließlich so viel schwarze Erde auf der Treppe an, daß nicht nur Kräuter und Gras, sondern auch Büsche und große Bäume Wurzeln schlagen konnten.

Es macht sich trotzdem ein großer Unterschied zwischen den drei Treppenstufen geltend. Die oberste, die Smaaland am nächsten liegt, ist zum größten Teil mit magerer Erde und kleinen Steinen bedeckt, und da können natürlich keine andern Bäume wachsen als Weißbirke und Faulbaum und Tanne, die die Kälte da oben auf der Höhe zu ertragen vermögen und mit wenigem zufrieden sind. Man versteht am allerbesten, wie jammervoll und armselig sie ist, wenn man sieht, wie klein die Pflanzen sind, die aus dem Walde genommen und dort gepflanzt wurden, und wie klein die Häuser sind, die sich die Leute dort bauen, und wie weit der Weg zwischen den einzelnen Kirchen ist.

Auf der mittleren Stufe ist gleich bessere Erde, und die Kälte bindet sie hier auch nicht so strenge; das kann man leicht daran sehen, daß die Bäume höher und von besserer Art sind. Da wächst Ahorn und Eiche und Linde, Hängebirke und Haselstaude, aber keine Nadelbäume. Und noch besser kann man es daran sehen, daß eine Menge Erde urbar gemacht ist und die Leute sich hübsche, große Häuser gebaut haben. Da sind viele Kirchen auf der mittleren Stufe, und sie sind von großen Dörfern umgeben, und diese Stufe nimmt sich nach jeder Richtung hin besser aus als die obere.

Die allerunterste Stufe ist aber doch die beste. Sie ist mit wirklich guter und reichlicher schwarzer Erde bedeckt, und wie sie da so liegt und im Meere schwimmt, spürt sie nicht das geringste von der Smaalandkälte. Hier unten können Buchen und Kastanien und Wallnußbäume gedeihen, und sie werden so groß, daß sie über die Kirchendächer hinüberreichen. Hier findet man auch die größten Felder, aber die Leute haben nicht allein Landwirtschaft und Waldwirtschaft als Erwerb, sie treiben auch Fischerei und Handel und Seefahrt. Deswegen trifft man hier auch die schönsten Kirchen, und die Dörfer sind zu Flecken und Städten herangewachsen.

Hiermit ist aber noch nicht alles über die drei Stufen gesagt. Denn man muß bedenken, daß, wenn es oben auf das Dach des großen Smaalandhauses regnet, oder wenn der Schnee da oben schmilzt, das Wasser notwendigerweise irgendwohin laufen muß, und dann stürzt naturgemäß eine große Menge davon die breite Treppe hinab. Zu Anfang floß es wohl die ganze Treppe in ihrer vollen Breite herunter, aber dann entstanden Risse darin, und jetzt hat sich das Wasser nach und nach daran gewöhnt, in einigen gut vertieften Rinnen abzulaufen. Und Wasser ist Wasser, was man auch damit macht. Es ist nie in Ruhe. Irgendwo gräbt und höhlt es und führt mit sich fort, und an einer andern Stelle fügt es hinzu. Die Rinnen hat es zu Tälern ausgegraben, die Talwände hat es mit Erde bedeckt, und daran haben sich Büsche und Ranken und Bäume festgeklammert, so dicht und so reich, daß sie fast den Strom verbergen, der unten in der Tiefe fließt. Aber wenn die Ströme zu den Absätzen zwischen den Stufen gelangen, müssen sie sich kopfüber auf sie hinabstürzen und dadurch gerät das Wasser in eine so brausende Geschwindigkeit, daß es Kräfte erlangt, Mühlräder und Maschinen zu treiben, und deren sind auch viele dort bei jedem Wasserfall emporgewachsen.

Hiermit ist jedoch nicht alles über das Land mit den drei Stufen gesagt. Das aber soll noch gesagt werden, daß da oben in Smaaland in dem großen Haus einstmals ein Riese wohnte, der alt geworden war. Und es ergrimmte ihn, daß er in seinem hohen Alter gezwungen sein sollte, die lange Treppe hinabzugehen, um in der See Lachs zu fischen. Er fand, es sei bequemer, wenn die Lachse zu ihm hinaufkämen, da, wo er wohnte.

Deswegen stieg er auf das Dach seines großen Hauses, und da stand er und warf Steine in die Ostsee hinein. Er warf sie mit großer Kraft, daß sie über ganz Bleking flogen und ins Meer hinabfielen. Und als die Steine fielen, erschrak der Lachs so sehr, daß er aus dem Meer herausstieg, den Strom in Bleking aufwärts flüchtete, durch die Gießbäche dahinstürzte, sich mit großen Sprüngen die Wasserfälle hinaufwarf und erst haltmachte, als er weit drinnen in Smaaland bei dem alten Riesen angelangt war.

Daß dies wahr ist, kann man an den vielen kleinen Inseln und Klippen sehen, die an der Küste von Bleking liegen, und die nichts anderes sind als die vielen, großen Steine, die der Riese hinabgeworfen hat.

Man kann es auch daran sehen, daß der Lachs noch heute in die Blekinger Ströme hinaufgeht und sich durch Gießbäche und stilles Wasser ganz bis nach Smaaland hinaufarbeitet.

Aber die Bewohner von Blekinge sind dem Riesen zu großem Dank verpflichtet, denn der Lachsfang in den Strömen und die Steinhauerei in den Schären ist eine Arbeit, die noch heutigen Tages viele von ihnen ernährt.«

XXVI. Im Bergwerkdistrikt

Donnerstag, 28. April.

Die wilden Gänse hatten eine beschwerliche Reise. Es war ihre Absicht gewesen, gleich nordwärts über Westmanland zu fliegen, sobald sie ihr Frühstück auf den Feldern von Fellingbro verzehrt hatten, aber der Westwind nahm an Stärke zu und verschlug sie statt dessen nach Osten, ganz hinauf an die Grenze von Uppland.

Sie flogen hoch oben, und der Wind jagte sie in gewaltiger Fahrt vor sich her. Der Junge saß da und guckte hinab, um sich einen Begriff davon zu machen, wie es in Westmanland aussah, aber er konnte nichts recht unterscheiden. Er sah wohl, daß es hier in dem östlichen Teil der Landschaft flach und niedrig war, aber er konnte nicht begreifen, was für Furchen und Striche es waren, die von Norden nach Süden quer über die Ebene liefen. Es sah höchst sonderbar aus, denn alle Streifen liefen fast ganz gerade und mit gleich großem Zwischenraum.

»Dies Land ist ganz so gestreift wie die Schürze meiner Mutter,« sagte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, was für Streifen das sind, die quer über das Ganze hinlaufen.«

»Bäche und Bergrücken, Wege und Eisenbahnen,« antworteten die Wildgänse. »Bäche und Bergrücken, Wege und Eisenbahnen.«

Und es verhielt sich wirklich so, denn als die Gänse gen Osten getrieben wurden, flogen sie zuerst über den Hedeström, der zwischen zwei Bergrücken dahinläuft und eine Eisenbahn an der Seite hat. Und dann kamen sie an den Kolbäckaa, der eine Eisenbahn an der einen Seite hat und an der anderen einen Bergrücken mit einer Landstraße. Darauf stießen sie auf den Svartaa; an dem laufen auch Bergrücken und Landwege entlang, dann auf den Lilleaa mit dem Badelundaas und schließlich auf den Sagaa, der an seinem rechten Ufer sowohl Landstraße als auch Eisenbahn hat.

»Nie habe ich so viele Wege gesehen, die alle von der einen Seite kommen,« dachte der Junge. »Da müssen viele Waren sein, die von Norden her hier durch das Land geführt werden sollen.«

Doch fand er, daß das sonderbar war, denn er glaubte, daß es nördlich von Westmanland gleichsam mit Schweden aus sei. Was noch vom Lande übrig war, könne wohl kaum etwas anderes sein als Wald und Wildnis, dachte er.

Als der Wind die Wildgänse ganz bis an den Sagaa hinübergetrieben hatte, wurde es Akka offenbar klar, daß sie ganz anders wohin gekommen waren, als sie beabsichtigt hatte, denn hier machte sie mit ihrer Schar kehrt und begann, sich in starkem, widrigem Wind nach Westen zurückzukämpfen, Sie flogen also noch einmal über die gestreifte Ebene und setzten dann den Weg nach dem westlichen Teil der Landschaft fort, der aus waldreichem Hügelland bestand.

Solange der Junge über der Ebene flog, saß er über den Hals der Gans gebeugt da und sah hinab, als aber die Ebene aufhörte und er sah, daß große Waldgegenden vor ihm lagen, richtete er sich auf und dachte, jetzt wolle er seine Augen ausruhen, denn dort, wo die Erde von Wald bedeckt war, lohnte es sich selten, Ausguck zu halten.

Als sie eine Weile über waldbedeckte Bergrücken und kleine Seen dahingeflogen waren, hörte der Junge unten auf der Erde etwas, das gleichsam winselte und klagte.

Da war er ja gezwungen, sich vornüber zu beugen und hinabzusehen. Die Wildgänse flogen jetzt nicht gerade schnell, da sie gegen den Wind ankämpften, so konnte er denn das Land unter sich ganz deutlich sehen. Das erste, was er entdeckte, war ein großes Loch, das gerade in die Erde hineinging. Über dem Loch war ein Hebewerk aus dicken Balken errichtet, und das Hebewerk holte gerade in diesem Augenblick unter Kreischen und Winseln eine Tonne herauf, die mit Steinen angefüllt war. Ringsumher lagen große Steinhaufen, eine Dampfmaschine stand in einem Schuppen und schnob, Frauen und Kinder saßen in einem Rundkreis an der Erde und suchten Steine aus, auf einer schmalen Pferdebahn rollten einige mit grauen Steinblöcken beladene Wagen dahin, und am Waldessaum lagen kleine Arbeiterwohnungen.

Der Junge konnte nicht begreifen, was das alles war, und er rief aus vollem Halse hinab: »Was für ein Ort ist das, wo sie so viele Feldsteine aus der Erde herausholen?«

»Hör‘ doch nur einer den Dummkopf! Hör‘ doch nur einer den Dummkopf!« zwitscherten die Spatzen, die an dem Ort beheimatet waren und gut Bescheid wußten. »Er kennt keinen Unterschied zwischen Feldsteinen und Eisenerz!«

Da begriff der Junge, daß das, was er sah, eine Grube war. Er war ein wenig enttäuscht, denn er hatte gedacht, eine Grube müsse auf einem hohen Berg liegen, diese aber lag auf der flachen Erde zwischen zwei Bergrücken.

Bald ließen sie sie hinter sich, und der Junge saß wieder da und starrte geradeaus, denn die tannenbewaldeten Bergrücken und die Birkenhaine, die unter ihm lagen, meinte er schon so häufig gesehen zu haben. Da merkte er, daß eine starke Wärme von der Erde zu ihm hinaufschlug, und sogleich mußte er hinabgucken, um zu sehen, woher sie kam.

Unter ihm lagen große Haufen aus Kohle und Erz, und mitten dazwischen stand ein hohes, achteckiges, rotgestrichenes Gebäude, das ein helles Flammenbündel zum Himmel emporsandte.

Anfänglich glaubte der Junge, daß es eine Feuersbrunst sei, da aber sah er, daß die Leute da unten ganz ruhig umhergingen, ohne sich auch nur das geringste um das Feuer zu kümmern, und nun konnte er nicht begreifen, wie das zusammenhing.

»Was für ein Ort ist dies, wo sich niemand darum kümmert, daß ein Haus in hellen Flammen steht?« rief der Junge hinab.

»So ein Feigling! hat Angst vor dem Feuer!« zwitscherten die Buchfinken, die am Waldessaum wohnten und von allem, was sich in der Nachbarschaft zutrug, genau Bescheid wußten. »Er weiß nicht, wie das Eisen aus dem Erz herausgeschmolzen wird. Er kennt nicht den Unterschied zwischen dem Feuer aus einem Schmelzofen und einer Feuersbrunst!«

Bald ließen sie den Schmelzofen hinter sich, und wieder saß der Junge da und sah gerade vor sich hin, denn er glaubte, daß in dieser Waldgegend nicht viel zu sehen sei. Aber sie waren noch nicht weit geflogen, als er unten von der Erde einen fürchterlichen Lärm und Spektakel aufsteigen hörte.

Als er hinabsah, erblickte er erst einen kleinen Bach, der mit starkem Gefälle eine Bergwand hinabstürzte. Neben dem Wasserfall lag ein großes Gebäude mit schwarzem Dach und hohem Schornstein, der einen dicken, mit Funken vermischten Rauch entsandte. Vor dem Gebäude lagen Eisenklumpen und Eisenstangen und ganze Berge von Kohlen. Die Erde war in weitem Umkreis schwarz, und nach allen Seiten gingen schwarze Wege. Aus dem Gebäude ertönte ein unbeschreiblicher Lärm. Es bullerte und prustete. Es klang, als wenn jemand mit starken Schlägen versuchte, sich gegen ein fauchendes, wildes Tier zu verteidigen. Aber das Sonderbare war, daß niemand sich darum kümmerte, was da vor sich ging. Eine Strecke weiter lagen Arbeiterwohnungen unter grünen Bäumen, und noch ein wenig weiter ragte ein großes, weißes Herrenhaus auf. Aber vor den Arbeiterwohnungen spielten die Kinder ganz ruhig, und in der Allee, die zu dem Herrenhaus hinaufführte, gingen Leute in höchster Gemütsruhe.

»Was für ein Ort ist dies, wo sich niemand darum kümmert, daß die da im Hause einander totschlagen?« rief der Junge auf die Erde hinab.

»Hak, ak, ak! Weiß der aber gut Bescheid! Hak, ak, ak!« schnatterte eine Elster. »Da wird niemand in Stücke zerrissen. Es ist das Eisen, das siedet und sprüht, wenn es unter den Hammer gelegt wird.«

Bald ließen sie das Eisenwerk hinter sich, und der Junge saß wieder da und sah geradeaus, denn er dachte, hier in der Waldgegend könne nicht viel zu sehen sein.

Als sie eine Weile geflogen waren, hörte er eine Glocke läuten, und er mußte noch einmal hinabgucken, um zu sehen, woher der Ton kam.

Da sah er unter sich einen Bauerhof, wie er nie etwas Ähnliches gesehen hatte. Das Wohnhaus war ein langes, rotgestrichenes, einstöckiges Gebäude, und es war nicht so übermäßig groß, aber was ihn in Erstaunen versetzte, das waren alle die großen, gutgebauten Wirtschaftsgebäude, die es umgaben. Der Junge wußte ungefähr, wie viele Wirtschaftsgebäude zu einem Hofe gehören, aber hier hatten sie offenbar das Doppelte oder Dreidoppelte von allem. So einen Überfluß von Gebäuden hatte er sich nicht träumen lassen. Und er konnte auch nicht begreifen, was darin aufgehoben werden sollte, denn da waren fast gar keine Felder in der Nähe des Hofes. Er sah einige kleine Felder drinnen im Walde, aber teils waren sie so klein, daß er sie kaum Felder nennen würde, teils war schon auf einem jeden eine Scheune, um aufzunehmen, was da geerntet werden konnte.

Auf dem Stalldach hing die Essenglocke unter einer Kapuze, und die hatte geläutet. Der Hausherr ging mit seinen Knechten in die Küche, und der Junge sah, daß er viele und gutgewachsene Leute hatte.

»Was für Leute sind das, die solche große Gehöfte mitten in den Wald bauen, wo gar keine Felder sind?« rief der Junge auf die Erde hinab.

Der Hahn stolzierte auf dem Misthaufen und blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

»Alter Bergmannshof. Alter Bergmannshof,« krähte er. »Die Felder liegen unter der Erde! die Felder liegen unter der Erde!«

Jetzt wurde es dem Jungen klar, daß es keine gewöhnliche Waldgegend war, über die man hinwegfliegen konnte, ohne sie zu beachten. Wälder und Berge waren da freilich überall, aber es lagen eine unglaubliche Menge von sonderbaren Orten darin versteckt.

Da waren Grubenfelder, wo die Hebebäume kurz davor waren umzufallen, und wo die Erde von Grubenlöchern durchbohrt war, und da waren Grubenfelder, wo noch immer gearbeitet wurde, wo man die dumpfen Sprengschüsse bis zu den Wildgänsen hinauf hören konnte, und wo ganze Städte und Arbeiterwohnungen aus dem Waldessaum auftauchten. Da waren alte, verlassene Schmieden, wo der Junge durch das zusammengestürzte Dach auf mächtige, eisenbeschlagene Hammerschäfte und plump gemauerte Öfen hinabsehen konnte, und da waren große, neuangelegte Eisenwerke, wo gearbeitet und gehämmert wurde, daß die Erde erbebte. Da waren kleine Städte mitten in der Wildnis; sie lagen ganz still und sahen so aus, als wüßten sie nichts von dem Lärm ringsumher. Da gingen Drahtbahnen durch die Luft, an denen erzbeladene Körbe lautlos entlang glitten. In allen Gießbächen schnurrten Räder, elektrische Leitungen liefen durch den stummen Wald, und endlos lange Eisenbahnzüge kamen mit sechzig, siebzig Wagen dahergerollt, die bald mit Erz und Kohlen, bald mit Eisenstangen, Eisenplatten und Stahldraht beladen waren.

Als der Junge eine Weile still dagesessen und das alles betrachtet hatte, konnte er sich nicht länger ruhig verhalten. »Wie heißt doch nur dies Land, wo nichts weiter wächst als Eisen?« fragte er, obwohl er wußte, daß die Vögel unten auf der Erde sich über ihn lustig machen würden.

Da fuhr eine alte Eule, die in einer verlassenen Schmelzhütte saß und schlief, aus ihrem Schlaf auf. Sie streckte ihren runden Kopf aus und rief mit ihrer unheimlichen Stimme: »Uhu, uhu, uhu! Dies Land heißt Bergwerkdistrikt! Wüchse hier kein Eisen, so wohnte hier heutigentags niemand als Eulen und Bären.«

Ende des ersten Bandes.

XXII. Der wunderschöne Garten

Sonntag, 24. April.

Am nächsten Tage flogen die wilden Gänse nordwärts über Sörmland. Der Junge saß da und sah auf die Gegend herab und dachte bei sich, sie gleiche keiner der Gegenden, die er bisher gesehen hatte. Da waren keine großen Ebenen wie in Schonen und Ostgotland und keine großen, zusammenhängenden Wälder wie in Smaaland, aber da war eine Mischung von allem möglichen. »Hier haben sie einen großen See und einen großen Elf und einen großen Wald und einen großen Berg genommen und es alles kurz und klein gehackt und dann zusammengemischt und bunt durcheinander auf der Erde ausgebreitet,« dachte der Junge, denn er sah nichts weiter als kleine Täler und kleine Seen und kleine Berge und kleine Wälder. Nichts durfte sich so recht ausbreiten. Sobald eine Ebene im Begriff war, groß zu wachsen, kam ein Hügel und stellte sich ihr in den Weg, und wenn sich der Hügel zu einem Gipfel erheben wollte, so begann die Ebene von neuem. Sobald ein See so groß wurde, daß es nach etwas aussah, wurde er zu einem Bach eingegrenzt, und auch der Bach durfte nicht lange laufen, ehe er sich zu einem See erweiterte. Die Wildgänse flogen so nahe an der Küste entlang, daß der Junge über das Meer hinaussehen konnte, und er hatte bemerkt, daß es auch dem Meer nicht gestattet war, seine große Fläche auszubreiten, sondern daß es von einer Menge von Inseln unterbrochen wurde, und die Inseln wurden auch nicht groß, ehe das Meer wieder in seine Rechte eintrat. Es war ein beständiges Wechseln. Nadelwald wechselte mit Laubholz, Felder mit Mooren und Herrenhöfe mit Häuslerwohnungen.

Es waren gar keine Menschen draußen auf den Feldern bei der Arbeit, statt dessen gingen sie auf Wegen und Stegen. Die kamen aus den kleinen Waldhäuschen am Abhang des Kolmårds heraus, in schwarzen Kleidern, mit Gesangbuch und Taschentuch in der Hand. »Es ist wohl Sonntag heute,« dachte der Junge und saß da und sah auf die Kirchgänger hinab. An einer Stelle sah er ein Brautpaar, das mit großem Gefolge zur Kirche fuhr, und an einer anderen Stelle kam ein Leichenzug langsam den Weg entlang gefahren. Er sah große herrschaftliche Kutschen und kleine Bauernkarren, und er sah Boote draußen auf dem See, alle auf dem Wege zur Kirche.

Der Junge flog über die Björkviker Kirche und über Bettna und Blacksta und Vådsbro und darauf auf Sköldinge und Floda zu. Überall hörte er die Glocken läuten. Es klang wirklich wunderschön oben in der Luft. Es war, als sei die ganze klare Luft zu Klängen und Tönen geworden.

»Eins ist wenigstens sicher,« sagte der Junge, »daß überall hier im Lande, wohin ich komme, stets Kirchen mit läutenden Glocken sein werden.« Und es überkam ihn ein Gefühl der Geborgenheit bei dem Gedanken, denn obwohl er nun in einer andern Welt lebte, war es doch, als könne er sich nicht ganz verirren, so lange die tiefen Stimmen der Kirchenglocken ihn zurückzurufen vermochten.

Sie waren eine gute Strecke über Sörmland landeinwärts geflogen, als der Junge einen dunklen Fleck gewahrte, der sich unter ihnen auf der Erde bewegte. Zuerst glaubte er, es sei ein Hund, und er hätte wohl nicht weiter darauf geachtet, wenn er nicht bemerkt hätte, daß er sich bemühte, denselben Kurs zu halten wie sie. Er stürzte dahin über das offene Land und durch die kleinen Wälder, sprang über Gräben, setzte über Hecken und ließ sich durch nichts zurückhalten.

»Es scheint fast, als wenn Reineke Fuchs wieder sein Spiel treibt,« sagte der Junge, »aber wir werden ihm schon entkommen.«

Gleich darauf steigerten die Wildgänse ihren Flug zu der stärksten Schnelligkeit, zu der sie überhaupt imstande waren, und hielten damit an, solange der Fuchs sichtbar war. Als er sie nicht mehr sehen konnte, machten sie Kehrt und flogen in einem großen Bogen gen Westen und Süden, fast, als sei es ihre Absicht, wieder nach Ostgotland zurückzufliegen. »Es ist doch wohl Reineke gewesen!« dachte der Junge, »da Akka so abbiegt und einen anderen Weg einschlägt.«

Am Abend dieses Tages flogen die Wildgänse über einem alten sörmländischen Gut, das Store Djulö heißt. Das große, weiße Schloß lag da, mit einem Park aus Laubbäumen hinter sich und dem Store Djulösee mit seinen vorspringenden Landzungen und hügeligen Ufern vor sich. Es sah altmodisch und traulich aus, und dem Jungen wurde ganz schwer ums Herz, als sie über den Hof flogen und er daran dachte, wie es sein würde, nach beendeter Tagesreise auf so einen Hof zu kommen, statt in einem seichten Moor oder auf einer kalten Eisfläche abgesetzt zu werden.

Aber davon konnte natürlich keine Rede sein. Die Wildgänse ließen sich dahingegen ein Stück nördlich von dem Schloß auf einer Waldwiese nieder, die so von Wasser überschwemmt war, daß nur hier und da einige Grasbüschel hervorragten. Es war dies so ungefähr das elendste Nachtlager, das der Junge auf der ganzen Reise gehabt hatte.

Er blieb auf dem Rücken der Gans sitzen und wußte nicht recht, wie er sich einrichten sollte. Dann begann er von einem Grasbüschel auf den anderen zu hüpfen, in langen Sprüngen, bis er festen Grund unter den Füßen hatte, und dann lief er schnell nach der Seite, wo das alte Schloß lag.

Nun traf es sich so, daß in einem Hause, das zu Store Djulö gehörte, gerade an diesem Abend einige Menschen um den Feuerherd beisammen saßen und plauderten. Sie hatten über die Predigt gesprochen und über die Frühjahrsbestellung und das Wetter, und als der Unterhaltungsstoff auszugehen drohte, baten sie eine alte Frau, die Mutter des Häuslers, ihnen Gespenstergeschichten zu erzählen.

Nun ist es eine bekannte Sache, daß es nirgends in Schweden einen solchen Reichtum an Schlössern und an Gespenstergeschichten gibt wie in Sörmland. Die Alte hatte in ihrer Jugend auf vielen großen Gütern gedient, und sie wußte Bescheid von so mancherlei wunderlichen Dingen, daß sie bis an den lichten Morgen hätte erzählen können. Sie erzählte so gut und so glaubwürdig, daß ihre Zuhörer nahe daran waren, es alles zu glauben. Sie zuckten förmlich zusammen, als die Alte ein paarmal in ihrer Erzählung inne hielt und fragte, ob sie nichts pußeln hörten. »Könnt ihr denn nicht hören, daß hier etwas herumschleicht?« sagte sie. Aber die anderen konnten nichts hören.

Als die alte Frau Geschichten aus Eriksberg und Vibyholm und Julita und Lagmansö und aus vielen anderen Häusern erzählt hatte, fragte einer, ob sich nie etwas dergleichen auf Stör Djulö zugetragen habe. »Ja, davon ist auch allerlei zu erzählen,« sagte die Alte. Und da wollten sie dann alle die Sagen hören, die sich auf ihrem eigenen Schloß abgespielt hatten.

Und so erzählte denn die Alte, daß einstmals ein Schloß nördlich von Stör Djulö auf einem Hügel gelegen haben solle, wo jetzt nichts weiter war als Wald, und zu dem Schloß gehörte ein wunderschöner Garten. Da geschah es einmal, daß einer, der Herr Karl hieß, und der zu jenen Zeiten über ganz Sörmland regierte, nach dem Schloß kam. Und als er gegessen und getrunken hatte, ging er in den Garten hinaus und stand lange da und sah über den Store Djulösee mit seinen schönen Ufern hin. Und wie er so dastand und sich über das freute, was er sah, und bei sich dachte, ein schöneres Land als Sörmland gebe es doch nicht auf der Welt, hörte er jemand hinter sich tief seufzen. Da wandte er sich um und sah einen alten Tagelöhner, der über seinen Spaten gebeugt stand. »Bist du es, der so tief seufzt?« fragte Herr Karl. »Was hast du nur zu seufzen?« – »Ich soll wohl seufzen, daß ich hier Tag aus, Tag ein arbeiten muß,« antwortete der Tagelöhner. Aber Herr Karl hatte einen heftigen Sinn und konnte es nicht leiden, wenn Leute klagten. »Hast du keinen weiteren Grund zur Klage?« rief er. »Ich sage dir, ich würde zufrieden sein, wenn ich mein Leben lang in Sörmlands Erde graben könnte.« – »Möge es Euer Gnaden gehen, wie Ihr wünschet!« entgegnete der Tagelöhner.

Später aber sagte man, Herr Karl habe, als er tot war, wegen dieser Worte keine Ruhe in seinem Grabe gefunden, sondern er sei jede Nacht nach Store Djulö gekommen und habe in seinem Garten gegraben. »Ja, jetzt ist da ja weder ein Schloß noch ein Garten mehr; da, wo das einstmals gelegen, ist nur ein ganz gewöhnlicher Waldhügel. Aber es kann wohl geschehen, daß wer in einer dunklen Nacht durch den Wald geht, den Garten erblickt.«

Hier hielt die Alte inne und sah aufmerksam nach einer dunklen Ecke hinüber. »Rührte sich da nicht eben etwas?« fragte sie.

»Bewahre, Mutter, erzählt Ihr nur weiter!« sagte die Schwiegertochter. »Ich sah gestern, daß die Mäuse da in der Ecke ein großes Loch genagt haben, aber ich hatte soviel anderes zu tun, daß ich vergaß, es zuzustopfen. Erzählt Ihr uns nur, ob jemand den Garten gesehen hat.«

»Ja,« sagte die Alte, »ihr müßt wissen, daß mein eigener Vater ihn einmal gesehen hat. In einer Sommernacht kam er durch den Wald gegangen, und plötzlich sah er neben sich eine hohe Gartenmauer, und über der Mauer konnte er die herrlichsten Bäume erkennen; die waren so voller Blüten und Früchte, daß die Zweige tief über die Mauer herabhingen. Mein Vater ging ganz still näher heran und konnte nicht begreifen, woher der Garten gekommen war. Da tat sich plötzlich ein Tor in der Mauer auf, und ein Gärtner kam heraus und fragte meinen Vater, ob er seinen Garten nicht sehen wollte. Der Mann hatte einen Spaten in der Hand und er trug eine große Schürze so wie andere Gärtner, und Vater wollte gerade mit ihm gehen, als er einen Blick auf sein Gesicht warf. Im selben Augenblick erkannte mein Vater die spitze Stirnlocke und den Spitzbart. Es war leibhaftig Herr Karl, so wie mein Vater ihn auf Bildern abgebildet gesehen hatte, die in all den Schlössern hingen, wo Vater …«

Hier wurde die Geschichte von neuem unterbrochen. Jetzt war es ein Scheit Holz, das sprühte, so daß Funken und glühende Kohlen auf den Fußboden flogen. Einen Augenblick wurde es hell in all den dunklen Ecken der Stube, und die Alte glaubte, einen Schimmer von einem Wicht gesehen zu haben, der neben dem Mauseloch saß und der Geschichte lauschte, sich jetzt aber beeilte davonzukommen.

Die Schwiegertochter holte Besen und Aufnehmer, fegte die glühenden Kohlen zusammen und setzte sich wieder hin. »Erzählt doch weiter, Mutter!« sagte sie. Aber die Alte wollte nicht. »Jetzt mag es genug sein für heute abend,« sagte sie, und ihre Stimme klang so sonderbar. Die anderen fuhren fort, sie zu bitten, aber die Schwiegertochter sah, daß die Alte blaß geworden war, und daß ihre Hände zitterten. »Nein, jetzt ist Mutter müde und muß zu Bett,« sagte sie.

Bald darauf kam der Junge wieder in den Wald zu den Wildgänsen zurück. Er nagte an einer Mohrrübe, die er vor dem Keller aufgelesen hatte und fand, daß er eine herrliche Abendmahlzeit bekommen hatte. Er war so froh, daß er mehrere Stunden in der warmen Stube hatte sitzen können. »Hätte ich jetzt nur ein gutes Nachtquartier,« dachte er.

Da fiel ihm ein, daß er nichts Besseres tun könne, als sein Nachtlager in einer buschigen Tanne zu suchen, die am Wege stand. Er schwang sich in den Baum hinauf und flocht ein paar Zweige zusammen, so daß er ein Bett hatte, in dem er liegen konnte.

Da lag er eine Weile und dachte an all das, was er in dem Bauerhäuschen gehört hatte, und vor allem von diesem Herrn Karl, der, wie man sagte, hier im Djulöer Walde spuken sollte. Schlief aber bald ein, und hätte sicher bis an den hellen Morgen geschlafen, wenn er nicht davon erwacht wäre, daß eine kreischende eiserne Pforte gerade unter ihm geöffnet wurde.

Der Junge ist sofort wach, reibt den Schlaf aus den Augen und sieht sich um. Ganz in seiner Nähe ist eine Mauer, so hoch wie ein Mann, und über der Mauer sieht man Bäume, die fast unter der Last ihrer Früchte brechen.

Anfänglich findet er, daß dies sehr sonderbar ist. Als er sich schlafen legte, waren da keine Obstbäume. Aber sobald er sich besonnen hat, weiß er, was für ein Garten es ist.

Das Sonderbarste von allem aber ist vielleicht, daß er gar nicht bange wird, sondern im Gegenteil eine unbezwingliche Lust empfindet, in den Garten hineinzugehen. Oben in der Tanne, wo er liegt, ist es dunkel und kalt, aber drinnen im Garten ist es hell, und es deucht ihm, als könne er Früchte und Rosen in dem starken Sonnenschein glühen sehen. Es würde gut tun, sich von der Sonne bescheinen zu lassen nach all der Kälte und dem Wind und den Regen, worunter er hat leiden müssen.

Es scheint auch nichts im Wege zu sein, daß er in den Garten kommen kann. Dicht neben der Tanne, wo der Junge liegt, ist ein Tor in der hohen Mauer, und ein alter Gärtner hat gerade die großen, eisernen Türen geöffnet. Nun steht er im Tor und sieht unverwandt in den Wald hinein, als erwarte er jemand.

Sofort ist der Junge vom Baum herunter. Er geht, die Mütze in der Hand, auf den Gärtner zu, verbeugt sich und fragt, ob es erlaubt ist, den Garten zu besehen.

»Bitte schön,« antwortet der Gärtner. »Tritt nur ein!«

Dann zieht er die Türen zu und verschließt sie mit einem schweren Schlüssel, den er in seinen Gürtel steckt. Währenddessen steht der Junge da und sieht ihn an. Er hat ein steifes, unbewegliches Gesicht mit einem großen Knebelbart, Spitzbart und Adlernase. Hätte er nicht eine blaue Gärtnerschürze umgehabt und einen schweren Spaten in der Hand gehalten, so würde ihn der Junge für einen alten Soldaten gehalten haben.

Der Gärtner geht mit so langen Schritten in den Garten hinein, daß der Junge laufen muß, um mitzukommen. Sie gehen auf einem schmalen Steig, und der Junge tritt versehentlich in das Gras. Sofort erhält er einen Verweis, das Gras nicht niederzutreten, und dann läuft er hinter seinem Führer her.

Der Junge hat eine Empfindung, als halte sich der Gärtner eigentlich für zu fein, seinen Garten so einem Wechselbalg, wie er es ist, zu zeigen, und er wagt nicht, ihn nach etwas zu fragen, sondern läuft nur hinterdrein. Von Zeit zu Zeit wirft ihm der Gärtner ein Wort zu. Gleich hinter der Mauer befindet sich eine Hecke, und als sie da hindurchgehen, sagt er, die nenne er den Kolmård. »Ja, groß genug ist sie, um dem Namen zu entsprechen,« sagt der Junge. Aber der Gärtner macht sich nicht das geringste daraus, zu hören, was er sagt.

Dann kommen sie aus dem Buschwerk heraus, und der Junge kann ein großes Stück des Gartens übersehen. Er entdeckt gleich, daß er nicht gerade groß ist, nicht viel mehr als ein paar Tonnen Land. Die hohe Mauer beschützt ihn nach Süden und Westen zu, nach Norden und Osten aber ist er von Wasser umgeben, so daß keine Umfriedigung nötig ist.

Der Gärtner steht still, um eine Ranke aufzubinden, und währenddessen hat der Junge Zeit, sich umzusehen. Er hat nicht viele Gärten in seinem Leben gesehen, aber ein Gefühl sagt ihm, daß dieser verschieden von allen anderen ist. Er muß auf irgendeine altmodische Weise angelegt sein, denn eine solche wimmelnde Masse von kleinen Hügeln und kleinen Blumenbeeten und kleinen Hecken und kleinen Rasenflächen und kleinen Lusthäusern sieht man heutzutage nirgends. Und auch nicht so ein Gewimmel von kleinen Teichen und gewundenen Kanälen, wie man sie hier auf allen Seiten erblickt.

Überall stehen die prächtigsten Bäume und die lieblichsten Blumen, und das Wasser in den kleinen Kanälen ist dunkelgrün und klar, so daß sich alles darin spiegelt. Und der Junge findet, daß das Ganze wie ein Paradies ist. Er schlägt die Hände zusammen und ruft aus: »Nie im Leben hab‘ ich etwas so Hübsches gesehen! Was für ein Garten ist dies doch nur?«

Das ruft er ganz laut, und der Gärtner wendet sich sofort nach ihm um und sagt mit seiner barschen Stimme: »Dieser Garten heißt Sörmland. Wer bist denn du, daß du das nicht einmal weißt? Er hat immer für einen der besten Gärten im Lande gegolten.«

Dem Jungen wird ja ein wenig sonderlich zumute bei der Antwort, aber er hat so viel damit zu tun, sich gründlich umzusehen, daß er gar keine Zeit hat, darüber nachzudenken, was das bedeutet. So schön es ist mit allen den vielen Blumen und den Bächen, die sich dazwischen hindurchschlängeln, so ist da doch noch etwas Ergötzlicheres, nämlich alle die kleinen Lusthäuser und Puppenhäuser, mit denen der Garten angefüllt ist. Sie liegen überall, am meisten aber am Ufer der kleinen Teiche und Kanäle. Es sind keine richtigen Häuser. Sie sind so klein, als seien sie für Leute gebaut, die nicht größer sind als er, aber sie sind alle außerordentlich fein und niedlich. Da sind alle möglichen Arten: einige sehen aus wie Schlösser mit Türmen und Flügeln, andere wie Kirchen, und wieder andere wie Mühlen oder Bauerhäuser.

Sie sind so allerliebst, daß der Junge am liebsten stehen geblieben wäre, um sich jedes einzelne genauer anzusehen, aber er wagt nichts weiter zu tun, als dem Gärtner auf den Fersen zu folgen. Bald aber kommen sie an ein Gutshaus, das größer und schöner ist als irgend eins der anderen, an denen sie vorbeigekommen sind. Es ist dreistöckig mit einem Portal und vorspringenden Flügeln. Es liegt auf einem Hügel mitten zwischen Blumenanlagen, und der Weg dahin führt über einen Kanal nach dem anderen auf kleinen, zierlichen Brücken.

Der Junge wagt nicht vom Wege abzuweichen, aber als er an diesem allen vorübergehen muß, seufzt er so tief, daß der strenge Mann es hört und stehen bleibt. »Dies Haus da nenne ich Eriksberg,« sagt er. »Willst du da hinein, so magst du es meinetwegen gern tun, hüte dich aber vor der Pintorpa-Frau!«

Das läßt sich Niels nicht zweimal sagen. Er läuft die Allee hinab, über die kleinen Brücken, durch den Blumengarten hinauf und in das Tor hinein. Das Ganze scheint für so einen wie er zugeschnitten zu sein. Die Treppenstufen haben die passende Höhe, und er kann jedes Schloß erreichen. Nie hätte er sich aber träumen lassen, daß er so viel Schönes zu sehen bekäme. Die Fußböden sind aus Eichenholz und schimmern, gebohnert und blank. Die Decken sind gegipst und voll von gemalten Bildern. An den Wänden hängt ein Gemälde neben dem anderen. Die Möbel sind mit Seide überzogen, und das Holzwerk daran ist vergoldet. Er sieht Zimmer, dessen Wände ganz mit Büchern bedeckt sind, und er sieht Zimmer, in denen Tische und Schränke mit Kostbarkeiten angefüllt sind.

Wie sehr er sich auch beeilt, hat er doch noch nicht die Hälfte des Hauses besehen, als der Gärtner ihn ruft, und als er wieder hinauskommt, steht der Alte da und kaut vor Ungeduld auf seinem Knebelbart.

»Nun, wie ging es?« fragt der Gärtner. »Hast du die Pintorpa-Frau gesehen?«

Aber der Junge hat kein lebendes Wesen gesehen, und als er das sagt, verzerrt sich das Gesicht des Gärtners. »Hat die Pintorpa-Frau Ruhe gefunden und ich nicht?« sagt er, und der Junge hat nie eine Vorstellung davon gehabt, daß so viel Verzweiflung in einer Menschenstimme beben kann.

Dann geht der Gärtner wieder mit langen Schritten voran, und der Junge läuft hinterdrein und bemüht sich, soviel wie möglich von allen den merkwürdigen Dingen zu sehen. Sie gehen um einen Teich herum, der ein wenig größer ist als die anderen. Lange, weiße Pavillons, die Herrenhäusern gleichen, gucken überall aus dem Buschwerk und den Blumengruppen hervor. Der Gärtner bleibt nicht stehen, sondern wirft dem Jungen in der Eile von Zeit zu Zeit ein Wort hin. »Den Teich nenne ich Yngaran. Hier siehst du Danbyholm. Hier ist Hagbyberga. Hier ist Hovsta. Hier ist Återö.«

Bald darauf gelangt der Gärtner mit ein paar mächtigen Schritten an einen neuen, kleinen Teich, den er Båven rennt, da aber hört er den Jungen einen Schrei der Verwunderung ausstoßen, und nun bleibt er stehen. Der Junge steht vor einer kleinen Brücke, die zu einem Schloß führt, das in dem Teich liegt.

»Wenn du Lust hast, kannst du gern nach Vibyholm hinüberlaufen und dich dort umsehen,« sagt er. »Nimm dich aber vor der Weißen Dame in acht!«

Und der Knabe ist auf und davon, ehe der Gärtner noch ausgeredet hat. Dadrinnen sind so viele Porträts an den Wänden, daß es ihm scheint wie ein Bilderbuch. Es ist hier so ergötzlich, daß er gern die ganze Nacht dageblieben wäre, aber es währt nicht lange, da hört er den Gärtner rufen. »Komm jetzt! Komm jetzt!« ruft er. »Meinst du, ich hätte nichts weiter zu tun, als hier zu stehen und auf so einen Knirps wie dich zu warten!«

Als der Junge über die Brücke gelaufen kommt, ruft er ihm entgegen: »Nun, wie ist es dir ergangen? Hast du etwas von der weißen Dame gesehen?«

Der Junge hat kein lebendes Wesen gesehen, und das sagt er. Da haut der Alte den Spaten so gewaltsam gegen einen Stein, daß der Spaten zerspringt, und mit einer Stimme, die tief unten aus der fürchterlichsten Verzweiflung kommt, sagt er: »Hat die weiße Dame auf Vibyholm Ruhe gefunden und ich nicht?«

Bisher haben sie sich an den südlichen Teil des Gartens gehalten, aber nun geht der Gärtner nach dem westlichen Teil hinüber. Der ist anders angelegt. Da sind große, ebene Rasenflächen, die mit Erdbeerbeeten, Kohlgärten und Fruchtbüschen abwechseln. Hier sind auch viele von den kleinen Lusthäusern, aber die meisten sind rot angestrichen; sie gleichen Bauernhöfen und sind von Hopfengärten und Kirschenbäumen umgeben.

Hier bleibt der Gärtner nicht stehen, um den Jungen irgendwo hineinzulassen. Er sagt nur flüchtig: »Diese Gegend nenne ich Vingåker.«

Gleich darauf steht er vor einem kleinen Gebäude still, das viel einfacher ist als alle die anderen und am meisten Ähnlichkeit mit einer Schmiede hat. »Das ist eine große Werkstatt,« sagt er. »Die nenne ich Eskilstuna. Wenn du Lust hast, kannst du gerne hineingehen und dich da umsehen.«

Der Junge geht hinein und sieht eine unglaubliche Menge Räder, die sich rund herum drehen, Hämmer, die schmieden, und Drehscheiben, die kreischen. Da ist so viel zu sehen, daß er gern die ganze Nacht da drinnen hier hätte bleiben können, wenn ihn der Gärtner nicht gerufen hätte.

Darauf gingen sie am See entlang an der nördlichen Seite des Gartens. Das Ufer schlängelte sich hinaus und hinein: Landzunge und Bucht, Landzunge und Bucht längs des ganzen Gartens. Vor den Landzungen liegen kleine Inseln, die durch schmale Sunde vom Lande getrennt sind. Die kleinen Inseln gehören auch mit zum Garten. Sie sind ebenso sorgfältig bepflanzt, wie all das andere.

Der Junge geht an einem schönen Gehöft nach dem anderen vorüber, aber er bleibt nicht stehen, als bis er an eine prächtige rote Kirche kommt. Die sieht sehr stattlich aus, wie sie da auf einer Landzunge, von schwer beladenen Obstbäumen überschattet, liegt. Der Gärtner will wie gewöhnlich vorübergehen, aber der Junge faßt Mut und bittet um Erlaubnis, hineingehen zu dürfen. »Nun ja, dann geh‘ nur hinein!« sagt er, »nimm dich aber vor Bischof Rogge in acht! Es ist nicht unmöglich, daß er noch heutigen Tages hier in Strängnäs sein Wesen treibt.«

So läuft denn der Junge in die Kirche hinein und besieht alte Grabmäler und schöne Altarbilder. Vor allem aber bewundert er einen Reiter in goldener Rüstung, den er in einer Kapelle neben dem Waffenhause entdeckt. Hier ist auch so viel zu sehen, daß er gern die ganze Nacht dageblieben wäre, aber er muß wieder fort, um den Gärtner nicht warten zu lassen.

Als er wieder herauskommt, sieht er den Gärtner stehen und einer Eule zusehen, die oben in der Luft hinter einem Rotschwänzchen her jagt. Der Alte pfeift dem Rotschwänzchen, das seinem Ruf folgt und sich auf seine Schulter setzt, und als die Eule in ihrem Jagdeifer ihm nachfliegt, jagt er sie mit dem Spaten fort. »Er ist gewiß gar nicht so schlimm, wie er aussieht,« denkt der Junge, als er sieht, wie der Gärtner den armen Singvogel beschützt.

Sobald er aber den Jungen erblickt, wendet er sich nach ihm um und fragt, ob er Bischof Rogge gesehen hat. Und als der Junge nein antwortet, sagt er mit dem größten Gram: »Hat Bischof Rogge Ruhe gefunden und ich nicht?«

Bald darauf kommen sie in das größeste von den vielen Puppenhäusern. Es ist eine rundgemauerte Burg mit drei festen, runden Türmen, die durch lange Flügel verbunden sind.

»Wenn du Lust hast, kannst du gern hineingehen und dich umsehen!« sagt der Gärtner. »Das ist Gripsholm, und hier mußt du dich in acht nehmen, daß du nicht König Erik begegnest.«

Der Junge geht durch eine tiefe Torwölbung und kommt auf einen großen, dreieckigen Hof, der von kleinen Häusern umgeben ist. Sie sind nicht gerade ansehnlich, und der Junge macht sich nichts daraus, dahinein zu gehen. Er springt nur ein paarmal Bock über zwei lange Kanonen, die da stehen, und läuft dann weiter. Durch eine zweite tiefe Torwölbung gelangt er auf einen Burghof, der von prächtigen Gebäuden umgeben ist und dahinein geht er. Er kommt in große, altmodische Zimmer mit Querbalken an der Decke; alle Wände sind mit hohen, dunklen Gemälden bedeckt, auf denen ernste Damen und Herren in wunderlichen, steifen Trachten abgebildet sind.

In dem Stockwerk darüber sind die Zimmer heller und freundlicher. Jetzt kann er erst merken, daß er in einem königlichen Schloß ist, denn an den Wänden sieht er nichts als strahlende Porträts von Königen und Königinnen. Im obersten Stockwerk aber ist ein großer Boden, und um den herum liegen viele verschiedene Zimmer. Es sind helle Räume mit hübschen, weißen Möbeln, und da ist ein kleines Theater und dicht daneben ein richtiges Gefängnis: ein Raum mit kahlen steinernen Wänden und vergitterten Fenstern und einem Fußboden, der von den schweren Schritten der Gefangenen abgenutzt ist.

Da ist so viel zu sehen, daß der Junge gern viele Tage dageblieben wäre, aber der Gärtner ruft nach ihm, und er wagt nicht, ungehorsam zu sein.

»Hast du König Erik gesehen?« fragt der Alte, als der Junge wieder herauskommt. Aber der Junge hat nichts gesehen, und da sagt der Gärtner so wie vorhin, aber in noch tieferer Verzweiflung: »Hat König Erik Ruhe gefunden und ich nicht?«

Dann gehen sie in den östlichen Teil des Gartens. Sie kommen an einem Badehaus vorüber, das der Gärtner Södertelje nennt, und an einem alten Schloß, das er Hörningsholm nennt. Hier ist übrigens nicht so viel zu sehen. Es wimmelt hier von Felsen und Klippen, die immer öder und kahler werden, je weiter hinaus sie liegen.

Jetzt biegen sie nach Süden ab, und der Junge erkennt die Hecke, die Kolmård heißt, und er kann sehen, daß sie sich dem Ausgang nähern.

Er freut sich, daß er das alles gesehen hat, und als er in der Nähe der großen Gitterpforte angelangt ist, will er dem Gärtner gern danken. Aber der Alte hört gar nicht auf das, was er sagt, sondern geht geradeswegs auf die Pforte zu. Da wendet er sich nach dem Jungen um und reicht ihm seinen Spaten. »Halte mir den, während ich die Pforte aufschließe.«

Aber dem Jungen tut es leid, daß er dem barschen, alten Mann so viel Mühe gemacht hat und er will ihm weitere Ungelegenheit ersparen. »Ihr braucht die schwere Pforte meinetwegen gar nicht aufzuschließen,« sagt er, und im selben Augenblick schlüpft er zwischen den eisernen Stangen hindurch. Das ist die leichteste Sache von der Welt für ihn.

Er tut das in der allerbesten Absicht, und er ist sehr verwundert, als er den Gärtner hinter seinem Rücken einen Zornesruf ausstoßen hört und steht, wie er mit den Füßen stampft und an dem eisernen Gitter rüttelt.

»Was ist das? Was ist das?« fragt der Junge. »Ich wollte Euch ja nur die Mühe ersparen. Warum seid Ihr so böse?«

»Sollte ich nicht böse sein!« erwidert der Alte. »Es bedürfte nichts weiter, als daß du den Spaten nahmst, dann hättest du hier umhergehen und den Garten pflegen müssen, und ich wäre abgelöst gewesen. Jetzt weiß ich nicht, wie lange ich hier noch umhergehen muß.«

Und dabei rüttelt er an dem Gitter und sieht entsetzlich zornig aus, aber der Knabe kann nicht anders, er muß ihn bemitleiden, und er versucht, ihn zu trösten.

»Ihr müßt nicht so betrübt darüber sein, Herr Karl von Södermanland,« sagte er, »denn niemand würde Euren Garten so gut pflegen, wie Ihr es tut.«

Als der Junge das sagt, wird der alte Gärtner ganz still und stumm, und es ist dem Jungen, als gehe ein Leuchten über seine harten Züge. Aber er kann es nicht deutlich sehen, denn im selben Augenblick verblaßt die ganze Gestalt und schwindet wie ein Nebel. Und nicht er allein, sondern der ganze Garten verblaßt und verschwindet mit Blumen und Früchten und Sonnenschein, und da, wo er eben noch gelegen, ist nichts weiter zu sehen als der wilde Wald.

XXIII. In Närke


Ysätters-Kajsa.

In Närke hatten sie in alten Zeiten etwas, das sie sonst nirgends in der Welt hatten, nämlich einen Kobold, die Ysätters-Kajsa.

Den Namen hatte sie erhalten, weil sie soviel mit Wind und Sturm zu tun hatte, und diese Windkobolde pflegt man immer Kajsa zu nennen, und den Beinamen hatte sie erhalten, weil es hieß, sie sei aus dem Ysätter-Meer im Kirchspiel Asker gekommen.

Es scheint, daß sie ihr eigentliches Heim in Asker hatte, aber man sah sie auch anderwärts. Nirgends in ganz Närke konnte man sicher vor ihr sein.

Sie war kein trübseliger und unheimlicher Kobold, sondern sie war fröhlich und lustig, und das liebste vor allem war ihr ein ordentliches Sturmwetter. Sobald da Wind genug war, fuhr sie dahin, um auf der Närkeebene zu tanzen.

Närke besteht eigentlich aus nichts weiter als einer Ebene, die auf allen Seiten von bewaldeten Bergen umgeben ist. Nur in der nordöstlichen Ecke, da wo der Hjelmar aus der Landschaft ausscheidet, befindet sich eine Öffnung in der langen Hecke aus Bergen.

Wenn nun der Wind eines Morgens draußen auf der Ostsee Kräfte gesammelt hat und auf das Land zugefahren kommt, geht er ganz ungehindert zwischen die Sörmlandshügel und schlüpft ohne sonderliche Mühe beim Hjelmar nach Närke hinein. Dann braust er dahin, quer über die Närkeebene, aber nach Westen zu stößt er auf die hohe Felswand des Kilsberges und wird zurückgeworfen. Er krümmt sich wie eine Schlange und fährt dahin, gen Süden. Dort aber stößt er auf den Tived und bekommt einen Puff, so daß er nach Osten zu stürzt. Nun, dort im Osten liegt der Tylöser Wald, und der schickt den Wind gen Norden nach Käglan. Und von Käglan fährt der Wind noch einmal dahin, auf die Kilsberge und den Tived und den Tylöser Wald zu. Er dreht sich rund herum in immer kleineren Kreisen, bis er schließlich wie ein Kreisel mitten auf der Ebene stehen bleibt und sich unaufhörlich herumdreht. Aber an solchen Tagen, wenn die Wirbelwinde über die Ebene fuhren, da ergötzte sich die Ysätters-Kajsa. Da stand sie mitten in dem Wirbel und drehte sich. Das lange Haar flatterte oben zwischen den Wolken des Himmels, die Schleppe ihres Kleides fegte wie eine Staubwolke an der Erde dahin, und die ganze Ebene lag unter ihr wie ein schwarzer Tanzboden.

Am Morgen saß Ysätters-Kajsa gern oben auf dem Gipfel eines Bergabhanges und sah über die Ebene hinaus. War es dann Winter und gute Bahn, und sah sie viele des Weges dahergefahren kommen, so hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als zu einem Schneesturm aufzublasen und den Schnee zu so hohen Schanzen zusammen zu fegen, daß die Leute am Abend nur mit Not und Mühe nach Hause kommen konnten. War es Sommer und gutes Erntewetter, so saß Ysatters-Kajsa ganz still da, bis die ersten Heufuder beladen und fertig waren. Dann kam sie mit ein paar Gewitterschauern dahergefahren, die der Arbeit für diesen Tag ein Ende machten.

Es läßt sich nicht leugnen, daß sie selten an etwas anderes dachte, als Unheil zu stiften. Die Köhler oben in den Kilsbergen wagten kaum, ein Auge zu schließen, denn sobald sie einen unbewachten Meiler sah, kam sie geschlichen und blies in ihn hinein, so daß er plötzlich in hellen Flammen stand. Und geschah es, daß die Erzfahrer aus Laxå und Svartå eines Abends spät draußen waren, so hüllte die Ysätters-Kajsa den Weg und die Gegend in einen so dichten Nebel, daß Menschen und Pferde irregingen und die schweren Schlitten in Moore und Sümpfe hineinfuhren.

Hatte die Pröpstin in Glanshammer an einem Sommersonntag den Kaffeetisch draußen im Garten gedeckt, und es kam ein Windstoß, der das Tischtuch vom Tisch hob und Tassen und Teller umwarf, so wußte man, bei wem man sich für den Spaß zu bedanken hatte. Wurde dem Bürgermeister in Örebro der Hut abgeweht, so daß er über den ganzen Marktplatz hinter ihm herlaufen mußte, stießen die Leute von der Vinö im Hjelmar mit ihren Gemüsebooten auf Grund, wehte die Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt war, herunter und wurde schmutzig, schlug der Rauch eines Abends in die Stube hinein und konnte er den Weg durch den Schornstein gar nicht finden, da war niemand in Zweifel, wer auf Kurzweil ausgezogen war.

Aber wenn auch Ysätters-Kajsa allerlei neckische Streiche liebte, so war doch eigentlich nichts Böses in ihr. Man konnte sehr wohl merken, daß sie am schlimmsten gegen diejenigen war, die zanksüchtig und geizig und boshaft waren, brave Leute und kleine arme Kinder nahm sie oft in Schutz. Und alte Leute erzählen, daß einmal, als die Askerser Kirche nahe daran war, abzubrennen, Ysätters-Kajsa gefahren kam und sich mitten in Feuer und Rauch auf dem Kirchendach niederließ und die Gefahr abwehrte.

Und doch waren die Leute in Närke der Ysätters-Kajsa oft recht überdrüssig, aber sie ermüdete nie, sie zum Besten zu haben. Wenn sie oben auf dem Rand einer Wolke saß und auf Närke hinab sah, das freundlich und wohlhabend unter ihr lag mit ansehnlichen Gruben und Bergwerken oben in den Berggegenden, mit der trägen Svartå und den seichten, fischreichen Seen in der Ebene, mit der guten Stadt Örebro, die sich rings um das ernste Schloß mit den festen Ecktürmen ausdehnte, dann dachte sie wohl: »Hier würde es den Leuten zu gut ergehen, wenn sie mich nicht hätten. Sie würden stumpfsinnig und langweilig werden. Sie haben so eine wie mich nötig, die Leben in sie bringen und sie bei Laune erhalten kann.«

Und dann lachte sie wild und gellend wie eine Elster und fuhr davon, tanzend und wirbelnd, von einer Ecke der Ebene bis zur anderen. Und wenn die Leute in Närke sahen, wie sie ihre Staubschleppe über die Ebene hinfegen ließ, konnten sie sich eines Lächelns nicht erwehren. Denn häßlich und neckisch war sie freilich, aber gute Laune hatte sie. Es war ebenso belebend für die Bauern, sich mit der Ysätters-Kajsa zu tummeln, wie für die Ebene, von dem Sturmwind gepeitscht zu werden.

Heutzutage behauptet man, die Ysätters-Kajsa sei tot und heimgefahren, wie alle Kobolde. Aber das kann man nicht recht glauben. Es ist, als wolle man erzählen, daß in Zukunft die Luft über der Ebene immer still stehen und der Wind nicht mehr mit Sausen und Brausen, und frischer Luft und Gewitterschauern darüber hintanzen solle.

Wer da meint, die Ysätters-Kajsa sei tot und heimgefahren, du soll jetzt hören, was sich in Närke in dem Jahr zutrug, als Niels Holgersen über die Gegend dahinflog, dann kann er ja selber sagen, was er glaubt.

Der Jahrmarktabend.

Mittwoch, 27. April.

Es war am Tage vor dem großen Viehmarkt in Örebro, und es regnete, so daß Himmel und Erde ineinander verschwammen. Es war ein Regen ohne Sinn und Verstand. Er stürzte in reißenden Strömen vom Himmel herunter, und manch einer dachte bei sich: »Das ist ja ganz so wie zu Ysätters-Kajsas Zeiten. Nie hatte sie so viele Streiche vor, als wenn Jahrmarkt sein sollte. Es sieht ihr wirklich ähnlich, so einen Regen am Abend vor dem Markt herabzusenden.«

Je weiter der Tag verschritt, um so ärger wurde der Regen. Gegen Abend war es ein förmlicher Wolkenbruch. Die Wege waren ganz grundlos, und die Leute, die mit ihrem Vieh von Hause gegangen waren, um Örebro am nächsten Morgen rechtzeitig zu erreichen, waren übel dran. Kühe und Ochsen hatten die Wanderung so satt, daß sie keinen Fuß mehr vorwärts setzen wollten, und viele von den armen Tieren warfen sich auf dem Wege nieder, um zu zeigen, daß sie nicht weiter gehen wollten. Alle Leute, die am Wege wohnten, mußten ihre Häuser den Marktgästen aufschließen und ihnen Nachtquartier geben, so gut sie konnten. Es war nicht nur in den Stuben, sondern auch in den Ställen und Scheunen überfüllt.

Wem es möglich war, der suchte doch, sich bis zum Wirtshaus durchzukämpfen, aber wenn man so weit kam, bereute man fast, nicht in einem der Häuser am Wege geblieben zu sein. Jeder Stand im Kuhstall und jedes Spilltau im Pferdestall war längst besetzt.

Es blieb nichts anderes übrig, als die Pferde und Kühe draußen im Regen stehen zu lassen. Mit genauer Not konnten ihre Besitzer Dach über dem Kopf bekommen.

Die Nässe und der Morast und das Gedränge auf dem Hof spotteten jeder Beschreibung. Die Tiere standen zum Teil geradezu in einer Lache und konnten sich nicht einmal hinlegen. Einige von den Bauern verschafften ihren Tieren ja freilich Stroh, worauf sie liegen konnten, und breiteten Decken über sie, andere aber saßen drinnen in der Schenke und tranken und spielten und vergaßen völlig die, für die sie zu sorgen hatten.

An jenem Abend hatten der Junge und die Wildgänse einen Werder im Hjelmar erreicht; der war nur durch einen niedrigen und schmalen Sund vom Lande getrennt, so daß man bei niedrigem Wasserstand trockenen Fußes hinüberkommen konnte.

Es regnete ebenso arg draußen auf dem Werder wie überall sonst. Der Junge konnte nicht schlafen vor den Regentropfen, die unaufhörlich auf ihn herabpeitschten. Schließlich entschloß er sich, auf dem Werder umherzuwandern. Er fand, daß er den Regen nicht so sehr merkte, wenn er sich bewegte. Kaum war er einmal rund um den Werder gegangen, als er ein Plätschern im Wasser zwischen dem Werder und dem Ufer vernahm, und gleich darauf sah er ein einzelnes Pferd zwischen den Büschen daherkommen. Es war ein altes Pferd, so elend und erbärmlich, wie er nie etwas Ähnliches gesehen hatte. Es war im Rücken gebrochen, und steifbeinig war es und so mager, daß man seine Rippen zählen konnte. Es hatte weder Zügel noch Sattel, nur einen alten Zaum, von dem ein halbverfaultes Tauende herabhing. Es war ihm offenbar nicht schwer geworden, sich loszureißen.

Das Pferd ging geradeswegs auf die Stelle zu, wo die Wildgänse standen und schliefen, und der Junge war bange, daß es auf sie treten würde. »Wo willst du hin? Sieh dich vor!« rief er. – »Also da bist du!« sagte das Pferd. »Ich bin eine Weile gegangen, um dich zu finden.« – »Hast du von mir reden hören?« fragte der Junge ganz erstaunt. – »Ohren habe ich doch wenigstens, wenn ich auch alt bin. Es reden viele von dir in dieser Zeit.«

Während das Pferd sprach, bog es den Kopf herab, um besser sehen zu können, und der Junge bemerkte, daß es einen kleinen Kopf mit schönen Augen und eine feine, weiche Schnauze hatte. »Es ist seiner Zeit ein gutes Pferd gewesen, wenn es auch in seinen alten Jahren mit ihm zurückgegangen ist,« dachte er.

»Ich wollte dich bitten, mit mir zu kommen und mir bei etwas behilflich zu sein,« sagte das Pferd.

Der Junge hatte keine große Lust, mit jemand, der so erbärmlich aussah, irgendwohin zu gehen, und entschuldigte sich mit dem schlechten Wetter. »Es ist nicht schlimmer für dich, auf meinem Rücken zu sitzen, als hier zu liegen,« sagte das Pferd. »Aber du magst vielleicht nicht mit so einer elenden Kracke, wie ich bin, gehen« – »Ach ja, das ist es nicht,« sagte der Junge. – »Dann wecke die Gänse, damit wir mit ihnen verabreden können, wo sie dich morgen abholen sollen,« sagte das Pferd.

Gleich darauf saß der Junge auf dem Rücken des Pferdes. Das alte Pferd holte besser aus, als der Junge es ihm zugetraut hatte, aber doch war es ein langer Ritt in Nacht und Regen, bis sie vor einem großen Wirtshaus haltmachten. Dort sah es sehr ungemütlich aus, die Wagenspuren auf dem Wege waren so tief, daß der Junge überzeugt war, er würde ertrinken, wenn er da hinein fiel. An dem Gitter, das den Hof umgab, waren dreißig, vierzig Pferde und Kühe angebunden ohne irgendwelchen Schutz gegen den Regen, und drinnen im Hofe standen Karren mit hohen Kisten, in denen Schafe und Kälber und Schweine und Hühner eingeschlossen waren.

Das Pferd stellte sich an das Gitter. Der Junge blieb auf seinem Rücken sitzen, und mit seinen guten Nachtaugen konnte er deutlich sehen, wie schlecht für die Tiere gesorgt war.

»Wie geht es zu, daß ihr hier draußen im Regen steht?« fragte er. – »Wir sind auf dem Wege zum Markt in Örebro, aber der Regen zwang uns, hier einzukehren. Es ist ein Wirtshaus, aber da sind so viele Reisende, daß für uns kein Platz mehr im Stall war.«

Der Junge erwiderte nichts, er saß nur da und sah sich um. Nicht viele von den Tieren schliefen, und von allen Seiten hörte er Klagen und Unzufriedenheit. Sie hatten alle guten Grund zu jammern, denn das Wetter war noch schlechter geworden als früher am Tage. Es wehte ein eisig kalter Wind, und der Regen, der jetzt herabpeitschte, so daß es brannte, war mit Schnee vermischt. Es war leicht zu verstehen, womit er dem Pferd behilflich sein sollte.

»Kannst du sehen, daß dem Wirtshaus gerade gegenüber ein großer Bauerhof liegt?« fragte das Pferd. – »Ja,« sagte der Junge, »das sehe ich, und ich kann nicht begreifen, daß man nicht um Unterkunft für euch dort gebeten hat. Aber vielleicht ist es da auch schon voll?« – »Nein, da sind keine Gäste,« sagte das Pferd. »Die, denen der Hof gehört, sind so geizig und ungefällig, daß es nicht nützen kann, sie um Unterkunft zu bitten.« – »Hängt das so zusammen? Ja, dann werdet Ihr wohl bleiben müssen, wo Ihr seid.« – »Aber ich bin auf dem Hof geboren und aufgewachsen,« sagte das Pferd. »Ich weiß, daß da ein großer Pferdestall und ein großer Kuhstall mit vielen leeren Spilltauen und Ständen ist, und ich möchte wohl wissen, ob du es nicht einrichten kannst, daß wir da hineinkommen.« – »Ich glaube kaum, daß ich den Mut habe,« sagte der Junge. Aber dann taten ihm die Tiere so leid, daß er doch sehen wollte, was sich machen ließ.

Er lief in den fremden Hof hinein und sah sogleich, daß alle Wirtschaftsgebäude verschlossen und alle Schlüssel herausgezogen waren. Hilflos und unschlüssig stand er da, als er plötzlich unerwartet Hilfe bekam. Es war ein Windstoß, der mit mächtiger Fahrt dahergesaust kam und die Tür zu der großen Scheune gerade vor ihm aufwehte.

Der Junge war natürlich nicht faul, sondern kehrte schnell zu dem Pferd zurück. »Es ist unmöglich, in den Pferdestall oder in den Kuhstall hineinzugelangen,« sagte er, »aber da ist eine große, leere Scheune, die haben sie vergessen abzuschließen, und dahinein will ich mit Euch gehen.« – »Hab‘ Dank,« sagte das Pferd, »es soll gut tun, noch einmal auf dem alten Hof zu schlafen. Das ist die einzige Freude, die es noch für mich auf dieser Welt gibt.«

Auf dem wohlhabenden Bauernhof, der dem Wirtshaus gegenüberlag, waren sie an diesem Abend viel länger aufgeblieben, als es sonst ihre Gewohnheit war.

Der Bauer war ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Er war groß und stattlich mit einem schönen aber ziemlich finsteren Gesicht. Er war den ganzen Tag im Regen draußen gewesen und war naß geworden wie alle anderen, Und beim Abendbrot bat er seine alte Mutter, die noch Hausfrau auf dem Hof war, Feuer anzumachen, damit er seine Kleider trocknen könne. Und dann hatte die Mutter ein elendes kleines Feuer auf dem Herd angezündet, denn dort im Hause pflegten sie ja nicht verschwenderisch mit dem Brennmaterial umzugehen, und der Mann hängte seinen Rock über einen Stuhl, den er vor das Feuer stellte. Dann setzte er den einen Fuß auf den Herd und stützte den Arm auf das Knie, und so blieb er stehen und sah in das Feuer hinein. Da hatte er nun mehrere Stunden gestanden, ohne sich zu rühren, außer wenn er einmal ein Scheit Holz auf das Feuer warf.

Seine Mutter hatte den Tisch abgedeckt und sein Bett in Ordnung gebracht, und dann ging sie in die Kammer hinein und setzte sich hin. Von Zeit zu Zeit trat sie an die Tür und sah ihn verwundert an, der dort am Feuer stehen blieb und nicht zu Bett ging. »Es ist nichts, Mutter. Ich muß nur an alte Zeiten denken,« sagte er.

Die Sache war die, daß als er vorhin am Wirtshaus vorübergegangen war, ein Pferdehändler kam und fragte, ob er ein Pferd kaufen wolle. Er zeigte ihm eine alte Kracke, die so übel zugerichtet war, daß er nicht umhin konnte, den Mann zu fragen, ob er recht gescheit sei, daß er glaube, ihm so eine alte Mähre anschnacken zu können. »Ach, nein, aber ich dachte nur, daß Ihr, die Ihr das Pferd einmal besessen habt, vielleicht Lust hättet, ihm auf seine alten Tage das Gnadenbrot zu geben, denn das hat es wirklich verdient,« erwiderte der Pferdehändler.

Er sah das Pferd an und erkannte es. Ja, das Pferd hatte er selbst aufgezogen und eingefahren. Aber deswegen konnte es ihm doch nicht einfallen, so ein altes, unbrauchbares Tier zu kaufen. Davon konnte keine Rede sein! Er gehörte nicht zu den Leuten, die ihr Geld zum Fenster hinauswerfen.

Aber trotzdem hatte der Anblick des Pferdes viele Erinnerungen in ihm wachgerufen, und zwar Erinnerungen, die ihn so wach hielten, daß er nicht zu Bett gehen konnte.

Ja, das Pferd war ein gutes und flottes Tier gewesen. Sein Vater hatte ihm seine Pflege von Anfang an übergeben. Er hatte es eingefahren und es mehr geliebt als irgend etwas auf der Welt. Sein Vater hatte darüber geklagt, daß er es zu gut füttere, und er hatte ihm oft heimlich Hafer geben müssen.

Solange er das Pferd hatte, wollte er nie zur Kirche gehen, sondern fuhr immer. Das geschah nur, um das Fohlen zu zeigen. Er selber war in eigengemachtem Anzug aus Beiderwand, und die Karre war einfach und ungemalt, aber das Pferd war das schönste Tier, das den Kirchenhügel hinanfuhr.

Einmal hatte er Mut gefaßt und mit seinem Vater davon gesprochen, daß er sich einen Tuchanzug kaufen und die Karre malen wolle. Der Vater war wie versteinert. Der Sohn glaubte, der Alte würde einen Schlaganfall bekommen. Später versuchte er, seinem Vater begreiflich zu machen, daß, wenn er ein so flottes Pferd fuhr, er selber auch ein wenig ordentlich aussehen müsse.

Der Vater erwiderte nichts, aber ein paar Tage darauf fuhr er nach Örebro und verkaufte das Pferd.

Das war grausam von dem Vater, aber er hatte offenbar gefürchtet, daß ihn das Pferd zu Eitelkeit und Verschwendung verlocken würde, und jetzt, so lange nachher, mußte er erkennen, daß der Vater recht gehabt hatte. So ein Pferd konnte wohl eine Versuchung werden. Damals aber hatte er es sich anfänglich sehr zu Herzen genommen. Er ging zuweilen nach Örebro, nur um an der Straßenecke zu stehen und das Pferd vorbeifahren zu sehen, oder auch um sich mit einem Stück Zucker zu ihm in den Stall zu schleichen.

»Wenn Vater stirbt und ich den Hof bekomme,« dachte er, »so soll das erste, was ich tue, sein, daß ich mein Pferd zurückkaufe.«

Nun war der Vater tot und der Hof hatte ihm schon ein paar Jahre gehört, aber er hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, das Pferd zurückzukaufen. Er hatte seit langer Zeit nicht an das Tier gedacht – bis heute abend.

Es war sonderbar, daß er es so völlig hatte vergessen können. Aber sein Vater war ein sehr herrschsüchtiger und willensstarker Mann, und als er erwachsen war und sie beide immer zusammen arbeiteten, gewann der Vater große Macht über ihn. Schließlich fand er, daß alles, was der Vater tat, richtig war. Und als er den Hof bekam, bemühte er sich nur, vor allen Dingen so zu handeln, wie sein Vater gehandelt haben würde.

Er wußte sehr wohl, daß die Leute sagten, sein Vater sei geizig, aber es war doch richtig, den Daumen auf den Beutel zu halten und das Geld nicht unnötig wegzuwerfen. Man durfte doch das anvertraute Gut nicht vergeuden. Es war besser, geizig genannt zu werden und einen schuldenfreien Hof zu haben, als sich mit Wechseln herumzuschlagen wie die anderen Hofbesitzer.

Es klang, als wenn sich jemand über seine Klugheit lustig machte, und er wollte schon zornig werden, als er entdeckte, daß das Ganze ein Irrtum war. Es hatte angefangen zu wehen, und hier hatte er gestanden und war so schläfrig geworden, daß er das Heulen des Windes im Schornstein für eine Menschenstimme hielt!

Er wandte sich um und sah nach der Stubenuhr, und die schlug im selben Augenblick elf tiefe Schläge. Schrecklich, wie spät es geworden war!

»Es wird wohl Zeit, daß du zu Bett kommst,« dachte er. Da fiel ihm ein, daß er noch nicht seine Runde über den Hof gemacht hatte, wie er das jeden Abend zu tun pflegte, um zu sehen, ob alle Türen und Luken geschlossen, und ob alle Lichter ausgelöscht waren. Das hatte er noch nie versäumt, seit er Herr auf dem Hof gewesen war. Schnell zog er den Rock an und ging in das Unwetter hinaus.

Er fand alles, wie es sein sollte, bis auf die Tür der leeren Scheune, die der Wind aufgerissen hatte. Er ging ins Haus, um den Schlüssel zu holen, verschloß die Scheune und steckte den Schlüssel in die Rocktasche. Dann ging er wieder in die Stube, zog den Rock aus und hängte ihn ans Feuer. Es war ein fürchterliches Wetter draußen mit dem schneidend kalten Wind und dem schneegemischten Regen. Und in dem Wetter stand sein altes Pferd draußen, ohne auch nur eine Decke über sich zu haben. Er hätte ihm doch wohl Obdach geben sollen, wo es doch hier in die Gegend gekommen war.

Drüben im Wirtshaus, dem Bauerhof gegenüber hörte der Junge eine alte Wanduhr mit gesprungenem Klang elf Schläge schlagen. Da war er gerade im Begriff das Vieh loszubinden, um es nach der Scheune auf dem Bauerhof zu bringen. Es währte eine Weile, bis er sie alle geweckt und aufgerichtet hatte, aber schließlich war das in Ordnung, und in einer langen Reihe, der Junge als Wegweiser voran, kamen sie auf den Hof des geizigen Bauern gezogen.

Während der Junge mit alledem beschäftigt war, hatte der Bauer die Runde über den Hof gemacht und die Scheune abgeschlossen, und als Niels nun mit den Tieren kam, war die Tür geschlossen. Er blieb ganz bestürzt stehen. Nein, er konnte sie nicht dastehen lassen. Er mußte ins Haus und sich den Schlüssel verschaffen.

»Sorge du dafür, daß sie ruhig sind, während ich den Schlüssel hole,« sagte er zu dem alten Pferd, und damit lief er davon.

Mitten auf dem Hof blieb er stehen und überlegte, wie er ins Haus kommen sollte. Während er dastand, sah er zwei kleine Fußgänger des Weges kommen und vor dem Wirtshaus stehen bleiben.

Er sah sofort, daß es zwei kleine Mädchen waren, und er lief näher an sie heran, in der Hoffnung, daß sie ihm vielleicht helfen könnten.

»So, Birte Marie,« sagte die eine, »nun mußt du nicht mehr weinen. Nun sind wir bei dem Wirtshaus. Hier werden wir schon Unterkunft finden.«

Kaum hatte das kleine Mädchen das gesagt, als der Junge ihr zurief: »Nein, es nützt nichts, daß ihr versucht, Unterkunft im Wirtshaus zu finden. Das ist ganz unmöglich. Aber hier im Bauerhaus haben sie keine Gäste. Da solltet ihr hingehen.«

Die kleinen Mädchen hörten die Worte ganz deutlich, aber sie konnten den, der sprach, nicht sehen. Sie wunderten sich aber nicht so sehr darüber, denn es war so stockdunkel. Die größte von ihnen antwortete sogleich: »Nein, da gehen wir nicht hin, denn die Leute, die da wohnen, sind schlecht und geizig. Sie sind schuld daran, daß wir auf der Landstraße betteln gehen.«

»Das kann ja sein,« erwiderte der Junge, »aber ihr solltet doch hineingehen. Ihr werdet sehen, daß es geht.«

»Dann wollen wir es versuchen, aber du sollst sehen, wir kommen nicht einmal hinein,« sagten die beiden kleinen Mädchen und gingen nach dem Wohnhaus und klopften an.

Der Bauer stand noch vor dem Feuer und dachte an das Pferd, als es klopfte. Er ging hinaus, um zu sehen, was es sei und dachte dabei, er wolle sich nicht überreden lassen, irgendeinen, der des Weges kam, bei sich aufzunehmen. Aber gerade als er die Tür ein klein wenig öffnete, benutzte ein Windstoß die Gelegenheit. Er riß ihm die Tür aus der Hand und schlug sie gegen die Wand. Er mußte auf die Treppe hinaus, um die Tür zuzuziehen, und als er wieder in die Stube hineinkam, standen die beiden kleinen Mädchen schon da drinnen.

Es waren ein Paar arme Bettelkinder, zerlumpt und schmutzig und hungrig, ein Paar arme kleine Mädel, die jede einen Sack schleppten, der ebenso lang war wie sie selber.

»Wer läuft denn noch so spät in der Nacht auf der Landstraße herum?« fragte der Bauer mit strenger Stimme.

Die beiden Kinder antworteten nicht gleich, sondern stellten erst ihre Säcke hin. Dann gingen sie auf ihn zu und reichten ihm ihre kleinen Hände zum Gruß. »Wir sind Anna und Birte Marie aus Engärdet,« sagte die ältere, »und wir möchten gern um Unterkunft bitten.«

Er nahm die ausgestreckten Hände nicht und wollte eben die Bettelkinder zur Tür hinauswerfen, als wiederum eine Erinnerung in ihm aufstieg. Engärdet, war das nicht das kleine Haus, wo eine arme Witwe mit ihren fünf Kindern gewohnt hatte? Aber die Witwe schuldete seinem Vater einige hundert Kronen, und der Vater hatte ihr Haus verkauft, um zu seinem Gelde zu kommen. Die Witwe zog dann mit den ältesten Kindern nach Norrland, um Arbeit zu suchen, während die beiden jüngsten von der Armenordnung versorgt wurden.

Ihm war bitter zumute, als er sich dessen erinnerte. Er wußte, daß sein Vater viel Böses hatte hören müssen, weil er das Geld eingetrieben hatte, das ihm doch von Rechtswegen zukam.

»Was macht ihr denn jetzt?« fragte er die Kinder mit strenger Stimme. »Sorgt denn die Armenverwaltung nicht für euch? Warum lauft ihr herum und bettelt?«

»Dagegen können wir nichts machen,« antwortete das ältere von den Kindern. »Die Leute, bei denen wir wohnen, haben uns auf Betteln ausgeschickt.«

»Dann habt ihr ja auch eure Säcke voll und könnt euch über nichts beklagen,« sagte der Bauer. »Es wird wohl am besten sein, wenn ihr nun etwas von dem, was ihr da habt, herausholt und euch satt esset, denn hier ist nichts mehr zu bekommen. Alle die Frauenzimmer sind schon zu Bett gegangen. Und dann könnt ihr euch in die Ofenecke legen, so daß ihr nicht friert.«

Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie von sich weisen, und seine Augen hatten fast einen harten Ausdruck. Er mußte ja froh sein, daß er einen Vater gehabt hatte, der sein Hab und Gut zusammenhielt. Sonst hätte er am Ende als kleiner Junge auch mit dem Bettelsack herumlaufen müssen so wie diese beiden.

Kaum hatte er den Gedanken ausgedacht, als die scharfe, spottende Stimme, die er heute abend schon einmal gehört hatte, ihn Wort für Wort wiederholte. Er lauschte und wußte sofort, daß es nichts war, nichts weiter als der Wind, der im Schornstein heulte. Aber das merkwürdige war, daß als der Wind die Worte wiederholte, sie ihm so sonderbar dumm und hart und falsch vorkamen.

Die Kinder hatten sich indessen nebeneinander auf den harten Fußboden hingelegt. Sie hatten noch keine Ruhe gefunden, sondern lagen da und murmelten.

»Schweigt still, hört ihr!« sagte er. Er war so gereizt, daß er sie gern hätte schlagen können.

Aber sie fuhren fort zu murmeln, obwohl er ihnen noch einmal zurief, daß sie still sein sollten.

»Als Mutter fortging,« sagte eine klare, kleine Stimme, »hat sie mir das Versprechen abgenommen, daß ich jeden Abend mein Abendgebet sprechen soll. Und das muß ich tun, und Birte Marie auch. Wenn wir ›Nun schließ ich meine Augen‹ gebetet haben, werden wir ganz still sein.«

Der Bauer saß da, ohne sich zu rühren, und hörte die Kleinen ihr Gebet sagen. Dann ging er auf und nieder, auf und nieder mit langen Schritten, und dabei rang er seine Hände, als sei er in großer Not.

Das Pferd abgearbeitet und zuschanden gemacht und diese beiden Kinder an den Bettelstab gebracht! Und beides das Werk seines Vaters! Was sein Vater tat, war am Ende doch nicht ganz richtig gewesen.

Er setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich begann es in seinem Gesicht zu zittern und zu beben, und Tränen traten ihm in die Augen. Er beeilte sich, sie abzutrocknen, aber es kamen neue Tränen, und er bekam genug damit zu tun, sie zu beseitigen. Aber es half alles nichts, es kamen immer mehr.

Nun öffnete die Mutter die Tür der Kammer, und er beeilte sich, den Stuhl so zu drehen, daß er ihr den Rücken zuwandte. Sie mußte aber doch etwas Ungewohntes bemerkt haben, denn sie blieb lange still hinter ihm stehen, als erwarte sie, daß er ihr etwas sagen werde. Aber dann fiel ihr ein, wie schwer es immer für einen Mann ist, über die Dinge zu reden, die ihm am meisten am Herzen liegen. Sie mußte wohl versuchen, ihm zu helfen.

Sie hatte von der Kammer aus gesehen, was in der Stube vor sich gegangen war, so daß sie nach nichts zu fragen brauchte. Ganz leise ging sie zu den schlafenden Kindern hin, nahm sie in ihre Arme und trug sie in ihr eigenes Bett in der Kammer. Darauf ging sie wieder zu dem Sohn hinaus.

»Hör einmal, Lars,« sagte sie und tat so, als sähe sie nicht, daß er weinte. »Die Kinder mußt du mir lassen.« – »Was sagst du da, Mutter?« fragte er und bemühte sich, seiner Tränen Herr zu werden. »Sie haben mir schon alle diese Jahre leid getan, seit dein Vater ihrer Mutter das Haus wegnahm. Und dir auch.« – »Hm.« – »Ich will sie hier behalten und ein Paar ordentliche Menschen aus ihnen machen. Sie sind zu gut, um herumzulaufen und zu betteln.«

Er konnte nicht antworten, denn jetzt stürzten ihm die Tränen aus den Augen, aber er nahm die alte Hand seiner Mutter und streichelte sie.

Dann aber fuhr er plötzlich auf, als fürchte er sich vor etwas. »Was würde Vater dazu sagen?« – »Vater hat seine Zeit gehabt, wo er befahl,« sagte die Mutter, »jetzt ist das an dir. Solange Vater lebte, mußten wir ihm gehorchen. Jetzt sollst du dich so zeigen, wie du bist.« – Der Sohn war so überrascht durch diese Worte, daß er zu weinen aufhörte. »Ich zeige mich doch so, wie ich bin,« sagte er. – »Nein,« erwiderte die Mutter, »das tust du nicht. Du gibst dir nur Mühe, deinem Vater ähnlich zu sein. Er hatte in kargen Zeiten gelebt, und das hatte ihm bange gemacht, daß er verarmen könne. Er hielt es für seine Pflicht, in erster Linie an sich selbst zu denken. Du aber hast nie etwas erlebt, was dich hart machen könnte. Du hast mehr, als du gebrauchst, und es würde unnatürlich sein, wenn du nicht auch an andere denken wolltest.«

Der Junge war hinter den kleinen Mädchen in die Stube gegangen und hatte sich in einer dunklen Ecke versteckt. Es dauerte nicht lange, bis er den Schlüssel in der Rocktasche entdeckt hatte. »Wenn der Bauer nun die Kinder zur Tür hinausjagt, nehme ich den Schlüssel und laufe damit weg, dachte er.

Die Kinder wurden also nicht zur Tür hinausgejagt, und der Junge saß in seiner Ecke und es wollte ihm nichts einfallen, was er tun könne. Die Mutter sprach lange mit ihrem Sohn, und während sie sprach, versiegten die Tränen, und schließlich saß er mit einem so schönen Ausdruck im Gesicht da und sah so aus wie ein anderer Mensch. Und während der ganzen Zeit streichelte er die alte Hand.

»Nun müssen wir aber wohl zu Bett,« sagte die Alte, als sie sah, daß er sich wieder beruhigt hatte. – »Nein,« sagte er und erhob sich schnell, »ich kann noch nicht zu Bett gehen. Da ist noch ein Gast, dem ich über nacht Obdach gewähren muß.«

Mehr sagte er nicht, zog aber schnell den Rock über; zündete eine Laterne an und ging hinaus. Draußen herrschte noch derselbe Sturm und dieselbe Kälte, aber als er auf die Treppe hinauskam, summte er eine Melodie vor sich hin. Er dachte daran, ob das Pferd ihn wohl wieder erkennen würde, ob es sich wohl freuen würde, wieder in den alten Stall zu kommen.

Als er über den Hofplatz ging, hörte er, daß eine Tür offen stand und im Winde klapperte. »Das ist die Scheunentür, die wieder aufgeweht ist,« dachte er und ging hin, um sie zu schließen.

Einen Augenblick später stand er vor der Scheune und wollte gerade die Tür verschließen, als er meinte, etwas da drinnen pußeln zu hören.

Der Junge hatte nämlich die Gelegenheit benutzt und war mit ihm zusammen hinausgegangen und gleich nach der Scheune gelaufen, wo die Tiere gestanden hatten. Aber sie standen nicht mehr draußen im Regen. Ein starker Windstoß hatte längst die Scheunentür wieder aufgerissen und ihnen ein Dach über dem Kopf verschafft. Das, was der Bauer pußeln hörte, war der Junge, der in der Scheune herumlief.

Nun leuchtete er mit der Laterne in die Scheune hinein und sah, daß da überall auf dem Boden schlafendes Vieh lag. Ein Mensch war nicht zu sehen. Die Tiere waren nicht angebunden, sondern hatten sich in das Stroh gelegt, wo sie dazu kommen konnten.

Er wurde zornig, als er alle diese ungebetenen Gäste sah, und fing an zu rufen und zu schelten, um die Schlafenden zu wecken und sie hinauszujagen. Aber die Tiere blieben liegen, ohne sich zu rühren, als wollten sie sich nicht stören lassen. Nur ein altes Pferd erhob sich und kam ganz still auf ihn zu.

Der Bauer verstummte plötzlich. Er erkannte das Pferd schon am Gange. Er ließ den Schein der Laterne auf das Pferd fallen, und es kam zu ihm heran und legte ihm den Kopf auf die Schulter.

Da streichelte der Bauer es zärtlich. »Mein altes Pferd! Mein altes Pferd!« sagte er. »Was haben sie dir getan? Ja, alter Junge, ich will dich zurückkaufen. Du sollst nie wieder fort von diesem Hof. Du sollst es so haben, wie du willst, alter Junge. Die andern, die du mitgenommen hast, können hier bleiben, aber du sollst mit mir in den Stall kommen. Nun kann ich dir so viel Hafer geben, wie du fressen kannst, ohne daß ich ihn mir heimlich zu nehmen brauche. Ganz zuschanden bist du am Ende noch nicht. Das schönste Pferd auf dem Kirchhügel, das sollst du noch einmal werden. So, so! So, so!«

XXIV. Der Eisbruch

Donnerstag, 28. April.

Am nächsten Tag war schönes Wetter und heller Sonnenschein. Es wehte freilich ein starker Westwind, aber darüber konnte man sich nur freuen, denn er trocknete die Wege, die von dem heftigen Regen des vorhergehenden Tages ganz aufgeweicht waren.

Früh am Morgen kamen die beiden Kinder aus Smaaland, das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads die Landstraße gegangen, die von Sörmland nach Närke hineinführt. Der Weg ging an dem südlichen Ufer des Hjelmar entlang, und die Kinder betrachteten das Eis, das noch den größten Teil des Sees bedeckte. Die Morgensonne warf ihren hellen Schein auf das Eis, und es sah gar nicht so dunkel und unheimlich aus, wie sonst das Frühlingseis, sondern es schien weiß und verlockend. So weit sie darüber hin sehen konnten, lag es fest und trocken da. Das Regenwasser war schon in die Löcher und Spalten hineingelaufen oder auch von dem Eis selbst aufgesogen. Sie sahen nichts als die herrliche Eisfläche.

Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads waren auf der Wanderung gen Norden begriffen, und sie mußten unwillkürlich denken, wie viele Schritte ihnen erspart werden würden, wenn sie quer über den großen See gehen könnten, statt rund um ihn herumzuwandern. Sie wußten wohl, daß Frühlingseis heimtückisch ist, aber dies sah ja so vollkommen sicher aus. Sie konnten sehen, daß es drinnen am Lande mehrere Zoll dick war. Und sie sahen auch einen Weg, den sie verfolgen konnten, und das gegenüberliegende Ufer erschien so nah, daß sie in einer Stunde hinüber gelangen mußten.

»Komm, laß es uns versuchen!« sagte der kleine Mads. »Wenn wir nur achtgeben, daß wir nicht in eine Wake hineinplumpsen, so wird es schon gehen.«

Und damit begaben sie sich auf den See hinaus. Das Eis war nicht allzu glatt, es ging sich sehr angenehm darauf. Es stand freilich mehr Wasser darauf, als sie vom Wege aus hatten sehen können, und hier und da waren Blasen im Eis, wo das Wasser auf und nieder quoll. Vor den Stellen mußte man sich in acht nehmen, aber das war ja eine Kleinigkeit mitten am Tage in dem hellen Sonnenschein.

Es ging schnell und leicht vorwärts, und die Kinder sprachen von nichts weiter, als wie klug sie gewesen waren, übers Eis zu gehen, statt die aufgeweichte Landstraße zu verfolgen.

Als sie eine Strecke gegangen waren, kamen sie in die Nähe von Vinö. Da sah eine alte Frau sie von ihrem Fenster aus. Sie trat in die Tür hinaus, winkte ihnen und rief etwas, das sie nicht hören konnten. Sie verstanden sehr wohl, daß sie sie warnte, ihre Wanderung fortzusetzen. Aber sie, die selbst draußen auf dem Eis waren, konnten ja sehen, daß keine Gefahr vorlag. Es würde ja dumm sein, an Land zu gehen, wenn alles so vorzüglich ging.

Sie wanderten also an der Vinö vorüber und hatten nun eine meilenweite Eisfläche vor sich. Hier draußen war stellenweise so viel Wasser auf dem Eis, daß die Kinder große Umwege machen mußten. Aber das fanden sie nur ergötzlich. Sie wetteiferten, ausfindig zu machen, wo das Eis am besten war. Sie waren weder müde noch hungrig. Sie hatten den ganzen Tag vor sich, und sie lachten nur, wenn sie auf neue Hindernisse stießen.

Von Zeit zu Zeit sahen sie nach dem gegenüberliegenden Ufer hinüber. Es schien noch so weit weg, obwohl sie schon eine gute Stunde gegangen waren. Sie waren ein wenig erstaunt, daß der See so breit war. »Es ist, als wenn das Ufer vor uns wegliefe,« sagte der kleine Mads.

Hier draußen war kein Schutz gegen den Westwind. Er wurde mit jedem Augenblick heftiger und hüllte sie so fest in ihre Kleider, daß es ihnen schwer wurde, sich zu bewegen. Der starke Wind war die erste wirkliche Unannehmlichkeit, die ihnen auf der Wanderung begegnet war.

Es wunderte sie, daß der Wind so merkwürdig stark dröhnte, als habe er den Lärm aus einer großen Mühle oder einer Fabrik mitgenommen. Aber so etwas gab es ja doch nicht da draußen auf der Eisfläche.

Sie waren westlich um die große Insel Valen herumgegangen, und nun meinten sie, merken zu können, daß sie sich dem nördlichen Ufer näherten. Gleichzeitig aber wurde der Wind heftiger, und das gewaltige Bullern, das ihn begleitete, nahm so stark zu, daß sie anfingen, unruhig zu werden.

Auf einmal kam ihnen der Gedanke, daß der Lärm, den sie hörten, von Wellen kommen könne, die schäumend und brausend gegen eine Küste schlugen, aber das war ja unmöglich, da der See noch mit Eis bedeckt war.

Trotzdem blieben sie stehen und sahen sich um. Ganz draußen, nach Westen zu, bei Björnö und Göcksholmsland gewahrten sie eine weiße Mauer, die quer über den See ging. Erst glaubten sie, es sei ein Schneerand, der an einem Wege entlang laufe, aber sie begriffen bald, daß es Schaum von Wellen war, die gegen das Eis schlugen.

Als sie das sahen, gaben sie sich die Hände und fingen an zu rennen, ohne ein Wort zu sagen. Der See war nach Westen zu offen, und sie glaubten sehen zu können, daß der Schaumrand schnell nach Osten zu vorrückte. Sie wußten nicht, ob das Eis im Begriff war, überall aufzubrechen, oder was geschehen könne. Aber sie fühlten, daß sie nun in Gefahr waren.

Plötzlich schien es ihnen, als höbe sich das Eis gerade an der Stelle, wo sie liefen, als höbe es sich und sinke wieder, als habe jemand von unten dagegen gestoßen. Dann hörten sie einen dumpfen Knall im Eis, und gleich bildeten sich nach allen Seiten Risse darin. Die Kinder konnten sehen, wie sie durch die Eiskruste liefen.

Nun wurde es einen Augenblick still auf dem Eis, dann aber spürten sie wieder dasselbe Heben und Senken. Nun begannen die Risse, sich zu Spalten zu erweitern, durch die man das Wasser hervorquellen sah. Gleich darauf wurden die Spalte zu Rinnen, und die Eiskruste teilte sich in große Schollen.

»Aase,« sagte der kleine Mads. »Ich glaube, dies ist Eisbruch!«

»Ja, das ist es, kleiner Mads,« sagte Aase. »Aber wir können das Ufer noch erreichen. Laufe, so schnell du kannst.«

In der Tat hatten der Wind und die Wellen noch genug damit zu tun, das Eis von dem See zu entfernen. Die schwerste Arbeit war freilich getan, wenn erst die Eiskruste zerbrochen war, aber alle die Stücke sollten wieder geteilt und gegeneinander geworfen und zertrümmert und zerrieben und aufgelöst werden. Es war noch eine Menge hartes, festes Eis vorhanden, das große, ganze Schollen bildete.

Die größte Gefahr für die Kinder aber war, daß sie keinen Überblick über das Eis hatten. Sie vermochten nicht zu sehen, wo die Spalte so breit waren, daß sie nicht darüber hingelangen konnten. Sie wußten nicht, wo sie die großer Eisschollen finden sollten, die sie tragen konnten. Daher wankten sie aufs Geratewohl hin und her. Sie kamen weiter auf den See hinaus, statt sich dem Ufer zu nähern. Sie wußten nicht aus noch ein da draußen auf dem berstenden Eis, und sie waren so bange, daß sie schließlich stehen blieben und weinten.

Da kam eine Schar wilder Gänse in gestrecktem Flug über ihren Köpfen daher. Sie schrien laut und stark, und das Sonderbare war, daß die Kinder deutlich die Worte hörten: »Ihr müßt nach rechts gehen, nach rechts, nach rechts!«

Sie setzten sofort ihre Wanderung fort, den Rat befolgend. Aber es währte nicht lange, da standen sie wieder zögernd vor einem breiten Spalt.

Wieder hörten sie die Gänse über ihren Köpfen schreien, und aus ihrem Gegacker konnten sie einige Worte unterscheiden: »Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid!«

Die Kinder sprachen kein Wort miteinander über das, was sie hörten, aber sie gehorchten und standen still. Nach einer Weile glitten die Eisschollen zusammen, und sie konnten über den Spalt gelangen. Dann gaben sie sich wieder die Hände und liefen weiter.

Sie ängstigten sich nicht nur vor der Gefahr, sondern auch vor der Hilfe, die ihnen zuteil wurde.

Bald standen sie wieder still und besannen sich, aber sofort hörten sie eine Stimme von oben aus der Luft: »Geradeaus! Geradeaus! Geradeaus!« sagte die Stimme.

So ging es ungefähr eine halbe Stunde weiter, da aber hatten sie die lange Lungarsodde erreicht und konnten das Eis verlassen und an Land waten. Es war deutlich zu sehen, wie bange sie gewesen waren, denn als sie an Land gekommen waren, blieben sie nicht einmal stehen, um sich den See anzusehen, auf dem die Wellen jetzt immer gewaltsamer mit den Eisblöcken herumtummelten, sondern sie eilten nur weiter. Aber als sie eine Strecke auf die Landzunge hinaufgekommen waren, stand Aase plötzlich still. »Warte mal, kleiner Mads,« sagte sie, »ich habe etwas vergessen.

Und sie ging wieder hinab an den See. Dort begann sie in ihrem Beutel zu wühlen und zog schließlich einen kleinen Holzschuh heraus. Den stellte sie auf einen Stein, wo man ihn ganz deutlich sehen konnte, und dann kehrte sie zu Mads zurück, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Kaum aber hatte sie dem See den Rücken gekehrt, als eine große, weiße Gans wie ein Blitz aus der Luft herunterschoß, den Holzschuh ergatterte und mit derselben Eile wieder in die Luft hinaufschoß.

XXV. Die Erbteilung

Donnerstag, 28. April.

Als die Wildgänse dem Gänsemädchen Aase und dem kleinen Mads über den Hjelmarn geholfen hatten, flogen sie geradewegs gen Norden bis sie nach Vestmanland hineingelangten. Dort ließen sie sich auf einem der großen Felder im Fellingsbroer Kirchspiel nieder, um auszuruhen und zu fressen.

Niels Holgersen war auch hungrig, schaute aber vergeblich nach etwas Eßbarem aus. Während er dastand und sich nach allen Seiten umsah, entdeckte er auf dem benachbarten Felde ein Paar Männer, die pflügten. Plötzlich ließen sie die Pflüge stehen und setzten sich hin, um Frühstück zu essen. Der Junge lief hinter ihnen drein und schlich sich hinter die beiden Männer. Es war ja nicht unmöglich, daß er einige Brotkrumen oder eine Kruste finden würde, wenn sie fertig waren.

An dem Felde entlang ging ein Weg, und auf dem kam ein alter Mann gegangen. Als er die beiden Pflüger sah, blieb er stehen, kroch über den Zaun und ging zu ihnen heran. »Ich wollte auch gerade frühstücken,« sagte er, nahm seinen Ranzen ab und holte Brot und Butter heraus. »Es ist schön, daß ich nicht allein am Grabenrande zu sitzen brauche,« fuhr er fort. Und dann geriet er in Unterhaltung mit den beiden Pflügern, und sie erfuhren bald, daß er ein Grubenarbeiter aus Norberg war. Jetzt arbeitete er nicht mehr. Er war zu alt, um auf den Grubenleitern auf und nieder zu klettern, aber er wohnte noch in einem Häuschen in der Nähe der Grube. Er hatte eine Tochter in Fellingsbro verheiratet; die hatte er eben besucht, und sie wollte, daß er zu ihr ziehen sollte, aber dazu konnte er sich nicht entschließen.

»Ihr findet also, daß es hier nicht schön ist wie in Norberg?« fragten die Bauern mit einem Lächeln, denn sie wußten ja, daß Fellingsbro eines der größten und reichsten Kirchspiele in der Gegend ist.

»Wie könnte ich es wohl ertragen, in so einer Ebene zu wohnen,« sagte der Alte und machte eine abwehrende Handbewegung, als sei das etwas ganz Undenkbares. Und dann fingen sie in aller Freundschaft an, sich darüber zu streiten, wo in Vestmanland es am schönsten zu wohnen sei. Der eine von den Landleuten war in Fellingsbro geboren und er redete der Ebene das Wort, der andere aber war aus der Vesteraaser Gegend, und er fand, daß die Ufer des Mälars mit ihren bewaldeten Inseln und schönen Landzungen der beste Teil der Gegend sei. Der Alte wollte sich aber nicht überzeugen lassen, und um es ihnen einleuchtend zu machen, daß er recht habe, bat er, ob er ihnen nicht eine Geschichte erzählen dürfe, die er in seiner Jugend von alten Leuten gehört hatte: »Hier in Vestmanland wohnte vor langen Jahren eine alte Frau aus dem Riesengeschlecht; sie war so reich, daß die ganze Gegend ihr gehörte. Sie hatte alles, war ihr Herz nur begehren konnte, und doch lebte sie in großer Sorge, denn sie wußte nicht, wie sie ihren Besitz unter ihre drei Söhne teilen sollte.

Die Sache war die, daß sie sich nicht soviel aus den beiden ältesten Söhnen machte, der jüngste aber war ihr Augapfel. Sie gönnte ihm das beste Erbteil, aber gleichzeitig fürchtete sie, daß Unfriede zwischen ihm und seinen Brüdern entstehen könne, wenn sie entdeckten, daß sie nicht gleichmäßig zwischen ihnen geteilt hatte.

Und dann eines Tages fühlte sie, daß sie dem Tode so nahe war, daß sie keine Zeit mehr hatte, sich länger zu bedenken. Da rief sie alle ihre drei Söhne zu sich und sprach mit ihnen über die Erbschaft.

»Nun habe ich meinen ganzen Besitz in drei Teile geteilt, zwischen denen ihr wählen könnt,« sagte sie. »Zu dem einen Teil habe ich alle meine Eichenhügel und bewaldeten Inseln und blühenden Wiesen gelegt, und das alles habe ich um den Mälar herum vereint. Wer das Teil wählt, bekommt gute Weide für Schafe und Kühe auf den Strandwiesen und auf den Inseln kann er sich Laub zu Winterfutter holen, wenn er dort nicht Gärtnerei betreiben will. Eine Menge Buchten schneiden dort in das Land ein, so daß da gute Gelegenheit zu Frachtfahrt und allerlei Verkehr ist. Wo die Bäche in den See münden, bekommt er gute Hafenplätze, so daß ich glaube, es werden sich dort auf seinem Gebiet Städte und Dörfer erheben. Und auch an Ackerland wird es ihm nicht fehlen, obwohl das Land so zerstreut liegt. Es ist nur gut, daß seine Söhne sich von Anfang daran gewöhnen, von einer Insel zur anderen zu ziehen, denn das wird sie zu guten Seeleuten machen, die nach fremden Ländern fahren und Reichtümer heimbringen werden. Ja, das war das erste Teil. Was sagt ihr dazu?«

Alle Söhne waren sich einig darin, daß dies Teil ausgezeichnet sei und daß, wer es erhielte, sich glücklich preisen könne.

»Ja, an dem Teil ist nichts auszusetzen,« sagte die alte Riesenfrau, »und auch das zweite ist nicht übel. Darin habe ich alles das vereint, was ich an ebenem Erdboden und freiem Felde besitze und habe es von der Mälargend bis nach Dalarna hinaufgelegt. Wer das Teil wählt, wird es, glaube ich, nicht bereuen. Er kann so viel Korn bauen, wie er will und sich große Häuser bauen, und weder er noch seine Nachkommen brauchen sich auch nur eine Stunde Sorge um ihr Auskommen zu machen. Damit die Ebene nicht sumpfig wird, habe ich große Gräben quer durch sie hindurchgezogen, und darin ist hier und da ein Wasserfall, an dem Mühlen und Hammerwerke gebaut werden können. Und an den Gräben entlang habe ich Kieshügel aufgetragen, auf denen Wald zu Brennholz wachsen kann. Ja, das ist das zweite Teil, und ich meine, wer das bekommt, hat allen Grund, zufrieden zu sein.«

Darin stimmten alle drei Söhne mit ihr überein, und sie dankten ihr, daß sie es so gut für sie geordnet hatte.

»Ich habe es gern so gut wie möglich machen wollen,« sagte die Alte, »aber nun komme ich zu dem, was mir am meisten Sorge bereitet hat. Denn, seht ihr, als ich alle meine Haine und Weiden für das eine Teil genommen hatte und die frisch bestellten Gegenden für das andere, entdeckte ich, daß ich in meinem Besitz nur noch Fichtenhügel und Tannenwälder und Bergrücken und Felsenufer und Granitklippen und magere Wacholdergestrüppe und elende Birkengehölze und kleine Seen hatte. Und daß sich dazu niemand von euch freuen würde, konnte ich ja begreifen. Trotzdem habe ich all den Plunder zusammengesammelt und ihn hier nördlich und westlich von der Ebene hingelegt. Aber ich fürchte, daß der, der dies Teil wählt, nichts weiter als Armut zu erwarten hat. Schafe und Ziegen werden den ganzen Viehbestand bilden, den er halten kann, und er wird wohl auf die See hinausgehen müssen, um zu fischen oder in den Wald auf Jagd, um sich Nahrung zu schaffen. Da sind freilich eine Menge Gießbäche und Wasserfälle, so daß sich da vielleicht so viele Mühlen bauen ließen, wie er Lust hat, aber ich fürchte, er wird nicht viel anderes als Baumrinde darauf zu mahlen haben. Und sehr beschwerlich bekommt er es mit Wölfen und Bären, denn die werden sicher in der Wildnis hausen. Ja, das ist das dritte Teil. Ich weiß wohl, daß es nicht mit den anderen verglichen werden kann, und wäre ich nicht so alt, so würde ich die Teilung noch einmal vornehmen, aber das ist unmöglich. Und nun habe ich keine Ruhe in meiner letzten Stunde, weil ich nicht weiß, wem von euch ich das geringste Teil geben soll. Ihr seid alle drei gute Söhne gewesen, und es ist schwer, ungerecht gegen einen von euch zu sein.«

Nachdem die alte Riesenfrau sie mit dem Stand der Dinge vertraut gemacht hatte, sah sie die Söhne bekümmert an. Diesmal sagten sie nicht, so wie früher, daß sie gerecht geteilt und gut für sie gesorgt habe. Sie standen stumm da, und es war leicht zu sehen, daß derjenige von ihnen, der das letzte Teil bekam, unzufrieden sein würde.

Ja, da lag die alte Mutter und war voller Sorgen, und die Söhne konnten sehen, daß sie alle Qualen des Todes schon im voraus kostete, weil sie das Erbe unter sie verteilen mußte und nicht wußte, wen von den Söhnen sie unglücklich machen sollte, indem sie ihm das geringste Teil zusprach.

Der jüngste aber liebte seine Mutter am innigsten, und er konnte es nicht ertragen, zu sehen, wie sie sich quälte. Er sagte: »Ihr sollt Euch um dieser Sache willen keine Sorge mehr machen, Mutter! Legt Euch nur hin und sterbt in Frieden! Das schlechte Teil könnt Ihr mir schenken. Ich werde mir Mühe geben, mich redlich darauf durchzuschlagen, und wie es auch gehen mag, ich werde Euch nicht zürnen, weil die anderen es besser haben als ich.«

Sobald er das gesagt hatte, wurde die Mutter ruhig und sie dankte ihm und lobte ihn. Die anderen Teile zu bestimmen, machte ihr keine Schwierigkeiten, denn sie waren fast gleich gut.

Als alles geordnet war, dankte die Alte dem jüngsten Sohn noch einmal und sagte, sie habe erwartet, daß gerade er ihr helfen werde. Und sie bat ihn, wenn er in seine Wildnis hinaufkomme, der großen Liebe zu gedenken, die sie für ihn gehegt hatte.

Damit schloß sie ihre Augen und starb, und als die Brüder sie in die Erde gebettet hatten, gingen sie alle drei hin, um ihr Besitztum anzusehen. Und die beiden ältesten konnten ja nur froh und zufrieden sein.

Der dritte ging in seine Wildnis hinauf, und er sah, daß die Mutter wahr geredet hatte, und daß sein Besitz in der Hauptsache aus Bergabhängen und kleinen Seen bestand. Aber er konnte deutlich erkennen, daß die Mutter mit Liebe seiner gedacht, als sie dies Teil für ihn zurechtlegte, denn obwohl sie nichts weiter als Plunder übrig gehabt hatte, war es doch so geordnet, daß man sich kein schöneres Land denken konnte. Stellenweise war es rauh und wild, schön war es aber trotzdem. Es tat ihm wohl, das zu sehen, aber froh war er doch nicht.

Nach und nach aber bemerkte er, daß der Felsgrund hier und da ein wunderliches Aussehen hatte. Und als er genauer zusah, entdeckte er, daß er fast überall mit Erzadern durchwachsen war. Es war hauptsächlich Eisen, aber es fand sich auch reichlich Kupfer und Silber dort oben auf seinem Besitz. Er ahnte, daß er größere Reichtümer bekommen hatte, als einer der Brüder, und allmählich wurde es ihm klar, daß seine alte Mutter doch eine Absicht mit der Erbteilung gehabt hatte.