Das Waldmärchen

Das Waldmärchen

Die Vorlesung war beendet.

»Vortrefflich!« sagte der Professor. Der Autor verbeugte sich gegen ihn und die übrige in weitem Kreise ihn umgebende Gesellschaft und faltete sein Manuskript.

»Ein deliciöses Märchen! Charmant! Höchst originell!« versicherten die Damen. Die Wirtin des Hauses bedankte sich bei dem Autor; der Autor bedankte sich bei den Damen.

»Ein Märchen?« fragte ein junger Mann. »Ich hätte das eher für eine Allegorie gehalten.«

»Nun«, erwiderte ein ältliches Fräulein, »ist denn das Märchen etwas anderes als ein buntes, die wirklichen Gegenstände magisch färbendes Glas, durch welches wir die uns bekannte Welt erblicken? Und ist das nicht eine Art Allegorie?«

»Ah so!« sagte der junge Mann; »ich hatte mir etwas anderes darunter gedacht.«

»Bei alledem«, sprach ein wohlwollender Kritiker, »liegt eine unergründliche Tiefe der Anmut in der Konzeption dieses Märchens und seiner fernen blauen Zauberberge.«

»Freund!« erwiderte ihm der Dichter, »ein Märchen ist überhaupt immer – die blaue Blume, die uns das blaue Wunder erschließt.«

»Ich hatte mir aber dennoch etwas anderes gedacht«, wiederholte der junge Mann vor sich hin. »Ich meinte, das Märchen ziehe fremdartige Lebensgestalten um die Gestaltung unseres Menschenlebens her.«

»Ein wunderliches Prinzip führt zur Einseitigkeit!« murrte der Professor.

»Ich verstehe von dem allen kein Wort«, sagte ein hübscher Jüngling – es war der Sohn vom Hause –, »ich denke mir aber, es ist mit dem Märchen wie mit der Liebe, die auch kein Weiser richtig definiert: jeder denkt sich etwas anderes darunter. Aber«, fuhr er zu mir und noch ein paar jungen Leuten gewendet fort, »kommt lieber mit mir ins Vorzimmer: da sitzt meine Schwester Linda unter den Kindern, die heute nicht in die Gesellschaftszimmer dürfen, und erzählt ihnen auch Märchen. Waldmärchen, Quellenmärchen – was weiß ich? Vielleicht ist dein anderes Märchen darunter«, lachte er seinem Freunde zu.

Wir waren im Gespräch weitergegangen; im ersten Salon saß wirklich ein junges Mädchen unter den Kindern und erzählte.

»Aber was in aller Welt ist denn ein Quellenmärchen?« fragte ich.

»Das weißt du nicht? Das weißt du nicht einmal?« riefen die Kinder durcheinander. »Ich will dir’s sagen.« – »Nein, nein, ich!« überschrie eins das andere. »Drunten – nein doch! ganz hinten im Garten ist ein kleiner, ganz kleiner Quell, und mit dem kann Tante Linda reden.«

»Ich habe es oft angehört«, versicherte Cäcilie, die Hand aufs Herz legend. »Ich auch! ich auch!« die andern. »Und was er ihr erzählt, das erzählt sie uns alles wieder.«

»Ja«, sagte Edmund sehr ernsthaft, »und wenn der Quell die Geschichte anfängt, so legen sich die kleinen Veilchen auf die Erde unter die Blätter hin und hören zu, und die Grashälmchen spitzen die grünen Öhrchen. Und der Schmetterling schlägt hinten seinen bunten Frack zusammen und setzt sich – siehst du, so!« und er setzte sich als Schmetterling; »und dann, ja, dann kommt die huschliche, fahrige Libelle, die nie ordentlich achtgibt; und die Biene in ihren Honighöschen beeilt sich ganz unsäglich und möchte es gar zu gern mit anhören, läßt sich aber keine Zeit vor dem Feierabend; sie ist gar zu haushälterisch und übertreibt’s ein bißchen – und dann –«

»Nun?« fragte ich sehr ergötzt weiter, »was sagt der Quell?«

»Oh! erst legen sich am Abend lange goldene Sonnenstrahlen über den Bach hin, darauf tanzen die Mücken, bis sie müde sind, und erst dann wird es still, so ganz still! Die Glühwürmchen zünden ihre Laternchen an, und der Quell beginnt sein Märchen.«

»Und wie ist denn das schöne Märchen?«

»Ei, das ist jedesmal anders, aber es gleicht sich; denn siehst du, es ist ein Familienmärchen; da erfahren wir immer mehr, und dann ist das Hübsche – es hat gar kein Ende.

Erst ist da der alte, uralte Ahn im Walde; der wohnt in der hohlen Eiche und ist älter und viel klüger als die kleinen Menschen um ihn her.« – »Er ist auch größer«, sagte Jenny.

»Freilich«, erwiderte Otto, »aber er ist nicht immer so klug gewesen. Er hat einmal etwas sehr Böses getan: er hat sich gegen die Gnomen vergangen, die an seinen Wurzeln zur Außenseite der Erde hinauf ans Licht klettern wollten.«

»Ja, und die Gnomen waren keine bösen Geister: es waren Leute von kleinem Volk und hatten es gut mit dem Grafen im Sinn, dem der Boden gehörte, auf dem die Eiche stand. Sie wollten seiner Tochter Hochzeitsgeschenke bringen und einen kleinen Hausgeist bei ihr zurücklassen, der sollte ihr Glück beschirmen.«

»Und ihre Kinder hüten«, sagte Jenny.

»Ja, aber sie hatte noch keine; das kommt viel später.«

»Also nun konnten die Erdgeister den Segen nicht hinaufbringen?«

»Nein, und die Familie verarmte, und alle Kinder des Hauses welkten hin und kamen um, so daß der Name ganz ausstarb.«

»Nun ist aber ein altes Gesetz«, nahm der älteste Knabe das Wort, »daß die Naturgeister keinem lebenden Wesen mutwillig schaden dürfen und besonders nicht den Menschen. Und als nun der Graf und seine wunderschöne Tochter Sismonde und alle ihre Geschwister, ja selbst alle ihre Kinder, dahinstarben und vergingen wie das Gras auf dem Felde, ward der Elfe gestraft: er verlor die Sprache und durfte den Baum nicht mehr verlassen.

Zu seiner Qual muß er nun still zusehen«, erzählte Edmund weiter, »wie unter ihm seine lieben Menschen – denn er liebt sie, und besonders alle auf dem Gute Geborenen – sich vergehen gegen die Natur und Unrecht untereinander tun. Aber er sitzt fest in seinem Baume, er darf nicht warnen, wenigstens nicht mit Worten. Da kommt der Jäger ganz übermütig und schießt das muntere Wild: das kränkt den Elfen, er rauscht mit den Zweigen, was er weiß und kann. ›Ein frischer Morgenwind heute!‹ spricht der Jäger und hetzt den Jagdhund. Böse Buben kommen, nehmen die Nester aus, verstümmeln die armen Vögelchen – da ächzt die Eiche in den Zweigen. ›Was das alte Holz knarrt!‹ lachten die Knaben; ›wär bald gut für den Ofen!‹ – Am schlimmsten aber war die Geschichte mit dem Oberförster.«

»Die will ich erzählen!« rief Otto. »Nein, nein, die Tante!« schrien und baten die Kleinen, »die liebe, liebe Geschichte mit dem Oberförster!«

Und die gute Tante fing an: »Es war also von dem gewaltigen Grafenstamme, dem der Boden eigen, auf welchem die alte Eiche stand, niemand mehr übrig. Da kam ein junger Mensch aus Ungarn in das Land und verdingte sich als Lehrbursche in die Försterei, die zum Gute gehörte, das nun an eine Seitenlinie des Hauses, entfernten Vettern, zugefallen war. Der alte Förster, ein eigensinniger, harter Mann, konnte die neue Herrschaft nicht leiden, darum vernachlässigte er auch alles in seinem Amte, was nicht eben ins Auge fiel, und tat nur das unumgänglich Nötige. Elmrich, der neue Lehrbursche, war flink, tätig, aber leichten Sinnes und tat das Notwendige am letzten; dagegen liebte er das Schöne und Wunderbare im Walde, pflegte und schonte die Blumen am Rain und freute sich der jüngsten Bäumchen, wenn sie nur schlank und frisch waren und anmutig so vom Hauch des Windes hin und her schwankten wie weiße Mädchen. Darum zog er auch die Erlen, Espen und Birken allen andern vor. Auch jagen mochte er gern, schoß aber nur das alte, kluge Wild, gegen das er einen Kampf zu bestehen hatte: am liebsten das wilde Schwein; die jungen Rehe aber fütterte er, zähmte sie leicht und unterhielt sich oft stundenlang mit ihnen. Bei all seinem Frohsinn war er ein Träumer, ging gern den ganzen Tag hindurch von einem Revier zum andern, saß aber dann auch oft stundenlang sinnend und träge am Fuße eines alten Stammes und sah ins Blaue.

Seltsam war es, daß, obschon der junge Bursch, lustig und träumerisch zugleich, oft unfleißig war, doch von dem Augenblicke an, da er in den Dienst kam, der Forst zu wachsen und zu gedeihen begann wie nie zuvor. Es hatten nie so viele Blumen zwischen Moosen und Farrenkräutern geblüht, der Rasen an den Lichtungen war nie so dicht und grün gewesen, die Bäume hatten nie so unbegreiflich schöne Kronen gehabt. Es war ordentlich, als wenn die Sonne wärmer scheine, wo er hintrat, so wunderbar gedieh alles um ihn her. Elmrich achtete nicht darauf. Er war gewohnt, sich dem Augenblick und seiner Forderung kräftig hinzugeben – oder zu träumen und gar nichts zu tun. Aber in seinen Träumen dachte er nicht an den Wald. Er dachte an prächtige Feste in goldblitzenden Schlössern, an schöne Frauen und zahllose Gäste, an Pferde und glänzenden Schmuck, an Sammet und Perlen, aber nicht an die weißen schwankenden Birken, nicht an den grünen Sammet des Rasens, auf dem er lag, nicht an die Tautropfen, die den Primeln wie Perlen in den bunten Blumenöhrchen hingen.

Eines Tages, als er auch so im Gehölze lag und seinen Gedanken sich hingab, fing er an, von einem innern Unmut getrieben, laut zu klagen. ›Warum‹, sprach er, ›bin ich ein Findling? ein Waisenkind, das nicht einmal seine Eltern kennt? Vielleicht ist mein Vater kein armer Landmann, kein Dorfbewohner: er kann reich sein und vornehm – und vielleicht weint er heiße Tränen um seinen ihm entrissenen Sohn. Als mich der Jäger in den Klauen eines Lämmergeiers hoch in den Wolken schweben sah und den bösen Gast, da er eben niederstieß, mit seiner Büchse traf, als der Räuber mit seiner Beute in den Fängen unter den Hirten sterbend niedersank, da jammerten vielleicht meine fernen Eltern um ihr verlorenes Kind, suchten mich und hielten mich endlich für tot – und mein Erbe ging über in andere, fremde Hand, und mein Schild ward zerbrochen, und mein Name verschwand von der Erde. Ist’s aber nicht gerade, als lebe alles noch heimlich in mir fort und drängte mich unaufhörlich in die Bahn zurück, die ich unbewußt verlassen? Ach, daß ich ein armer, armer Forstlehrling bin!‹

Indem er so sprach, begann die alte Eiche über seinem Kopfe ganz seltsam zu wogen und zu rauschen; es war fast, als antwortete sie seinen Klagen, ja es schien ihm sogar, als senke sie die Zweige gegen ihn. Sogleich kehrte ihm der leichte, frohe Mut zurück und, sich aufrichtend und in die Höhe schauend, rief er lustig dem Baume zu: ›Nimmst du teil an mir, alter Freund? Ich danke dir, daß du so viel Gefühl für ein armes Menschenkind hegst. Freilich, freilich ist dein grüner Baldachin, den du so schön über mich hinwölbst, noch schöner als ein sammetner und obendrein mit echtem Sonnengold durchwirkt! Darum ist’s gar hübsch von dir, du alte Waldperücke, daß du mir’s nicht übel nimmst, daß ich an jenen denke, ja, daß du’s dennoch immer gleich gut meinst mit mir!‹ Und die gute alte Eiche rauschte und rauschte und rauschte immer gewaltiger. Curios! dachte der Bursch: es weht doch gar kein Wind! Er sah die Eiche immer fester an, da fiel ein Zweiglein ab von ihr, daran saßen drei Blätter, und an der Stelle, wo das Zweiglein abgefallen war, schien es dem Jäger einen Augenblick, als blickten ihn ein Paar braune Augen an; wie er aber genau hinsah, waren es Blätterschatten. Das Zweiglein nahm er auf und steckte es an seinen Hut und sagte lachend: ›Schön Dank, alter Freund! und geb‘ dir Gott einen sonnigen Tag!‹ und damit ging er wieder an seine Arbeit.

Der Eichenbaum, oder vielmehr der Elfe in der Eiche, war sehr bewegt und betrübt. Er hatte den Lämmergeier persönlich gekannt, von dem der Jäger sprach, und ein Kuckuck, der bei einem Hänfling aus und ein ging, welcher in seinen Zweigen wohnte, hatte ihm erzählt, wie der böse Raubvogel in einem weit entlegenen Dorfe ein Kind seiner schlafenden Wärterin geraubt und daß dies des letzten Grafen erstgebornes Söhnlein gewesen. Der arme Vater kam kinderlos von einer weiten Reise zurück, die er in Ungarn mit seiner Gemahlin gemacht hatte. Im Dorfe war es verboten, viel davon zu reden, und man hoffte auf einen neuen Erben. Aber obschon die schöne Gräfin Sismonde wieder gesegnet ward und auch wirklich noch ein Jünkerlein gebar, so starb doch das arme Knäbchen schon in den ersten Tagen nach seiner Geburt. Der Graf trug aber den Kummer nicht lange, er und seine Gattin starben jung, und das Lehngut kam in andere Hände. Die tückische Undankbarkeit des Lämmergeiers gegen den Grafen, den die gute Eiche gewissermaßen als dessen Brotherrn betrachtete, hatte sie damals tief betrübt und empört. Nun sie aber die Strafe desselben, den schmählichen Tod des Kinderräubers, vernahm und den schönen Grafensohn frisch und gesund in ihrem Schatten liegen sah, dachte sie nur an das gegenwärtige Glück, und all ihr Dichten und Trachten ging darauf aus, ihm wieder zu seines Herrn Vaters Grafenhut und Erbe zu verhelfen. Nebenbei hoffte sie durch diese Vergütung, die Sprache wiederzuerhalten und sich nicht mehr ärgern zu müssen, wenn die Gräser und Blättchen, die ihr zu Füßen wuchsen, sich so heimlich flüsternd lange Geschichten erzählten, so leise, daß es nicht einmal das nächste Veilchen hörte.

Hätte der Elfe nur die Eiche verlassen dürfen, so hätte er seinen Zweck, sich mit dem schlanken Jäger zu verständigen, auch wortlos erreichen können; aber so konnte er ja nicht einmal seine Töchter besuchen, die ringsum in schönen Birken, Erlen und Espen wohnten, und mußte seine Botschaften durch die kleine Finkenpost an sie gelangen lassen.

Unter diesen ernsten Betrachtungen war es Abend geworden, und die Nacht nahm alles in ihren dunkeln Mantel. Da kamen drei versprengte Irrlichter durch den Wald getänzelt, die eine Herberge suchten. Es war leider liederliches Volk, das im Lande herumzog und ordentliche verständige Leute, wenn sie nachts vom Biere kamen, in den Sumpf lockte, weil jeder eins von ihnen für des Gevatters Laterne hielt. Sie traten vor die Eiche hin, machten ihre Reverenz und nahmen oben die Flammenspitze ab, die sie eine artige Weile in der Luft herumflattern ließen, ehe sie sie wieder aufsetzten: das sollte aber höflich sein; alsdann baten sie die Eiche um Nachtquartier.

Obgleich nun die Eiche nicht mehr auf unsere Menschenweise reden durfte, so hatte sie doch eine gewisse Art, sich den Naturgeistern, zu denen auch die drei Irrlichter gehörten, verständlich zu machen. Sie gestattete ihnen, ihr zur Seite an ihrem Fuße zu verweilen, und gab ihnen die gehörige Stärkung, die sie ganz hell und frisch aufleuchten machte; sie erzählte ihnen endlich auch des jungen Elmrichs trauriges Geschick und schenkte ihnen die Zeche mit der Bedingung: daß sie ihrerseits alles versuchen sollten, dem jungen Grafen begreiflich zu machen, wer er sei. Es ist traurig, dachte die Eiche, daß ich mich des guten Zweckes wegen mit all dem Lumpengesindel einlassen muß; mit dem Kuckuck, der auch kein sicherer Mann ist, werde ich ebenfalls noch reden müssen – indessen, ich muß denken, ich gehörte zum Elfenfrauen-Verein.

Elmrich dachte gar nicht mehr an seine gestrige Betrübnis; er hatte des Försters hübsche Tochter gern, und das Waldrösel, so wurde sie genannt, schien dem netten Burschen auch nicht gram zu sein. Wie er sie aber einmal gefragt hatte, ob sie ihn wohl leiden könnte, hatte sie erwidert: als Jäger sei er ihr schon recht; aber sie sei noch viel zu jung, um an etwas Ernsthaftes zu denken, und dächte lieber an bunte Bänder als an einen grünen Schatz. Der Vater aber sei nun gerade von der finstersten Sorte, und ihm werde gleich alles zu bunt: darum wollten sie lieber gar nicht mehr miteinander reden, denn der Vater habe eine schwere Hand! Wenn sie aber einander begegneten, so küßte Elmrich eine Rosenknospe, die er immer im Knopfloche trug, das Waldrösel aber lachte: es wußte wohl, daß dies soviel heiße als: ich möchte dir selbst einen Kuß geben. Das Rösel nahm dann wohl einen grünen Zweig und steckte ihn ins Haar, und das hieß soviel als: wenn ich deine Braut bin!

Wenige Tage nachdem der arme Elmrich unter der Eiche so bitterlich geklagt hatte, war im nah gelegenen Städtchen die Kirch weihe. Da nun eine Art Jahrmarkt damit verbunden war, ließ es dem guten Jungen keine Ruhe; die Batzen brannten ihm ordentlich in der Tasche, und ehe er sich’s versah, war er heimlich auf und davon, um dem Rösel die schönsten bunten Bänder zu kaufen. Sie wird schon dabei auch an mich denken, meinte er. Hilf Himmel, wie kam alles anders, als er gedacht!

Der alte verdrießliche Förster, der nur immer das ins Auge Fallende tat, hatte seit geraumer Zeit Wilddiebe im Forste bemerkt, ohne den Entschluß zu fassen, dem Unfug, den sie trieben, ernstliche Maßregeln entgegenzusetzen. Dadurch waren die Spitzbuben so keck geworden, daß sie sich bis in die Nähe des Forsthauses zu einem Wetterdächlein hinwagten, unter welchem in der harten Winterszeit das Wild gefüttert wurde, um es vor dem Verhungern zu schirmen, und an dessen Eingang eine Glocke hing, um es zu diesem Behuf zusammenzuläuten. Da nun eben in dieser Nacht heller Mondschein war, so daß man die Sechzehnender deutlich unterscheiden konnte, und die Wilddiebe alle Jäger, auch die Bauern umher, auf der Kirchweihe wußten, Elmrich aber, der als Jüngster zu Haus bleiben sollte, sich bei seinem Handel verspätet hatte, so beschlossen sie, das Wild zusammenzuläuten, und meinten, die alte Gewöhnung werde gewiß eins oder das andere hertreiben, obschon der Äsung jetzt die Hülle und Fülle war. Es geschah, wie sie’s erwarteten: bei dem Klange der Glocke nahte ein Rehbock und schritt stolz auf den Futterkasten zu. Die Schelme ließen ihn ruhig ziehen, denn sie hofften auf noch bessere Beute. Jetzt hörten sie ein Knistern und Brechen der Zweiglein im dichten Busch, als wie wenn der Edelhirsch naht mit seinem Rudel: sie drängten sich an die Hinterpfosten des Dächleins und legten an.

›Hab ich euch, Bursche?‹ tönte es donnernd hinter denselben, und mitten unter ihnen stand der greise Förster, faßte sogleich den ersten besten, warf ihn zu Boden und spannte den Hahn seiner Büchse. Der Alte hatte eine böse Nacht gehabt und eben das Fenster geöffnet, um frische Luft zu atmen, als plötzlich leise ein Lufthauch den Ton des Futterglöckleins an sein geübtes Ohr trug. Er lauschte – es wiederholte sich, und da er schon halb angekleidet war, stand er nach wenigen Augenblicken vor den Schelmen, als eben der Hirsch, von der Kugel des einen getroffen, zusammenstürzte.

Der Förster war allein, der Diebe waren drei; das hatte der unerschrockene Mann nicht bedacht, und jetzt riß ihn der Zorn über alle Überlegung fort: er faßte den zuerst Ergriffenen, riß ihn vor sich hin, setzte ihm den Fuß auf die Brust und drohte den andern, auf sie zu schießen, wenn sie sich nicht ergäben. Die Wilddiebe hatten nur eine Flinte, deren Schuß eben den Hirsch erlegt hatte; die wilden Bursche erschraken und ergriffen die Flucht, worauf der Förster seinem zitternden und zähneklappernden Gefangenen aufzustehen und vor ihm herzugehen befahl, während er die gespannte Büchse auf ihn gerichtet hielt. Unglücklicherweise vergaß er sich dabei zu wilden Drohungen: nun werde alles anders kommen und dem ganzen Raubgesindel solle mit einem Male der Garaus gemacht werden; man werde ihn schon zwingen, die Schlupfwinkel seiner Genossen zu entdecken, und so fort.

Die beiden andern Spitzbuben, die vorher geflohen, hatten sich nur wenige Schritte entfernt; sie bemerkten, daß der Förster allein blieb, keiner seiner Bursche ihm folgte, und brachen, von seinen Reden aufs äußerste getrieben, aus dem Versteck hervor – sie schossen auf den Förster. Zum Unglück hatte er Geräusch gehört, blickte um – die Kugel ging durchs Herz; der alte Mann sank zusammen.

In diesem Augenblick kam Elmrich; er gewahrte noch die Schelme auf der Flucht, wie sie mit dem Wilde zwischen den Bäumen verschwanden – näherte sich, in der Hoffnung, eine Spur der Täter zu entdecken, und fand den eben verschiedenen Förster. Tödlich erschrocken, versuchte er alles in seinen Kräften Stehende, ihn zu erwecken, rief so laut er konnte um Hülfe – umsonst!

Allmählich war es Dämmerung geworden, der Tag begann die Wipfel zu färben – da kamen die übrigen von der Kirchweihe heimkehrenden Bursche des Weges. Elmrich hörte sie und rief ihnen. Aber ach! anstatt seinen Worten zu glauben, hielten sie in halbem Rausche ihn selbst für den Mörder des Erschossenen und führten ihn der Dorfobrigkeit zu. Hier ward er vorläufig vernommen und bis auf weiteres in ein Unterzimmer des Schlosses, in eine Art Rumpelkammer, gesteckt; denn zu zwei ganz gemeinen Dieben, die im eigentlichen Gefängnis saßen, wollte man ihn nicht sperren, bis er förmlich verhört worden sei, was erst am folgenden Tage geschehen konnte, da der anbrechende ein Feiertag war.

Da lag nun der arme Schelm in einer schlechten Stube voll wunderlichen Gerümpels; da der Festigkeit der Türe nicht recht zu trauen, waren ihm die Arme rückwärts mit einem derben Strick zusammengebunden. Der Tag war draußen so sonnenhell und lustig – er aber saß betrübt, allein und elend, auf der harten Ofenbank und blickte sehnsüchtig durch das vergitterte Fenster in den frischen, frohen Wald. Sein Mut war sehr gesunken, und er sann über die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen, als er die deutlichen Worte: ›Trau auf Gott! Trau auf Gott!‹ dicht neben sich vernahm. Es war eine fromme Wachtel, die durch eine zerbrochene Scheibe zu ihm niedersah. Er blickte sie freundlich dankend an und dachte: Gutes Tier, habe manchen deiner nächsten Verwandten mit meiner Vogelflinte niedergeschossen – soll aber nicht wieder geschehen; will deines trostreichen Sprüchleins gedenken! Und somit streckte er sich auf die Ofenbank, um ein Stündchen zu schlafen.

Indem er sich umwandte, fiel sein Blick auf die drei Eichenblätter, die ihm kürzlich die alte Eiche geschenkt und die noch an seinem Hute steckten, der neben ihm lag. Er betrachtete sie genau: auf dem einen saß ein Gallapfel. Ach, dachte er, so schmausen wohl Fremde irgendwo auf meinem Eigentum und bauen Hütten; ich aber kann es nicht! – Auf dem zweiten Blatt war ein seltsam geformter gelber Fleck. Sieh, dachte er, gerade so einen gelben Fleck habe ich am linken Oberarme! – Das dritte Blatt war frisch und grün; es saß ein Marienkäferchen darauf. Bringe mir Glück! seufzte er, und bitt für mich bei Unsrer Lieben Frauen. Und damit schlief er ein.

Als er erwachte, lagen die dicken Stricke, mit denen er gebunden gewesen, neben ihm auf der Erde – ein Mäuschen hatte sie zerfressen! Fröhlich sprang er auf und trat ans Fenster, von dem aus die duftende laue Luft ihm entgegenströmte – da bog sich ein Rosenzweig durchs Fenster herein, an dem saß oben ein Rosenkönig, so recht ausgebildet wie ein Reichsapfel, und daneben ein blühendes Röschen. Schon recht! dachte der Jäger, wär ich ein König oder auch nur ein regierender Graf, ich wollte bald mein Röschen freien und es zur Rosenkönigin machen! Aber so – ›Kuckuck!‹ rief’s neben ihm. ›Kuckuck!‹ antwortete er, ›ja, mein guter Vogel, ich habe eben nicht viel zu kuckucken!‹

›Kuckuck!‹ antwortete der Vogel.

›Wohin denn, mein kluger Schatz?‹ sprach der Jäger. Da kam eine Elster ins Zimmer geflogen, zwischen die Eisenstäbe hindurch, und flog in eine Ecke auf einen alten Schrein, der dort stand. ›Kuckuck!‹ rief’s weiter.

Die Elster kannte er; sie war zahm, und der Förster hatte sie täglich gefüttert. ›Armes Tier‹, rief Elmrich bewegt, ›auch du hast deinen Herrn verloren!‹

Die Elster stocherte mit dem langen Schnabel am Schranke herum und zog endlich mit vieler Mühe ein Papier durch eine Ritze desselben hervor. ›Kuckuck!‹ sagte der Vogel im Fenster.

Wahrhaftig, dachte der Jäger, ihr guten Tiere behandelt mich als euren Verwandten, und wir sind’s auch vom Walde her. Ihr erleichtert mir wunderbar meine Einsamkeit und Gefangenschaft! Habt Dank! Und damit bückte er sich und nahm das Papier vom Boden auf, das die Elster hervorgekratzt hatte.

›O!‹ sagte er, ›das ist ja auch ein Baum, aber ein gemalter! Schade, daß ich ihn nicht recht sehen kann; es ist dunkel geworden, und morgen früh um drei holen sie mich ab und führen mich ins Stadtgericht – und mein armes Mädel hat nicht einmal die bunten Bänder, die ich für sie gekauft habe und die noch in meiner Tasche stecken, sondern lauter Kummer und Herzeleid.‹

Indessen schimmerte ein Licht durch die Fensterscheiben. ›Wer kommt?‹ fragte der Jäger.

Da standen drei leuchtende Irrlichter stockstill nebeneinander, als wollten sie ihm leuchten, und der Vogel Kuckuck schrie sich fast den Hals ab.

›Soll ich das lesen?‹ lachte Elmrich. ›Lesen, lesen, lesen!‹ hallte es durch den ganzen Wald.

Ich glaube, ich träume, dachte der Jägerbursch; –indessen trat er doch ans Fenster und betrachtete das Papier. Es war eine Kopie des oben im Saale befindlichen gräflichen Stammbaums. Er folgte aufmerksam von Geschlecht zu Geschlecht, von Ahn zu Enkel und begriff selbst nicht, warum ihn die alten Namen so zauberhaft anzogen; die drei Irrlichter leuchteten dazu. Als sie aber allmählich etwas schwach und müde wurden, weil das Stillstehen ganz gegen ihre Natur ist, schickte der Eichenelf eine zahllose Menge Glühwürmchen und Johanniskäferlein, die setzten sich in dichten Reihen auf die Stäbe des Gitters am Fenster und bildeten eine prächtige Girandole.

Die fernen Bauern aber, die aus der Schenke kamen und das seltsame Leuchten sahen, bekreuzten sich und sprachen still ein Paternoster; denn sie hielten es für ein Anzeichen, daß etwas Großes im Werke sei.

›Heilige Mutter Gottes!‹ sagte Elmrich – ›so ist’s denn wahr? Hier steht’s ja am Rande geschrieben, daß das älteste Kind des Grafen auf einer Reise in Ungarn von einem Geier entführt worden – und ich bin’s! Und bin Graf und Erbe all dieser Ländereien, und hier auf meinem Arme ist der Fleck, an dem man den Verlorenen erkennen soll – gerade wie auf dem Eichenblatt! Und ich sitze hier gefangen auf meinem eignen Schlosse!‹ Indem brach der Morgen an, und die Gerichtsdiener traten ein, ihn abzuholen.

Als Elmrich herausschritt, flogen Elster und Kuckuck mit, um als Zeugen gleich bei der Hand zu sein. Das Gericht erkannte seine Unschuld leicht; denn es war im Walde an den weit durch Busch und Strauch hindurchgehenden Schweißspuren des Hirsches und an alle den geknickten Zweigen und Blättern, auch an den vielen Fußstapfen zu sehen, daß außer unserm Jägerburschen noch mehrere Personen beim Tode des Oberförsters gegenwärtig gewesen. Auch daß sie den Hirsch mit fortgeschleppt und ihn also geschossen hatten, ließ sich beweisen. Ferner hatte man bei seiner Verhaftung keine Flinte bei Elmrich gefunden, und die tödliche Kugel paßte nicht in sein ungarisches Gewehr.

So ward er denn des Verdachts los und ledig gesprochen; worauf er vortrat, den versammelten Gerichtspersonen dankte und sie bat, ihnen etwas vortragen zu dürfen. Hierauf erzählte er seine seltsame Geschichte, zeigte ihnen den Stammbaum, den Flecken auf seinem Oberarme, die Elster und den Kuckuck und bat sie, die Sache zu untersuchen. Da war nun des Fragens, Verwunderns und Vergewisserns gar kein Ende, und erst spätabends wurde der junge Graf in sein Zimmer zurückgeführt, wo er auf sein Ersuchen in strengem Gewahrsam bleiben sollte, bis nach Ungarn geschrieben und die Bewahrheitung dessen, was er ausgesagt, angekommen sei. Eine Menge Volks geleitete ihn zurück; Elster und Kuckuck flogen über seinem Kopfe wieder mit, und den ganzen Weg über leuchteten drei Irrlichter vor. Rösel stand an der Türe, sprang auf ihn zu, fiel ihm von selbst um den Hals und rief schluchzend: ›Ich wußte wohl, daß du kein Mörder bist!‹ – ›Kuckuck! Kuckuck!‹ sagte der kluge Vogel.

Man will behaupten, daß während seiner freiwilligen Gefangenschaft der Gefangene manchmal doch nicht ganz allein gewesen und das Waldrösel Mittel und Wege gefunden habe, sie ihm zu erleichtern. Auch hat man sie damals oft mit bunten Bändern spielen und tändeln sehen, obschon sie sie jetzt nicht tragen mochte, des Vaters wegen.

Endlich kam die ersehnte Kunde aus Ungarn. Die Ortsobrigkeit des kleinen Fleckens, bei welchem das Unglück geschehen, sandte alle nötigen Nachweisungen, einen ganzen großen Wagen voll Dokumente über des Geiers Kinderraub, des jungen Erbgrafens Verschwinden und über die Merkmale, an welchen man das entführte Knäblein erkennen solle, wenn es jemals sich wiederfände. Denn nach den ersten Augenblicken des Schmerzes hatte der verstorbene Graf alle nötigen Schritte getan, um selbst nach seinem Ableben dem geliebten Söhnlein die Erbfolge in seiner großen Herrschaft zu sichern, und alles das gehörig verbrieft und besiegelt.

Die Dorfgemeinde war es herzlich zufrieden, den freundlichen jungen Herrn anzuerkennen; die Vettern aber, die wie die Galläpfel auf dem fetten Gutsboden saßen, wollten nicht weichen noch wanken, sondern verlangten beständig, daß man ihnen alles Mögliche und Unmögliche beschwöre.

Die Sache zog sich lange hin; als aber der ganze Wald zu trauern begann, junge Bäume vom Wilde geknickt, alte vom Sturm gebrochen wie Spreu hinsanken, als das Gras von der brennenden Hitze welkte und dann der Bach das Heu überschwemmte, als Verdruß auf Verdruß sich häufte, ja sogar die Waldvöglein nicht mehr sangen und in eine andere Gegend flogen – da gaben endlich die bösen Vettern nach und nahmen vom jungen Grafen eine schöne Entschädigungssumme an, mit der sie abzogen.

So ward denn das Grafenkind in all seine alten Rechte wiedereingesetzt und bei der Feierlichkeit der Huldigung seiner Untertanen erklärte Elmrich, daß er das hübsche Waldrösel zu seiner Gemahlin erwählt habe, das Schloß aufbauen und darin wohnen, den nahe liegenden Teil des Waldes aber, auf dem die Eiche stand, zu einem Park umschaffen wolle, in welchem kein Tier weder gejagt, gefangen noch geschossen werden solle; dagegen sollten alle Blumen und Bäume aufs sorgfältigste gepflegt werden.

Am Abend vor seinem Trauungstage führte Elmrich das Waldrösel vor die alte Eiche, erzählte nochmals die ganze seltsame Geschichte und beide dankten ihr gemeinschaftlich für den ihnen gewährten Schutz. Auf den Zweigen des alten Baumes saßen Elster und Kuckuck und jubelten laut. Da öffnete sich plötzlich die alte versunkene Erdgrube zu den Füßen des Stammes, gerade an der Stelle, auf welcher die drei Irrlichter die Nacht zugebracht, und hervor stieg ein langer, langer Zug wenige Zoll hoher Bergknappen mit Schürzel, Hammer, Schlägel und Grubenlicht versehen; ihm folgten unzählige kleine barocke Gestalten, allen Ständen angehörend und im herrlichsten Putz, die trugen kleine Blumenkränze, nicht größer als ein Achtgroschenstück; andere hatten winzige Beutel mit Gold, noch andere rotsammetne Kissen, die ihnen sehr schwer wurden, und auf jedem lag ein Edelstein zum Schmuck der schönen Braut. Es folgten kleine Musikanten, die alle möglichen Instrumente spielten und mit ganz feinen Stimmchen sangen; dann kam eine Schar weißgekleideter fingerlanger Mädchen, die trugen alle an der Krone der Braut: und hätt’s der Anstand nicht verboten, manches hätte schwer geächzt unter der Last.

Die Sonne stand schon tief, als der kleine Zug aus dem Schacht und um den Baum herumgezogen war; und obgleich die Bergknappen mit ihren Fackeln einen Kreis bildeten, mußten es die Zwerge doch noch nicht hell genug finden, denn auf ihren Wink strömten wohl an tausend Irrlichter aus allen Ecken und Enden des Waldes hervor und führten ein Ballett auf, das in einer Lichterpyramide endigte. Der Sprecher des kleinen Volks hielt eine lange Rede an das Brautpaar und übergab dem Waldrösel die köstlichsten Geschenke, mit denen es sich an seinem Ehrentage schmücken sollte. Hierauf trat der kleine Bergmann unter die Eiche, dankte auch ihr für die durch ihre Wurzeln hin erlaubte Fahrt und sprach zum Schluß über den Wald und die Aue, den Mann und die Frau und alles im Wachsen oder im Werden den mächtigen Segen des Geistes der Erden, der allem Lebendigen Gedeihen gibt.

Die Eiche aber fing an zu tönen, und ihre Klänge waren wie die eines überirdischen Gesanges; dann verhallten sie leise und immer leiser, indem zugleich auch nach und nach Fackeln, Zwerge und Irrlichter verschwanden.

Als sich der junge Graf besann und zum deutlichen Selbstbewußtsein kam, stand er mit seiner holden Braut im Erkerzimmer des Schlosses; aber vor ihnen lagen Gold und Juwelen, die Krone und der herrlichste Brautschmuck, den je eine Gräfin getragen.

Und sie lebten lange und glücklich; die Eiche aber überlebte sie alle!«

Horaisan

Horaisan

Auf den Inseln des ewigen Lebens, Horaisan genannt, herrscht ewiges Glück und ewiger Frieden, dort gibt es weder Schmerz noch Krankheit noch Tod, weder Leiden noch Unfrieden, dort herrscht ewiger Frühling und ewige Pracht; kein Sturm, kein Winter vernichtet die in ewiger Schönheit prangende Natur.

Deshalb ist es kein Wunder, daß die Menschen sich nach diesem Lande sehnen und nichts unversucht lassen es zu finden. Doch ist es noch keinem Menschen, der in der Absicht auszog jenes wunderbare Land zu suchen, gelungen, es zu finden, denn eine lange, lange Seereise trennt es von allen bekannten Ländern; aber niemand weiß die Richtung, in der er ziehen muß, um es zu finden; niemand kennt die Lage des hochgelobten Landes, nur die Schwalben und Sommervögel, die im Winter Japan verlassen, kennen die glückseligen Inseln und ziehen dorthin, wenn der Wintersturm Japan durchbraust. Wer aber reinen Herzens ist und nicht in der Absicht auszieht, sich dem Kampfe des Lebens zu entziehen, wer nicht beabsichtigt in Frieden und Glück zu leben, ohne vorher seine Pflichten gegen Gott und Menschen zu erfüllen, dem kann es geschehen, daß ihn ein günstiger von den Göttern gesandter Wind zu den ewig grünen Inseln führt, doch nimmer kehrt er dann zurück, denn gestillt ist all sein Sehnen und ein jeder Wunsch befriedigt.

Vor langen, langen Jahren, so berichtet uns der japanische Geschichtenerzähler, schenkten die Götter einigen Auserwählten das große Glück, Horaisan zu finden; aber nur einer namens Wasobiowo kehrte zurück und brachte Kunde von diesem glückseligen Lande, ja, es gelang ihm sogar eine Frucht von dort mitzubringen, nämlich die Orange, die vordem in Japan ganz unbekannt war, heute aber dank der von Wasobiowo mitgebrachten ersten Frucht auch hier heimisch ist.

Es wird erzählt, daß einst in China ein grausamer Kaiser regierte, herrschsüchtig und unduldsam, sodaß niemand, der etwas konnte oder verstand, seines Lebens sicher war; denn er allein wollte der einzige sein, in allem vollkommen. Wer mehr konnte als er, den ließ er beseitigen. Dieser Kaiser hatte auch wie alle Kaiser einen Leibarzt, der hieß Jofuku. Das war ein gar gelehrter Herr und außerordentlich klug, doch der Kaiser trachtete ihm nach dem Leben, weil er des Arztes Klugheit fürchtete. Er konnte ihm aber nichts anhaben, denn er wußte keinen besseren Arzt. Endlich aber wurde der Arzt dieses Lebens in Furcht und Schrecken satt und er dachte eine List aus, wie er es anstellen könne, aus dem Lande und aus dem Bereiche des Kaisers zu flüchten.

Es kam ihm auch ein guter Gedanke und so sagte er eines schönen Tages zum Kaiser:

»Ihr habt doch neulich von den immergrünen Inseln des ewigen Lebens erzählen hören. Gebt mir die Erlaubnis sie zu suchen, damit ich von dort heilkräftige Kräuter und ewiges Leben verleihende Früchte für Euch holen kann. Wenn es mir gelingt, werdet Ihr in ewiger Glückseligkeit leben, an nichts Mangel leiden und Herrscher der ganzen Welt werden!«

Diese Rede schmeichelte dem Kaiser und in der Hoffnung noch größere Macht und Gewalt zu erlangen, gab er dem Arzte die Erlaubnis zur Abreise, drohte ihm aber den Tod an, wenn er ohne die begehrten Gaben zurückkehren würde.

Der Arzt erhielt ein Schiff und ein großes Gefolge und schiffte sich ein. In Japan angekommen, ließ er in der Nacht, als das Gefolge ans Land gegangen war und sich dort belustigte, in aller Stille die Anker lichten und fuhr weiter um einen anderen Platz zu suchen.

Was er nun aber garnicht beabsichtigt hatte, das wollten ihm die Götter gelingen lassen; denn plötzlich erhob sich ein furchtbarer Sturm und trieb das Schiff mehrere Tage hin und her, das Steuer ging verloren, die Schiffsbemannung wurde vom Sturme ins Meer geschleudert und als endlich wieder schönes Wetter eintrat, war der Arzt nur noch allein auf dem Schiffe, das er nicht zu regieren verstand. Ein tapferer Mann wie er, verzweifelte nicht, sondern wandte sich an die Götter und siehe da, als er sein Gebet vollendet hatte, wurde das Schiff in ruhiger Fahrt vorwärts getrieben und landete endlich auf Horaisan.

Kaum hatte er das Schiff verlassen und das Land betreten, da versank das Schiff spurlos im Meere, ihm jede Rückkehr abschneidend. Am Strande traf er den Japaner Wasobiowo, der ihn begrüßte und ihm erklärte, wo er sich befinde. Da war der Arzt froh und dachte garnicht mehr daran, nach China zurückzukehren, um dem grausamen Kaiser unverdientes Glück zu bringen, sondern er blieb auf Horaisan und niemand hat seitdem wieder etwas von ihm gehört.

Anders Wasobiowo. Dieser lebte früher in Nagasaki, wo er ein Häuschen besaß, das er mit einem Diener bewohnte und wo er in stiller Zurückgezogenheit lebte, sich nur mit Wissenschaften und allerhand Künsten beschäftigend. Seine liebste Beschäftigung war das Angeln und er konnte oft tagelang auf dem Meere zubringen, einzig allein nur um zu angeln oder im Boote liegend den Gang der Gestirne zu beobachten und zu berechnen.

Eines Abends war er, wieder mit seinem Angelgerät versehen, bei herrlichem Mondschein aufs Meer hinausgerudert. Die sternenklare, ruhige Nacht aber ließ ihn das Angeln vergessen; träumend verfolgte er den Lauf der Sterne und freute sich des kräftigen, Kühlung wehenden Meeresodems.

Die Ruder entglitten seinen Händen und er wußte nicht, wie lange er sich seinen träumerischen Gedanken überlassen hatte, als sich der Himmel überzog und ein furchtbares Unwetter heranraste. Ohne Ruder war er machtlos den Wellen und dem Sturme preisgegeben und nur mit Hilfe des Steuers vermochte er das Boot vor dem Kentern zu bewahren, das mit unheimlicher Schnelligkeit bald über die hochgehenden Wogen dahin schoß bald in die schwarzen Wellentäler versank, die es zu verschlingen drohten. Endlich legte sich das Wüten des Sturmes, es wurde heller Tag; aber Wasobiowo sah nichts als das unermeßliche, wogende Meer, nirgends ein Zeichen, nirgends einen Punkt, an dem das ruhelos schweifende Auge einen Anhalt gefunden hätte um sich zu orientieren.

Er ergab sich in sein Schicksal und harrte des Abends, um aus der Stellung der Sterne bestimmen zu können, wo er sich befinde.

Am Abend, als die Sterne zum Vorschein kamen, da sah er zu seinem Schrecken, daß er mehrere hundert Meilen von der Heimat entfernt war und er garnicht daran denken konnte ohne Ruder dorthin zurückzukehren, umsoweniger als ihn entgegengesetzt wehender Wind immer weiter führte.

Wasobiowo hoffte in dieser Richtung bald ein Land zu finden oder einem Schiffe zu begegnen; deshalb suchte er mit Hilfe des Steuers möglichst geraden Kurs zu halten, was ihm auch gelang, da die Windrichtung sich änderte.

Drei volle Monate trieb er so auf dem Meere und lebte nur von den Fischen, die er mit seiner Angel fing und roh verzehren mußte, da er kein Feuerzeug bei sich hatte. Nach dieser langen Zeit endlich begannen sich im Wasser Pflanzen zu zeigen, die, je weiter er kam, immer dichter wurden; das Meer verlor seine glänzende Farbe und ging endlich in einen dicht mit Pflanzen aller Art bewachsenen Sumpf über, in dem das Boot nicht mehr weiter konnte. Aber Wasobiowo verlor nicht den Mut. Er ergriff die Pflanzen und zog daran und siehe, sie hielten stand wie Stricke. Nun begann eine mühselige Arbeit. Von Pflanze zu Pflanze greifend, zog er sich mit dem Boote immer weiter durch dieses Pflanzengewirr, durch diesen Morast. Über vierzig Stunden dauerte die Arbeit; todmüde, kraftlos und halbverhungert war er, denn hier gab es auch nicht das kleinste Lebewesen, das er als Nahrung verwenden konnte, als er endlich diese unheilvolle Strecke überwunden hatte. Nun lag vor ihm ein silberglänzendes Meer und in einiger Entfernung schimmerte ein grünes Land, überragt von einem bis zum Himmel reichenden Berge. Es war Horaisan mit dem Fusan;50 doch wußte Wasobiowo dies noch nicht, ja ahnte es nicht einmal, sondern freute sich nur endlich wieder Land zu sehen. Eine Strömung führte ihn dem Lande zu und nach zehn Stunden stieß sein Boot auf den wie Gold und Silber glänzenden, sandbedeckten Strand. Hocherfreut sprang er aus dem Boote, fiel nieder und dankte den Göttern für seine Rettung.

Da aber – o Wunder! Als er sich nach dem Gebete erhob, war alle seine Müdigkeit verschwunden; vergessen waren alle Strapazen seiner Reise; er fühlte weder Hunger noch Durst und ein wonniges Kräftegefühl durchdrang ihn.

Da näherten sieh ihm weise, ehrwürdige Männer und schöne, edle Damen, die ihn begrüßten; sie priesen sein Glück, die Reise nach Horaisan überstanden zu haben und nahmen ihn als neuen Bürger in ihre Mitte auf.

Jetzt wußte er, daß er auf Horaisan war, auf Horaisan, das er stets für ein sagenhaftes, nicht existierendes Land gehalten hatte. Es existierte also wirklich, ja, er war jetzt selbst in dieses wunderbare Land gekommen und als Bürger aufgenommen.

Wieder dankte er den Göttern.

Die Stunden eilen und werden zu Tagen, diese zu Wochen, dann zu Monden und endlich zu Jahren. Die Jahre zu Jahrhunderten, dann zu Jahrtausenden und so weiter in unzählbarer Menge bis in alle Ewigkeit.

Aber auf Horaisan gibt es keine Stunden, keinen Tag und keine Nacht, keine Zeiten und keinen Zeitenwechsel, kein Essen und kein Trinken, kein Leid und keinen Tod. In ewiger Glückseligkeit, in geistreichen Gesprächen, bei anregenden Unterhaltungen, bei Musik, Gesang und Tanz streicht die Zeit unaufhaltsam ohne Wechsel und deshalb unbemerkt vorüber.

Wer vermag daher zu sagen, wie lange Zeit Wasobiowo auf Horaisan war, ob es Jahrzehnte oder Jahrhunderte waren, als die Götter einen neuen Ankömmling sandten, jenen chinesischen Arzt Jofuku.

Seit dessen Ankunft jedoch war Wasobiowo wie umgewandelt. Hatte der Arzt Heimatsluft mitgebracht, hatte sein Erscheinen in Wasobiowo einen schlummernden Gedanken geweckt?

Wer vermag es zu sagen?

Jedenfalls fühlte er sich nicht mehr wohl in diesem ewigen Einerlei der Glückseligkeit und er sehnte den Tod herbei. Für diesen war jedoch Horaisan unerreichbar, hier hatte dieser bleiche Gast kein Heim; deshalb konnte Wasobiowo hier auch nicht sterben; sogar sich selbst den Tod zu geben, war nicht möglich, denn im Wasser ging man nicht unter, vom Berge konnte man sich nicht hinabstürzen, denn die Luft trug wie das Wasser, es gab weder Waffen noch Gifte um sich das Leben zu nehmen. Nur ein einziges Mittel gab es, das war: »Fort von Horaisan!«

Aber wie?

Kommen nicht alljährlich die heimatlichen Vögel nach Horaisan um dort die Zeit zu verbringen, da in Japan der Winter herrscht?

An diesen Umstand denkend, beschloß Wasobiowo sich einen der stärksten und größten Vögel zu fangen, ihn zu zähmen und abzurichten, damit er auf dessem Rücken nach der Heimat zurückkehren könne.

Kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt, als er auch ans Werk ging, denn es war gerade die Zeit, da die Zugvögel auf Horaisan ankamen. Unter diesen war ein besonders großer und starker Kranich, der kräftig genug erschien, Wasobiowo als Reitpferd dienen zu können.

Diesen zähmte er sich; er hatte ihn auch bald so weit abgerichtet, daß der Vogel ihn aufsteigen ließ und mit ihm kleine Strecken weit flog.

Als dann der Zeitpunkt kam, da die Vögel sich zur Heimreise anschickten, da packte Wasobiowo eine große Menge von Früchten zusammen, von denen er auf seiner Reise leben wollte; denn sobald er Horaisan verlassen hatte, mußte er wieder an Essen und Trinken denken. Vorher besprach er sich noch mit dem chinesischen Arzte und lud ihn zur Mitreise ein, dieser jedoch erwiderte:

»Ich danke sehr für Ihre liebenswürdige Einladung, aber ich wäre ein Tor, wollte ich dieses vollkommene Leben auf Horaisan mit dem unvollkommenen in Japan oder China oder sonst einem von Menschen bewohnten Lande vertauschen. Reisen Sie glücklich und mögen Sie es nie bereuen, dieses glückselige Land verlassen zu haben, denn die Rückkehr ist schwierig, sogar unmöglich!«

Wasobiowo sagte lächelnd: »Ich hoffe, daß ich meinen Entschluß nie bereuen werde, denn meine Seele findet keinen Gefallen an untätiger Glückseligkeit. Das wahre Glück für mich liegt nicht in ewiger Jugend und Nichtstun, sondern in Arbeit, Schaffen und Streben für andere; habe ich für meine Mitmenschen gewirkt, dann habe ich auch für mich gewirkt!«

Hatte er Recht? Ich glaube es!

Also stieg Wasobiowo auf den Rücken des Kranichs und dieser stieg mit ihm empor zum azurblauen Himmel. Dann ging es über viele unbekannte Länder und Städte, durch das Land der Riesen und der Zwerge, der Einbeiner und der Dreiäugigen und durch viele andere wunderbare Länder; überall hörte und sah Wasobiowo das Leben und Treiben der Bewohner und lernte vielerlei Dinge und Weisheiten.

Endlich aber kam er wieder in Japan an. Alle Leute staunten ihn an, sein Name war fast vergessen, denn nicht weniger als siebenhundert Jahre war er fort gewesen, aber der Aufenthalt auf Horaisan hatte auf seinen Körper solchen Einfluß gehabt, daß es ihm nicht ging wie Urashima, dem Fischer, sondern daß er bei Gesundheit und Kräften war, als wäre er nur wenige Tage abwesend gewesen. Von allen Früchten, die er aus dem Lande des ewigen Glückes mitgenommen hatte, brachte er nur noch eine Orange mit. Diese pflanzte er im Garten und sie trug tausendfältige Frucht und von ihr stammen die heute in Japan wachsenden Orangen.

Wasobiowo lebte noch viele, viele Jahre als weiser und zufriedener Mann und erzählte oft von seinem Aufenthalte auf Horaisan und von seiner Reise auf dem Kranich.

Seinem Angelvergnügen aber blieb er bis ins späte Alter treu und fuhr noch oft des Abends aufs Meer hinaus. Von einer dieser Ausfahrten kehrte er nicht mehr zurück. Sein gekentertes Boot wurde später, auf hoher See treibend, aufgefunden. Von Wasobiowo jedoch war nirgends eine Spur.

Ob er wieder nach Horaisan zurückgekehrt war?

Sein Andenken wird in Japan hoch in Ehren gehalten als des einzigen Mannes, der Kunde von Horaisan brachte und die Orange von dort nach Japan verpflanzte.

Im Munde des Geschichtenerzählers, in Wort und Schrift lebt die wunderbare Reise Wasobiowos fort und in vielen Tempeln, in Büchern und Symbolen findet man ihn dargestellt, wie er auf dem Kranich sitzend, über das Meer getragen wird.

  1. Horai = Elysium; nach einer Erklärung von R. Lehmann Name eines fabelhaften Berges im Meere, wo die frommen Einsiedler in ewiger Jugend wohnen. san = Glückberg. Horaisan in sinngemäßer Uebersetzung: Land des ewigen Lebens.
  2. Fu = Vater, Fusan = Vaterberg oder Vater der Berge, nicht zu verwechseln mit dem Fujisan in Japan.

Die Wünsche des Steinhauers.

Die Wünsche des Steinhauers.

Es lebte einmal ein Steinhauer, der mußte sich im Schweiße seines Angesichts plagen; denn sein Handwerk war ein schweres. Doch da seine Arbeiten immer gut waren, so verdiente er so viel, daß er ohne Sorgen und zufrieden leben konnte.

Seine Arbeitsstätte war am Fuße eines hohen Felsens, von dem er Steine losschlug und sie bearbeitete, entweder zu Grabsteinen, zu Türschwellen oder zu irgendwelchen andern Zwecken. Bei diesem Felsen nun hauste ein alter Berggeist, der, wie die Leute erzählten, die Wünsche derjenigen, denen er wohlwollte, erfüllte. Eines Tages hatte der Steinhauer einen großen Gartenstein bei einem reichen Bürger abgeliefert und gesehen, wie wohl der es sich sein lassen könne. Als er an seiner Arbeitsstätte schweißtriefend wieder angekommen war und den Schlegel ergriffen hatte, um seine Arbeit fortzusetzen, da erinnerte er sich des reichen Mannes, der geschützt und wohllebend, daheim sitzen konnte und sich nicht so schwer zu bemühen brauchte wie er, der Steinhauer. »Ach,« seufzte er, »wer es doch auch so gut haben könnte!«

»Dein Wunsch sei dir erfüllt! Gehe heim!« erschallte plötzlich eine dumpfe Stimme, die aus der Höhe zu kommen schien.

Der Steinhauer war sehr verwundert, legte dem aber keine Bedeutung bei, sondern setzte seine Arbeit ruhig fort. Er hatte wohl von jenem Gerede gehört, wonach hier ein Geist hause, der Wünsche erfülle, doch glaubte er nicht daran, sondern war der Meinung, daß ihn irgend ein Schalk, der seine Stoßseufzer gehört habe, äffen wolle.

Während der Arbeit ließen ihm die Gedanken keine Ruhe und da ein besonders heißer Tag war, so machte er früher als sonst Feierabend, lud sein Handwerkzeug auf und ging heim. Wie erstaunte er aber, als er bei seiner Hütte ankam! Diese war verschwunden; an ihrer Stelle stand ein gar stattliches Haus, mit allem eingerichtet, was zu einem sorgenlosen, behaglichen Wohlleben nötig war.

Nun sah er, daß tatsächlich beim Felsen ein guter Geist wohnen müsse, der seinen Wunsch gehört und erfüllt habe.

Sehr erfreut und ganz glücklich warf er sein Handwerkzeug beiseite und ging in das Haus. Ein gutes Essen stand bereit, ebenso war ein warmes Bad vorbereitet, auch fehlten nicht gute Kleider und weiche Polster.

Sein Wunsch war nun erfüllt und er gab sich ganz dem guten Leben hin, das er sich gewünscht hatte. Bald kam ihm sein früherer Beruf als ein böser Traum vor und er wunderte sich oft, wie er hatte so lange zufrieden sein können.

Aber wie es so geht und wie ein Sprichwort sagt: »Auf einen Wunsch folgen mehrere« oder »wer Macht hat, will größere Macht«, so ging es auch dem Steinhauer.

Einmal saß er an einem heißen Sommertage, sich fächelnd, auf der Veranda seines Hauses, als in einer Sänfte ein Fürst vorübergetragen wurde; eine Anzahl Diener schritt rechts und links von der Sänfte; sie trugen große, prachtvolle Fächer, mit denen sie dem Fürsten Kühlung zufächelten. Ein großes Gefolge begleitete ihn und alle Menschen warfen sich zu Boden und grüßten in dieser Weise den Fürsten.

Da ward der Steinhauer mißmutig und sagte: »Ja, der Fürst hat es gut, der braucht nicht zu Fuß zu gehen, braucht sich nicht eigenhändig Kühlung zuzufächeln und alle Welt verneigt sich vor ihm. Wenn es ginge, möchte ich auch so ein Fürst sein!«

Kaum hatte er dies gesagt, da ertönte wieder die Stimme: »Du hast es gewünscht, drum sei es!«

Jetzt war er ein Fürst. Verschwunden war das schöne Häuschen, dafür stand ein herrlicher Palast an der Stelle; zahlreiche Diener liefen hin und her und kamen jedem seiner Befehle nach. Er wurde in einer Sänfte umhergetragen, Diener in kostbarer Kleidung fächelten ihm Kühlung zu und alle Welt verneigte sich vor ihm. Anfänglich machte ihm diese neue Veränderung viel Vergnügen, bald aber ward er des ewigen Einerleis überdrüssig und dachte darüber nach, wie er noch besseres ersinnen könnte. Und als er sah, wie die Sonne so glühend brannte, wie ihre Strahlen Leben spendeten, zugleich aber auch Feld und Flur verbrannten, ja ihn selbst nicht schonten, sondern sein Gesicht trotz Sänfte, Schirmen und Fächern bräunte, da glaubte er, daß die Sonne das allgewaltigste Ding sei, dem nichts unerreichbar wäre, und so rief er aus: »Wenn’s möglich wäre, möchte ich die Sonne sein!«

»Du sollst sie sein!« rief die Stimme und sogleich stand unser Steinhauer oben am Himmel als Sonne und schleuderte mit dem größten Vergnügen seine Strahlen nach allen Seiten, verbrannte das Gras auf den Wiesen, die Ernte auf den Feldern, ja zündete sogar Wälder an. Kurz, er trieb im Übermute seiner Macht allerhand Allotria wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Wie dieses aber bald des Spieles überdrüssig wird, so auch der Steinhauer und als sich ihm eine Wolke in den Weg stellte und seinem Treiben Einhalt gebot, indem sie verhinderte, daß die Strahlen die Erde trafen, da wurde er bitterböse und schrie:

»Was, die winzige Wolke hindert mich an meinem Spiel? Dann ist sie ja mächtiger als ich, die Sonne. Da möchte ich denn doch lieber die Wolke sein!«

»Es sei!« hörte er die Stimme zu sich herauftönen.

Jetzt schwebte er als Wolke zwischen Erde und Sonne und freute sich der Sonne einen Schabernack spielen zu können, indem er ihre Strahlen auffing. Jetzt sah er auch, wie infolge des Schattens, den er auf die überhitzte Erde warf, alles zu grünen und blühen begann. Dazu gehört auch Wasser, dachte er, und öffnete seine Schleusen. Hei, wie das prasselte und plätscherte! Er freute sich königlich über das Treiben auf der Erde, wie die Menschen rannten und sich zu schützen suchten, wie die Vöglein sich verbargen und wie die Bäume sich beugten unter der Last des prasselnden Regens. Und immer mehr ließ er es regnen, nicht mehr in kleinen Tropfen, nein, in zerschmetternden Güssen, so daß die Bäche und Flüsse die Wassermenge nicht zu fassen vermochten und über die Ufer traten. Alles Land wurde überschwemmt, Bäume entwurzelt, Dämme fortgerissen und von den Bergen stürzten die Wasser in donnernden Kaskaden hernieder, alles sich ihnen in den Weg Stellende mit sich reißend. Nur ein einsamer Fels stand ruhig und fest, ihm vermochte das rasende Ungewitter nichts anzuhaben; stolz ragte sein Haupt bis nahe zur Wolke empor und die Steinhauer-Wolke glaubte sogar ein spöttisches Lachen zu hören. Das ergrimmte ihn noch mehr und in äußerster Wut sandte er einige Blitze auf den Felsen und goß über ihn den Rest seines Wassers aus. Aber es half alles nichts; der Fels wankte und wich nicht und endlich mußte die Wolke erschöpft ihr Wüten einstellen.

»So will ich denn ein Felsen sein!« lautete nun sein Wunsch und wieder rief ihm die Stimme Erfüllung zu.

Jetzt war er der Fels, stand stolz und selbstbewußt da und freute sich seiner unbegrenzten Macht. Nicht die Strahlen der Sonne, nicht der strömende Regen konnten ihm etwas anhaben. Jetzt glaubte der Steinhauer sein Ziel erreicht zu haben und der Mächtigste dieser Erde zu sein; denn niemand vermochte ihm Schaden zuzufügen oder ihn von seiner Stelle zu bewegen.

Niemand!

Wirklich niemand?

Die Freude währte nicht lange; eines Morgens hörte er an seinem Fuße hämmern und kratzen und als er hinunterschaute, da sah er ein winziges Menschenkind mit Keil und Hammer bewaffnet, Stück für Stück vom Felsen losschlagen.

»Wenn das so weiter geht«, brummte er, »bleibt ja nichts von mir übrig. Sollte man es für möglich halten? Was alle wütenden Elemente nicht vermögen, das tut so ein kleiner Knirps von einem Menschen. Das darf nicht sein, da will ich lieber dieser Mensch sein.«

»So sei, was du vordem warst!« ertönte die Stimme des Berggeistes.

Und der Fels wurde wieder zum Steinhauer, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend mühsam die Steine aus dem Felsen brach und zufrieden und glücklich war mit dem, was er hatte.

Er war von seinen Wünschen geheilt und hatte einsehen gelernt, daß in jedem Stande und in jedem Berufe etwas zu wünschen übrig bleibt, weil es auf dieser Erde nichts Vollkommenes gibt.

Japanischer Glücksgott.

Der weiße Fuchs

Der weiße Fuchs.

Vor vielen Jahren jagte einmal im Walde von Shimoda3 der Sohn eines Fürsten. Er hatte das seltene Glück einen schneeweißen Fuchs weiblichen Geschlechts zu fangen. Er wollte das Tier töten, aber Yasuna, der Sohn eines Tempelaufsehers, der sich an der Jagd beteiligte, bat es ihm zu schenken, weil er wußte, daß solche Füchse mit weißem Fell Zauberkräfte besitzen, mehrere tausend Jahre alt werden und sich in jede beliebige Gestalt verwandeln können. Aber der Sohn des Fürsten wollte das schöne Fell des Tieres für sich haben, schlug Yasuna die Bitte ab und befahl seinen Leuten die Füchsin zu töten. Yasuna aber bemächtigte sich dieser mit Gewalt, indem er mit den Jägern kämpfte und obgleich aus vielen Wunden blutend, konnte er doch mit dem Tiere flüchten. Nachdem er eine Weile gelaufen war, brach er erschöpft zusammen; er mußte die Füchsin loslassen, die schnell im Walde verschwand. Seltsamerweise kam plötzlich seine Verlobte Kuzunoha daher, die, als sie seine Wunden sah, sie ihm verband und ihn nach Hause geleitete.

Yasuna war erstaunt seine Verlobte bei sich zu sehen, die er bei ihren Eltern, die in der Kumamoto-Provinz,4 weit entfernt von Shimoda, wohnten, vermutete, und fragte daher, wie es komme, daß sie sich jetzt hier befinde und ihn im Walde gefunden habe.

Kuzunoha aber antwortete: »Frage mich jetzt nicht, noch ist es nicht Zeit, dir dies zu erklären. Ist es an der Zeit, so wirst du alles erfahren!«

Damit beruhigte sich Yasuna, der glücklich war, seine Braut bei sich zu haben. Er zögerte nicht lange, sondern machte einige Tage darauf mit ihr Hochzeit. Einige Jahre lebten beide glücklich und zufrieden und ein herziger Knabe, den Kuzunoha ihm geschenkt hatte, verschönte ihr Glück. Diesem Knaben hatten sie den Namen Dokyo5 gegeben.

Eines Tages war Yasuna im Walde gewesen und kehrte erst spät abends zurück. Als er vor seinem Hause ankam, war er nicht wenig überrascht, vor der Tür seine Schwiegereltern mit seiner Frau stehen zu sehen, die sich lebhaft unterhielten; er trat näher, begrüßte sie und fragte, warum sie nicht in das Haus gingen, sondern vor der Tür ständen.

Sein Schwiegervater aber fuhr ihn zornig an, was das heißen solle, daß er sich die ganzen Jahre lang nicht um seine Braut bekümmert habe und jetzt mit einem andern Weibe zusammenlebe.

Yasuna wußte nicht, was er zu solcher Rede sagen sollte und war noch mehr verwundert, als auch seine Braut ihm die gleichen Vorwürfe machte. Er öffnete kurzer Hand die Tür des Hauses und lud alle ein einzutreten. »Wir können uns da drinnen weiter darüber unterhalten, was eure Vorwürfe bedeuten sollen; hier auf der Straße ist nicht der Ort dazu!« sagte er und wollte vorangehen, prallte aber zurück, denn im Zimmer saß seine Frau und nähte! – Hier draußen stand aber auch seine Frau; die aber behauptete, noch nicht seine Frau zu sein, sondern nur seine Verlobte! Wer war die richtige, wer die falsche Kuzunoha? – Er schloß nun ganz lautlos die Tür, trat zurück und sagte zu seinen Schwiegereltern: »Wartet hier einen Augenblick, ich komme gleich zurück!«

Dann trat er in sein Haus, begrüßte seine Frau und sagte ihr: »Deine Eltern sind angekommen, rüste dich, sie zu empfangen! In einer Stunde sind wir wieder hier!«

Nachdem die Frau zugesagt halte, alles aufs beste zu besorgen, ging Yasuna zu den Schwiegereltern zurück und bat sie mit ihm einen Spaziergang zu machen, nach einer Stunde würde er sie in sein Haus führen.

Auf dem Wege erzählten ihm die Schwiegereltern, daß das bei ihnen befindliche Mädchen tatsächlich ihre Tochter Kuzunoha, seine Braut sei und daß diese untröstlich darüber, daß Yasuna in der langen Zeit nichts habe von sich hören lassen, ihre Eltern veranlaßt habe, die weite Reise mit ihr zu machen. Jetzt angekommen, müßten sie zu ihrer großen Betrübnis sehen, daß bereits eine andere Frau im Hause sei!

Yasuna erzählte sein Abenteuer und seine glückliche Ehe.

Unter diesem Gespräch war die Stunde vergangen, alle kehrten zurück und gingen ins Haus; aber es war keine Frau zu sehen, nur das Kind lag auf seinem Lager und weinte, jubelte aber der Kuzunoha zu, die den Knaben auf den Arm nahm und mit ihm scherzte. Dann erzählte der Knabe ihr einen sonderbaren Traum, den er gehabt habe und fragte, was er bedeute. Er sagte zur Kuzunoha: »Vorhin, als ich schlief, sagtest du zu mir, daß du gar kein Mensch, sondern eine verzauberte Füchsin seiest. Der Vater habe dir einmal das Leben gerettet und deshalb habest du menschliche Gestalt angenommen und seist ihm in Gestalt seiner Braut erschienen um ihm zu danken. Jetzt sei aber die wirkliche Braut gekommen und so müssest du scheiden. Ich solle dies dem Vater erzählen und ich soll brav und gut werden und bleiben. Ein dummer Traum, nicht wahr!«

Alle sahen sich erstaunt an, war doch jetzt das Rätsel geklärt. Die wirkliche Kuzunoha blieb nun im Hause als rechtmäßige Gattin Yasunas und erzog den kleinen Dokyo zu einem tüchtigen Menschen, der klug und tapfer wurde.

Von der weißen Füchsin hat man nie wieder etwas gehört.

  1. Shimoda = Ort auf der Halbinsel Izu, nahe bei Yokohama.
  2. Kumamoto = Stadt und Provinz im Süden Japans nahe bei Nagasaki.
  3. Dokyo = Mut.

Urashima Taro

Urashima Taro

In einem Fischerdorfe, nahe dem heutigen Yokohama lebte vor vielen, vielen Jahren ein junger Fischer namens Urashima Taro. Als er eines Abends vom Fischfang zurückkehrte und recht zufrieden und guter Dinge war, weil er gute Beute gemacht hatte, sah er am Strande eine Schar Knaben, die eine kleine Schildkröte gefangen hatten und sie an einer an einem ihrer Vorderbeine befestigten Schnur im Kreise herumschwangen und quälten.7 Urashima, der die Tiere gern hatte und jede Quälerei harmloser Tiere verabscheute, fühlte auch jetzt wieder Mitleid mit dem armen Tierchen und ging auf die Kinder zu.

Indem er seiner Stimme einen energischen Ton gab, schalt er die Kinder. »Was ist das für eine Bosheit«, rief er empört aus, »dieses schuldlose und hilflose Tier so zu quälen! Wißt ihr nicht, daß Gott im Himmel solche böse Kinder bestraft, die arme Tiere mißhandeln? Zeigt einmal her, wem gehört denn diese Schildkröte?«

»Dieses Tier gehört niemandem!« entgegnete der älteste der Knaben und fügte noch unverschämt hinzu: »Wir können machen, was wir wollen; und wenn wir ein Vergnügen daran haben das Tier zu töten, so ist das unser freier Wille und geht keinen anderen etwas an!«

Urashima sah ein, daß er diesem frechen Bengel nicht mit Morallehren kommen dürfe; denn auf solche harte Herzen haben Worte keinen Einfluß; er änderte also seine Taktik und sagte nun mit möglichst milder Stimme: »Nun, nun, ärgert euch nur nicht, das war nicht so bös gemeint; aber diese allerliebste Schildkröte gefällt mir und ich möchte sie gern besitzen. Wollt ihr euch in einen Handel mit mir einlassen? Wie wäre es, wenn ihr mir das Tier verkaufen würdet? Für Geld könnt ihr euch etwas kaufen und euch bessere Freude machen, als daß ihr dieses Tier hier im Kreise herumschleudert!«

Die Kinder gingen erfreut schnell auf den Handel ein und überließen Urashima gegen einige Silbermünzen die Schildkröte.

Urashima nahm sie in die Hand, ging bis zum Wasser und setzte das Tier ins Meer, indem er sagte:

»Armes Tierchen, nicht um dich der Freiheit zu berauben, sondern dir die Freiheit wiederzugeben, habe ich dich gekauft; nun schwimme hin und sei in Zukunft vorsichtiger, damit du nicht wieder in böser Buben Hände fällst!« Er blieb noch ein Weilchen stehen und sah zufrieden lächelnd der schnell im Wasser dahinschwimmenden Schildkröte nach, bis er sie nicht mehr erblickte; dann nahm er sein Fischereigerät und seine Fische und ging wohlgemut in seine Hütte.

Am andern Morgen ging er wie gewöhnlich seinem Handwerk nach. Als er mit seinem Kahne auf dem Meer war und seine Netze ausgeworfen hatte, hörte er plötzlich ein zartes Stimmchen rufen:

»Urashima sama!«8

Erstaunt sah er sich um, konnte aber nicht entdecken, woher die Stimme ertönte und wer seinen Namen rief. Da ertönte es abermals:

»Urashima sama!«

Jetzt merkte er, daß die Stimme aus dem Wasser kam und er beugte sich über den Rand seines Bootes und erblickte die kleine Schildkröte, die er am Tage vorher aus den Händen der Buben befreit hatte. Im ersten Moment war er erschrocken; doch faßte er sich ein Herz und fragte: »Warst du es, die mich rief?«

»Gewiß!« antwortete das Tierchen. »Ich bin gekommen um euch meinen Dank für euere gestrige edle Tat zu sagen. Und weil ihr mir meine Freiheit gegeben habt, möchte ich euch etwas recht Schönes zeigen! Habt ihr Lust, so folget mir!«

Urashima dachte: Was kann es wohl sein, das mir dieses unscheinbare Tier zeigen könnte? Doch nichts Besonderes. Aber das macht auch nichts, es will sich mir dankbar erweisen und so will ich ihm auch die Freude nicht verderben. Nachdem er sich so ein Weilchen bedacht hatte, fragte er doch vorsorglich:

»Dauert es auch nicht lange? Ich will dir gerne folgen, aber ich habe nicht viel Zeit zu versäumen. Wohin soll es denn gehen?«

»Garnicht weit von hier. Ich beabsichtige nur, euch zum Palast unserer Meereskönigin Otohime zu führen und euch dort Wunderdinge zu zeigen!«

»Das ist ganz unmöglich«, erwiderte Urashima, »denn ich kann nicht so schnell schwimmen und nicht so gut tauchen wie ihr und was schließlich die Hauptsache ist, ich kann ja im Wasser nicht atmen und dich deshalb nicht auf den Meeresgrund begleiten!«

»Macht euch deshalb keine Sorge, Urashima«, entgegnete die Schildkröte, »steigt auf meinen Rücken und das weitere werdet ihr sehen!«

»Aber mein Boot – –« meinte Urashima bedenklich.

»Das findet ihr hier wieder, ich führe euch zurück!« unterbrach ihn das Tier.

»Aber du bist so klein, du kannst mich nicht tragen!« rief Urashima noch immer bedenklich.

Da rauschte es im Wasser, die Schildkröte dehnte und streckte sich und staunend sah Urashima, wie sie sich immer mehr vergrößerte, bis sie die gleiche Größe des Bootes hatte, dann fragte sie lachend:

»Nun? – Bin ich noch zu schwach für dich?« Da schwanden Urashima alle Bedenken, flugs stieg er aus seinem Boote, nachdem er dasselbe sicherheitshalber verankert hatte und nahm auf dem Rücken des Tieres Platz.

»Halte dich nur recht fest und fürchte dich nicht!« Nach einiger Zeit rief die Schildkröte: »Nun schließe fest die Augen und öffne sie nicht eher, als bis ich es dir sage. Auch halte ein Weilchen den Atem an, es dauert nicht lange!«

Urashima tat, wie ihm geheißen und dann fühlte er, wie das Tier im Wasser versank; das Wasser rauschte und brauste um seine Ohren; ängstlich klammerte er sich mit beiden Händen an das Schild seines sonderbaren Reitpferdes; aber eingedenk der Mahnung behielt er die Augen geschlossen und hielt den Atem an.

Schon glaubte er, es ginge mit ihm zu Ende; da ertönte der Ruf: »Jetzt!«

Da öffnete er seine Augen und sah sich auf dem Grunde des Meeres, dessen feiner Sand aus lauter Perlen bestand. In der Ferne sah er ein riesiges Gebäude in blendendem Glanze schimmern, auf das die Schildkröte mit ihrem Reiter zuschwamm. Endlich kamen sie an und standen vor einem großen Tore, das aus purem Golde mit Edelsteinen verziert war. Zwei große unheimliche Meerdrachen lagen vor dem Tore und glotzten Urashima mit fürchterlich rollenden Augen an, so daß ihm ganz ängstlich wurde. Als die Drachen aber die Schildkröte erblickten, ließen ihre drohenden Blicke nach und sie versuchten freundlichere Gesichter zu machen.

»Nun steige ab und warte hier!« sagte die Schildkröte und ging dann, nachdem Urashima abgestiegen war und sich auf den Boden gesetzt hatte, durch das Tor.

Urashima sah sich dann um und wunderte sich sehr, daß er, obgleich er sich auf dem Meeresgrunde befand und das Meerwasser ihn umgab, doch ganz trocken war und ohne Beschwerden atmen konnte, ja die Luft kam ihm sogar viel reiner und würziger vor, als die oben auf der Erde.

Es dauerte gar nicht lange, da kehrte die Schildkröte zurück; ihr folgte eine große Anzahl Fische in allen Größen, Formen und Farben, wie sie der Ozean birgt; nur trugen alle ein ganz lichtes Gewebe in blauer Farbe, wie ein Kleid, und hatten silberne Aufschläge. Sie umringten Urashima, der sich erhoben hatte, und begrüßten ihn durch Neigen ihres Kopfes ehrerbietig.

Dann nahten sich zwei größere Fische, die auch ein blaues Kleid anhatten aber mit goldenen Aufschlägen, und die ein ebensolches Kleid brachten und ohne etwas zu reden, Urashima die Fischerkleider auszogen und mit dem mitgebrachten blauen Gewande bekleideten.

Urashima ließ alles willenlos mit sich geschehen; er sagte sich, nun bin ich einmal hier und kann allein nicht fort. Schlimm wird es mir sicherlich nicht ergehen; denn, wen man mit einem Ehrengewande bekleidet, den wird man wohl nicht verschlingen.

Nachdem ihm auch noch herrliche Sammetpantoffel an die Füße gesteckt waren, kam eine wunderbar schöne Zofe, nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das Tor, während die Fische als Ehrengeleite in respektvoller Entfernung in schönster Ordnung folgten.

Nachdem sie das Tor durchschritten hatten, gelangten sie an eine Marmortreppe, die sieben Stufen hatte und an einem Tor von glänzendem Mahagoniholz, an dem zahlreiche Smaragde flimmerten, endete. Hier angelangt, öffnete die Zofe das Tor und ließ Urashima eintreten, der sich nun in einem großen Saale befand, dessen unbeschreibliche Pracht seine Augen fast blendete. Zwanzig Säulen von reinstem Kristall trugen die aus Korallen gebildete Decke des Saales, von der eine Unmenge kostbarer Lampen herabhing, in denen wohlriechende Öle brannten. Die Wände waren alle aus Marmor und trugen zum Schmuck die verschiedensten Edelsteine und Rubinen. In der Mitte des Saales befand sich ein diamantener Thron, auf dem Otohime, die Meereskönigin saß, schön wie die Morgenröte, die das bleiche Nachtgestirn vertreibt. Den Thron umgab eine unendliche Menge von Würdenträgern und Palastbeamten, alle in kostbare Gewänder gekleidet. Die ganze Pracht war für den an derartige Schönheit und Wunder nicht gewohnten jungen Fischer so blendend, daß er nur zögernd und halb willenlos, langsam einen Fuß vor den andern setzte und sich so dem Throne nahte, wo er sich ehrfurchtsvoll und demütig niederwerfen wollte. Aber die Königin, die seine Ueberraschung und sein Zögern mit mildem, freundlichem Lächeln beobachtet hatte, erhob sich schnell, ergriff Urashima bei der Hand und verhinderte so sein Niederfallen. Mit einer Stimme, die dem Klange einer silbernen Glocke glich, süß und rein, sagte sie zu ihm:

»Sei mir willkommen. Ich habe gehört, daß du gestern in selbstloser Weise einer meiner liebsten Dienerinnen das Leben gerettet hast. So war es mein aufrichtiger Wunsch, dir diese edle Tat zu vergelten und dir meine Dankbarkeit zu beweisen. Deshalb habe ich dich zu mir eingeladen und ich habe mich gefreut, daß du so furchtlos warst und der Gefahr nicht achtetest, den Weg hierher zu unternehmen. Wer furchtlos ist, ist in der Regel auch treu!« Der junge Fischer wußte nicht, wie ihm geschah und er war so verlegen und befangen, daß er auch nicht ein Wort zu erwidern vermochte; er machte nur eine stumme, sittsame Verbeugung.

Auf einen Wink der Königin wurden ihm nun seidene Polster gebracht, auf die er sich niederlassen mußte, dann stellte man ein elfenbeinernes Tischchen vor ihm hin, auf dem sich auf einer roten Lackplatte schmackhafte Speisen verschiedenster Art befanden, die ihm sämtlich unbekannt waren. Er ließ sich nicht länger nötigen, sondern sprach den Speisen und Getränken tapfer zu. Es war für ihn im wahren Sinne des Wortes eine Göttermahlzeit; hatte er doch in seinem ganzen Leben noch nie derartige Sachen gesehen, geschweige denn jemals gekostet.

Als er sein Mahl beendet hatte, forderte ihn die Königin auf, sich den Palast anzuschauen; sie führte ihn von Saal zu Saal, von Zimmer zu Zimmer durch alle Räumlichkeiten, die mit verschwenderischer Pracht ausgestattet waren und jede nur irgend mögliche Bequemlichkeit aufwiesen.

Das wunderbarste aber war der Garten, der vier große Beete enthielt, die den vier Jahreszeiten entsprachen.

Das eine Beet, der Frühling, enthielt zahllose Pflaumen- und Kirschbäume, die über und über dicht mit Blüten besät waren und auf einem saftigen dunkelgrünen Rasen standen. Auf den Zweigen saßen zahlreiche Nachtigallen, die ihre lieblichen Romanzen melodisch ertönen ließen und eine unendliche Menge Lerchen hatte ihre Nester in dem Blütenmeere erbaut.

Nach Süden zu befand sich das Beet des Sommers: Hier standen Birnen- und Aepfelbäume, deren Zweige sich unter der Last der herrlichsten Früchte bis nahe zum Erdboden beugten. Grillen und Zikaden erfüllten die Luft mit ihrem einförmigen und betäubenden Geschrei. Die große Hitze, die in diesem Teile herrschte, wurde gemildert durch einen sanften, kühlenden Wind.

Das dritte Beet, der Herbst, im westlichen Teile gelegen, war ganz bedeckt mit welken Blättern und Chrysanthemenblüten, während das im Norden befindliche vierte Beet, den Winter, ein dichter Schneeteppich bedeckte und Eisfelder und ein zugefrorener Graben es umgrenzten. So verbrachte Urashima sieben lange Tage im Palaste der Meereskönigin und wurde gar nicht müde, all die Wunder und Herrlichkeiten anzustaunen, die ihm täglich gezeigt wurden und im Entzücken über die liebliche Schönheit Otohimes vergaß er ganz seine Heimat, seinen Vater, sein Weib und seine Kinder. Aber eines Tages, als er wieder müßig umherschlenderte, kamen ihm diese doch wieder in Erinnerung und ein tiefes Heimweh befiel ihn. Er seufzte schwer und sprach:

»Was mag wohl mein Vater von meiner langen Abwesenheit denken, wie unruhig werden meine Frau und Kinder sein und meine Rückkehr erwarten! Vielleicht glauben sie sogar, daß ich gestorben bin, verschlungen von den Wogen des Meeres, auf dem Grunde des Ozeans ruhe!«

Ohne sich lange zu besinnen, eilte er zur Königin und bat, ihn zu den Seinen zurückführen zu lassen, da er jetzt schon sieben Tage von Hause abwesend sei und die Seinen sich sicherlich ängstigen würden.

Die Königin, die vergeblich sich bemühte, Urashima die Heimwehgedanken auszureden, nahm, als sie sah, daß ihre Worte nichts halfen, ihn mit sich in ihr Zimmer, und überreichte ihm ein kleines, fest verschnürtes Lackkästchen, indem sie sagte: »Ich habe keine Gewalt dich hier gegen deinen Willen zurückzuhalten, obgleich ich weiß, daß deine Rückkehr in die Heimat dir nur Elend bringen wird. Aber nimm hier zur Erinnerung an mich dieses Kästchen, es wird dir immer nützlich sein und dir, wenn du den Wunsch hast, zu mir zurückzukehren, diese Rückkehr ermöglichen. Diesen Wert behält das Kästchen aber nur so lange, als es uneröffnet bleibt. Also beachte wohl! Laß dich nie durch sträfliche Neugierde und durch sonst irgend welche Umstände verleiten, jemals das Band, das das Kästchen verschlossen hält, zu lösen und den Deckel zu lüften; es wäre dein Tod und nie fändest du den Weg zu mir. Willst du zu mir zurück, so gehe mit dem verschlossenen Kästchen an den Strand und rufe meinen Namen, so werde ich dir eine meiner Dienerinnen senden, die dich hergeleitet. Also beherzige meine Worte und laß das Kästchen geschlossen, dein Leben liegt darin. Und nun lebe wohl!«

Sie küßte ihn auf die Stirne und geleitete ihn bis zum Tore. Hier stand die Schildkröte bereit, die Urashima bestieg. In kurzer Zeit war sie mit ihm am Strande, wo sie ihn verließ. Mit dem Kästchen unterm Arm wollte er schnell seinem Dörfchen zuwandern, blieb aber auf seinem Wege wiederholt stehen; denn es kam ihm alles, der Strand, der Weg, die Bäume und Felder etwas verändert vor. Mehrmals glaubte er, daß die Schildkröte ihn an einer verkehrten Stelle abgeladen hätte, aber doch war ihm dieses oder jenes wiederum bekannt, so daß er schließlich sich mit dem Gedanken beruhigte, der siebentägige Aufenthalt auf dem Grunde des Meeres habe seine Augen, seine Sehkraft beeinflußt.

Als er aber endlich in seinem Dorfe ankam, da waren die Häuser und Hütten alle verändert, auf dem Markte standen Bäume, die er nie gesehen hatte; die Bewohner waren ihm unbekannt und so ängstlich er auch jedem ins Gesicht schaute, er konnte keinen Bekannten entdecken, auch die Kinder erschienen ihm fremdartig, die auch ihn verwundert anstarrten und ihm dann nachliefen. Er wurde ganz irre und wußte nicht mehr, was er denken oder glauben sollte; doch hielt ihn die Hoffnung aufrecht von den Seinen Aufklärung über diese wunderbare Verwandlung seiner Heimat während seiner nur siebentägigen Abwesenheit zu erhalten. Doch je näher er zu seinem Hause kam, desto ängstlicher war ihm zu Mute und große Bangigkeit erfüllte sein Gemüt. Was wird er hören müssen?

Aber! o Schmerz! – Als er an die Stelle kam, da seine Hütte gestanden, da war sie nicht mehr vorhanden. Ein öder, wüster, mit Unkraut überwucherter Schutthaufen war der Platz seiner Geburt. Keine Spur von seinem Vater, seiner Frau, seinen Kindern, nichts von allem, was ihm lieb und teuer war, war zu sehen. Schmerzerfüllt sank er weinend zu Boden, während in einiger Entfernung die Leute und Kinder ihn umringten. Da trat aus der Menge ein gebeugter Greis hervor und näherte sich Urashima mit der Frage:

»Wer seid ihr Fremdling und wen suchet ihr hier? Was erfüllt eure Seele mit Kummer und Schmerz?«

»Mein Alter«, antwortete Urashima mit schmerzbebender Stimme leise, »vor sieben Tagen verließ ich das Haus, das an dieser Stätte stand und kehrte nun zurück, finde aber nur einen Schutthaufen, ich sehe fremde Leute, fremde Gestalten und auch euch kenne ich nicht, sah euch noch nie in diesem Dorfe, sagt, was ist hier in den sieben Tagen geschehen? Wo sind mein Vater, mein Weib, meine Kinder, die ich hier zurückließ? O bitte, löst mir dieses Rätsel, reißt die Binde von meinen Augen, daß ich sehen kann!« »Ich verstehe euch nicht, junger Mann!« entgegnete der Greis, »diese Stätte ist ein Trümmerhaufen, solange ich denken kann. Ich kenne euch nicht; wer seid ihr? Wie ist euer Name?«

»Ich bin Urashima Taro, der Fischer!« rief Urashima.

»Urashima Taro? – –« rief der Greis voller Erstaunen und wich schreckerfüllt einige Schritte zurück. »Seid ihr ein Gespenst? – ein Schattenbild? – Urashima Taro könnt ihr nicht sein! Es geht hier die Sage und ich erinnere mich aus meiner Jugendzeit, da von diesem noch oft an dunkeln Abenden erzählt wurde, dieser junge Fischer ging vor nun 700 Jahren eines Morgens aufs Meer und kehrte nicht mehr zurück. Die Gräber seiner Angehörigen könnt ihr auf dem Friedhofe noch heute sehen, allerdings zerfallen, verwittert!« –

Urashima erblaßte, »siebenhundert Jahre?« rief er verzweifelt aus und rang die Hände. Jetzt wurde ihm alles klar. Jetzt verstand er alles! Sieben Tage im Palaste der Königin waren sieben Jahrhunderte. Tiefe Traurigkeit bemächtigte sich seiner, er erzählte dem Alten mit stockender Stimme sein Lebensschicksal, dann erhob er sich und verließ schwankenden Schrittes wie ein Träumender das Haus; er wandte sich wieder dem Meere zu und ließ sich dort am Strande nieder, seine Lage bedenkend.

Tiefsinnig betrachtete er die rollenden Wogen, die unermeßliche Fläche und schaute verlangend nach der Schildkröte aus, daß sie ihn wieder zurückführe in das ewig jugendliche Reich der Meereskönigin; er dachte aber in seiner Traurigkeit nicht daran, sie zu rufen und so sah er vergeblich nach dem Tiere aus.

Dann fiel sein Blick auf das Kästchen, das ihm die Königin beim Abschiede gegeben hatte und das er gedankenlos neben sich auf den Sand gelegt hatte.

»Was bedeutet dieses Kästchen?« fragte er sich. Die schöne Königin hat zwar gesagt, es sei mein Leben darin und ich werde es verlieren, wenn ich das Kästchen öffne. Ist dieses Gebot aber vielleicht nur eine Probe? Enthält das Kästchen nicht vielmehr mein Glück? Ist alles, was ich heute erlebte, nur eine Täuschung und schwindet diese, wenn ich das Kästchen öffne? Und selbst wenn ich sterben sollte, was schadet es? Bin ich jetzt nicht ein Fremdling in meiner Heimat und habe niemanden, niemanden, der mich liebt, der mich kennt? Ohne Vater, ohne Familie, ohne Bekannte, ohne Freunde bin ich schlimmer daran als ein Heimatloser; da ist mir der Tod nur ein Gewinn, er bietet mir etwas Besseres, als dieses unglückselige Leben! So sprechend, löste er langsam die Schnur, die um das Kästchen geschlungen war und öffnete ein wenig den Deckel.

Da stieg ein kleines weißes Wölkchen aus dem Kästchen empor, breitete sich dann aus, erhob sich und schwebte langsam über das Meer der Richtung zu, wo sich der Palast der Meereskönigin befand.

Laut aufschreiend sprang Urashima empor und breitete sehnsüchtig die Arme aus, aber – ein jäher heftiger Schmerz durchzuckte seinen Körper und er ließ die Arme sinken, da blickte er auf seine Hand und ein eisiger Schauer befiel ihn, die Hand, soeben noch so frisch und rosig, war welk, runzlig und knochig wie die eines Greises; nun fühlte er auch wie sein Blut erstarrte, wie es träger durch seine Adern floß, die Haut zog sich in Falten, der Herzschlag stockte, noch einmal schaute er ins Wasser, da spiegelte sich ihm ein verrunzeltes graues Greisenantlitz mit spärlich weißem Haar entgegen, sein eigenes Antlitz, vor Minuten noch in Jugendfrische, jetzt mumienhaft verändert. Mit einem Wehelaut sank er zu Boden und ein Häuflein grauen Staubes bezeichnete die Stätte, da Urashima jugendfrisch zurückgekehrt in wenigen Minuten zu Staub wurde.9

  1. Sprich: Uraschima; Urashima = Eigenname, taro = ältester Sohn, im übertragenen Sinne etwa: der Erstgeborene, der Ältere.
  2. Derartige Tierquälereien kann man noch heute tagtäglich als eine Belustigung der japanischen Jugend beobachten.
  3. »sama« auch »san« = Herr, sama ist die höflichere Form als san.
  4. Die Schicksale Urashima’s sind urkundlich bestätigt. Die Zeit seiner Abwesenheit in der japanischen Chronik wird 477–825 n.Chr. angegeben, also 348 Jahre. In den Märchen, die verschiedenartig lauten, schwankt die Zeit zwischen 300 bis 7000 Jahre. Ich habe die mittlere Zeit gewählt, die in den neuesten japanischen Ausgaben auf 700 Jahre angegeben wird. Im Dorfe Kanagawa bei Yokohama werden heute noch das Grab und die Fischergeräte Urashima’s gezeigt. Urashima ist eine der beliebtesten Märchenfiguren Japans.

Wenn man mit Kobolden tanzt!

Wenn man mit Kobolden tanzt!

In alter Zeit lebte einmal ein Landmann, der hatte auf der rechten Wange eine große Geschwulst, groß wie eine Birne. Als dieser Landmann eines Tages in den Wald ging um Reisig zu sammeln, wurde er von einem Gewitter überrascht und flüchtete in einen hohlen Baum, wo er Schutz vor dem Regen fand. Als das Gewitter endlich aufhörte, war es Nacht geworden und der Landmann konnte den Weg nach Hause nicht finden; deshalb blieb er in der Höhlung des Baumes sitzen und erwartete den Morgen.

Im Walde aber war es sehr einsam und schaurig und der Mann konnte vor Angst und Furcht nicht schlafen. Gegen Mitternacht hörte er plötzlich Stimmen und lautes Lachen. Verwundert streckte er den Kopf hervor und sah eine Anzahl Kobolde mit den sonderbarsten Gesichtern und in verschiedener Gestalt. Diese hatten gerade in der Nähe des Baumes, in dem der Landmann saß, Platz genommen und ergötzten sich am Trunk. Als sie genug getrunken hatten, begannen sie zu singen und zu tanzen. Der Landmann, der gern tanzte und ebenso gern einen guten Trunk Sake10 zu sich genommen hätte, konnte es in seinem Versteck nicht länger aushalten, denn die Lust der Kobolde wirkte auf ihn ansteckend.

Er kam also hervor und näherte sich den Tanzenden, die, als sie einen Menschen erblickten, erschraken und forteilen wollten. Er rief ihnen aber zu: »Bleibt nur da, ich will euch nur zeigen, wie man besser tanzt!« Und gleich darauf begann er sich lustig im Tanze zu drehen.

Die Kobolde freuten sich über sein Tanzen und versuchten es ihm nachzumachen, auch gaben sie ihm zu essen und zu trinken.

War das eine Fröhlichkeit! Sie dauerte bis der Morgen graute.

Da sprachen die Kobolde: »Du hast uns durch deine Gesellschaft hocherfreut. Komme doch auch morgen nacht wieder!«

Der Landmann sagte dies zu; aber die Kobolde wollten ein Unterpfand haben, daß er auch sicherlich käme. »Weißt du«, sagten sie zu ihm, »wir werden zur Sicherheit deine Geschwulst nehmen, du kannst sie dann morgen wieder bekommen.«

Damit griff der Sprecher gleich an die Wange des Mannes und nahm ihm die Geschwulst fort, ohne daß er einen Schmerz verspürte. Hierauf eilten alle lachend fort, ihm zurufend, nicht zu vergessen wieder zu kommen.

Der Landmann befühlte seine Wange, sie war ganz glatt und hatte keine Spur der Geschwulst mehr, nicht einmal eine Narbe; er war darüber außerordentlich froh und nahm sich vor, diesen Platz in Zukunft zu meiden und den Kobolden aus dem Wege zu gehen; denn er hatte gar kein Verlangen die Geschwulst wieder zu bekommen.

Er ging also zufrieden nach Hause, wo alle ihn verwundert anstaunten, daß er seine Geschwulst ohne jede Spur verloren hatte. Er erzählte dann, welches Glück ihm die Kobolde für sein Tanzen bereiteten, verschwieg aber kluger Weise, daß sie ihm die Geschwulst nur als Unterpfand für sein Wiederkommen abgenommen hatten.

Nun wohnte in dem Dorfe noch ein Landmann mit einer Geschwulst auf der Wange. Dieser hatte die Geschwulst auf der linken Seite.

Als er von dem Glück seines Nachbarn hörte, wollte auch er seiner Geschwulst los werden und ließ sich den Platz genau beschreiben, wo der erste Landmann die Kobolde getroffen hatte.

In der Nacht ging er dorthin und traf die Kobolde auch wirklich an. Er wollte aber erst hören, was sie sagten und versteckte sich daher in dieselbe Höhlung, in der in der Nacht vorher der andere Landmann gesteckt hatte.

Die Kobolde aber sprachen nicht viel, sondern schauten sich von Zeit zu Zeit erwartend um, bis endlich einer sagte: »Unser Freund von gestern scheint heute nicht zu kommen!«

Als dies der Landmann hörte, sprang er tanzend hervor und rief: »Da bin ich schon!«

Nun freuten sich alle, gaben ihm zu trinken und forderten ihn dann auf wieder seine Kunst zu zeigen.

Er war aber ein ungeschickter Tänzer; auch konnte er nicht viel Sake vertragen, sodaß sein Tanz noch ungeschickter war und er steif und torkelnd umherhopste. Es war den Kobolden kein Vergnügen, dem Manne zuzuschauen und so riefen sie: »Du bist heute nicht so geschickt wie gestern und wir haben heute keine Freude an deiner Gesellschaft. Mach, daß du fort kommst und laß dich nie wieder bei uns sehen; da wir von dir keine Erinnerung wünschen, so hast du hier deine Geschwulst wieder!«

Der eine Kobold zog sie aus der Tasche und warf sie dem verdutzten Manne ins Gesicht, klitsch – klatsch – saß sie an der rechten Wange. Dann stieß man ihn fort und er mußte jetzt mit zwei Geschwülsten heimkehren. –

Das kommt davon, wenn man neidischen Sinnes das gleiche Glück besitzen will, das andere genießen!

  1. Sake = aus Reis bereiteter, stark alkoholhaltiger Wein, der heiß getrunken wird.

Neid bringt Leid

Neid bringt Leid.

Es ist schon lange, lange Zeit her! Da lebte einmal in einem kleinen Städtchen ein alter Mann. Dieser hatte in seinem ganzen Leben jedermann nur Gutes getan, war fromm und gut. Deshalb hatten ihn auch alle Leute lieb, obgleich er arm war. Gerade gegenüber dem Hause dieses guten alten Mannes wohnte ein anderer alter Mann, der sehr reich war, aber nicht gut, sondern habgierig und alles, was er sah, gern haben wollte.

Nun hatte der gute Mann leider kein Kind und keine Verwandte und er hätte ganz einsam leben müssen, was er nicht wollte; denn er wünschte auch in seinem Hause jemanden zu haben, den er lieb haben könnte und der ihn wieder liebe. Deshalb schaffte er sich ein allerliebstes kleines Hündchen an, hegte und pflegte es und hatte bald seine große Freude an dem possierlichen Tierchen, das dem Alten alle Liebe vergalt und so treu und anhänglich war, daß es nie von der Seite seines Herrn wich, sondern ihn auf allen seinen Wegen begleitete. Eines Tages gingen der Herr und sein Hündchen spazieren und kamen an ein ödes Feld. Da bellte plötzlich das Hündchen, eilte zu einer Stelle in der Mitte des Feldes und begann mit seinen Pfötchen heftig zu scharren, indem es seinen Herrn treuherzig bittend ansah, als wollte es sagen:

»Hier grabe nach, hier ist etwas für dich!« Der Alte verstand sein Hündchen, eilte nach Hause, holte einen Spaten und grub an der Stelle nach, die das Hündchen bezeichnet hatte und siehe da! Als der Mann ein Weilchen gegraben hatte, fand er in dem Loche einen Haufen goldener Koban,11 worüber er hocherfreut war, das Geld nach Hause trug und einen großen Teil den Armen spendete.

Trotzdem er nun reich war, blieb er freundlich und bescheiden wie bisher, hatte aber sein Hündchen noch viel, viel lieber.

Der böse Nachbar aber neidete das Glück des Alten und da er erfahren hatte, wodurch dieser zu dem Reichtum gekommen war, suchte er das Hündchen in sein Haus zu locken, damit es auch ihm Stellen zeige, wo goldene Koban verborgen wären. Aber das Hündchen folgte den Lockungen nicht und wich nie von seines Herrn Seite.

Da nun der habgierige Mensch mit List nichts erreichen konnte, wandte er Gewalt an, indem er das Hündchen, als dieses ruhig vor dem Hause saß, ergriff und in sein Haus schleppte; dann band er es mit einem Strick und führte es aufs Feld, damit es ihm vergrabene Schätze zeige. Das Hündchen scharrte auch wirklich an verschiedenen Stellen, aber immer, wenn der Mann den harten Boden aufgeschlagen und im Schweiße seines Angesichts nachgegraben hatte, fand er nichts als stinkenden Unrat, so daß er erboste, das Hündchen mit seiner Hacke erschlug und den Leichnam dem guten Alten in den Garten warf.

Der Alte war darüber sehr betrübt und begrub seinen Liebling unter einen Baum im Garten, und obgleich er wohl wußte, wer der Übeltäter war, trug er es ihm doch nicht nach, noch forderte er Sühne für die begangene Tat.

Kurze Zeit darauf erschien ihm eines Nachts das Hündchen im Traum und sagte zu ihm:

»Trauere nicht länger, mein Tod wird dir noch größeres Glück bringen, wenn du meinen Rat befolgst. Haue den Baum, unter dem ich begraben bin, um und mache dir aus dem Holze einen Reismörser12 und Schlegel!«

Der Alte tat, wie ihm geheißen und als er den Mörser in Gebrauch nahm, welch ein Wunder! Da quoll aus dem Mörser der Mochi13 und nahm kein Ende, bis der Alte zu stampfen aufhörte. Dieser war nun überglücklich; denn er brauchte keinen Reis mehr zu kaufen und konnte überdies den Armen des Ortes reichlich abgeben.

Dem bösen Nachbar aber, dem dieses neue Glück seines Gegenübers zu Ohren kam, ließ es keine Ruhe; er wollte und mußte den Mörser haben. Deshalb ging er zu dem Alten und bat, er möge ihm doch den Mörser wenigstens einmal, nur auf einen Tag leihen, er bringe ihn gewiß am andern Morgen zurück. Der Alte war gutmütig genug dem Manne zu glauben und ihm den Mörser zu leihen, den dieser hocherfreut in sein Haus trug, ihn bis obenan mit Reis füllte und dann zu stampfen anfing. Aber o Graus! Anstatt schöner Mochi quoll ekelerregender Kot hervor und erfüllte mit seinem Gestank das ganze Haus. Da ergriff der schlechte Mann eine Axt, hieb den Mörser samt Schlegel in viele Stücke und verbrannte diese zu Asche.

Aber auch ob dieser neuen Bosheit ergrimmte der seines Mörsers beraubte Alte nicht, sondern folgte dem Rate seines toten Hündchens, das ihm wieder im Traum erschienen war, und holte sich die Asche von dem Mörser aus dem Hause seines Nachbars und bewahrte sie in einem Gefäße sorgfältig auf.

Da kam eines Tages im Spätherbst, als alle Bäume und Sträucher kahl waren, der Daimyo14 mit seinem Gefolge angeritten und mußte am Hause unseres guten Alten, das an der Landstraße lag, vorüber. Der Alte ergriff nun schnell einige Hände voll von der Asche, kletterte auf einen am Wege stehenden Kirschbaum, und gerade als der Daimyo darunter war, streute er die Asche aus. Der Daimyo und sein Gefolge waren im ersten Augenblick starr vor Schreck, dann ergriff sie der Zorn ob solcher Freveltat und sie wollten den Alten ergreifen.

Aber, welch Entzücken erfaßte alle! Überall, wohin die Asche geflogen war, grünte und blühte es, die Äste und Zweige waren voller Blätter und Blüten und anstatt der Asche rieselte ein feiner Regen lichter Kirschblüten auf den Daimyo und sein Gefolge nieder. Alles schrie vor Freude über solch ein Wunder laut auf und die den Alten soeben noch züchtigen wollten, umarmten ihn und priesen seine Wundertat.

Der Daimyo war gerührt von solcher sinnigen Aufmerksamkeit und machte dem Alten reiche Geschenke; auch schickte er ihm, als er die Geschichte des Hündchens gehört hatte, ein anderes allerliebstes Hündchen.

Der böse Nachbar aber barst fast vor Neid und Zorn; trotzdem aber ging er wieder zu dem gutmütigen Manne und fragte ihn, ob er noch etwas Asche übrig hätte, er möge ihm doch ein wenig geben, was der Alte auch tat.

Als der schlechte Mann nun einmal hörte, daß der Daimyo mit seinem Gefolge wieder des Weges kam, hatte er nichts eiligeres zu tun, als die geschenkt erhaltene Asche zu nehmen und damit ebenfalls auf einen Baum zu klettern. Als der Daimyo dann unter dem Baum vorbeiritt, streute der Mensch wirklich die Asche über ihn aus, aber kein Blatt und keine Blüte zeigte sich, sondern die Asche blieb Asche und flog dem Daimyo und seinen Leuten in Augen, Ohren, Nase und Mund, so daß ein jeder sich voller Zorn auf den Übeltäter stürzte, ihn gehörig durchprügelte, dann in Ketten legte und ins Gefängnis steckte, wo er nach langen großen Schmerzen verstarb. – So ergehe es allen Neidern und Habgierigen, die dem Nächsten sein Glück nicht gönnen und es an sich reißen möchten, anstatt sich über das Glück des Nachbars mit diesem zu freuen!

  1. Koban = Altjapanische Goldmünzen. Diese Goldmünzen hatten länglichrunde Form, waren ohne Inschrift und wurden 1588 zum ersten Male in Japan, unter Hideyoshi, geprägt und ausgegeben.
  2. Großes Holzgefäß zum Reis stampfen.
  3. Mochi = sprich Mo-tschi, zu einem zähen Brei zerstampfter Reis, der zu Kuchen (Reiskuchen) verwendet wird. Diese Kuchen heißen Mochigwashi (Mochi-gwashi).
  4. Daimyo = Fürst.

Der schlaue Polizist

Der schlaue Polizist

Der frühere Kaiser von Korea hatte sich eine Geheimpolizei eingerichtet, die für Ruhe und Ordnung in der Stadt sorgen mußte und Räubereien und Diebstahl verhindern sollte. Aber wie das oft so ist. Die Verbrechen wollten kein Ende nehmen und der Kaiser war recht ärgerlich. Er ließ sich den Obersten der Polizei kommen und machte ihm Vorwürfe. Der Oberste aber verteidigte seine Leute und sagte, sie seien alle tüchtig und geschickt.

Da meinte der Kaiser, nur der sei ein geschickter Polizist, der alle Schliche und Listen der Diebe kenne und solche selbst anwenden könne. Er werde die Leute auf die Probe stellen. Sie sollen sich alle am anderen Morgen im Palaste einfinden.

Als am Morgen die Polizisten alle in der Vorhalle des Palastes versammelt waren, erschien der Kaiser, in der Hand einen seidenen Beutel haltend. Diesen Beutel füllte der Kaiser mit Gold und ließ ihn mitten an der Decke der Halle aufhängen, so hoch, daß ihn niemand mit der Hand erreichen konnte.

Dann sagte der Kaiser:

»Hier hängt der Beutel mit Gold. Er bleibt drei Tage lang hängen. Eine Wache wird stets dabei sein. Gelingt es einem von euch diesen Beutel binnen der drei Tage zu entfernen, ohne daß jemand es bemerkt, so gehört ihm der Beutel samt Inhalt und ihr alle sollt fernerhin in meinen Diensten bleiben. Gelingt aber keinem von euch die Aufgabe, so jage ich euch alle zum Teufel!«

Da war allgemeines Köpfeschütteln und tief betrübt gingen die Polizisten heim; denn es schien unmöglich den Beutel zu entfernen, weil der Kaiser eine Wache von vier Mann aufgestellt hatte, die den Beutel Tag und Nacht bewachen mußte. Für Nachlässigkeit war der Wache mit Kopfabschlagen gedroht.

So kam der dritte Tag heran; der Beutel aber hing noch unberührt an der Decke und die Polizisten erwarteten ihre Entlassung. Da meldete sich zum Erstaunen aller einer der jüngsten Leute und erklärte, er wolle es versuchen aber er müsse noch mindestens zwei Tage Zeit haben.

Er wurde zum Kaiser geführt; dieser lachte den jungen Menschen aus und sagte: »Auch wenn ich euch zehn Wochen Zeit gebe, das Kunststück gelingt euch doch nicht!«

»Das mag stimmen!« erwiderte dieser, »und ich glaube selbst, daß nur ein Wunder uns helfen kann, aber vielleicht tritt ein solches Wunder in den zwei Tagen ein!« Dem Kaiser gefiel diese kecke Antwort. »Gut, so soll es sein! Diese zwei Tage seien euch noch gewährt!« entschied er.

Der junge Polizist betrachtete sich in der Halle den Beutel ganz genau und prägte sich alles fest ins Gedächtnis; dann eilte er nach Hause und fertigte sich einen ganz gleichen Beutel, den er mit kleinen Steinchen füllte.

Am zweiten Tage nahm er diesen Beutel, steckte ihn in den Ärmel seiner Jacke und ließ sich beim Kaiser melden, dieser empfing ihn und fragte, ob das Wunder schon geschehen sei.

Der Polizist bat hierauf den Kaiser sich den Beutel einmal ansehen zu dürfen, dieser genehmigte es und ging selbst mit zur Halle, wo der Beutel noch immer hing, bewacht von vier Soldaten.

Nachdem er sich den Beutel ein Weilchen von allen Seiten angesehen hatte, fragte er, ob es gestattet sei den Beutel in die Hand zu nehmen. Auch das genehmigte der Kaiser. Der Polizist holte hierauf eine Bank, stellte sich darauf und nahm den Beutel vom Haken, sah ihn sich wieder an und steckte ihn in den Ärmel, indem er sagte:

»Auf diese Weise würde es gehen!«

Der Kaiser erwiderte lachend: »So ginge es wohl, ist aber nicht erlaubt. Der Beutel soll fortgenommen werden, ohne daß es jemand weiß. Hänge ihn also nur ruhig wieder an die Decke und gib zu, daß auch du ihn nicht ausführen kannst!«

Der Andre machte scheinbar ein trauriges Gesicht, zog seufzend den Beutel wieder hervor und hängte ihn auf. Er hatte aber nicht den Beutel mit dem Golde genommen, sondern ihn im Ärmel mit dem von ihm vorbereiteten und mit Steinen gefüllten Beutel vertauscht und diesen aufgehangen, während er den echten Beutel im Ärmel behielt und sich mit diesem entfernte, indem er dem Kaiser versicherte, er hoffe bis zum anderen Morgen doch das Kunststück ausführen zu können.

Der Kaiser ließ daher für diese Nacht die Wache verdoppeln; auch mußte die Halle so hell erleuchtet werden, daß der Beutel stets zu sehen war.

Der nächste Tag kam und auf Befehl des Kaisers mußten sich alle Polizisten in der Halle versammeln um, wie der Kaiser beabsichtigte, sie für immer ihres Dienstes zu entlassen. Er herrschte die Leute denn auch recht unfreundlich an und wandte sich dann an jenen jungen Polizisten, indem er ihn höhnisch fragte, ob das Wunder geschehen sei.

»Ich glaube ja!«, erwiderte dieser.

»Er ist total verrückt oder unverschämt frech!« rief da der Kaiser. »Glaubt er denn, ich kann nicht sehen? Da hängt doch der Beutel!«

»Ich sehe,« erwiderte der Gescholtene, »daß dort wohl ein Beutel hängt, ob es aber der wirkliche ist, möchte ich bezweifeln!«

»Das ist denn doch zu stark!« schrie der Kaiser. »Holt den Beutel herunter und bringt ihn her!« befahl er der Wache.

Der Beutel wurde abgenommen und dem Kaiser gebracht, der ihn öffnete, aber ein ganz verwundertes Gesicht machte, als er nur Steine in dem Beutel fand und beim genaueren Sehen erkannte, daß es gar nicht der frühere Beutel war.

»Kerl, wie hat er das fertig gebracht?« fragte er den listigen Mann. Dieser erzählte, wie er einen gleichen Beutel angefertigt und diesen dann in des Kaisers Gegenwart vertauscht habe.

»Bist ein verteufelt schlauer Bursche!« sagte dann der Kaiser. »Und da du mir der Klügste von allen zu sein scheinst, sollst du deren Oberster sein und ich will sie nicht entlassen. Sorge dafür, daß deine Leute ihre Pflicht tun und dir nacheifern!« Und so geschah es!

  1. Koreanischen Ursprungs. Wurde deshalb in diese Sammlung mit aufgenommen, da Korea 1910 Japan einverleibt wurde und jetzt unter dem Namen »Chosen« eine japanische Provinz ist. Obige Erzählung erinnert an den »listigen Dieb« aus »1001 Nacht.«

Der Abt des Klosters Yakushi

Der Abt des Klosters Yakushi.

Bei Nara auf der Straße nach Osaka liegt ein altes Kloster, das heute allgemein unter dem Namen Nishi no Kiyo16 bekannt ist, obgleich sein alter wirklicher Name »Yakushi-ji«17 ist.

Einst war in diesem Kloster ein frommer, gottesfürchtiger Abt, der sich bemühte, durch seinen Lebenswandel allen ein gutes Beispiel zu geben; er sammelte keine Reichtümer an, sondern verteilte die dem Kloster gemachten Geschenke und Gaben wieder an die Armen und behielt keinen Sen für sich. So hoffte er, wenn seine Todesstunde nahe, als gerechter Diener in Buddha’s Paradies einziehen zu können. Als aber diese Stunde kam und er gottergeben des Boten Buddha’s harrte, der ihn abrufen sollte, da sah er nicht diesen, sondern einen feurigen Wagen nahen, der von allerlei buntfarbigen Höllengeistern gezogen wurde. Der Abt war aufs tiefste erschrocken und bat um Auskunft, was er, der sich keines Unrechts bewußt war, Böses begangen habe, da anstatt Buddhas Bote Diener der Hölle kämen. Die Antwort lautete:

»Du hast vor vielen Jahren eine Maß Reis aus dem Klostereigentum für dich entnommen und bis heute noch nicht zurückgegeben. Dieser Sünde wegen harret deiner die Hölle!«

Der Abt bat, ihm noch Zeit zu gönnen, diese von ihm längst vergessene Schuld, der er keine Bedeutung beigelegt habe, tilgen zu können. Diese Bitte wurde ihm gewährt.

Er rief hierauf alle Klosterbrüder und Schüler des Klosters an sein Lager, erzählte ihnen die Gefahr, in der er wegen der geringen unbedachten Schuld geschwebt habe und sagte: »Nehmet alle meine geringe Habe, veräußert sie und gebet den Erlös zum Klostergute, auf daß meine Schuld getilgt werde und ich in Frieden sterben kann. Euch alle aber ermahne ich, laßt diese Lehre nie aus eurem Herzen schwinden, denn wenn mir schon einer einzigen Maß Reis wegen die Hölle drohte, wie mag es denen erst ergehen, die sich bewußt am Klostergute vergreifen und Reichtümer zur Lust und zum Wohlleben aufsammeln!«

Nachdem er dies gesagt hatte, legte er sich zurück, seine Lippen murmelten: »Der Friedensbote naht!« »Namida Butsu – Heiliger Buddha hilf!« Ein Lächeln verklärte sein Gesicht, er war tot, eingegangen in das Paradies als getreuer Diener des Herrn.

  1. Hort des Westens, Nishi-Welt.
  2. Yakushi = Name des Heilgottes, ji = Kloster. Dieses Kloster befand sich früher im westlichen Teile der Stadt. Da letztere heute teilweise zerfallen und viel von ihrer Größe und ihrem Umfang verloren hat, ist die Lage des Klosters jetzt außerhalb der Stadt an der Landstraße.

List geht über Gewalt

List geht über Gewalt

Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal ein Holzfäller. Der ging stets in den Wald, um Bäume zu fällen. Als er einmal wieder im Walde war, hörte er plötzlich ein dumpfes Brüllen, das von einem wilden Tiere zu kommen schien. Voller Angst kletterte er auf einen Baum und versteckte sich dort. Da das Brüllen andauerte, aber nicht näher kam, so packte ihn die Neugierde zu sehen, woher es komme.

Er kletterte also wieder von dem Baum und schlich sich zu der Gegend hin, aus der das Brüllen erscholl. So kam er immer näher und sah endlich eine Raubtierfalle, in der sich ein Tiger gefangen hatte, der sich vergeblich bemühte wieder frei zu kommen und ein wütendes Brüllen ausstieß.

Als dieser den Holzfäller bemerkte, rief er ihm zu: »Was gaffst du mich an? Mache mich lieber frei und ich zeige dir einen Platz, wo viele Reichtümer verborgen sind!«

»Daß ich dumm wäre!« entgegnete der Mann. »Bist du frei, so frißt du mich auf!«

»Wenn du mich befreist, tue ich dir sicherlich nichts!« versicherte der Tiger und gab so viele schöne gute Worte, daß der Holzfäller sich bereden ließ und den Tiger befreite.

Kaum war dieser frei, so dehnte und streckte er sich, dann sah er seinen Befreier eine Weile an und sagte:

»Seit gestern steckte ich in dieser Falle und habe daher einen solchen Riesenhunger, daß ich dich fressen will. Was brauchst du Reichtümer? Einmal mußt du doch sterben und wenn ich dich fresse, erspare ich dir die Kosten des Begräbnisses.«

»Hältst du so dein Wort? Ist das deine Dankbarkeit?« rief der Holzfäller.

»Ach was!« sprach der Tiger. »Mit leerem Magen fühlt man keine Dankbarkeit, erst muß ich meinen Hunger gestillt haben!« So stritten sich die Beiden eine Zeitlang, da kam ein munterer Hase angesprungen, hörte den Streit und fragte, warum der Tiger den Mann fressen wolle.

Der Tiger erzählte ihm, daß der Mann ihn zwar befreit habe, daß aber das Gefühl des Hungers stärker sei als das der Dankbarkeit.

»Ganz recht, alter Onkel!« sagte da der Hase. »Verspeise den Mann mit gutem Appetit, wenn er so dumm war, euch zu befreien; denn bei euch Großen kommt immer zuerst der Magen und dann alles andere. – Aber, was sehe ich! Aus diesem Dinge konntet ihr euch bei eurer Stärke nicht selbst befreien?« sprach der Hase ganz erstaunt weiter, indem er die Falle betrachtete. »Ich glaube, alter Onkel, ihr flunkert!«

»Ich flunkern?« rief ärgerlich werdend der Tiger und rannte wieder in die Falle, dem Hasen zeigend, wie er gefangen wurde. »Seht! so ging ich, ohne zu beachten, was es ist, hier in die Falle!«

»Schön, schön! nun möchte ich aber auch gern sehen, wie es der Mensch gemacht hat, euch zu befreien, werter Onkel!« lachte der Hase, sprang auf die Falle, löste flink den Riegel, so daß die Falle sich schloß und der Tiger wieder gefangen war.

»So!« sagte der Hase zum Holzfäller, »wenn es euch nun beliebt, den alten Sünder da drinnen wieder zu befreien, mag er euch mit vollem Recht verspeisen; ich aber will nicht dabei sein!« So sprechend machte er ein Männchen und sprang lustig in den Wald hinein.

Der Holzfäller, froh sein Leben gerettet zu sehen, hütete sich natürlich, den Tiger zum zweiten Male zu befreien und eilte frohgemut zu seiner Arbeitsstätte zurück, verfolgt von dem wütenden Gebrüll des überlisteten alten Räubers.

So kommt man mit List weiter als mit Gewalt und wer mehr seinem Magen folgt als seinem Verstande, geht meistens zugrunde.

  1. Koreanische Fabel. Vergl. Anmerkung zu »der schlaue Polizist« Seite 27.